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A Place to Belong

von

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7

Jeder ist sich selbst der Nächste.

 

Es war die erste große Lektion, die er vom Leben mitnahm. Mitten in den Trümmern seiner Heimat, umgeben von Gesichtern, die nach dem verheerenden Angriff plötzlich fremd geworden waren.

Der freundliche Nachbar aus dem Haus gegenüber grüßte nicht mehr beim Vorbeigehen oder steckte ihm ein klebriges Bonbon zu, sondern lief gebückt durch die schmutzigen Straßen, wich jedem Gruß aus.

Sah weg, wenn der kleine Junge mit den zerschlissenen Kleidern näherkam, in der Hoffnung auf irgendetwas – einen Platz zum Schlafen, eine Kleinigkeit zu Essen, ein Wort des Trosts.

 

Wie die Leben der Opfer, die der letzte große Angriff gefordert hatte, war auch die Menschlichkeit an diesem Ort verloren gegangen.

 

Er war alleine.

Fand Stofffetzen in den Trümmern, um sich zu wärmen, wenn er sich nachts im Schatten eines halb zerstörten Hauses zur Ruhe legte.

Das Essen, so lernte er schnell, musste er sich verdienen. Niemand hatte mehr etwas zu verschenken, doch es gab so viele Arbeiten zu tun, dass jede helfende Hand Willkommen war – und jeder Arbeiter willig, selbst für eine Kante trockenes Brot zu schuften bis zum Einbruch der Abenddämmerung.

 

Niemand lachte.

 

Es war ein trostloser Anblick. Selbst, als die Trümmer beseitigt wurden und die Schäden behoben, blieb die Stimmung gedrückt. Das Leben, obwohl es immer mehr so tat, als wäre es alltäglich, kehrte nicht wieder zur Normalität zurück.

Kein freundlicher Gruß auf der Straße. Keine augenzwinkernd zugesteckte Süßigkeit für die Kinder, die in Fetzen und Schuhen, von denen sich schon die Sohlen lösten, durch die Stadt zogen. Arbeiten verrichteten, für die sie zu jung waren. Bettelten. Manche stahlen.

Manchmal stahl er auch. Es war einfacher, als sich abzurackern für eine magere Mahlzeit. Es war lukrativer.

Es war nicht fair, doch viel Wahl blieb ihm manchmal nicht.

 

Hoffnungslosigkeit – das Wort hörte er einmal, als er das Gespräch von ein paar Erwachsenen belauschte.

 

Plötzlich hatte der Ausdruck auf den Gesichtern der Menschen einen Namen. Die Stille in der Luft. Die schwere Stimmung, die auf die Brust drückte, bis das Atmen schwer wurde.

 

Doch anders als die Monster, die in der eigenen Fantasie manchmal entstanden, deren Schrecken verloren ging, wenn man ihrem Ursprung erst auf den Grund ging, wurde Hoffnungslosigkeit nur noch schrecklicher, wenn man sie erst verstand.

9

Im ewiggleichen Alltagstrott war das erste Mal, dass er das Gefühl hatte, dass das Leben mehr für ihn bereithalten mochte als Tagelohnarbeiten und Kleingaunerei ein harmloser Nachmittag der begann wie jeder andere: Er traf sich mit den anderen Kindern der Nachbarschaft in einer verdreckten Hintergasse zum Spielen.

Normalerweise spielten sie Fangen. Verstecken. Spielten mit abgegriffenen, verknickten Karten, die ein Junge einmal in einer alten Holzkiste mitgebracht hatte. Keiner von ihnen kannte das Regelwerk, und jedes Mal, wenn gespielt wurde, wurden immer neue Regeln erfunden – manchmal auch mitten in der Partie.

Doch weder warfen sie eine Münze, um herauszufinden, wer beim Fangen oder Verstecken den Kürzeren zog, noch diskutierten sie um die Reihenfolge beim Kartenspielen, weil es einfach nicht genug Karten für sie alle auf einmal waren.

 

Als er ankam, saßen die Anderen in einem Halbkreis um eines der ältesten Mädchen herum, das aus einem Buch vorlas.

Die Geschichte war platt und abgedroschen, ein Kindermärchen, das er selbst schon albern gefunden hatte, als seine Mutter es ihm das letzte Mal vor Jahren erzählt hatte.

Trotzdem fühlte er sich von der Erzählung in den Bann gezogen, konnte nicht aufhören, zuzuhören, während das Mädchen mit Feuereifer und über Buchstaben stolpernd vorlas, um der Geschichte neues Leben einzuhauchen.

Die anderen Kinder waren genauso. Verharrten reglos, voller Aufmerksamkeit auf ihrer Vorleserin. Sie lachten über die lustigen Stellen in der Geschichte, bangten, wenn es brenzlig wurde.

 

An diesem Nachmittag lernte Bark eine Lektion, die er für sein Leben nicht vergessen sollte:

 

Ablenkung war eine wertvolle Waffe gegen Hoffnungslosigkeit. In allem Eifer für die Geschichte sah er seine Spielkameraden zum ersten Mal seit Langem wieder wirklich ausgelassen und unbekümmert, und er selbst fühlte sich, als wäre eine große, schwere Last von seinen Schultern genommen, zumindest für den Augenblick.

 

Als es vorbei war und sie sich zum Abendbrot wieder zerstreuten, fing er das Mädchen mit ihrem Buch ab.

„Bring mir Lesen bei.“

 

Er wollte dieses Gefühl weitergeben.

14

Applaus hallte auf dem Marktplatz wider. Menschen jubelten und lachten. Er verneigte sich in einer lang einstudierten Geste, deren Eleganz seine Herkunft betrog.

Trotz der überwältigenden Begeisterung der Zuschauer waren es nur ein paar Münzen, die am Ende der Vorstellung in dem alten Hut landeten, in dem er Geld sammelte.

 

Es war immer so.

Kaum jemand wollte für einen Straßenkünstler zahlen.

 

Sie alle suchten Zerstreuung vor dem Kriegselend, vor den schlechten Nachrichten, die Tag ein, Tag aus die Runde machten. Manche suchten schlicht eine Zuflucht vor ihrem eigenen drögen, ereignislosen Alltag, vor der Banalität ihres Lebens.

Sie alle scharten sich um ihn, wenn er auf dem Markplatz auftrat, eine mit Stoff überzogene Kiste als Podest, als Bühne nutzte, fieberten mit und verloren sich in den Geschichten, die er erzählte. Schon lange hatte er aufgehört, Lesungen anzubieten und begonnen, die Geschichten frei zu erzählen.

Es zog mehr Zuschauer an. Es beeindruckte die Leute, wenn er nur unter Einsatz seiner Stimme und seiner Körpersprache ein ganzes Epos neu zum Leben erweckte.

 

Doch was er auch tat, so viel Zeit er auch investierte – zum Leben reichte es kaum.

Auch die diesmaligen Einnahmen reichten gerade so für ein Abendmahl, das aus mehr als etwas Brot und Käse bestand.

 

Mit dem Zerstreuen der Zuschauerschar packte er sich sein notdürftiges Podest und machte sich auf, den Platz zu verlassen. Er kam nicht weit, bis seine Kameraden heraneilten und ihm lachend auf die Schultern klopften.

„Mann, das war ja ein voller Erfolg!“

„Wir hätten den Leuten noch ihre Hosen ausziehen können, die waren so versunken, die haben gar nichts gemerkt!“

Die tatsächliche Ausbeute kam – und das war Bark nicht unlieb – ganz ohne Hosen aus: Ein Säckchen voller Gil, das problemlos reichen würde, um ein ganzes Festmahl zu finanzieren, und eine kleine Handvoll Edelsteine, die man frühestens in ein paar Monaten verhökern konnte, wenn niemand mehr nach seinem verlorenen Schmuck suchte.

 

Kaum jemand wollte für einen Straßenkünstler zahlen – aber das war in Ordnung: Kaum jemand verdächtigte, dass ein Straßenkünstler gemeinsame Sache mit einer Diebesbande machte.

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„Es erscheint mir beinahe taktlos, ein solches Gewerbe in diesen schwierigen Zeiten zu eröffnen, aber…“

Der Grundstücksbesitzer seufzte, schob seine Brille auf der unvorteilhaft großen Nase nach oben. Er studierte noch einmal den Vertrag, den er selbst aufgesetzt hatte, als müsse er sich von seiner Richtigkeit überzeugen.

„…nun.“

Er räusperte sich.

„Es ist Ihre Entscheidung, was sie mit dem Objekt machen. Ich kann Ihnen nur davon abraten. Jedenfalls. Noch eine Unterschrift… So. Hier – und nun Sie, dann gehört es Ihnen.“

 

Er hatte seit sechs Jahren auf diesen Tag gewartet.

 

Seit dem Tag, an dem er begonnen hatte, auf dem Marktplatz aufzutreten, hatte er jeden Gil, den er entbehren konnte, zurückgelegt.

Zuerst war es beinahe unmöglich gewesen – bei seinem mageren Verdienst ging im Grunde alles wieder für Nahrung und Kleidung drauf; dass er im Wachstum gewesen war und alle Nase lang neue Kleider brauchte, hatte auch nicht geholfen.

Dann hatte er bei einer Vorstellung bemerkt, wie Diebe sich an seinen Zuschauern zu schaffen machten.

Er wusste, er hätte sie aufhalten sollen.

Direkt in dem Moment, als er sie sah. Ein lauter Ausruf, und jeder wäre auf sie aufmerksam geworden.

Er tat es nicht.

Er ließ sie gewähren, um sie direkt nach der Vorstellung zur Rede zu stellen.

 

Er bot den Dieben einen Deal an: Er würde weiterhin still bleiben, wenn sie bei seinen Aufführungen stahlen, doch dafür wollte er einen Teil ihrer Beute.

 

Je besser er wurde, desto mehr Menschen kamen. Desto mehr Beute machten die Diebe, die alles stahlen, was nicht niet- und nagelfest war, während Bark die Leute mit seiner Darbietung in seinen Bann zog.

Sein Gewinn wuchs, auch wenn sein Anteil an der Beute – immerhin nahmen die Diebe, ihrer eigenen Aussage nach, die ganze Gefahr auf sich – prozentual nie wirklich größer wurde.

Jede Münze Diebesgut, die er erhielt, wanderte auf direktem Wege in seine Ersparnisse. Tag um Tag, Jahr um Jahr, bis die Summe so groß geworden war, dass er selbst kaum glauben konnte, so viel Geld zu haben.

