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Freunde mit gewissen Vorzügen

von

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Balinese blinzelte überrascht. Was hatte Ken gerade gesagt? Tatsächlich war in seinem Gesicht keinerlei Wiedererkennen zu entdecken, nur ein ängstliches Flackern in seinen Augen. Das konnte nur das Werk dieses elenden Telepathen sein.

„Was hast du Bastard mit ihm gemacht?“, knurrte er und zog den Draht enger um Schuldigs Hals. Ein Röcheln antwortete ihm. Schuldigs Bewegungen begannen fahrig zu werden.

„Sei vorsichtig, wir brauchen erst noch Antworten von ihm“, warf Bombay ein. Er hatte die Stirn in Falten gelegt und sah sorgenvoll von einem zum anderen. Er holte einen von seinen Darts heraus und zielte damit auf Schuldig. „Lass ihm ein bisschen mehr Luft. Uns drei wird er nicht gleichzeitig manipulieren können. Also los! Erzähl uns, was du mit ihm gemacht hast.“

Schuldig schluckte und griff sich an den Hals. „Ihr solltet etwas netter zu mir sein, dann haben wir bestimmt alle etwas davon. Na schön, ich sage es euch, obwohl es gerade dir ja nicht schwerfallen sollte, das zu erraten. Ich habe seine Erinnerungen manipuliert. Er hat alles vergessen, was er je über Weiß, das Kämpfen oder sonst irgendetwas, was damit zusammenhängt, wusste. Das hier ist nur noch Ken, der Blumenhändler, der nette Junge von nebenan. Man könnte fast sagen, ich hätte ihm damit einen Gefallen getan, meint ihr nicht?“

 

Balinese glaubte erst, sich verhört zu haben. Schuldig hatte Kens Erinnerungen gelöscht? War das möglich? Schuldig hustete und spuckte Abyssinian blutigen Speichel vor die Schuhe.

„Ihr seid alle so überrascht. Was glaubt ihr denn, wen ihr hier vor euch habt? Meint ihr vielleicht, ich trage den Namen Mastermind nur zum Spaß? Mir bleibt nichts verborgen, was in einem menschlichen Geist vor sich geht. Ich kann nach Belieben in euren Gedanken herumpfuschen und ihr würdet es nicht einmal merken.“

„Du lügst“, knurrte Abyssinian und fasste den Schwertgriff fester. „Ich glaube, es wird Zeit, diese Farce zu beenden.“

„Und damit die einzige Chance wegzuwerfen, um Siberian jemals wiederzubekommen?“, fragte Schuldig lauernd. „Denn weißt du, wenn ihr nett wärt, würde ich euch ja verraten, dass der Prozess reversibel ist. Aber so, wie ihr euch hier gerade benehmt, bin ich mir nicht sicher, ob ich das möchte.“

Der Draht in seinen Händen zitterte, als Schuldig schluckte. Es musste wehtun, die ganze Zeit so darin festzuhängen. Er sah, dass bereits etwas Blut auf dem Hemdkragen zu sehen war. Das dünne Metall hatte die Haut verletzt. Aber was, wenn es tatsächlich stimmte? Wenn er ihnen Ken – den ganzen Ken – wieder zurückbringen konnte.

„Beweise es“, sagte er.

Abyssinians Gesichtsausdruck wurde finster. „Balinese, was soll das?“

„Er sagt, er kann es rückgängig machen, dann soll er es beweisen. Bring Siberian zurück, dann verhandeln wir weiter.“

Schuldig stieß spöttisch die Luft aus. „Nicht einmal du kannst so dumm sein, Blondie. Was hätte ich davon, wenn ich ihn zurückhole, wenn ihr mich danach umlegt? Dein Lover hier sieht nicht so aus, als würde er mit seinem Brotmesser lange fackeln.“

„Aber wir brauchen einen Beweis dafür, dass du die Wahrheit sagst“, warf Bombay ein.

„Bring ihn zurück oder du stirbst“, knurrte jetzt auch Abyssinian. Schuldig richtete sich, so gut es ging, in seinen Armen auf.

„Nur zu, töte mich. Aber könntest du es langsam geschehen lassen? Ich würde gerne mitbekommen, was danach passiert.“

Abyssinians Augen wurden schmal. „Was meinst du damit?“

„Oh“, sagte Schuldig und lachte leise. „Wenn ihr Glück habt, hat euer Freund hier nur einen Nervenzusammenbruch. Keine Ahnung, wie lange es dauern würde, ihn da wieder rauszuholen. Wenn das überhaupt möglich ist. Aber wenn ihr Pech habt...“

Er sprach nicht weiter. Balinese zog die Schlinge ein wenig enger. „Spuck es aus, Schuldig. Was passiert im schlimmsten Fall?“

„Dann dreht er durch“, antwortete der Man vor ihm fröhlich. „Weiß wollte doch bestimmt immer schon mal seinen eigenen Berserker haben, oder? Wobei ich mich dann an eurer Stelle schon mal von eurem erbärmlichen, kleinen Leben verabschieden würde. Es dürfte dann nämlich nur noch sehr kurz sein.“

 

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Konnte es sein, dass Schuldig die Wahrheit sagte? Brauchten sie ihn tatsächlich, um Siberian wieder zurückzubekommen? Oder war das wieder alles nur ein Trick? Der Draht unter seinen Fingern vibrierte, als Schuldig anfing, vor sich hin zu summen.

