Zum Inhalt der Seite

Eine nächtliche Begegnung

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Wie immer gilt: Wem Rechtschreib-, Zeichensetzungs- oder Grammatikfehler auffallen, darf mir das gerne mitteilen :) Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Eine nächtliche Begegnung

Es ist ein lauter Knall, der Amelia abrupt aufschrecken lässt. Verschlafen reibt sie sich das junge Mädchen die Augen, ehe sie sich vorsichtig in ihrem dunklen Zimmer umblickt, aber dort ist nichts ungewöhnliches zu erkennen. Die durchsichtige Plastikbox, in der sie ihre ganzen Spielsachen gestapelt hat, steht wie gewohnt neben ihrem Kleiderschrank. Der Deckel ist wie immer nur nachlässig darüber gelegt und daher nicht ganz geschlossen. Das hat sie also nicht geweckt. Alles wirkt völlig normal. Schnuffels, ihr Teddybär, thront erhaben auf der Spielkiste und wacht wie üblich über ihre Träume. Seine dunklen Knopfaugen sehen genauso verdutzt aus, wie sich seine Besitzerin gerade fühlt.

 

Unschlüssig fährt sich Amelia durch ihre verstrubbelten roten Haare, ehe ein weiterer Knall und ein lautes Quietschen sie erneut zusammenzucken lassen. Mit klopfendem Herzen richtet sie sich vorsichtig auf und schlüpft unter ihrer wärmenden Bettdecke hervor. Das Geräusch kam von draußen, aus dem Garten. Auch ohne Licht findet Amelia sich in ihrem Zimmer zurecht. Mit traumwandlerischer Sicherheit weicht sie der knarzenden Stelle auf ihrem Holzboden aus uns linst vorsichtig durch die Gardine nach draußen. Sie kann in der Dunkelheit nur schwer etwas erkennen, aber irgendwie sieht der Garten anders aus. Mit angehaltenem Atem öffnet sie das Fenster, aber jetzt ist nichts mehr zu hören. Nachdenklich kaut Amelia auf ihrer Unterlippe herum, bevor sie das Fenster wieder schließt und anschließend die Schublade ihres Nachttischschränkchens durchwühlt. Die Taschenlampe ist schnell gefunden und als sie dank deren Lichtkegel durch den Flur schleicht und die Treppe heruntertapst, fühlt sie sich wie eine echte Abenteurerin. So wie Grace O'Malley, die unerschrockene Piratin, die vor nichts und niemandem Angst hatte und sich sogar furchtlos der englischen Königin entgegen gestellt hat. Sie ist zwar keine Schottin gewesen, so wie Amelia eine ist, aber immerhin Irin und jeder, der England und der Königin die Stirn geboten hat, muss einfach eine Heldin gewesen sein. In der Schule hat Amelia alles über die irische Freibeuterin gelernt und auch wenn es mehr darum ging, dass Piraten schlechte Leute gewesen sein sollen, so ist es ihr großer Traum einmal selbst eine Piratin zu werden. Mit gezücktem Säbel über das Meer zu fahren und zurück nach Schottland zu reisen. Rory hat sie nur komisch angesehen, als sie ihm davon erzählt hat, aber Rory sieht sie öfter an, als würde er sie für seltsam halten. Das macht aber nichts, denn Rory ist trotzdem ihr bester Freund und er hat sich sogar dazu bereit erklärt, unter ihrem Kommando mitzusegeln.

Mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen, begibt sich Amelia auf die Suche nach ihren roten Gummistiefeln, die im Erdgeschoss sein müssten. Wie üblich hat sie sie nicht ordentlich nebeneinander aufgestellt, so wie ihre Mutter das immer verlangt. Der rechte Stiefel hat sich irgendwie unter die große Kommode verirrt und der linke liegt umgekippt neben dem Schirmständer. Flink schlüpft Amelia in die Schuhe, ehe sie nach ihrem blauen Anorak greift, sich darin einmummelt und sich schließlich auch noch eine dicke Wollmütze auf den Kopf setzt. Seit sie letzte Woche stark erkältet war, hat ihr ihre Mutter eingeschärft, sich auch ja dick genug einzupacken, wenn sie nach draußen geht. Ihre Mutter ist zwar heute nicht da, aber sie hat die schreckliche Angewohnheit genau zu wissen, wann sich Amelia nicht an ihre Anweisungen gehalten hat. Manchmal fragt Amelia sich, ob ihre Mutter vielleicht einen unsichtbaren Doppelgänger hat, der nur dazu da ist, um Amelia im Auge zu behalten und sie zu verpetzen, wenn sie etwas tut, was sie nicht soll. Unschlüssig sieht sie sich in der Diele um.