Geld, das er in ein altes, etwas baufälliges Gebäude investierte.

Sein eigenes Theater.

 

Schwungvoll setzte er seine Unterschrift unter den Kaufvertrag, ein zufriedenes Lächeln auf dem Gesicht.

Es war geschafft.

 

Der Geburt der Theatergruppe (und Diebesbande) Tantalus stand nichts mehr im Wege.

25

Es war das Tuscheln einer feinen Dame, das ihn überhaupt erst auf den Jungen aufmerksam machte. Er war klein. Trug einen Hammer bei sich, den er schlapp hinter sich her über den Boden schleifte, während er die Straße entlangschlurfte.

„Wirklich! So ein schmuddeliges Balg hier herumlaufen zu lassen! Dass sich seine Eltern nicht schämen!“

Sie machte keinen Hehl daraus, was sie davon hielt, dass dieses Kind in seinen schmutzigen Kleidern, mit der ebenso schmutzigen Kappe auf dem Kopf und den durchdringenden, gelben Augen, die im Schatten des Kappenschirms unheimlich glühten, die gleiche Luft atmete wie sie.

 

Es war Alltag.

 

Die verschiedenen Klassen in Lindblum kollidierten immer wieder. Wer Geld hatte, sah auf all jene herab, die für jede Mahlzeit hart arbeiteten.

Inzwischen gehörte er selbst zu denen, die genug Geld hatten, um nicht jede Münze zweimal umdrehen zu müssen. Das kleine Theater lief gut genug, dass es Gewinn abwarf, und die gelegentliche – man musste doch den guten Ruf wahren – Zusammenarbeit mit lokalen Diebesbanden warf auch immer eine hübsche Summe ab.

Er war freilich kein reicher Mann. Doch es reichte. Für seine eigenen Bedürfnisse, und dafür, gelegentlich einem Straßenkind eine Münze zuzustecken oder eine Süßigkeit.

 

Er wollte keiner dieser Erwachsenen sein, die wehrlose Kinder sich selbst überließen, weil sie nur ihr eigenes Leid sehen konnten.

Er musste es auch nicht. Er hatte das Geld, um sich zu kümmern.

 

Kurz entschlossen ging er vor dem kleinen Jungen in die Hocke. Es war unübersehbar, dass er zu den Kindern gehörte, die kein Heim mehr hatten.

„Hey, Kleiner. Wohin willst du denn?“

„Wees i need, zefix“, war die dumpfe Antwort, die er bekam. Der Kleine sah ihn aus unergründlichen Augen an, in denen Bark nicht lesen konnte.

„Hast du Eltern?“

Kopfschütteln.

„Wie heißt du denn?“

Schulterzucken.

Er seufzte hilflos, suchte nach irgendetwas, um den Jungen zu erreichen.

„Darf ich deinen Hammer einmal sehen?“

„Naa! Des is mei Homma, zefix! Den hod mei Babba mia ‘geb’n. … Abber Babba is nimma do. Babba hod gsogd, i soll druf aufpasse, bis a wiedakemma dud, zefix.“

 

Aber Papa kommt nicht mehr wieder hing unausgesprochen in der Luft.

 

Bark schloss für einen Moment die Augen. Dieses Kind hatte ganz offensichtlich keinen Platz mehr, an den es zurückkehren konnte. Es hatte ganz offensichtlich keine Eltern mehr, die auf es warteten.

Und der Junge war so klein, dass er kaum alleine überleben konnte.

„Was sagst du? Du kannst bei mir darauf warten, dass dein Papa wiederkommt. Ich hab ein großes Haus, da ist viel Platz für dich. Und alleine ist es ein wenig einsam.“

Er zwinkerte gutmütig, streckte dem Jungen eine Hand entgegen. Einen langen Moment passierte gar nichts, dann ergriff er sie.

„I hob Hunga, zefix.“

„Dann gehen wir jetzt und machen dir etwas zu essen. Ich mache den besten Räubereintopf weit und breit, garharhar! Und auf dem Weg erzählst du mir, wie du heißt.“

Der Junge brummte, sagte aber nichts.

 

Bark versuchte es den ganzen Abend noch, doch egal, wie oft er nachhakte, der Junge wollte ihm keinen Namen nennen.

 

Irgendwann gab er auf.

Fragte nicht mehr. Er würde ihm seinen Namen irgendwann sagen, hoffte er zumindest.

 

Er brachte den kleinen Kerl schließlich ins Bett; für den Moment musste ein Haufen aus Decken und Kissen reichen, in dem er sich einkuscheln konnte. Bark würde ihm das Zimmer ordentlich einrichten, sobald es möglich war.

Mit seinem Hammer, den er selbst zum Baden nicht aus der Hand hatte legen wollen, krabbelte der Junge in den Deckenhaufen und deckte sich bis zur Nasenspitze zu.

„I bin müede, zefix“, informierte das Kind träge blinzelnd. Bark lächelte, strich ihm über den Kopf.

„War ein langer Tag, was?“

Der Junge nickte. Er kuschelte sich in die Decken, sah aus, als würde er gleich einschlafen. Bark brummte ihm einen sanften Gutenachtgruß zu, dann erhob er sich wieder, um den Raum zu verlassen und dem Kind seine wohlverdiente Ruhe zu geben.

„Cinna“, sagte der Junge, noch ehe er die Tür erreichen konnte. Verdutzt hielt er inne, wandte sich noch einmal um. Die gelben Augen glühten in dem Licht, das aus dem Flur hereinfiel.

Bark war sich nicht sicher, doch er glaubte, den Anflug eines Lächelns in dem Blick zu erkennen. Er schmunzelte still.

Was für ein Zufall.

 

„Gute Nacht, Cinna.“

 

Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass er seine Kopie von Deine Taube möcht‘ ich sein mal wieder zur Hand nahm.

30

„Solltet ihr kleinen Racker euch nich‘ lieber mit jemandem in eurer Größe anlegen?“

 

Wie vom Blitz getroffen stoben die halbstarken Gören auseinander, die gerade noch mit Feuereifer, Tritten und bösen Sprüchen auf ihr Opfer niedergegangen waren. Der Junge, der offensichtlich der Anführer der Bande war, baute sich mit in die Hüfte gestemmten Armen vor Bark auf und reckte die Nase in die Luft.

Er war noch keine zwölf, so wie er aussah, seine Hose war an den Knien zerschlissen und ungeflickt, obwohl das Material nicht einmal billig aussah; kein liebendes Elternhaus und genug Geld, um sich kaputte Hosen zu leisten. Zweifelsohne würde sie bald ersetzt werden.

„Was mischst du dich ein, Alter? Wir spielen doch nur.“

Zu viel Freizeit, zu wenig Pflichten. Eins von diesen Bälgern, die nie lernten, dass sie ihr Leben mit etwas Sinnvollerem verbringen konnten als damit, andere Leute zu schikanieren und sich darauf auszuruhen, dass Mamis und Papis Geld das schon alles klärte.

„Wenn das so is‘…“

Er grinste, extra breit und extra gefährlich – eine leichte Übung nach mehr als einem Jahrzehnt Theater. Seine Knöchel knackten laut.

„Lasst mich mitspielen.“

 

Er hatte selten jemanden so schnell wegrennen sehen wie diese Kinder.

 

„Danke, und so.“

Er war versucht, ihnen nachzusetzen und ihnen gepflegt ein paar hinter die Horchlöffel zu geben, auf dass sie irgendwann noch ihre Manieren wiederfanden, doch eine leise Stimme hielt ihn davon ab.

Der Knirps am Boden war zerschlagen, saß zusammengekauert da. Erst, als er sich aufrichtete, sah Bark, dass er einen Vogel in den Händen geborgen hatte.

„Warum hast du nich‘ mal versucht, dich zu wehren? Du siehst wie ein kräftiger Kerl aus.“

Der Junge zuckte mit den Schultern. Er erhob sich langsam, vorsichtig wegen all der Schrammen und Dellen, die er davongetragen hatte.

„Wegen dem hier, und so.“

Er hob den Vogel in Barks Richtung. Das kleine Ding war am Flügel verletzt, wie es aussah, und obendrein sehr schwach.

„Die haben ihm wehtun wollen. Da hab ich ihn beschützt. Vielleicht finde ich später noch etwas zu essen für den Piepmatz, und so.“

 

„Soll ich euch nach Hause bringen?“

Der Junge schüttelte den Kopf.

„Ist okay. Hab kein Zuhause, und so.“

„Nicht?“

„Nee. Ich wohn hinten bei den Großen, die auch kein Zuhause haben, und so.“

Bark hatte davon gehört. Ein paar Obdachlose, die sich zusammengeschlossen hatten, um das Leben auf der Straße ein bisschen erträglicher füreinander zu machen. Er wusste, dass sie auch Straßenkindern helfen wollten, doch er wusste genauso gut, dass sie damit heillos überfordert waren; sie hatten nicht genug. Jedes Maul mehr zu stopfen war eine Qual. Manchmal steckte er ihnen etwas Geld zu. Manchmal eine Tüte Bonbons.

Er hätte auch dem Jungen hier einfach ein paar Münzen geben können, damit er sich um den Vogel kümmern konnte, und ihn seiner Wege ziehen lassen.

 

Aber da war etwas an ihm, das ihn einfach faszinierte.

Für einen Dreikäsehoch hatte er eine bemerkenswerte Ausstrahlung, und für ein Straßenkind – seiner Erfahrung nach lernten die als erste Lektion im Leben, dass es keine höhere Priorität gab als sich selbst – war er überraschend selbstlos.

 

„Ich hab da eine Idee. Was hältst du davon, wenn du mit mir kommst? Mir gehört das eine Theater im Theaterviertel, und ich such noch neue Darsteller. Ich hab so das Gefühl, du wirst mal eine richtig gute Hauptrolle. Und für deinen kleinen Vogel haben wir auch noch nen Platz, Cinna und ich.“

„Cinna?“

„Der wohnt auch bei mir. Ist ein bisschen älter als du, aber ihr versteht euch sicher prächtig.“

Der fremde Junge schwieg. Er schien das Angebot sehr intensiv zu überdenken, nickte aber schließlich doch.

„Danke nochmal, und so.“

„Nichts zu danken. Ich bin übrigens Bark, aber du kannst mich ruhig Chef nennen.“

 

„Ich hab keinen Namen. Die Großen sagen, das lohnt sich erst, wenn sie sicher sein können, dass ich überhaupt erwachsen werd, und so.“

„Aber du brauchst einen Namen, wenn du mal mein großer Star werden sollst, garharhar!“

Bark lächelte dem Jungen gewinnend zu.