„Wisst ihr, ihr solltet euch wirklich langsam mal entscheiden. Umbringen, nicht umbringen, mir glauben oder nicht. Ich verstehe ja, dass es keine leichte Entscheidung ist, aber ich habe wirklich nicht den ganzen Tag Zeit, um mit euch hier unten abzuhängen. Zumindest nicht ohne etwas Anständiges zu trinken. Wir haben Scotch oben. Jemand Interesse?“

 

Balinese schluckte. Er hättet gerade tatsächlich einen Drink vertragen können, aber er riss sich zusammen. Er musste sich konzentrieren, obwohl ihm das gerade ziemlich schwerfiel. Die Möglichkeit, dass Schuldig tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte, ließ ihm keine Ruhe. Was, wenn er tatsächlich die Erinnerungen verschwinden lassen konnte. Natürlich war es indiskutabel, diesen psychopathischen Irren in seinen Kopf zu lassen. Aber die Möglichkeit, alles zu vergessen, was mit Weiß zusammenhing. Das Blut, die Morde, die Gewalt. All das hinter sich zu lassen, klang so verdammt verlockend. Und dann war das noch die Erinnerung an sie. An Asuka. Die Bilder, die ihn so oft heimgesucht hatten. Die Erinnerung an das, was er gehabt und verloren hatte. Was, wenn er sie auslöschen konnte?

Sein Blick irrte zu Abyssinian. Für einen Augenblick sah er Aya in dessen Zügen und er wusste, dass er Schuldigs Hilfe nicht brauchen würde. Er hatte etwas Neues gefunden, er hatte den Panzer geknackt, der sich mit Asukas Tod um sein Herz gelegt hatte. Fast hätte er gelacht, als ihm klar wurde, dass nicht nur Aya sich die ganze Zeit versteckt hatte. Er hatte das ebenfalls getan, nur war seine Maske ungleich schwerer zu entdecken gewesen. Statt sich abzukapseln, hatte er so getan, als wäre alles in Ordnung, war eine nutzlose Beziehung nach der anderen eingegangen. Hatte sich selbst vorgelogen, dass er das nicht nur für sich, sondern auch für die Frauen tat, mit denen er zusammen war. Dass er Wiedergutmachung leistete. Ihnen gab, was er ihr nicht mehr geben konnte. Er hatte nach Vergebung gesucht, wo es keine gab. Aber vielleicht auch nicht geben musste. Vielleicht konnte er leben mit dem, was er hatte, denn er war damit nicht allein. Er lächelte bei dem Gedanken.

 

„Fokus, Balinese“, schnappte Abyssinian, der seine Abgelegenheit offensichtlich bemerkt hatte. Er räusperte sich und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf den Mann, den er gefangen hielt.

„Du kannst seine Erinnerungen wieder zurückbringen?“ Bombays Stimme zitterte unmerklich. Anscheinend war er nicht der Einzige, der von den Möglichkeiten, die Schuldig ihnen eröffnete, überwältigt wurde. „Wie sollte das gehen?“

„Mhm, lass mich überlegen“, antwortete Schuldig. „Wie erkläre ich das so, dass auch ihr das versteht. Ah, ich weiß. Stellt euch die Erinnerungen wie einen großen Eimer voller bunter Blumen vor. Ich habe jetzt immer einen Teil davon genommen, habe ihn in raschelndes Papier verpackt, mit einer hübschen Schleife versehen und tief in seinem Geist versteckt. Wenn ihr die Erinnerungen wiederhaben wollt, müsst ihr das Sigel lösen, dass ich daran angebracht habe. Das erklärt übrigens auch, warum ihr den lieben Ken nicht einfach zu irgendeinem x-beliebigen Psychiater schleppen könnt, wie einer von euch gerade gedacht hat. Es benötigt genau die richtigen Schlüsselwörter, um die Erinnerungen wieder freizusetzen. Hat man die nicht und geht zu grob vor, könnten die armen Pflänzchen geknickt werden und das Ergebnis wäre wiederum ein geistiges Wrack mit einer Erinnerung voller Lücken. Ich glaube nicht, dass eure Bosse erlauben würden, dass so jemand frei herumläuft.“

Er fühlte förmlich, wie Schuldig grinste. „Kurzum, ihr braucht mich, ansonsten könnt ihr euch von eurem Freund, so wie ihr ihn kennt, verabschieden.“

 

Balinese schüttelte den Kopf, als könnte ihm das helfen, das Chaos, das darin herrschte, wieder zu ordnen. Das Ganze überstieg definitiv seinen Horizont, obwohl er zugeben musste, dass er nach Schuldigs Erklärung eine ungefähre Ahnung davon hatte, was dieser mit Ken angestellt hatte. Er sah zu seinem Freund hinüber, der inzwischen am Boden hockte, das Gesicht in den Händen vergraben. Für ihn musste das Ganze furchtbar verwirrend sein. Wenn er sich wirklich nicht mehr an Weiß erinnern konnte, war das hier vermutlich sein schlimmster Alptraum.