„Siehst du“, flüstert sie in die Dunkelheit, „ich höre dir doch zu.“ Die Dunkelheit gibt ihr zwar keine Antwort, aber Amelia hat sich bereits zufrieden umgedreht und entriegelt vorsichtig die Hintertür.

 

Kalte Nachtluft schlägt ihr entgegen, als sie vorsichtig durch einen kleinen Spalt späht. Als nichts passiert, öffnet sie die Holztür noch ein bisschen weiter. Gott sei Dank knarrt die Tür nicht mehr, seit ihr Vater sie vor zwei Wochen geölt hat und Amelia schlüpft hastig nach draußen. Im hellen Lichtschein ihrer Taschenlampe wagt sie sich weiter in den Garten vor. Kurz bevor der vertraute Geräteschuppen vor ihr auftaucht, stolpert sie fast über ein Holzstück, das gestern definitiv noch nicht dort lag. Neugierig beleuchtet sie das Holz näher und beißt sich unsicher auf ihre Unterlippe. Das sieht aus wie ein Teil des Laubrechens ihrer Mutter. Sie bückt sich und tatsächlich, der Lichtschein tanzt über die vertrauten metallischen Zacken. Stirnrunzelnd bewegt sich Amelia in Richtung des Geräteschuppens, aber was sie stattdessen sieht, lässt sie überrascht aufatmen. Der Geräteschuppen ist nicht mehr da. Na ja, genauer gesagt, er steht nicht mehr. Stattdessen wird Amelia von den kläglichen Überresten eines zertrümmerten Schuppens begrüßt. Die Holzteile und Gartengeräte sind über die halbe Wiese verteilt und als sie sich gerade fragt, wie das bloß passiert ist, geistert der Lichtschein ihrer Taschenlampe über einen unförmigen, blauen Kasten.

 

Gespannt tritt sie näher. Der Kasten wirkt auf den ersten Blick unbeschädigt, aber sie weiß nicht, was sie von ihm halten soll. Sie hat noch nie davon gehört, dass blaue Kisten einfach so in Gärten auftauchen. Als mit einem Mal ein gelbes Licht aufleuchtet und durch die Gläser am oberen Ende nach außen hin sichtbar wird, erstarrt Amelia, doch abgesehen davon, tut sich nichts. Ihre Neugier gewinnt erneut die Überhand und so tritt sie mit wild klopfendem Herzen ein Stückchen näher und versucht, mit zur Seite gelegtem Kopf, die Buchstaben zu entziffern, die am Rand der Kiste prangen. Das Wort Polizei kann sie ausmachen, aber ein knarrendes Geräusch lenkt ihre Aufmerksamkeit auf die obere Seite der Box. Eine Tür öffnet sich dort und sofort strömt eine zischende Dampfwolke in den Nachthimmel.

 

Ängstlich schaltet Amelia ihre Taschenlampe aus, aber die Dunkelheit beruhigt sie nicht. Stattdessen sind weitere schabende Geräusche zu hören, dann ein lautes Scheppern und als auch noch ein unterdrücktes Stöhnen und dann urplötzlich ein lautes Husten an ihre Ohren dringt, knipst Amelia ihr Licht panisch wieder an. In dem plötzlichen Lichtschein sieht sie vor sich die Gestalt eines großen Mannes, der offenbar aus der Kiste herausgeklettert ist und jetzt zusammenzuckt, als ihn der Lichtstrahl mitten im Gesicht trifft. Er stöhnt gequält auf und Amelia weicht erschrocken nach hinten, stolpert dabei über einen Stein und findet sich auf einmal im feuchten Gras wider. Ihre Taschenlampe ist bei dem Sturz zur Seite gerollt und Amelia krabbelt eilig auf die Lichtquelle zu. Mit zitternden

Fingern bringt sie die Lampe zurück in ihren Besitz und leuchtet hektisch zu der Kiste hinüber. Der Mann hat sich nicht bewegt und so, wie er gegen die blaue Kiste gelehnt kauert, wirkt er gar nicht mehr so bedrohlich. Wagemutig richtet sich Amelia wieder auf und klopft einige Erdkrümel von ihrem Ärmel.