„Und ich hab genau den Richtigen, glaube ich.“ – „Was denn?“

 

„Marcus.“

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„Chef, do is wos inna Düür, zefix!“

„Nicht was. Wer, und so.“

 

Was oder wer stellte sich als ein kleines Mädchen heraus, das in der Tür zum Hauptquartier der Tantalus-Theatertruppe stand, das gleichzeitig auch als kleines Theater zum Aufführen fungierte – zumindest so lange noch, bis sie sich weit genug etabliert hatten, um auch größere Bühnen zu erreichen.

Obwohl sie alles andere als groß war, hatte sie eine Präsenz, die den ganzen Türrahmen ausfüllte, wie sie da mit verschränkten Armen stand und an Marcus und Cinna vorbeifunkelte.

„Ich will den Chef spräche“, erklärte sie energisch, Bark ins Auge gefasst.

„Garharhar. Du bist ja ne ganz mutige junge Dame.“

Das Mädchen reckte die Nase in die Luft, eine Mischung aus Stolz und Trotz.

 

„Natüllich. Sönst kummt man im Theoterjeschäft doch jar nit vörran.“

 

Barks Schnauzbart zuckte vor Amüsement über die Abgebrühtheit, mit dem das kleine Ding ihm begegnete – die war doch kaum alt genug, um trocken hinter den Ohren zu sein!

Aber sie hatte Mumm, und er mochte Mumm.

Er trat zu ihr, ging vor ihr in die Hocke, um halbwegs auf einer Höhe zu sein. Tat doch irgendwann sicher im Nacken weh, wenn das Mädchen immer hochschauen musste; dass das ihren Stolz kränken könnte, darum kümmerte er sich nicht.

Wenn sie wirklich im Theater arbeiten wollte, dann würde sie sich schnell daran gewöhnen müssen.

Das Publikum konnte grausamer sein als der schlimmste Foltermeister.

„Theater, so so. Deshalb bist du also hier?“

Das Mädchen nickte.

„Mein Name es Ruby. Ich will Schauspielärin werde, un ich hab jehört dun, dat deine Tropp ziemlich underbesetzt es.“

„Und was sagen deine Eltern dazu, und so?“

 

Ruby zuckte mit den Schultern. Sie drehte eine Locke ihres langen, wilden Haars um den Finger.

„Denen es dat ejal.“

Sie klang ein bisschen zu ausweichend, als dass Bark ihre Worte für bare Münze nahm. Er hob die Augenbrauen, um seiner Skepsis wortlos Ausdruck zu verleihen. Obwohl sie sich Mühe gab, es nicht zu zeigen, wand sich Ruby sichtlich unter seinem Blick.

Schließlich seufzte sie unwirsch.

„Ich hab sie nit jefraacht, okay?! Ich kann sie jar nit frajen, ich weiß jo nit mol, wo sie sind.“

„He, wia meensten des, zefix?“

„Jenau so, wie ich et saje!“, fauchte sie mit einem gefährlichen Beben in der Stimme und trat einen ungestümen Schritt auf Cinna zu. Obwohl er ihr in allem – Alter, Autoritätsposition, Größe – überlegen war, stolperte er mit abwehrend erhobenen Händen zurück.

„G-Gnadn, Frollein…!“

 

Als auch Marcus vortrat, wohl in dem Bestreben, zu schlichten, ehe alles explodierte, beschloss Bark, dass es genug mit dem Kindergarten war und räusperte sich kräftig.

„Marcus, Cinna, schlagt hier keine Wurzeln und geht los, um die Einkäufe zu machen. Nachher sind alle guten Waren schon weg, weil ihr zwei Kasper hier lieber Maulaffen feilhaltet!“

„J-jawoll, Chef, zefix!“

„Sind schon unterwegs, und so.“

 

Er wartete, bis die Beiden samt Einkaufszettel hinaus waren, dann wandte er sich wieder an Ruby, die Arme immer noch streng vor der Brust verschränkt.

„Erzähl mir doch erstmal, was das jetzt mit deinen Eltern ist. Hast zwar gut erkannt, dass ich hier kein Mindestalter habe, aber ich nehm keine Ausreißer auf, damit ich nachher von Mutti und Vati die Hucke vollkriege.“

„Ich hab doch scho jesaacht, ich weiß nit mol, wo die sind“, wiederholte Ruby, das Gesicht zu einer halben Schnute verzogen.

Inzwischen bröckelte ihre selbstbewusste Fassade. Da war so viel Unsicherheit in ihrem Gebaren, so viel Hilflosigkeit. Hoffnungslosigkeit. Sie brauchte einen neuen Ausblick, das wurde immer deutlicher.

„Ich bin vör ene Weile abjehaue, als wir uns jestritte habe. Weil sie nit wöllte, dass ich Schauspielärin werden du. Dat sei so e dumme Beröf, dat mache nur Leut, die könn' sonst nix, sajen sie. Dann bin ich wejjelaufe. Un dann–“

Sie brach ab, biss sich heftig auf die Unterlippe. Ihr ganzer kleiner Körper bebte.

 

„Bin en paar Taje später wieder zuröck, weil ich Hunger hat' un mein Taschejeld wa alle. Da war'n sie äber nit mehr da. Un ihre Säche och nit. Die sind enfach ohne mich jejange!“

Ruby schniefte, wischte sich energisch mit dem Ärmel über die Augen.

„Deshalb!“

Noch ein Schniefen. Tränen, die sie wieder gnadenlos wegrubbelte. Dann zog sie die Nase hoch und reckte das Kinn vor in dem Versuch, würdevoller auszusehen als das kleine Mädchen mit dem verheulten Gesicht und den verfilzten Haaren, das sie war.

„Ich brauch Jeld, dat ich mer Esse kaufe kann. Un ich will Schauspielärin sein. Alsu bin ich hier! Du brauchs Leude, un ich lern schnell. Ich kann sojar scho fast lese!“

 

Bark hätte sie doch nicht einmal ablehnen können, wäre er dafür bezahlt worden.

 

Er tätschelte Ruby flüchtig den Kopf, ehe er sich wieder erhob.

„Ist ja gut. Aber ich warne dich! Wir hier bei der Tantalus nehmen unsere Arbeit extrem ernst! Du wirst schuften und schuften, bis du umkippst – und dann wirst du noch weiterschuften! Hast du das verstanden? Wir können hier keine verweichlichte kleine Dame gebrauchen!“

 

Dass Rubys erste Reaktion ein rasend wütendes Funkeln war, während sie die tätschelnde Hand wegschlug, brachte ihn dazu, bellend aufzulachen.

„Wunderbar! Du hast ja richtig Feuer! Bewahr dir das bloß.“

Sie schnaubte.

„Natüllich.“

Bark bezweifelte, dass sie wirklich verstand, aber das war auch in Ordnung – sie würde früh genug lernen.

 

„Dann komm, Ruby. Ich zeig dir dein Zimmer und geb dir deinen Trainingsplan. Wer faulenzt, wird bestraft, also komm nich‘ auf Ideen!“

„Wie öft denn noch? Ich faulenz nit! … Ah. Äber.“

Sie war gerade einmal ins Haus getreten, hielt jetzt aber doch wieder inne.

„Eh ich et verjesse, da es noh wat.“

„Was denn noch?“

Sie reckte sich hoch, die Schultern entschlossen gestrafft.

„Ene Bedingung.“

„Garharhar! Das wird ja immer besser hier! Was für eine Bedingung hast du denn?“

 

Ruby antwortete nicht. Sie packte Bark nur am Ärmel und zog ihn mit sich hinaus.

 

An der Hauswand hockte ein kleiner Junge. Schmutzig, in zerschlissenen Kleidern, das feuerrote Haar verfilzt – alles an ihm schrie Straßenkind.

„Den hab ich jefunde“, erklärte Ruby schließlich, „Ich weiß, der es noh wat klein, äber der wirkt janz jescheid. Und weil a kein Platz mehr habe dut, hab ich en mitjebraacht.“

Bark schmunzelte heimlich, setzte dann aber sein strengstes Gesicht auf.

„Das geht dann aber von deinem Gehalt ab, wenn der bei uns schmarotzern soll.“

 

Ruby schwieg.

Sie schien nachzudenken, zwirbelte wieder eine Haarsträhne um den Finger, kaute auf ihrer Unterlippe herum. Dann stieß sie schließlich die Luft in einem Seufzen aus.

„Na jut. A sull dat zuröckzahle, suballd a selbs orbeite dut.“

 

„Garharhar! Bist ja eine ganz harte Geschäftsfrau. Gefällt mir! Na gut, dann soll dein kleiner Freund eben bleiben. Wie heißt er denn?“

„Dat wisse wir och nit.“

„Tja, dann braucht er wohl nen neuen Namen. He Jung, hast du Wünsche?“

Scheinbar nicht, zumindest schwieg er. Aber er ließ sich von Ruby immerhin dazu motivieren, hochzukommen, und mit dem Zwerg an der Hand marschierte sie zurück ins Hauptquartier, mit einer Selbstverständlichkeit, als würde ihr der ganze Laden gehören.

Bark wusste jetzt schon, er würde verdammt viel Spaß an dem Mädel haben. Sie war eine großartige Bereicherung für seine Bande.

Und, was noch viel wichtiger war – sie würde sich mühelos zwischen den Jungs durchsetzen können.

 

Und natürlich würde sie das gleiche Taschengeld wie Cinna und Marcus kriegen. Bark konnte sie doch nicht dafür bestrafen, einem Kind in Not zu helfen.

„Wird ja langsam richtig lebhaft hier“, murmelte er amüsiert in seinen Bart, schüttelte den Kopf.

So hatte er sich seine Theatergruppe ursprünglich zwar nicht vorgestellt, aber er war weit davon entfernt, sich zu beklagen; es war besser, als jede Vorstellung es hätte sein können.

Guter Dinge folgte er den Beiden zurück ins Gebäude, sah gerade noch, wie Ruby samt Anhängsel in einem Gang verschwand, vermutlich um das Haus zu erkunden.

Mutiges Ding.

 

„He, wartet gefälligst, Ruby, Blank!“

33

Irgendwo auf dem Marktplatz konnte er die empörten Rufe von Ruby hören.

„Cinna, wir müsse da nit hin!“

„Marcus, wat in alle Welt wills‘ do denn domit?!“

„Blank! Jitz trödel nit!“

Es war entspannend; seit sie angekommen war, hatte sie die Jungs längst unter ihre Knute gebracht, und so nutzte Bark es gern mal aus, dass er ihr die Verantwortung über alle Einkäufe und Besorgungen übergeben konnte, sicher wissend, dass dann auch wirklich alles ankommen würde.