„Könntest du...“, begann Bombay. „Könntest du ihm nicht einen Teil seiner Erinnerungen wiedergeben? Damit wir sehen, dass du die Wahrheit gesagt hast.“

Schuldig schien zu überlegen. „Gar nicht dumm, das Kätzchen. Ja, das sollte eigentlich möglich sein. Die Siegel können einzeln gebrochen werden. Aber mach dir keine Illusion. Ich werde ihm garantiert nicht das Wissen und die Fähigkeit zu kämpfen wiedergeben. Vielleicht fangen wir mit ein bisschen harmloseren Sachen an. Ken?“

 

Der Angesprochene sah auf. Schuldigs Stimme schien ihn aus seiner Lethargie gerissen zu haben. In seinen Augen schimmerten Tränen.

Lockvogel, Paradies, Fräulein.“

Die Worte waren definitiv nicht japanisch. Sie hörten sich grob und kantig an, auch wenn Schuldig sie mühelos aussprach. Wahrscheinlich entstammten sie der gleichen Sprache, aus der auch Schuldigs Name kam. Balinese konnte eine leichte Ähnlichkeit feststellen. Doch wo ihm die Begriffe nur ungewohnt und nichtssagend vorkamen, schienen sie Ken mit dem Gewicht eines Vorschlaghammers zu treffen. Bei jedem neuen Wort zuckte und zitterte er. Sein Gesicht wurde bleich und Schweiß trat auf seine Stirn. Sein Mund öffnete sich zu einem lautlosen Schrei. Er griff sich an den Kopf, als hätte er furchtbare Schmerzen.

Entführen, Raubtier, Abkunft.

Ken stöhnte und winselte. Omi versuchte ihn festzuhalten, aber er entriss sich seinem Griff und rollte sich auf dem Boden zusammen. Balinese biss die Zähne zusammen und versuchte, sich nicht von dem Anblick mitreißen zu lassen. Das war mitleiderregend und grausam.

„Du hast keine Vorstellung“, wisperte Schuldig in sein Ohr. Er schrak zusammen, als er sich bewusst wurde, dass er den Draht lockergelassen hatte und Schuldig somit in der Lage gewesen war, sich zu ihm umzudrehen. Der Ausdruck in seinem Gesicht war mörderisch. Er schien Gefallen daran zu finden, einen Menschen so zu quälen. Und doch....irgendetwas sagte ihm, dass Schuldig aus erster Hand wusste, wie es sich anfühlte, was Ken gerade durchmachte. Der harte Zug um den Mund, die Grausamkeit in seinen Augen. All dies war nicht kalt und emotionslos, sondern hinterlegt mit dem heißen Feuer der Rache. Es war etwas Persönliches, auch wenn es nicht unbedingt etwas mit Ken oder gar mit Weiß zu tun hatte. Das hier war ein Hund, der gelernt hatte zurückzubeißen.

 

Abyssinian war ebenfalls von dem Schauspiel, dass sich ihnen bot, abgelenkt worden. Er hielt das Katana noch in den Händen, aber die Schneide war zu Boden gesenkt. Seine Augen waren auf Ken gerichtet, der jetzt schluchzend in Omis Schoß kauerte.

„Sollen wir weitermachen?“, fragte Schuldig in heiterem Tonfall und erweckte damit wieder Abyssinians Aufmerksamkeit.

„Was tust du?“, fragte der angewidert. „Du bringst ihn ja um.“

„Ich tue, was ihr mich gebeten habt zu tun. Ich gebe ihm seine Erinnerungen zurück. Ich hatte wohl vergessen zu erwähnen, dass der Prozess schmerzhaft ist? Mein Fehler.“ Schuldig grinste breit.

Abyssinian hob das Katana und grollte, aber Schuldig schob die Klinge mit einer Hand beiseite. „Ihr braucht mich. Wenn ich das hier zu Ende bringen soll, lässt du deinen antiquierten Gemüsehobel mal schön bei dir und schaust zu, wie die großen Jungs arbeiten.“

 

Er trat einen Schritt vor und sprach unerbittlich weiter: „Träne, Mitleid, Schraube.“

Ken jaulte auf wie ein getretener Hund und brach dann ohnmächtig zusammen. Sein Körper wurde von Krämpfen geschüttelt und seine Gesichtszüge waren zu einer Maske des Entsetzens verzerrt. Schuldig zuckte nur mit den Schultern, als er sich zu ihm hinab beugte.

„War vielleicht ein bisschen viel auf einmal. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, die Siegel nach und nach zu brechen, aber ich habe so das Gefühl, dass wir einander nicht unbedingt länger als notwendig Gesellschaft leisten wollen, nicht wahr? Also, schön. Ihr habt bekommen, was ihr wolltet. Das heißt, noch nicht ganz. Es fehlen noch zwei Siegel, die ich erst lösen werde, wenn ich frei und in Sicherheit bin.“

„Und das sollen wir dir glauben?“, knurrte Abyssinian und hob seine Waffe wieder.

„Das werdet ihr wohl müssen“, gab Schuldig süffisant zurück. „Entweder das oder euer kleiner Siberian bleibt vollkommen nutzlos für euch. Daher schlage ich vor, wir verlagern unseren Standpunkt nach draußen, dort gebe ich euch dann die letzten zwei Siegel und dann seid ihr wieder eine große, glückliche Katzenfamilie.“

 

Schuldigs Worten folgte ein Geräusch, das Balinese zuerst nicht ganz zuordnen konnte. Es klang wie knisterndes Zellophan, wurde jedoch lauter und lauter. Das Licht begann zu flackern. Mit einem Satz war Bombay auf den Füßen.