„Wer sind sie?“, fragt sie mutig. „Ein Vampir?“ Daraufhin gibt der Mann ein unterdrücktes Schnauben von sich, als fände er diese Vorstellung völlig abwegig.

„Ein Vampir?“, fragt er. „Wieso sollte ich ein Vampir sein?“ Der Mann hat eine angenehme Stimme und lustige, spitz nach oben abstehende Haare, aber ansonsten sieht er ziemlich verwahrlost aus. Sein Anzug ist zerrissen und durchlöchert und da sind eindeutig Blutflecken auf seiner Hose. Amelias Lichtkegel tanzt zu seinem Gesicht zurück und der Mann dreht seinen Kopf eilig zur Seite, sodass sie stattdessen einen Blick auf eine Gesichtshälfte erhascht, die mehrere tiefe Schrammen aufweist. Amelia kaut nachdenklich auf ihrer Unterlippe herum.

„Brauchen Sie Hilfe?“, fragt sie schließlich, denn sie hat gelernt, dass verletzte Menschen einen Arzt brauchen. „Ich könnte einen Doktor für sie anrufen“, setzt sie hinterher und aus irgendeinem Grund löst das bei dem Mann einen Lachanfall aus. Ein heiseres, bellendes Geräusch, das nicht wirklich zu seiner netten Stimme passt und schon bald von einem trockenen Husten abgelöst wird. Mit einem Mal ist Amelia wieder verunsichert, aber der Mann verstummt schließlich und dreht seinen Kopf etwas mehr in ihre Richtung.

„Könntest du bitte nicht mitten in mein Gesicht leuchten?“, fragt er und gestikuliert zu ihrer Taschenlampe. Vorsichtig, als würde sie befürchten, dass er sich auf sie stürzt, sobald der schützende Lichtschein verschwindet, wandert Amelias Lichtstrahl zu seinem Hals hinunter.

„Danke“, murmelt der Fremde. „Also“, setzt er an. „Wieso denkst du, dass ich ein Vampir sein sollte?“ Amelia zuckt mit den Achseln.

„Es ist mitten in der Nacht, Sie mögen kein Licht und Sie sind nicht einfach mitten im Haus aufgetaucht. Dazu hätte ich Sie hereinbitten müssen, nicht?“, meint sie und der Mann vor ihr nickt ihr schmunzelnd zu.

„Gute Überlegung, aber ich bin kein Vampir“, meint er und Amelia nickt zustimmend. Das hat sie sich mittlerweile auch schon gedacht. Vampire verletzen sich nicht so einfach und sie lachen bestimmt auch nicht.

„Und wer sind Sie dann?“, fragt sie neugierig. „Was machen Sie in unserem Garten?“ Der Mann kratzt sich unschlüssig am Kopf und schaut sich um, als würde er erst jetzt bemerken, dass er mitten in den Überresten eines Blumenbeetes steht.

„Hm, seltsam“, murmelt er, „eigentlich wollte ich wo anders hin.“ Dann krümmt er sich auf einmal so überraschend zusammen, dass Amelia erschreckt zusammenzuckt. Das Gesicht des Mannes ist auf einmal schmerzerfüllt und er stützt sich mit seiner freien Hand an der Box ab, um nicht umzufallen. Amelias Füße scheinen wie festgefroren zu sein.

„Was ist mit Ihnen?“, ruft sie ängstlich, aber der Mann reagiert nicht auf ihre Stimme, sondern rutscht langsam an der blauen Kiste herab. Nur sein pfeifender Atem ist in der Nacht zu hören und er zittert. So, als wäre ihm schrecklich kalt. Entschieden schlüpft Amelia aus ihrem Mantel und erschaudert nun selbst in der kalten Luft, die auf einmal auf ihre bloßen Arme trifft.