Ohne, dass es Stunden zu lange dauerte.

Ohne, dass am Ende die Hälfte fehlte.

Ohne, dass der Einkaufszettel auf halbem Weg verloren ging und die Jungs mit hängenden Köpfen zurückkamen, um sich die Strafe für ihre Dusseligkeit abzuholen und einen neuen Einkaufszettel gleich mit dazu.

 

Es machte Spaziergänge durch das Einkaufsviertel so viel entspannter, wenn er die Knirpse nicht selbst hüten musste wie einen Sack Juckzirpen, sondern auch einfach mal entspannt die Gedanken schweifen lassen konnte, die Aussicht über das geschäftige Treiben genießen…

 

Oder eine kurze Pause in der Taverne einlegen, um ein bisschen was zu trinken.

 

Etwas, das er gerade auch tat. Noch ein letzter Blick in die Ferne, doch nachdem es immer noch sehr danach aussah, dass Ruby alles im Griff hatte, wandte er sich endgültig von seinen Schützlingen ab und marschierte schnurstracks zur nächsten Schenke.

Sie hatten einen Treffpunkt ausgemacht, an dem sie sich wiedertreffen würden, er hatte Ruby ein paar Münzen extra mitgegeben, damit sie sich alle mit Süßigkeiten bei Laune halten konnten.

Es passte also alles.

 

Im Inneren des Ladens begrüßte ihn der Lärm fröhlicher Betriebsamkeit. Eine Schankmagd wand sich elegant an ihm vorbei und schenkte ihm ein Zwinkern, bevor sie mit ihrem Tablett in der Menge verschwand, um Getränke an durstige Gäste zu verteilen.

Bark ließ sich an einem freien Tisch nieder und streckte entspannt die Beine von sich, lehnte sich zurück, und… beobachtete.

Für einen Schauspieler keine schlechte Angewohnheit. Man konnte erstaunlich viel aus dem Gebaren seiner Mitmenschen erfahren, um es dann in das eigene Handwerk zu integrieren.

 

Und nicht nur für einen Schauspieler war das nützlich – für einen Dieb genauso.

 

Während er noch über die Nachlässigkeit einer jungen Dame sinnierte, die ihr Geld so offen trug, dass es ihm selbst in diesem belebten Umfeld ein Leichtes gewesen wäre, es zu stehlen, fiel ihm der kleine blonde Knirps das erste Mal auf.

Zu klein, um alleine in eine Taverne zu gehen, zu wild, als dass er allzu gut erzogen wäre. Er wuselte zwischen den Tischen hindurch, blieb hier und da kurz stehen, um jemanden oder etwas näher zu betrachten, und lief dann weiter.

Kaum jemand schenkte ihm Beachtung – so wie Bark auch ging wohl jeder davon aus, dass er mit Mutter oder Vater gekommen war, die ihn zurückpfeifen würden, wenn seine Aufdringlichkeit überhandnahm.

 

Doch ihn pfiff niemand zurück.

Und irgendwann wurde es lästig:

„Sag mal, hast du keine Eltern?!“, zischte ein untersetzter Mann, aus dessen Worten so viel Ärger wie Alkohol sprach.

Der Junge hielt inne. Bark bemerkte einen Schwanz in der gleichen Farbe wie sein Haar, der sich interessiert in seinem Rücken kräuselte und herumtanzte.

„Eltern?“

„Na los, verschwinde, du Pest! Du wirst zuhause bestimmt schon erwartet!“

Der Junge legte den Kopf schief, lehnte sich zu dem Kerl vor, der ganz offensichtlich keine Lust auf ihn hatte.

„… Was ist ein Zuhause?“

 

Bark seufzte. Er stemmte sich mit einem Ächzen wieder hoch auf die Beine, schob sich an einer Schankmagd vorbei und packte sich den Jungen, bevor der Trunkenbold ihm gegenüber seinem sichtbar wachsenden Ärger Luft machen konnte.

 

„Da wohnt man, Jungchen.“

„Hm. Sowas hab ich nicht. Braucht man das?“

„Es macht das Leben leichter“, gab Bark achselzuckend zurück. Er rückte das Fliegengewicht auf seinem Arm so zurecht, dass er es bequemer halten konnte. Große Augen musterten ihn aufmerksam, interessiert.

 

„Du siehst ganz schön albern aus, alter Mann.“

 

Bark verpasste dem Knirps einen mahnenden Klaps auf den Hinterkopf.

„Du bist ganz schön frech, Junge. Ich bin ein Mann im besten Alter, und von albern brauchst du gar nicht reden.“

Sprach’s und zupfte, um seine Worte zu unterstreichen, an dem gedankenverloren herumpeitschenden Schwänzchen.

„A-au! He! Du Grobian! Lass mich runter!“

„Damit du weiter die Gäste hier nervst? Nah, lass mal. Wir beide gehen jetzt, und dann erzählst du mir, wo du abgehauen bist, damit ich dich da wieder abliefern kann.“

„Weiß ich aber nicht“, gab der Knirps zurück, zuckte mit den Schultern.

„Sieht doch alles gleich aus hier. Überall Häuser und so Zeug.“

„Und wo kommst du her?“

„Hmmm…“

 

Der Knirps schwieg, während Bark seine Getränke bezahlte und ihn dann aus der Taverne hinaus zurück ins geschäftige Einkaufsviertel trug.

„Ah. Ich weiß wieder.“

Den Blick hatte das Kind inzwischen in den Himmel gerichtet.

„Ach? Lass mal hören.“

„Da.“

Er zeigte hinauf in den Himmel.

„Ein blaues Leuchten. Aber anders wie das da oben. Mehr so… Blau.“

„Aha.“

Keine gute Beschreibung, aber was sollte er auch von einem Dreikäsehoch erwarten?

 

„Also bist du übers Meer gekommen, hm? Bist am Hafen angekommen… und du warst alleine?“

„Genau, alleine. Was auch immer ein Hafen ist.“

Bark seufzte, während der Knirps auf seinem Arm herumkletterte, bis er sich auf seiner Schulter aufstützen konnte, um zu betrachten, was auch immer hinter ihnen lag.

„Keine Eltern.“

„Nö. Was ist das?“

„Familie.“

„Kenn ich nicht.“

„Und warum bist du hier?“

„Hmmm… Weil ich nicht woanders bin.“

Er seufzte noch einmal, schüttelte den Kopf.

 

„Wie heißt denn deine Heimat?“

„Was ist eine Heimat?“

„Ein Ort, an dem man zurückkehren kann.“

Einen langen Moment war der Junge still. Der Schwanz, der vor Barks Gesicht herumgepeitscht hatte, wurde langsamer und langsamer, bis er energielos hinabsank, begleitet von einem Seufzen, das viel zu schwer für den kleinen Kinderkörper war.

„Hab ich auch nicht.“

 

„Dann komm mit mir. Ich geb dir zumindest ein Bett zum Schlafen und genug zu essen, dass du nicht verhungerst.“

„Okay.“

Einfach so. Was für ein seltsames Kind.

So einen wie dich findet man auch nur einmal im Leben, huh?

„Aber ich warne dich, Knirps: Du wirst dafür rackern müssen! Bei der Tantalus erarbeitet man sich alles hart!“

„Tantalus? Was ist das?“

„Der Name meiner Theatergruppe. Das ist wie Familie.“

 

Wieder wurde der Junge still, doch das Schwänzchen setzte sich so langsam wieder in Bewegung. Träge, nachdenklich. Schließlich wurde das Wedeln energischer – er schien zu einer Entscheidung gekommen zu sein, worüber auch immer er gegrübelt hatte.

„Na gut. Dann mach ich das. Kann ich dann hierbleiben?“

„Hier?“

Der Knirps gestikulierte vage. Bark spürte es mehr, als dass er es sah.

„Hier“, wiederholte er. Seine Worte unterstreichend schlang sich der peitschende Schwanz um Barks Oberarm.

 

„Garharhar! Glaub nicht, dass ich dich immer durch die Gegend schleppe, Bürschchen! Du lauf mal schön auf deinen eigenen Beinen.“

 

Er setzte den Jungen gerade trotzdem nicht ab, wenn auch eher, weil er Sorge hatte, dass das Balg ihm sofort wieder stiften ging. Er war in der Taverne schon ziemlich fix zu Fuß gewesen, und Bark wollte nicht riskieren, das Kind an irgendwelche zwielichtigen Gestalten zu verlieren.

„Du bist nicht so der Netteste, oder, alter Mann?“

Für seine Frechheit kassierte der Kerl noch einen Klaps auf den Hinterkopf.

„Mein Name ist Bark, Junge. Chef reicht aber auch.“

„Ach ja. Namen. Hab ich ganz vergessen, dass man die braucht.“

Bark seufzte.

„Du scheinst ja mächtig viel vergessen zu haben.“

„Hmmm… Ich hab keinen Namen.“

 

„Ihr Kinder immer und eure fehlenden Namen… Jungchen, du heißt ab jetzt Zidane, kapiert? Merk’s dir, ich ruf nicht gern zweimal nach jemandem.“

 

„Könnte hässlicher sein.“

 

Bark war sich sicher, der Junge würde ihm irgendwann frühzeitig graue Haare bescheren.

35

Zuerst war seine Bühne nur eine alte Kiste auf dem Marktplatz gewesen, die mit einem Stück Stoff bedeckt gewesen war, um etwas hübscher auszusehen.

Dann hatte er sein eigenes Theater erworben.

Es war klein gewesen, geradezu winzig, konnte keine hundert Leute fassen, doch es war seins, und es war vor allem auch ein Heim für ihn und seine Leute, die mit den Jahren gekommen – und teilweise wieder gegangen – waren.

Dann war der Name Tantalus groß genug geworden, dass sie in den großen Theatern auftreten konnten. Nicht nur in Lindblum. Überall auf dem Kontinent des Nebels.

Groß genug, dass sie jedes Jahr zum Geburtstag der Prinzessin ihr Aushängeschild Deine Taube möcht‘ ich sein vor dem alexandrischen Königshof spielen durften.

 

Zuerst hatte er geglaubt, das könnte nun der Höhepunkt seiner Karriere als Schauspieler und Dieb sein. Die Möglichkeit, das ganze Land zu bereisen, ganze Theatersäle zu füllen und in seinen Bann zu ziehen.