„Das Haus stürzt ein.“, rief er und versuchte, den immer noch am Boden liegenden Ken hochzuheben. „Kommt, wir müssen hier raus.“

„Nehmen wir ihn mit?“, fragte Balinese und wies auf Schuldig. Abyssinian nickte und wollte schon loslaufen, um Bombay zu helfen, als sie plötzlich ein abgrundtiefes Stöhnen hörten. Er schauderte.

 

Im zuckenden Licht der Deckenbeleuchtung begann Ken sich zu bewegen. Er rollte sich mit einem Grunzen auf den Rücken und knurrte. Es klang wie ein Tier, unmenschlich, wild, blutrünstig. Mit purer Willenkraft kämpfte er sich in die Höhe, die Bewegungen ungelenk und steif wie von einer Puppe. Das flackernde Licht verstärkte den Effekt noch. Mit gesenktem Kopf stand er schließlich da und keuchte. Etwas tropfte aus seinem Mund und die roten Flecken auf dem Boden verrieten, dass es sich um Blut handeln musste. Es war ein Wunder, wenn er sich bei der Tortur, die Schuldig ihm hatte angedeihen lassen, nichts von seiner Zunge abgebissen hatte. Verdammt, sie hätten besser reagieren müssen. Irgendetwas tun.

„Ken?“, fragte Bombay vorsichtig. Er wagte es anscheinend nicht, seinen Freund zu berühren. Wahrscheinlich war das besser so. In seinem Zustand wirkte er, als würde er jedem, der das probierte, den Arm abreißen. Selbst auf Schuldigs Gesicht war eine leichte Unsicherheit erschienen. Er ging vorsichtig einen Schritt zurück. Ein Fehler, wie sich zeigen sollte, denn Kens Kopf ruckte zu ihm herum. Er taxierte den rothaarigen Mann an der Wand und knurrte erneut. Seine Hand wanderte zu dem Verband an seinem Arm. Er riss die Gazestreifen weg, als hinge sein Leben davon ab. Mit einem reißenden Geräusch gab der Stoff nach und den Blick frei auf einige Schnittwunden, die den Unterarm bedeckten. Ken jaulte auf und griff sich an den Kopf. Er stammelte zwei Worte, die Balinese nicht verstand. Es klang fast wie...wie...

„Erinnere dich!“, sagte Abyssnian mit einem Mal.

Bombays Kopf ruckte hoch. Er riss die Augen auf und wiederholte ebenfalls: „Erinnere dich!“

Balinese fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Sein Mund fühlte sich an wie mit Sandpapier ausgelegt. Mit Mühe fand er seine Stimme wieder und flüsterte ebenfalls: „Erinnere dich!“

 

Schuldigs Gesicht war weiß wie die Wand, vor der er stand.

„Was tut ihr?“, kreischte er. Alle Arroganz schien plötzlich von ihm abgefallen. Eine Faust schoss vor und Finger krallten sich um seinen Hals. Er keuchte.

„Du!“, grollte Ken. „Du hast mich benutzt. Hast mich hier eingesperrt. Du hast mir meine Freunde gestohlen, mein Leben, meine Waffen. Aber ich bin zurück. Dein Zauber hat nicht funktioniert. Ich bin zurück und ich weiß alles.

„Aber wie kann das sein?“, stieß Schuldig würgend hervor. „Die letzten zwei Sigel. Sie sollten noch halten. Sie...“ Seine Stimme erstarb, als Ken weiter zudrückte.

„Farfarello“, antwortete er auf die Frage. „Er hat mir diese Verletzungen zugefügt. Ich wusste nicht, was sie bedeuten sollten, aber jetzt sehe ich es. Siehst du es auch, Schuldig? Siehst du es?“

Er ließ Schuldig los, der sich keuchend an den Hals griff. Mit gekrümmten Fingern fuhr Ken über die Wunden und ließ diese wieder aufbrechen. Fünf blutende, rote Schnitte, exakt nebeneinander, als hätten fünf Messer sie gleichzeitig gerissen. Ein Muster wie von einer riesigen Kralle.

Schuldig schluckte. „Deine Waffe. Sie hinterlässt genau solche Wunden.“

Kens Lippen verzogen sich zu einem grausamen Lächeln. „Genau. Und weißt du, was ich jetzt tun werde? Ich werde die Bugnuks holen und dann werden wir mal sehen, wie viele von ihnen du aushältst, du Made. Ich wette, es sind viele, und ich werde jeden von ihnen genießen.“

 

„Dazu haben wir keine Zeit.“ Abyssinians Stimme duldete keinen Widerspruch. Wie zur Bestätigung erklang über ihnen ein drohendes Grollen. „Wenn wir weiter hier bleiben, werden wir lebendig begraben. Ken, hol deine Sachen und dann nichts wie raus hier.“

Ken schien nicht gewillt, sein Opfer einfach so aus den Klauen zu lassen. Balinese beschloss zu handeln. Er nahm Schuldig am Arm und schob Ken von ihm weg.

„Mach schon, Kumpel. Wir müssen hier weg.“

Ken nickte widerstrebend und ging, jedoch nicht ohne Schuldig noch einen letzten, hasserfüllten Blick zuzuwerfen.