„Hier, bitte“, murmelt sie und hält dem Mann ihren Anorak hin. Der braunhaarige Fremde reagiert nicht, also legt Amelia ihre Taschenlampe vorsichtig ins Gras und breitet die Jacke über der zusammengesunkenen Gestalt aus. Das hat ihr Vater auch einmal bei ihr gemacht, als sie mit ihm am Ententeich war und irgendwie hineingestolpert ist. Von Kopf bis Fuß war sie nass und es war so entsetzlich kalt, dass ihr Vater sie schnell in seine Jacke gewickelt und nach Hause getragen hat. Der Mann vor ihr sieht zwar nicht nass aus, aber er bibbert genauso wie sie damals. Nach einer Weile stoppt das Zittern des Fremden tatsächlich und er richtet sich seufzend wieder gerade auf.

„Danke“, murmelt er erschöpft.

„Sind Sie sicher, dass ich keinen Arzt rufen soll?“, fragt Amelia besorgt. „Doktor Stevens wohnt nicht weit von hier weg. Ich könnte ganz schnell bei ihm vorbeilaufen“, bietet sie hilfsbereit an, aber der Mann schüttelt abwehrend den Kopf.

„Nicht nötig, wirklich. Ich bin selbst ein Doctor, mir fehlt nichts.“ Leiser, so als wären die Worte nicht für ihre Ohren bestimmt, fährt er fort. „Jedenfalls nichts, was Doktor Stevens kurieren könnte.“

„Sie sind ein Doktor?“, fragt Amelia aufgeregt und mustert den Mann vor ihr. Ihre Taschenlampe liegt vergessen im Gras, aber ihre Augen haben sich mittlerweile an die Dunkelheit gewöhnt. Außerdem scheint es langsam etwas heller zu werden, sodass sie den Mann vor sich besser erkennen kann. „Sie sehen gar nicht wie ein Doktor aus.“

„Ach nein?“, fragt der braunhaarige Mann und Amelia schüttelt verneinend den Kopf.

„Sie haben keinen Kittel an und keine Brille. Doktor Stevens hat eine mit riesigen runden Gläsern“, erklärt sie ernst, während sie mit ihren Händen andeutet, wie gigantisch groß seine Brille ist. Sie mustert erneut die ungewöhnliche Frisur des Mannes vor ihr. „Außerdem hat er keine Haare und er ist schon ganz alt. Sie sind bestimmt kein Doktor“, erklärt sie entschieden und das bringt den Mann vor ihr erneut zum Auflachen. Es klingt diesmal ganz anders. Viel wärmer und ehrlicher und Amelia lächelt strahlend zurück. Es freut sie immer, wenn sie Erwachsene zum Lachen bringen kann. Ihre Mutter lacht viel zu selten, aber bei ihrem Vater gelingt es ihr oft.

Der Mann klopft einladend neben sich und Amelia setzt sich vertrauensvoll an seine Seite. Das Gras ist nass und kalt, aber das stört sie nicht.

„Wo bin ich gelandet?“, will der Mann wissen, gleichzeitig als Amelia „Wie heißen Sie überhaupt?“, fragt. Der Mann zieht seine Nase kraus.

„Nenn mich einfach Doctor“, sagt er und Amelia schaut ihn skeptisch an.

„Das ist doch kein Name“, murmelt sie enttäuscht und der Mann sieht sie jetzt forschend an.

„Falsch. Es ist mein Name. Ich bin der Doctor. Einfach nur der Doctor, nur kurz auf der Durchreise und schon so gut wie weg“, murmelt er, ehe er seufzend den Kopf in den Nacken legt. „Und wie heißt du?“, fragt er. Amelia blinzelt schüchtern zu ihm hoch.

„Ich bin Amelia“, sagt sie.

„Sehr erfreut, Amelia“, antwortet der Doctor ernst und streckt ihr seine Hand hin, die sie verdutzt ergreift. Er lächelt sie an, aber Amelias Blick ruht wie hypnotisiert auf seiner Hand.

„Sie leuchten“, stellt sie fasziniert fest und unterzieht die Hand einer genaueren Musterung. Es sieht aus, als würden Lichtfunken unter seiner Haut tanzen. Ein helles Leuchten, aber keine Hitze, wie es bei einer länger eingeschalteten Lampe der Fall ist. Der Doctor nickt seufzend und betrachtet seine Hand mit einem düsteren Blick. Er entzieht ihr seine Finger und ballt sie zu einer Faust zusammen. Als er die Finger wieder ausschüttelt, sieht seine Hand wieder ganz gewöhnlich aus.

„Sind Sie etwa ein Zauberer?“, fragt Amelia aufgeregt, aber der Mann schüttelt verneinend den Kopf.