Selbst den Königshof von Alexandria so sehr zu verzaubern, dass es ein leichtes war, den anwesenden Adligen ihre Kostbarkeiten aus der Tasche zu ziehen.

 

Er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so sehr getäuscht.

 

„Des is jo dea Woansinn, zefix!“

„Total krass, und so. Richtig krass. Unglaublich, und so.“

„Es is‘ ein beeindruckender Kahn.“

„Et es wonderschön!“

„Mit dem Ding kommen wir auf jeden Fall schneller von A nach B. Und der Ausblick muss der Wahnsinn sein!“

 

Bark platzte beinahe vor Stolz, während er zusah, mit wie viel Begeisterung und Ehrfurcht die Knirpse das riesige, majestätische Luxusluftschiff Prima Vista anstarrten, das seit wenigen Stunden offiziell im Besitz der Theatergruppe Tantalus war.

„Wollt ihr nicht lieber an Bord gehen, statt nur zu gaffen? Garharhar! Das ist ein ganz anderes Kaliber als die schnöden Passagierluftschiffe, mit denen wir bisher zu unseren Auftritten außerhalb fliegen mussten.“

Er grinste breit, trat näher an das Schiff heran und breitete die Arme aus.

„Und das Beste ist: Diese Schönheit ist perfekt auf unsere Bedürfnisse zurechtgeschnitten. Ihr müsst die Bühne seh‘n! Da fallen euch die Augen aus dem Kopf vor Staunen, das glaubt mir mal.“

 

Es war genug der Lobpreisung: Die Knirpse überschlugen sich beinahe, während sie versuchten, auf die Prima Vista zu kommen.

Bark, der sich natürlich längst die Zeit genommen hatte, ihre neue fliegende Basis auf Herz und Nieren zu prüfen, schlenderte ihnen gemächlich hinterher, grinste zufrieden, während er die „Ooooh!“s und „Aaaaah!“s des kindlichen Staunens hörte, egal wie weit seine Kollegen ins Schiffsinnere vordrangen; sie waren einfach zu laut.

 

Einmal oben angekommen entdeckte er von Marcus und Cinna keine Spur mehr; sie mussten unter Deck gegangen sein, um sich dort umzusehen. Blank warf einen sehnsüchtigen Blick in Richtung der Tür, die hinab in den Bauch des Schiffs führte, doch Ruby hatte ihn gepackt und hinderte ihn daran, seinen Freunden zu folgen. Ihre Augen leuchteten voller Begeisterung, ihre Wangen glühten.

„Da fühlt mon sich wirklich wie en richtije Prominänt“, schwärmte sie. Sie ließ Blank los und drehte sich lachend um ihre eigene Achse, dass ihre Röcke nur so um sie hochflogen.

„Findest do nit, Blank?“

„Ja, es is‘ krass“, gab er geistesabwesend zurück.

Sein Blick lag inzwischen nicht mehr auf dem Schiff.

 

Bark wandte sich mit einem Schmunzeln ab und spazierte weiter über das frisch polierte Deck. Zidane saß auf der Reling in der Front, sein Schwanz peitschte auf die Art hinter ihm, die er längst mit Nachdenklichkeit in Verbindung brachte, wenn er sie sah. Gemächlich näherte er sich dem Jungen, die Hände auf dem Rücken verschränkt und den Blick hinaus in die Ferne gerichtet.

„Was beschäftigt dich?“

„Ich frage mich… Wir können jetzt überall hinfliegen, richtig?“

„Überall auf diesem Kontinent“, korrigierte Bark mit einem Kopfschütteln, „Das Schiff fliegt genauso mit Nebelantrieb wie jedes andere Luftschiff.“

„Hmmm…“

„Hm?“

„Denkst du, das reicht?“

Bark seufzte. Eine schwere Hand landete auf der winzigen Schulter des Jungen.

 

„Schwer zu sagen“, brummte er nach einem langen Moment des Schweigens.

Natürlich konnte er Zidane belügen und ihm beteuern, dass sie jetzt, wo sie ohne an die Routen des öffentlichen Luftverkehrs gebunden zu sein, über den Kontinent hinwegfliegen konnten, seine Heimat und Familie gewiss finden würden.

Aber warum sollte er? Ihn glauben zu machen, dass seine Wünsche nun in Erfüllung gehen würden, würde ihn am Ende nur faul und bequem werden lassen.

 

Die Ungewissheit hingegen, die trieb ihn an, seinen eigenen Weg zu gehen.

 

„Vielleicht finden wir dein blaues Leuchten. Vielleicht finden wir es nicht. Wir haben schon große Teile des Kontinents des Nebels gesehen, und bisher sind wir leer ausgegangen in der Sache. Haben auch nichts gehört davon. Du wirst nicht drumherum kommen, weiter die Augen offen zu halten und zu suchen, wenn du Erfolg haben willst.“

Zidanes Schwanz sank in einem langsamen Tänzeln hinab. Er blieb still. Irgendwo hinter ihnen lachten Blank und Ruby.

 

„Ich hör nicht auf“, murmelte er schließlich, ein Versprechen, das der Wind mit sich nahm, um es irgendwo in der Fremde zu verlieren. Bark drückte seine Schulter kurz, dann klopfte er dem Jungen barsch auf die Schulter.

 

„Komm. Genug trübe Tasse gespielt. Es wird Zeit für unseren Jungfernflug!“

42

Ein Blick in blaue Augen, und er wusste, was Zidane sagen wollte, noch bevor er es sagte.

 

„Chef, ich gehe.“

 

Bark seufzte schwer.

Er hatte schon lange gewusst, dass es irgendwann dazu kommen würde. Hatte es in jedem sehnsüchtigen Blick in die Ferne gesehen, wenn die Prima Vista über den Kontinent dahinglitt, in jedem frustrierten Schlenkern seines Schwanzes, wenn er wieder unverrichteter Dinge von einem Streifzug in einer fremden Stadt zurückkehrte, ohne neue Informationen über das, was er suchte.

Er hatte es gewusst.

Er hatte auch gewusst, dass es bald kommen musste. Trotzdem konnte er nicht behaupten, dass es ihm gefiel, Zidane jetzt so gegenüberzustehen.

 

„Du kennst die Regeln.“

 

Zidane nickte. Es änderte nichts an seiner Entschlossenheit. Bark seufzte noch einmal, schüttelte dann aber den Kopf.

„Nun, den Schlamassel habe ich mir selbst eingebrockt. Hab dich ja schließlich selbst so erzogen, nicht wahr? Aufgeben ist bei der Tantalus nicht.“

„Deshalb muss ich ja gehen. Ich muss einfach wissen–“

Bark hob die Hand.

„Halt. Ich habe nicht nach deinen Beweggründen gefragt. Du hast dich entschieden, das sehe ich an deinem Blick. Da brauch ich keine großen Erklärungen mehr, das sagt sowieso mehr als tausend Worte es je könnten.“

 

Gemächlich erhob er sich von seinem Schreibtischstuhl. Er nahm sich alle Zeit der Welt, um die Papiere auf seinem Tisch noch zu ordnen: Pläne für ihre nächste Aufführung und den damit einhergehenden Diebstahl. Dieses Mal hatten sie es auf kostbare Juwelen abgesehen, die angeblich schon viele Jahrhunderte alt sein sollten.

Gleich, ob sie es waren oder nicht, ihr Wert war trotzdem unermesslich hoch. Genau das Richtige für die Tantalus also.

 

Es war Absicht, dass er trödelte.

 

Zidanes Schwanz zuckte irritiert, ungeduldig herum. Der Junge war wie unter Strom, angespannt wie eine Bogensehne kurz vor dem Reißen.

In Gedanken war er sicher längst auf seiner großen Reise auf der Suche nach dem eigenen Ich.

 

Fertig mit Aufräumen marschierte Bark ohne sichtbare Gemütsregung an ihm vorbei.

„Du weißt, wo du mich findest. Ich warte im Frachtraum auf dich.“

Zidane schnaubte.

„Wenn hier einer warten muss, dann ja wohl ich!“

Und schon stürmte er davon, an Bark vorbei, der sich gar nicht die Mühe machte, ihn zu überholen.

Entsprechend war der Knirps der Erste, der den Frachtraum betrat.

 

Er war auch der Erste, der ihn wieder verließ.

 

Nach einem Kampf, den Bark mühelos hätte gewinnen können, hätte er es gewollt.

Aber darum ging es nicht – es ging nur darum, zu sehen, dass Zidane stark genug war, um sich alleine durchzuschlagen. Wer sich halbwegs gegen ihn behaupten konnte, der bekam Barks Segen, der Tantalus den Rücken zu kehren, denn dann konnte er wenigstens sicher sein, dass die Leute, die über Monate oder Jahre hinweg seine Schützlinge gewesen waren, nicht bei nächster Gelegenheit wahlweise von irgendwelchen Wachen überwältigt wurden und im Knast landeten, oder schlimmer noch dazu übergingen, das Gizar-Kraut von unten zu betrachten.

 

Zidane würde es gut gehen.

Es war beruhigend.

 

Trotzdem dauerte es eine ganze Weile, bis Bark die Sache so weit verwunden hatte, dass er sich aufraffen konnte, um zu seinen Leuten zurückzukehren und sie damit zu konfrontieren.

Ein Mitglied der Truppe zu verlieren, das war nie einfach.

Schwerer war es noch, wenn es sich um ein Mitglied handelte, dass so lange dabei gewesen war. Und so aufdringlich penetrant dabei.

„Wird still werden ohne den Jungen“, kommentierte er kopfschüttelnd.

Keine Kabbeleien über irgendwelche Dorfmädchen mehr zwischen Blank und Zidane.

Keine Empörung seitens Ruby mehr darüber, weil Zidane ständig irgendetwas vergaß, um das sie bat.

Keine suchenden Blicke in die Ferne.

Keine frechen, respektlosen Sprüche, für die der Kerl eigentlich gepflegt übers Knie gelegt gehörte.

 

„Garharhar! Das wird jetzt eine ganz neue Tantalus!“

 

Fraglich, ob das wirklich gut sein würde.

„Gut. Genug herumgetrauert! Wird Zeit, an die Arbeit zu gehen. Da muss ein Plan umgeplant werden. Edelsteine stehlen sich schließlich nicht von selbst und unser Hauptdarsteller hat das Schiff verlassen.“

 

Entschlossen machte er sich auf den Rückweg zu seinem Arbeitszimmer, doch weit kam er nicht:

Ein großer Teil der Truppe war im zentralen Gang des Schiffsbauchs versammelt, und alle sahen sie ihn an, kaum, dass er herankam.