„Komm, gehen wir“, sagte er zu Schuldig, fesselte seine Hände und schob den Mann in Richtung Ausgang.

„Sehr zuvorkommend, Kätzchen“, giftete der andere, aber der Bemerkung fehlte der gewohnte Biss. Fast ohne Widerstand ließ er sich die Treppen hinaufschieben.

 

 

Sie verließen das Gebäude durch den Vordereingang. Als sie vor dem Haus auf der Einfahrt standen, konnten sie zum ersten Mal das volle Ausmaß der Explosion erkennen. Das komplette, obere Stockwerk war weggeblasen worden, das Dach zur Seite gerutscht, wobei es Schuldigs Wagen unter sich begraben hatte. Der Mann schien es nicht einmal zu bemerken. Von irgendwo aus der Ferne waren erste Sirenen zu hören. Vermutlich würde es in wenigen Minuten hier nur so von Einsatzkräften wimmeln.

„Soll ich den Rest noch sprengen?“, fragte Bombay. Er hielt den Zünder in der Hand. Abyssinian nickte. Sie entfernten sich schnell, um genügend Abstand zwischen sich und das Gebäude zu bringen. Bombay entriegelte den Mechanismus und vier weitere Explosionen ließen den Rest der Ruine in Flammen aufgehen.

Schuldig neben ihm machte einen belustigten Laut. „Ich wollte schon immer mit einem Knall abtreten“, sagte er leise. „Allerdings dachte ich immer, dass ich es sein würde, der dabei was in die Luft sprengt.“

'Und ich dachte nicht, dass ich dabei allein sein würde.'

Er war ich nicht sicher, ob Schuldig ihn diesen letzten Satz wirklich hatte mit Absicht hören lassen, oder ob dem Telepathen inzwischen auch langsam die Kontrolle entglitt. Das war offensichtlich etwas, das er nicht gewohnt war. Er hatte es mehr als einmal deutlich gemacht, dass er sich für etwas Bessere hielt als die normalen Menschen. Die Erkenntnis, dass er jetzt sterben musste, schien ihn tief zu erschüttern.

Blaue Augen blitzen wütend auf. „Spar dir dein Mitleid, Weiß“, zischte Schuldig. „Ich werde nicht vor euch kriechen und ich werde auch nicht betteln. Wenn ihr mich töten wollt, dann tut das. Macht es schnell oder langsam, mir ist es gleich. Ich habe auf dieser Welt nichts mehr zu erledigen. Ich bin hier fertig.“

 

„Wer wird es tun?“, fragte Abyssinian. Er hatte sein Schwert bereits auf Schuldig gerichtet, sah jedoch abwartend auf Ken. Der starrte Schuldig an und sah dann auf die Krallen in seinen Händen.

„Er ist es nicht wert“, sagte er schließlich. „Schlag ihm seinen hässlichen Kopf herunter und dann lasst uns hier verschwinden.“

Balinese ließ Schuldig in die Knie gehen und neigte seinen Kopf nach unten. Die langen Haare fielen nach vorn und bedeckten sein Gesicht. Er lachte leise.

„Ein Samurai-Tod. Wie poetisch. Na los, Kätzchen. Darauf hast du doch schon lange gewartet. Bring es zu Ende.“

 

Abyssinian hob das Schwert. Die Flammen spiegelte sich in der Klinge und ließ sie aufleuchten, als wäre sie aus purem Feuer. Er zögerte einen kleinen Augenblick. Balineses Augen wurden schmal. Das sah Abyssinian nicht ähnlich. Woran dachte er? Was konnte ihn jetzt noch zurückhalten? Was...? Er riss die Augen auf, als ihm klar wurde, was dem anderen gerade durch den Kopf ging.

„Halt!“, rief er und fiel ihm in den Arm. Wütend starrte Abyssinian ihn an.

„Was soll das? Lass es mich beenden.“

Er schüttelte den Kopf. „Du weißt, warum ich das nicht kann. Ich weiß, woran du gedacht hast. Du hast an sie gedacht.“

„Schweig!“ Das Wort war eine Warnung und eine Drohung zugleich, doch er würde nicht zurückweichen, weil er wusste, dass er Recht hatte.

„Es ist vielleicht ihre einzige Chance. Du hast gehört, was er gesagt hast. Der menschliche Geist steht ihm offen. Er kann sie vielleicht zurückholen. “

Abyssinians Atem kam stoßweise. Er rang mit sich. Er wusste, was er tun sollte, was die Mission von ihm verlangte. Aber andererseits...

„Das hier ist keine Mission. Kritiker weiß nichts hiervon. Niemand würde es erfahren. Wir müssen es versuchen. Er ist vielleicht der Einzige, der das kann. Ich werde nicht zulassen, dass du deine letzte Chance einfach wegwirfst aus irgendeinem dummen Pflichtgefühl oder Ehrenkodex heraus.“

Abyssinian schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht. Ich... Er darf nicht...“

„Du wirst ihr anders nicht helfen können. Ich habe gehört, was du im Krankenhaus zu ihr gesagt hast. Dass du dir wünschst, dass es irgendeinen Weg gibt, sie zurückzuholen. Du musst diese Möglichkeit ergreifen. Bitte, tu es nicht für dich oder für mich. Tu es für sie. Denk wenigstens noch einmal darüber nach, bevor du etwas tust, dass du nicht rückgängig machen kannst. Aya, bitte!“

 

Der Name, den er mit seiner Schwester teilte, brachte anscheinend den Ausschlag. Er senkte das Katana und sah zu den beiden andere Team-Mitgliedern.