„Auch das nicht“, sagt er. „Wie gesagt. Der Doctor, kein Vampir und auch kein Zauberer. Nur der Doctor.“ Irgendetwas in seiner Stimme hält Amelia davon ab, weitere Fragen zu stellen. Der Fremde sieht nicht böse oder wütend aus, aber sie hat das Gefühl, dass er lieber nicht über sich reden möchte.

„Sie sind in Leadworth“, sagt sie daher, um seine vorherige Frage zu beantworten und das scheint den Doctor aus irgendeinem Grund förmlich zu elektrisieren.

„Leadworth sagtest du?“, fragt er sichtlich verblüfft, nur um energisch ein „Bist du dir da ganz sicher?“ hinterherzusetzen.

„Natürlich bin ich mir sicher“, antwortet Amelia verschnupft. „Ich wohne hier.“ Nicht, dass sie das will. Sie wäre viel lieber in Schottland geblieben, als nach England zu ziehen, aber ihr Vater hat hier einen neuen Job gefunden, also sind sie vor zwei Jahren umgezogen. Amelia vermisst Schottland noch immer. Sie vermisst die weiten Wiesen und den rauen Wind, der ihr am Meer um die Ohren gepeitscht ist. Hier reden die Leute so seltsam und ein Meer gibt es auch nicht. Geistesabwesend fängt sie an einige Grashalme auszurupfen, während der Fremde sie mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck ansieht.

„Was?“, fragt Amelia patzig und zuckt im nächsten Moment zusammen. Sie hat vergessen, dass Erwachsene es nicht mögen, wenn man so unhöflich mit ihnen spricht. Bestimmt wird der Mann sie gleich ausschimpfen. Schmollend zieht Amelia ihre Beine heran und umschlingt ihre Knie, während sie ihr Kinn auf diesen abstützt und düster vor sich hin starrt. Der Mann neben ihr räuspert sich.

„Leadworth also?“, fragt er betont munter, aber seine Stimme zittert etwas. „Da bin ich wohl ganz schön vom Weg abgekommen.“ Wider Willen neugierig, sieht Amelia zu ihm herüber.

„Wo wollten Sie denn hin?“, fragt sie arglos und der Doctor sieht mit einem verlorenen Gesichtsausdruck in den Nachthimmel hinauf.

„Zu den Sternen“, murmelt er und fährt sich durch seine Haare, die danach eine ganze Spur zerzauster aussehen.

„Das klingt toll“, sagt Amelia sehnsüchtig. „Und wie wollten Sie dorthin kommen?“ Der Doctor tätschelt liebevoll die blaue Holzkiste neben ihm.

„Damit“, sagt er nur und Amelia wirft der Box einen interessierten Blick zu.

„Mit einer Holzbox?“, fragt sie skeptisch und der Doctor nickt, schüttelt dann den Kopf und zieht schließlich seine Schultern herauf.

„Es sieht vielleicht aus wie eine Box, aber es ist mehr. So viel mehr. Sie ist mein Schiff und sie kann mich überall hinbringen, auch zu den Sternen.“

Bei dem Wort „Schiff“ horcht Amelia auf. Sie muss wieder an Grace O'Malley denken.

„Wenn ich ein Schiff hätte, würde ich nach Schottland segeln“, erklärt sie sehnsüchtig. „Kann ihre Box uns nach Schottland bringen?“, fragt sie hoffnungsvoll und wieder schaut der Mann sie so merkwürdig an. Er räuspert sich schließlich, aber sie kann sehen, dass er wieder angefangen hat zu zittern.

„Theoretisch ja, aber so gerne ich auch würde, nicht heute. Nein, nicht heute, Amelia Pond“, murmelt er und ehe Amelia ihn verdutzt fragen kann, woher er ihren Nachnamen kennt, springt er entschlossen auf die Füße und wirft ihr ihren Mantel wieder zu. „Es tut mir leid“, sagt er ernst, während er auf sie herunter schaut und Amelia rappelt sich ebenfalls schnell auf.

„Was tut Ihnen leid?“, fragt sie verwundert. Der Mann ist wirklich zu seltsam. Er hat jetzt die Hände in den Taschen vergraben und wippt gedankenverloren auf und ab, während er sie weiterhin nicht aus den Augen lässt.