„Ist er wirklich weg, und so?“

„Richtig. Zidane hat das Fernweh gepackt.“

Eher das Heimweh, aber gut. Weder waren Zidanes Beweggründe etwas, das vor seinen Kameraden ausgebreitet gehörte, noch hatte Bark vor, allzu lange den Verlust des Wildfangs zu betrauern. Sie konnten es sich nicht leisten, stillzustehen und sich darin zu verzetteln.

Sie hatten zu tun!

Entschlossen stemmte er die Hände in die Hüften.

„Das heißt, wir haben jetzt ein Paar Hände weniger – aber auch ein Maul weniger zu stopfen. Garharhar! Das gleicht sich also aus. Blank?“

„Ja, Chef?“

„Du übernimmst seinen Part im Plan. Die genauen Informationen gebe ich dir, sobald ich sie fertig ausgearbeitet habe. Ein bisschen müssen wir doch ändern, jetzt, wo wir ein Mann weniger sind.“

Blank salutierte. Begeistert sah er nicht aus, aber den Wink mit dem Zaunpfahl hatte er bekommen.

„Is‘ klar, Chef!“

 

„Abber des is scho trauri, zefix. De Zidane hod doch oanfoch d'zughörd, zefix.“

„Ja, er wird fehlen, und so.“

„Da kann man nichts machen, Leute“, gab Bark mit einem unbekümmerten Schulterzucken zurück – das Ergebnis beinahe lebenslanger Schauspielkunst.

„Jetzt macht euch nicht ins Hemd deshalb. Zidane ist nicht der Erste, und er wird auch nicht der Letzte sein, der die Tantalus verlässt. Bis jetzt haben wir noch jeden Verlust verkraftet.“

 

Aber das ist etwas anderes, sagten die Blicke, die Bark begegneten. Niemals war jemand gegangen, der so eng mit der Tantalus verbunden war. Keins seiner unausgesprochenen Ziehkinder.

 

Niemand war dumm genug, das laut auszusprechen.

 

„Äber Chef, sag mol“, begann Ruby, verscheuchte die unausgesprochenen Gedanken damit aus der Luft. Sie stemmte eine Hand in die Hüfte und neigte den Kopf leicht zur Seite, halb fragend, halb provokant.

„Könn wir nit endlich domit ophöre? Ich mein, jitz, der Zidane weg is', da fählt scho irjendwie dat Persönal, um weidazumache wie bisher. A wort doh all dran jewöhnt, in da Gropp zusamm'zuarbeite un jeder hatt' sein nötije Platz jehabt dun. Und wir verdiene jut. Die Mensche liebe ons. Alle woll'n unsre Vorstellönge sähn. Wir könnte einfach ene janz normole Theatertropp werde.“

Könnten sie.

Bark hatte auch schon darüber nachgedacht.

Oft genug.

Er machte sich da nichts vor: Ein ehrliches Leben wäre für die Jungspunde viel gesünder als dieser Drahtseilakt zwischen Schauspiel und Diebstahl. Aber genau das war es, was die Tantalus ausmachte – was sie zusammenschweißte, miteinander verband.

 

Er war, so oft er darüber nachgedacht hatte, zu dem Schluss gekommen, dass ein ehrliches, bodenständiges Leben ihn nicht glücklich machen würde.

 

„Ruby, sei nich‘ so. Wir kriegen’s auch ohne Zidane hin, so wichtig is‘ der nicht für die Arbeit. Du musst dir keine Sorgen machen.“

„Wia de Blank des soage dud, zefix! Mia simmer de bessde Diabe inne goanze Lande, des schaukel mia mit lingse, zefix!“

„Genau, und so.“

 

Und er war nicht der Einzige. Sie alle brauchten dieses Leben, brauchten diesen Nervenkitzel. Und wer es nicht wollte – der musste nicht mitmachen. So wie Ruby.

Ruby, die gerade empört mit dem Fuß auf den Boden stampfte.

„Ich mach mer keine Sorjen um euch, du Hohlköpp! Bild dir mol bloß nit su vill op dich ei!“

Sie schnaubte, schüttelte energisch den Kopf.

„Ich mog dat einfach nit! Wir sin die beste Schauspieler im janzen Land, wir haben‘s doh jar nit nötig, ons wie Jesindel mit Röberäien rumzuschlaje.“

„Es gehört aber dazu, und so“, gab Marcus mit einem Kopfschütteln zurück. Er hob in einer beschwichtigenden Geste die Hände und lächelte Ruby versöhnlich zu.

„Du musst doch auch immer noch nicht mitmachen. Und wir bezahlen schon lange nichts mehr von Diebesgut, und so. Aber mich würde das nicht zufrieden machen, zwischen den Aufführungen nur Däumchen zu drehen und meinen Text zu lernen, und so. Den kann ich sowieso schon auswendig, und so.“

„Richdich, zefix! Mia san numoal mea als nua Schauschpieler!“

 

„Außerdem“, mischte Bark sich ein, ehe Ruby noch einmal explodieren konnte, „weißt du das schon seit Jahren, Ruby, und du bist trotzdem immer noch hier. Dich zwingt ja niemand. Du bist eine talentierte junge Dame, du könntest auch allein in der Theaterwelt Fuß fassen.“

Die Aussage nahm ihr den Wind aus den Segeln; sie schrumpfte sichtlich in sich zusammen, alles Feuer für den Moment verloren.

Er wusste, dass sie sich nur Sorgen machte. Dass sie nicht verstehen konnte, wie man sich freiwillig in so viel Gefahr stürzen konnte, für ein paar Klunker, ein paar Gil, die man gar nicht mehr wirklich brauchte. Für schönen Ramsch und Tinnef, der am Ende in der Schatzkammer versauerte, bis man ihn irgendwann mal verhökern konnte, sobald Gras über die Sache gewachsen war.

Manches ließ sich auch gar nicht verhökern, weil es so selten oder berühmt war, dass der Diebstahl gleich im ganzen Land bekannt wurde.

 

„Och mocht doh, was a wöllt!“, fauchte sie schließlich, „Äber ich du erworten, dat a eure Schauspielärei daröber nit vernochlässije dut!“

Und da kam sie, eine von Rubys gefürchteten Predigten. Bark grinste in seinen Schnauzbart hinein, als sie energisch herumwirbelte und sich vor Cinna aufbaute.

„Do! Do has bei de letzte Vorstellung fast dein Text verjessen dun, jib’s zu! Ich hab jemerkt, wie du jezögert hast!“

„G-gnadn, zefix… Des hat doch koana von de Zuschaua gmerkd.“

„Äber ich hab et jemerkt! Sei jefälligst professionäller!“

Cinna schrumpfte in sich zusammen, klammerte sich an seinen Hammer, als könne der ihn über Rubys harsche Worte hinwegtrösten. Die junge Frau hatte derweil gar keine Augen mehr für ihn, war längst herumgewirbelt und mit wehenden Röcken zu Marcus gestiefelt.

„Un do, Marcus! Et jeht nit, dat unser Hauptdarställer beinoh übber sei eijene Füß stolpert! Dat kannste doh wohl besser. Wenn ich dat nohmal sehe–!“

Sie musste ihre Drohung nicht einmal beenden.

„Es kommt nicht wieder vor, und so!“

 

Blank, der längst ahnte, dass ihm als nächstes eine Schimpftirade blühte, war schon unauffällig zurückgewichen, hatte die nächste Tür angepeilt – doch er war zu langsam. Ruby holte ihn ein, noch bevor er überhaupt in die Reichweite des Türgriffs kam.

Ihr behandschuhter Finger bohrte sich in seine Brust.

„Vun dir brauch ich jar nit anfange! Do has doh bei der Vorföhrung noh diesem enen Weibsbild im Publiköm schöne Aug jemacht! Hast do denn jar keine Manieren?!“

„Ruby, ich–“

„Ja?!“

„Ich hab doch nur darüber nachgedacht, wie viel hübscher du bis‘!“

Für einen kurzen Moment hielt Ruby in ihrem Ärger inne. Bark war sich recht sicher, dass die Röte auf ihren Wangen nicht mehr nur ihrem Zorn zuzuschreiben war.

Blank merkte es auch. Da war ein Anflug von Triumph auf seinem Gesicht, der Bark ein gehässiges Grinsen entlockte; er kannte Ruby eindeutig zu schlecht.

„Glaub nit, dat ich op dein Süßholzjeraspel reinfalle du! Dir zieh ich dat Fell üba die Ohre, wenn dat nochmal vorkömmt!“

 

Bark hörte sie noch streiten, als er längst wieder an Deck stand und die Umgebung überblickte.

Irgendwo da draußen in der Ferne, die sich im Nebel verlor, war Zidane. Suchte seine Herkunft. Würde er Erfolg haben, vielleicht würde er nie wieder zurückkommen.

Würde er keinen Erfolg haben, würde er irgendwann wieder vor den Türen der Tantalus stehen.

Ruby blökte empört. Marcus mischte sich ein.

Bark lachte.

 

„Weißt du, ich glaube, ich hab‘ deine Kameraden unterschätzt, Junge. Garharhar! Es wird wohl doch nicht leiser ohne dich.“

44

Er war gewachsen. Ohne es direkt vergleichen zu können sah er, dass Zidane Blank, mit dem er lange etwa gleichauf gewesen war, inzwischen überragen würde.

Er hatte ein bisschen von dem kindlichen Babyspeck verloren, das er bei ihrer letzten Begegnung noch spazieren getragen hatte; sein Gesicht weniger rundlich, in seinen Zügen waren schon die ersten Spuren des herannahenden Erwachsenwerdens zu finden.

Sein Haar war gewachsen. Nicht so viel, wie es in der Zeit gewuchert wäre – es war gepflegt zurückgeschnitten worden.

 

Er sah gesund aus. Kräftig.

 

Bark hatte recht gehabt: Zidane konnte sich wirklich um sich selbst kümmern.

Zumindest körperlich.

 

„Chef, nimm mich wieder bei der Tantalus auf.“

Keine Bitte, eine Forderung. Zu viel Selbstbewusstsein, das, da war er sich verdammt sicher, zu kaschieren versuchte, wie enttäuscht der Junge darüber war, dass er nicht gefunden hatte, was er suchte. Keine Heimat. Keine Familie. Vermutlich nicht einmal ein Hinweis darauf, wohin ihn dieses blaue Leuchten aus seinen Erinnerungen führen könnte.