„Wir...wir müssen da etwas besprechen“, sagte er langsam. „Ich würde Schuldig gerne vorerst verschonen.“

„Was?“ Kens Gesicht fiel förmlich auseinander. „Bist du wahnsinnig? Nach allem, was der Mistkerl mit mir gemacht hat?“

„Nicht alles davon, fandest du schlecht“, warf Schuldig ein, schwieg aber, als Abyssinan ihm einen bösen Blick zuwarf.

Bombay hingegen nickte verständnisvoll. Er fasste Ken am Arm. „Wir sollten es ihm erlauben. Es ist vielleicht wirklich die einzige Chance, wie er seine Schwester retten kann.“

Ken sah von Abyssinian zu Schuldig und wieder zurück. Er bleckte die Zähne und meinte dann: „Na meinetwegen, nehmt ihn mit. Aber ich verspreche euch, dass ich kein bisschen nett zu ihm sein werde. Der Arsch ist so was von fällig.“

Balinese nickte und zerrte Schuldig wieder auf die Füße. Obwohl er nichts sagte, konnte er die Erleichterung, die von dem Mann ausging, geradezu spüren.

„Da hast du ja nochmal Glück gehabt“, flüsterte er ihm zu. „Noch vor ein paar Wochen hätte er...hätte ich dich einfach sterben lassen.“

„Ich bin euch ja so dankbar“, heuchelte Schuldig zurück. Die näher kommenden Sirenen und das bereits sichtbare Blaulicht ließen keinem von ihnen Zeit, sich noch weiter Gedanken zu machen. Sie packten ihren Gefangenen und verließen das Grundstück auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen waren.

 

 

 

Am Lieferwagen angekommen, zögerte Yoji. Omi und Ken waren bereits eingestiegen. Aya machte sich daran, sich hinter das Steuer zu setzen. Er wollte ihm gerne beistehen, fühlte sich jedoch verpflichtet, die anderen beiden nicht mit Schuldig allein zu lassen. Er suchte Ayas Blick.

„Kommst du klar?“, fragte er. Er wusste, dass Aya durchaus in der Lage war, sich diese Idee selbst wieder auszureden. Es war im Grunde genommen ja auch totaler Irrsinn. Trotzdem bereute er nicht, den Vorschlag gemacht zu haben. Sie konnten Schuldig in keinster Weise trauen, aber ihn einfach so ziehen zu lassen, stand auch nicht zur Debatte. Was also sollten sie tun?

Aya sah zu ihm hinüber. „Pass auf ihn auf“, sagte er mit einem Kopfnicken in Richtung ihres Gefangenen. „Ich möchte nicht bereuen müssen, ihn am Leben gelassen zu haben.“

Yoji seufzte und schob Schuldig in Richtung der seitlichen Wagentür. Er bugsierte ihn in eine Ecke und setzte sich dann ihm schräg gegenüber, sodass er zwischen ihm und den anderen beiden saß. Es war eine sinnlose Geste, wenn man bedachte, was Schuldig konnte, aber es fühlte sich trotzdem richtig an. Er klopfte gegen die Rückwand des Wagens, um Aya ein Zeichen zum Losfahren zu geben. Als sie sich in Bewegung setzten, atmete er erleichtert aus und begann, nach seinen Zigaretten zu kramen.

„Also das habe ich nicht vermisst“, witzelte Ken und versuchte sich an einem schiefen Grinsen. Yoji erwiderte es.

Omi legte Ken eine Hand auf den Arm. „Geht´s dir gut? Wie fühlst du dich?“

Ken zuckte mit den Schultern. „Ist noch ziemliches Chaos da oben. Anscheinend muss sich mein Kopf erst wieder neu sortieren. Die alten und die neuen Erinnerungen passen nicht so ganz zusammen. Es fühlt sich ein bisschen an, als hätte ich zwei Leute in meinem Kopf. Der eine würde den Mistkerl gerne umbringen, der andere...“ Er schwieg und zog ein finsteres Gesicht.

Schuldig räusperte sich. „Ich könnte dir die Erinnerungen an die letzte Woche nehmen, wenn du willst.“

„Kommt nicht infrage“, grollte Ken. „Wenn du glaubst, dass ich dich nochmal in meinen Kopf lasse, bist du verrückter, als ich dachte.“

Gelangweilt pustete sich Schuldig eine Strähne aus dem Gesicht. „Wie du meinst, Kätzchen. Es war nur ein Angebot.“

„Dass du natürlich nur aus reinster Nächstenliebe gemacht hast“, fauchte Ken. Er sah sich suchend im Wagen. Sein Gesicht hellte sich auf, als er eine große Rolle Klebeband entdeckte. Er nahm sie von der Wand, riss einen Streifen ab und klebte ihn Schuldig über den Mund. Als er Yojis Draht sah, benutzte er es auch gleich noch, um Schuldigs Hände zusammenzubinden. Dann setzte er sich wieder neben Omi, auf dem Gesicht einen Ausdruck grimmiger Befriedigung.

„Damit du mal weißt, wie das ist“, sagte er noch und legte das Kinn auf die Knie. Er gähnte.