„So vieles“, sagt er leise und fährt ihr kurz über den Kopf, was Amelia zurückweichen lässt. Sie kann es nicht leiden, wenn man ihre Haare anfasst und ihre Hand fliegt automatisch zu ihrem Kopf, um alles wieder glatt zu streichen. Bei ihrer Reaktion lacht der Doctor auf und sieht seltsam glücklich aus. Erneut räuspert er sich.

„Ich muss jetzt weg“, sagt er entschieden. „Die Maschinen haben sich genug abgekühlt und ich muss wirklich los, aber -“ Schmerzerfüllt stöhnt er auf und sackt etwas in sich zusammen. Das seltsame Glühen ist wieder zu sehen, aber diesmal ist es nicht seine Hand, die leuchtet, sondern ein Teil seines Gesichts. Seltsamerweise scheinen die blutigen Striemen auf seinen Wangen dadurch zu verschwinden und Amelia starrt das Lichtspektakel fasziniert an.

„Keine Zeit“, murmelt er verbissen. „Muss weg.“ Er stützt sich etwas auf ihrer Schulter ab, als er sich an dem alten Holz der blauen Kiste hochzieht. Oben angelangt öffnet er eine Tür und dreht sich herum, um auf sie hinunterzuschauen.

„Es freut mich dich kennen gelernt zu haben, Amelia“, sagt er ernst. „Wer weiß, vielleicht sehen wir uns irgendwann mal wieder.“ Ehe sie darauf irgendetwas erwidern kann, lässt er sich einfach nach hinten fallen und die Tür schwingt hinter ihm wieder zu.

 

Amelia keucht entsetzt auf, aber als auf einmal ein seltsam dröhnendes und pfeifendes Geräusch einsetzt, das mit einem plötzlich aufwirbelnden Wind verbunden ist, weicht sie instinktiv zurück und schließt die Augen. Nach einigen Momenten hat sich der Wind wieder gelegt und abgesehen von ihrem eigenen Atem, ist nichts mehr zu hören. Unschlüssig öffnet Amelia ein Auge, ehe sie überrascht auch ihr zweites Auge aufreißt, aber auch das ändert nichts. Die blaue Box ist nirgends mehr zu sehen. Einzig ihre leuchtende Taschenlampe liegt einige Meter entfernt im Gras. Nachdenklich greift sie nach dem vertrauten Gegenstand. Nur noch der zerstörte Geräteschuppen zeugt davon, dass sie sich das Gaze nicht eingebildet hat. Mit einem letzten unschlüssigen Blick zurück auf die traurigen Überreste, tapst Amelia wieder ins Haus. Ob der Mann jetzt wohl bei den Sternen angekommen ist? Ob sie ihn wohl jemals wiedersehen wird?



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Heflix
2023-09-13T08:50:11+00:00 13.09.2023 10:50
Die Übersichtsseite mit Cover motiviert arg, reinzublättern. Die ersten zwei, drei Absätze waren noch holprig (zu viele wie's, Subjekte sind doppelt genannt: sie/das junge Mädchen), aber danach ist es eine Glanzleistung. Ich bin beim Lesen wieder ein ganzes Stück jünger geworden: Kinderfantasie eben. Keine Erklärung für den Doctor ist zu abwegig, Amelias Beobachtungsgabe ist scharf. Die Szene entfaltet sich dadurch.
Die Effekte sind stark, und der Dialog schlägt selbst das. Ich brauche keine Beisätze, um das Alter der beiden zu unterscheiden. Der zehnte Doctor ist verbal eine derartige Punktlandung, dass ich das problemlos als Serienfolge akzeptiere. Wie viele Infos über Amelias Eltern indirekt in Erinnerungen und Vergleichen stecken, klasse eingeflochten.
Amelia kann bei ihrem gottlosen Vertrauen von Glück sagen, dass sie nur ihm in England begegnet ist.

MfG
Antwort von:  Kerstin-san
13.09.2023 17:13
Hallo Heflix,

freut mich, dass dich die Geschichte nach einem etwas holprigen Start voll abgeholt hat. Dialoge sind normalerweise nicht so mein Ding, aber das Gespräch zwischen Amelia und Ten hat sich quasi von selbst geschrieben. Schön, dass du gerade Ten so IC fandest und ja: Amelia ist hier sehr vertrauensselig, aber zum Glück will ihr der Doctor nichts böses.

Danke für dein Kommi :)


Zurück