Und er hatte aufgegeben.

Nach nur zwei Jahren hatte er aufgegeben, weil er die Frustration der Ungewissheit und ziellosen Suche nicht mehr ertrug.

Er sah es. An der Art, wie Zidane betont lässig vor ihm stand, keine ehrliche Gemütsregung auf seinem Gesicht. Wie sein Schwanz hinter ihm in abgehackten, unruhigen Bewegungen peitschte und damit seine vorgetäuschte Ruhe betrog.

Bark war enttäuscht.

 

So hatte er Zidane nicht erzogen.

 

„Immer noch so dreist wie früher, wie ich sehe“, kommentierte er schließlich nur, sah mit finsterer Miene in abwartende blaue Augen.

„Du kennst die Regeln der Tantalus“, fuhr er fort. Er sah in Zidanes Gesicht, dass er nicht verstand, welcher Regelbruch als stummer Vorwurf in den Worten mitschwang.

Bark hatte nicht das Bedürfnis, es ihm zu erklären. Stattdessen packte er den unerwarteten Gast am Schlafittchen und zog ihn mit ins Hauptquartier, vor dessen Tür er gestanden hatte.

Er war nur froh, dass die Anderen gerade durchweg unterwegs waren.

„H-hey, was soll das?!“

Zidanes Protest ignorierend bugsierte er den Burschen grob bis in die Mitte des Raumes, baute sich dann vor ihm auf.

 

Vielleicht war es nicht fair, was Bark tat.

Aber Regeln waren Regeln: Und die Regeln der Tantalus besagten, dass ein Regelbruch bestraft werden musste – mit einer Strafe, die der Schwere des Vergehens angemessen war.

 

Vielleicht ließ er Zidane damit sogar zu glimpflich davonkommen.

Eine Tracht Prügel dafür, dass er abgezogen war mit einem halbherzigen Ziel im Kopf und ohne die nötige Entschlossenheit im Herzen, um auch durchzuziehen, was er begonnen hatte.

 

Vielleicht war es am Ende auch völlig unerheblich, weil es nicht um gebrochene Regeln ging, und nicht um angemessene Strafen.

Es ging um Gefühle, die überkochten.

Um zwei Jahre alte, angestaute Sorge, die sich entlud.

Um Ärger, weniger darüber, dass Zidane abgehauen war, um unverrichteter Dinge wieder zu kommen, sondern darüber, dass er dabei die Kaltschnäuzigkeit besaß, so zu tun, als wäre alles wunderbar. Als würde es ihn nicht innerlich zerreißen, dass er seinen Traum von seiner Herkunft doch wieder hatte verwerfen müssen.

Um Enttäuschung darüber, dass Zidane nicht ehrlich war.

 

Als er fertig war mit Zidane, hatte er mehr Beulen und blaue Flecken und Schrammen, als Bark noch zählen könnte, aber der zähe Bursche stand noch.

„Was bei Branes Allerwertestem sollte das denn werden, alter Mann?!“, brüllte er voller Empörung, heftig gestikulierend; sein ganzer Körper bewegte sich mit jedem Wort, zu viel angestaute Energie, die sich irgendwie entladen musste.

„Kein Willkommen zurück! Kein Schön, dass es dir gut geht! Kein– Kein gar nichts! Du hättest ja wenigstens mal nachfragen können, wie es mir so ergangen ist!“

Er hielt inne, wutschnaubend. Wischte sich unwirsch mit dem Arm über die aufgeplatzte Unterlippe und verschmierte damit nur Blut in seinem halben Gesicht. Seine Augen loderten regelrecht von all dem Ärger.

Und er war noch nicht fertig.

Ein tiefes, zitterndes Luftholen später spuckte er aus, eine ruckartige Geste seiner Hände kündete den nächsten Schimpfausbruch an.

 

„Ist mir neu, dass man zum Einstand in die Tantalus verprügelt wird! Noch mehr Regeländerungen, von denen ich wissen sollte? Dann überleg ich mir das mit dem Wiederkommen nochmal, das kannst du mir mal glauben!“

Er schüttelte heftig den Kopf. Hinter Zidane peitschte sein Schwanz so heftig durch die Luft, dass die Bewegung schon zum Zusehen beinahe schmerzhaft war.

„Kann mir nicht vorstellen, dass die Anderen das so klasse finden! Ich finde es jedenfalls nicht klasse! Wenn du dir schon einbildest, ich brauch nen Satz Schläge, dann sag mir gefälligst auch, warum!“

Bark sagte nichts.

Er hatte aber auch nicht den Eindruck, dass Zidane gerade zuhören wollte, denn er hielt kaum einen Atemzug lang den Mund, da machte er schon weiter:

„Und dafür bin ich zurückgekommen! Wunderbar! Hätte ich mir auch sparen können!“

Zidane warf die Hände in die Luft, schüttelte den Kopf. Sein Schwanz peitschte immer noch. Er stampfte mit dem Fuß auf, und obwohl er nicht aussah, als wären ihm die Worte ausgegangen, hielt er doch inne mit dem Schimpfen. Er stieß schwer atmend die Luft aus, seine Brust hob und senkte sich hektisch. Er zitterte.

Ein paar Atemzüge lang herrschte Stille. Dann schnaubte er noch einmal.

„Also?!“

Ah. Er wollte wohl doch eine Antwort.

 

Eine Antwort, die Bark weiterhin ausschwieg, während er sich dem wütenden Blick aus zu Schlitzen verengten Augen gegenübersah.

Es war noch nicht vorbei. Er sah, wie viel noch in Zidane brodelte, und er wusste ganz genau – egal, was er jetzt sagen würde, es würde ja doch nicht bei ihm ankommen.

Es passte Zidane ganz offensichtlich nicht, und sein Geduldsfaden riss, so schnell, dass es ihn fast erstaunte. Mit einem wütenden Aufschrei und einer Verzweiflung, die sein ganzer Körper mit sich trug, trat er einen Schritt vor.

Seine Augen glänzten feucht, seine Stimme überschlug sich:

 

„JETZT SAG DOCH ENDLICH AUCH MAL WAS, VERDAMMT!!!“

 

Bark lachte. Laut und aus vollem Halse, so sehr, dass er sich den Bauch halten musste.

 

Der unerwartete Ausbruch nahm Zidane allen Wind aus den Segeln, und er fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus bei einer Prügelei in der Taverne. Er starrte. Da waren so viele Gefühle auf seinem Gesicht, überschattet von Verwirrung und absoluter Verständnislosigkeit, dass es unmöglich war, sie auseinanderzuklamüsern.

Aber sie waren da.

Und unter allem Ärger, aller Wut, und aller billigen Fassade, kam nun endlich zum Vorschein, was Bark die ganze Zeit in seinem Gesicht gesucht hatte.

Die Tränen fielen.

 

Als Zidane es merkte, wischte er sich hastig über die Augen, in einer Geste, die so tat, als wollte er nur das Haar aus dem Gesicht wischen, doch es war längst zu spät, die Sintflut aufzuhalten.

Und es war auch gar nicht nötig.

Bark lächelte still, legte dem Jungen eine Pranke auf die bebende Schulter. Im ersten Moment verspannte er sich, so als wolle er Widerstand leisten, doch–

Nichts passierte. Keine kleine Faust, die seinen Oberkörper traktierte. Kein neuer Ausbruch. Nur noch mehr Tränen, herzzerreißendes Schluchzen, und so viel Verzweiflung, dass es ein Wunder war, wie dieser halbstarke Kerl überhaupt noch stehen konnte.

Er klopfte Zidane kräftig auf die Schulter.

 

„Mach dir nicht ins Hemd, Bursche. Willst sicher nicht, dass die anderen dich so sehen, und die kommen bald zurück. Oh, und wenn du heute irgendwo schlafen willst, solltest du dein Zimmer putzen. Hat ziemlich Staub abgesetzt, das gute Stück. Garharhar!“

 

Zidane schniefte, schnaubte. Wischte sich Tränen vom Gesicht, die kaum aufhören wollten, zu fallen, aber nach einem kurzen Kampf, der aussah, als würde er ihn niemals gewinnen können, ging er doch als Sieger hervor.

„Ist auch besser, wenn die Bude Staub ansetzt, als wenn da fremde Griffel drin rumfuhrwerken“, kommentierte er; sein lapidarer Tonfall litt sehr darunter, wie verschnupft er klang.

Sein betont lässiger Gang litt genauso, als er sich aufmachte, um sein Zimmer in Augenschein zu nehmen. Er humpelte kaum merklich, seine Hände waren zu Fäusten geballt, um ein Zittern zu verstecken. Und sein Schwanz peitschte immer noch aufgewühlt hinter ihm her.

Bark konnte immer noch nur lachen, während er dem Jungen hinterherblickte, selbst, als der ihm dafür über die Schulter eine rüde Geste zukommen ließ.

„Garharhar! Du scheinst die Strafen heute ja wirklich zu brauchen!“

„Vergiss es! Da hast du das Vergehen für deine Prügelei vorhin! Wir sind jetzt quitt, Chef!“

 

Und damit verschwand Zidane um die Ecke, ließ Bark mitten im Hauptraum des Gebäudes stehen, das vor langer Zeit einmal als ihr winziger Theatersaal gedient hatte. Langsam atmete er in einem tiefen Seufzen aus, wandte sich dann von der Tür ab, hinter der Zidane verschwunden war.

Er hatte genug zu tun!

Es galt, die Besetzung für ihre nächste Vorführung zu ändern – und den Plan für den dazugehörigen Diebstahl natürlich.

„Immer musst du einem unnötige Arbeit machen, Zidane. Garharhar!“

Bark grinste in sich hinein, als er die Tür zu seinem Arbeitszimmer hinter sich schloss.

 

Willkommen Zuhause.

45

Herzog Cid Fabel IX. sah mit ernster Miene aus seinem Arbeitszimmer hinaus auf Lindblum. Seine Haltung war erschöpft, gebeugt, und auch sein Seufzen sprach von einer schweren Last auf seinen Schultern.

„Ich weiß, dass es viel verlangt ist. Zu viel, womöglich, und zu kurzfristig, aber ich sehe keine andere Möglichkeit.“

 

Bark schüttelte den Kopf, wischte die Bedenken des Mannes mit einer unbekümmerten Geste beiseite.