Omi lächelte und rückte noch ein Stück näher an Ken heran. „Du musst müde sein. Bald sind wir wieder zu Hause, dann...“, Er unterbrach sich und fasste Schuldig scharf ins Auge. „Moment, wenn Schuldig vom Koneko weiß, sind wir dort nicht mehr sicher. Was, wenn Schwarz uns dort suchen kommt?“

Schuldig murmelte etwas und drehte sich zur Wand. Yoji war sich sicher, dass er sich nur harmlos gab und die nächste Gelegenheit zur Flucht nutzen würde. Trotzdem war es merkwürdig, dass sein Team ihn einfach so aufgegeben hatte. Er äußerte diesen Umstand laut. Verwundert musste er feststellen, dass nicht Schuldig – der sicherlich trotz Klebeband einen Weg gefunden hätte, seine Meinung kundzutun - sondern Ken darauf antwortete.

„Ich glaube, die sind sauer auf ihn.“

„Was?“, fragte Omi und Yoji gleichzeitig.

Ken hob leicht die Schultern. „Die letzte Begegnung zwischen Nagi und Schuldig war nicht gerade freundlicher Natur. Und wenn ihr sagt, dass Farfarello ihn auch im Stich gelassen hat... Wobei ich mir nicht vorstellen kann, warum das so sein sollte. Die beiden schienen recht gut aufeinander eingespielt, wenn man das über ein Team von blutrünstigen Sadisten und Mördern so sagen kann.“

Omi überlegte. „Farfarello hat etwas gesagt, bevor er gegangen ist. Ich glaube das Wort war...Invidia.“

Ken blickte auf. Er schien zu überlegen. „Invidia ist Latein. Es bedeutet so viel wie Neid oder Missgunst.“

Yoji hob die Augenbrauen. „Du kannst Latein?“

Ken grinste schief. „Naja nicht wirklich. Invidia ist eine der sieben Todsünden. Etwas, dass dich mit ziemlicher Sicherheit in die Hölle bringt.“

„Oh, dann bin ich ja sicher“, lachte Yoji. „Ich teile gerne alles mit meinen Freunden.“

„Dich würden wohl eher Wollust und Maßlosigkeit dort hinbringen“, frotzelte Ken und Yoji kam nicht umhin zu denken, wie froh er war, dass Ken wieder da war. Er hatte den Burschen vermisst. Er warf einen schnellen Blick auf Schuldig, der scheinbar teilnahmslos in seiner Ecke saß. Yoji traute dem Ganzen allerdings nicht so ganz.

„Was machen wir mit ihm?“, fragte er daher? „Irgendwelche guten Ideen, wie wir ihn ruhigstellen.“

'Besorgt euch ein paar hübsche Barbiturate, dann wird das auch was mit der Gefangennahme.'

Schuldigs Stimme in seinem Kopf ließ ihn zusammenzucken.

Ken war sofort in Habachtstellung. „Was ist los, Yoji?“ Er sah zu Schuldig und fuhr auf. „Raus aus seinem Kopf.“

'Sag ihm, dass er dann das Klebeband entfernen soll. Ich hasse es, wenn man über mich spricht, während ich anwesend bin.'

„Er sagt, wir sollen das Klebeband abmachen.“

„Kommt nicht infrage!“

 

 

 

 

Schuldig zuckte gelangweilt mit den Schultern und starrte wieder die Wand an. Die drei Weiß gingen erneut dazu über, sich zu unterhalten, wenngleich sie sich jetzt auch Mühe gaben, ihn nicht mehr hören lassen, worum es ging. Als wenn ihn das interessiert hätte. Immerhin hatte er jetzt eine ungefähre Vorstellung davon, warum Farfarello davon gelaufen war, ohne die Gelegenheit zu nutzen, ein hübsches, kleines Schlachtfest mit den restlichen Kätzchen zu veranstalten. Verwirrend war immer noch die Tatsache, dass er es geschafft hatte, das telepathische Siegel zu brechen. Vermutlich ein reiner Glückstreffer. Schuldig bezweifelte, dass der irische Mistkerl genug über die Funktionsweise des menschlichen Geistes wusste, um das absichtlich getan zu haben. Wobei Farfarello manchmal überraschend scharfsinnig sein konnte. Vielleicht hatte er dem Jungen tatsächlich mit Absicht ein stark emotional belastetes Bild an die Hand gegeben, mit dessen Hilfe er seine Erinnerungen selbst hatte befreien können. Meine Güte! Wenn er sein Spielzeug hätte zurückhaben wollen, hätte er doch nur zu fragen brauchen.

 

Obwohl Schuldig zugeben musste, dass er Kens Gesellschaft vielleicht tatsächlich ein wenig zu sehr genossen hatte. Es war so überaus praktisch und bequem gewesen, ihn bei der Hand zu haben, und es hatte Spaß gemacht, ihn auseinander zu nehmen und die zunehmende Verwirrung und Abhängigkeit auszukosten. Fast genauso viel Vergnügen hatte es ihm bereitet, ihn wieder zusammenzusetzen, obgleich die Anwesenheit der restlichen Weiß seinen Enthusiasmus ein wenig gedämpft hatte. Schuldig erinnerte sich trotzdem gern an das Gewimmer und die unerträglichen Schmerzen, die ihm das zugefügt hatte. Die Agonie seines Geistes, dessen Aufschrei bestimmt bis an das andere Ende der Stadt zu hören gewesen war.