„Mach dir keinen Kopf, alter Freund. Wir haben schon härtere Aktionen durchgestanden. Unkraut vergeht nicht, du weißt doch.“

„Ja, ich weiß. Trotzdem.“

Er schüttelte den Kopf, wandte seinen Blick endlich wieder vom Fenster ab. Fast das gesamte Gespräch hatte er mit dem Rücken zu Bark verbracht; nicht aus Respektlosigkeit, so gut kannte er den Mann ihm gegenüber doch.

Aber manchmal war es eben doch leichter, sein Gegenüber nicht ansehen zu müssen.

Als er Bark nun wieder ansah, war sein Ausdruck sorgenvoll, doch entschlossen.

„Es gibt keinen anderen Weg“, wiederholte er noch einmal, „Und ich wüsste niemanden sonst, den ich mit dieser Aufgabe betrauen könnte, mein Freund.“

 

„Jetzt ist aber wieder gut. Ich hab’s doch beim ersten Mal verstanden. Mach dir keine Sorgen, wir kümmern uns darum. Die Tantalus hat noch nie versagt. Du hast dir die Besten für die Mission ausgesucht, da kann gar nichts schief gehen.“

Cid nickte schwer. Sein Blick wurde immer eindringlicher, während er Bark ansah.

„Ich verlasse mich auf dich.“

„Und du wirst nicht enttäuscht werden.“

Er verneigte sich vor dem Mann, weniger Höfischkeit in der Geste als theatralische Routine, doch die Botschaft war dieselbe.

 

„Möge euer Vorhaben von Erfolg gekrönt sein. Viel Glück.“

 

Sie brauchten kein Glück; Bark war völlig überzeugt von den Fähigkeiten seiner Truppe, egal, wie verrückt und abgedreht der neue Auftrag auch sein mochte.

Auch wenn er zugeben musste, es ging wirklich über alle Vorstellungskraft hinaus.

 

Wer hätte schon geglaubt, dass er jemals eine Prinzessin stehlen sollte?

 

Mit der Bitte des Herzogs machte er sich auf den Rückweg zum Hauptquartier. Die Bande war gerade beim Proben. Er rief ihnen nur kurz zu, dass sie sich bei Sonnenuntergang im Besprechungsraum treffen würden, dann verschanzte er sich in seinem Arbeitszimmer.

In diesem Fall noch mehr als je zuvor konnte er nichts dem Zufall überlassen. Bis ins kleinste Detail musste ihre Mission geplant sein, jede Eventualität abgedeckt.

So oft, wie sie schon in Alexandria zu Gast gewesen waren, immerhin, war die Bühne ihrer nächsten Vorführung keine fremde. Bark wusste, worauf er sich einließ. Er kannte das Schloss, gut genug, um zu wissen, wie man hineinkommen konnte, ohne aufzufallen. Er kannte die blinde Fixierung, mit der die Königin und alle anderen Zuschauer das Stück verfolgten.

Er wusste, von wo aus die Prinzessin zusah.

Es war nur eine Frage der Feinheiten, und die einmal ausgetüftelt, würde der gesamte Plan ein absoluter Klacks werden.

 

Bis das schwindende Tageslicht ihn dazu zwang, ein paar Lampen anzuzünden, hatte er genug Plan ausgearbeitet, um sicher sein zu können, dass sie ihren Auftrag erledigt bekamen. Er erhob sich, die Papiere mitnehmend, und machte sich gemächlich auf den Weg in den Besprechungsraum.

Er ging nicht davon aus, dass alle pünktlich waren.

Sie waren fast nie alle pünktlich.

 

Und ganz, wie er erwartet hatte, fehlte tatsächlich jemand, als das rote Licht der Abendsonne schließlich endgültig hinter den Bergen verschwand:

 

„Wo ist Zidane, und so?“

„Wo wohl.“

Blank schnaubte. Er lehnte mit verschränkten Armen an der Wand, statt wie die Anderen um den Tisch herum zu sitzen.

„Der wollt‘ vorhin noch ganz kurz zur Taverne rüber und was trinken. Ganz kurz.“

Allein sein Tonfall sagte zur Genüge, wie wenig er von der Sache hielt, und wie wenig er von vornherein an ihren Erfolg geglaubt hatte.

„Ich hab ihn gewarnt, aber er wollt‘ ja wieder nicht hören. Und jetzt haben wir den Salat.“

Er seufzte unwirsch, schüttelte den Kopf.

„Wir sollten die Besprechung ohne ihn führen. Hat er nicht anders verdient, vielleicht lernt er mal draus.“

 

Barks Mundwinkel zuckten amüsiert.

„Du bis abber heuer a goanz scheen Ungeduldiger“, kommentierte Cinna, was er sich nur dachte. Die Stichelei zog: Blank wandte beleidigt den Blick ab – aber eine Antwort blieb er schuldig.

Im Gegensatz zu Cinna, der keinen Peil hatte, brauchte Bark auch keine Antwort. Marcus auch nicht, so uninteressiert, wie er die Ungeduld seines besten Freundes aufnahm.

 

„Tja, bei jedem anderen Auftrag hätt‘ ich Blank ja recht gegeben und einfach ohne den Burschen angefangen, aber diesmal…“

Er machte eine Kunstpause, hob vielsagend die Augenbrauen.

„Leider nicht möglich. Ihr müsst da jetzt genauso durch wie ich. Keine Sorge, für die Verspätung gibt’s später noch nen Satz heißer Ohren.“

 

Nicht, dass er wirklich glaubte, dass Zidane je dazulernen würde. Er und Mädchen, das war einfach so eine Sache.

 

Und auch wenn zumindest Blank so gar nicht mit Begeisterung auf die Ansage reagierte, am Ende willigte er zähneknirschend ein – er wusste aber auch nur zu gut, dass er keine andere Wahl hatte.

Wenn der Chef eine Entscheidung getroffen hatte, dann half alles spucken und murren nicht, dann wurde danach gehandelt.

Dafür war er ja der Chef.

 

Dass Zidane aber auch tatsächlich gar nicht so übermäßig spät kam, half vielleicht auch.

 

„Sorry, hab die Zeit vergessen“, verkündete er, als er selbstbewusst in den Raum marschierte, um sich rittlings auf einem Stuhl niederzulassen. Er blinzelte reuevoll, und so sehr er auch aussah, als könnte er kein Wässerchen trüben, sie wussten alle, dass es ihm keinen Deut leidtat.

„Also? Was is‘ nun die große Sache, die so kurzfristig besprochen werden muss?“

„Halt mal lieber die Klappe, damit der Chef reden kann. Du hast uns eh schon zu viel Zeit gestohlen, Zidane.“

„Blank, du bist ja ungeduldig heute.“

„Sog i doch, zefix!“

Da war ein Funkeln in Zidanes Augen, das ganz klar sagte, dass er das Thema nicht mehr ruhen lassen würde, bis er nicht eine Antwort hatte, die ihn zufriedenstellte.

Bark war geneigt, das Ganze mit einer kräftigen Kopfnuss zu unterbrechen. Er hätte es getan, wäre Marcus ihm nicht zuvorgekommen:

„Blank hat ne Verabredung, und so“, erklärte er trocken und in einem so unbeteiligten Tonfall, als wäre überhaupt nichts dabei, „Können wir das nun endlich beiseitelegen und anfangen? Wir haben genug Zeit verloren, und so.“

„Du wirst mir nachher Rede und Antwort stehen, Blank!“

 

„Nachher wirst du erstmal deine Strafe für die Verspätung kassieren, Zidane!“

„… Autsch. Also, was war denn jetzt eigentlich?“

 

Bark grinste unheilvoll, lehnte sich nach vorn und breitete seine Papiere auf dem Tisch aus.

 

„Wir haben einen neuen Job.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (3)

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Von:  Lost_Time
2019-10-05T18:09:38+00:00 05.10.2019 20:09
Endlich habe ich es geschafft die FF zu Ende zu lesen. Lange hat es gedauert. Ich brauch mehr Zeit. XD
Sie hat mir tatsächlich bis zum Ende gut gefallen, wenn gleich ich bark zum Ende hin immer weniger Leiden konnte. Zidane und Ruby gefielen mir da besser. Am schwersten zu lesen und verstehen, waren die beiden Dialekte. Ich glaub sächsisch und bayrisch. Wobei das bayrisch von Cinna am Schlimmsten für mich war. Dennoch interessant wie er alle zusammen bekommen hat in seiner Truppe und das Ruby sich aus den Diebstehlen an sich raushält.
Hab gerade Bilder angeguckt. Zidane ist ja süß. Den würde ich glatt mit Ruby shippen. Also optisch halt. ^^
Wie gesagt die Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Auch wenn ich echt gerne wüsste, ob die Entführung... äh Diebstahl der Prinzessin geklappt hat. ^^

Viele Grüße
Losti
Von:  Lost_Time
2019-08-27T15:10:12+00:00 27.08.2019 17:10
Der Alltag wird schön beschrieben, auch die Art, wie die Kinder damit umgehen mit der Situation. Generell die Art der Kinder fine ich schön beschrieben und erklärt, auch recht plausibel alles. Eine gewisse Unbekümmertheit in einer angespannten Welt. Das zweite Kapitel ist ähnlich gehalten wie das erste mit den kurzen und langen Sätzen, doch nehmen die längeren hier deutlich zu, was auch dem Leser ein weniger beklemmendes Gefühl gibt. Man fühlt sich freier. Wird selber abgelenkt von der traurigen Alltagssituation, was einem bewusst wird, wenn man den entsprechenden Satz dazu in der FF liest. Ich bin gespannt, wie Bark sich da schlagen wird mit seinem Vorhaben, was er da gefasst hat.
Von:  Lost_Time
2019-08-27T15:09:54+00:00 27.08.2019 17:09
Die drückende Atmosphäre kommt gut rüber besonders durch diese kurzen Sätze. Die längeren geben dem Leser einen Funken Lebendigkeit wieder, durch die weiteren kurzen Sätze wird diese jedoch wieder getrübt. Man bekommt beschrieben, wie es dort aussieht hat jedoch noch genug Freiraum sich selbst noch etwas dazu zu denken. Bei mir legte sich sofort ein grauer Schleier über das vorgestellte Bild. Ich hatte dann immer so einen schwarz-weiß Film oder alte schwarz-weiß Fotoaufnahmen vor Augen. Es macht etwas depressiv das Ende von Kapitel 1 bzgl. Hoffnungslosigkeit. Es gibt einen geschmeidigen Übergang von Kapitel 1 zu 2, was mir sehr gut gefallen hat. Nur die Kapiteltitel sind für mich zumindest nicht zu verstehen. XD Wüsste gerne was da für ein tieferer Sinn hinter steckt. XD


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