Es grenzte an ein Wunder, dass er noch lebte. Schuldig kannte Menschen, die an dieser Prozedur zerbrochen waren. Psychisch und physisch. Eigentlich hatte er gedacht, dass bei Ken genau das passieren würde. Er hatte ja schließlich nicht vorgehabt, ihn auf ewig zu behalten, daher hatte er die Erinnerungen auch nicht besonders tief vergraben. Auseinander nehmen, ein wenig spielen, wieder zusammensetzen und dann zerbrechen. Einfacher Plan, der grandios gescheitert war. In doppelter Hinsicht. Er hatte nämlich eigentlich mitnichten vorgehabt, Weiß die restlichen zwei Siegel zu geben, wenn er einmal den Fuß nach draußen gesetzt hatte. Aber auch diese Variation seines Spiels war erfolgreich verhindert worden. Verdammter Farfarello. Verdammte Weiß.

 

Er warf einen Blick zu Ken und bekam, kaum das er bemerkt wurde, einen wütenden und warnenden Blick zugeschossen. Das Kätzchen hatte in der Tat seine Krallen wieder. Schuldigs Interesse erlosch im gleichen Augenblick. Das Spiel war amüsant gewesen und jetzt war es vorbei. Das brachte ihn zu der Frage, mit wem er als Nächstes spielen sollte. Obwohl....vielleicht war es ratsam, eine Weile nach ihren Regeln zu spielen. Er gab es nicht gerne zu, aber er fühlte sich der Situation nicht ganz gewachsen. Sollte er es auf einen Kampf anlegen, würde er womöglich verlieren. Nicht, dass er sie würde merken lassen, dass ihm etwas an seinem Leben lag. Aber ganz so gleichgültig, wie er sich im Angesicht seines bevorstehenden Todes gegeben hatte, war er nicht. Außerdem nagte die Tatsache an ihm, dass Schwarz ihn einfach so hatte fallen lassen.

Farfarello, okay. Dessen Gründe machten im Kopf des irren Iren sicherlich irgendeinen Sinn und Schuldig konnte ihm nicht wirklich böse sein. Nagi war einfach ein dummes, verwöhntes Kind. Allerdings eins, das er unterschätzt hatte. Er hatte gespürt, dass Nagi nach der Explosion noch da gewesen und sich von ihm zurückgezogen hatte. Er hatte außerdem gespürt, dass der Junge seine Kräfte benutzt hatte. Wozu, wusste Schuldig nicht, aber die Möglichkeit bestand, dass es nicht zu seinem Vorteil gewesen war. Zu guter Letzte war da noch Crawford. Sie beide kannten sich schon lange und arbeiteten bereits eine geraume Weile zusammen. Warum hatte ihn der Amerikaner so auflaufen lassen? War das mal wieder eine dieser Precog-Geschichten, bei denen er immer so geheimnisvoll tat? Oder hatte er das tatsächlich nicht kommen sehen. Schuldig grinste bei dem Gedanken. Oder besser gesagt, er versuchte es. Dieses Klebeband war wirklich verdammt lästig.

 

Er schloss die Augen und versuchte stattdessen die Gedanken von Abyssinian... Aya aufzufangen. Er hatte eine Schwester? Nun, das war neu. Schien auch so eine Weiß-Krankheit zu sein, dass den Burschen auf einmal Schwestern wuchsen. Aber was war so besonders an ihr, dass er tatsächlich in Betracht zog, Schuldig um Hilfe zu bitten? Und bitten würde er müssen. Betteln. Ihn anflehen. Vorsichtig streckte er die Fühler aus und lauschte dem Gedankenfluss auf der anderen Seite der Wand.

'Ich kann ihm nicht trauen. Wenn Aya etwas passiert, würde ich mir das nie verzeihen. Aber was, wenn es tatsächlich klappen würde? Wenn er ihren Geist von dort zurückholen könnte, wo er sich gerade befand. Sie aus dem Koma aufwecken.Wenn nur die geringste Möglichkeit besteht, dass das wahr ist, wäre ich ein Narr, ihn gehen zu lassen. Aber was, wenn er mit ihr auch so etwas anstellt, wie mit Ken? Wenn er ihr all ihre Erinnerungen nimmt. Wenn sie mich nicht mehr erkennt?'

Schuldig war kurz davor, sich mental zu übergeben. Dieses Gesülze konnte sich ja kein Mensch mitanhören.

'Du würdest sie doch sowieso nie wiedersehen wollen, oder?', wagte er dazwischen zu werfen. Aya merkte gar nicht, dass der Gedanke nicht von ihm war.

'Ich müsste dafür sorgen, dass sie nichts über mich und Weiß erfährt. Das könnte ich ihr nicht antun. Ob Manx oder Birman sich darum kümmern würden, ihr ein neues Zuhause zu besorgen? Mit dem Geld, was ich noch gespart habe, könnte sie vielleicht ins Ausland gehen. Ihren Traum verwirklichen. Obwohl es mich umbringen würde, nicht zu wissen, was mit ihr geschieht. Ich könnte mit ihr zusammen fortgehen. Aber dann hätten wir ein Leben lang Kritiker auf den Fersen. Sie glauben vielleicht, sie wären subtil, aber die Geschichte mit Botan hat gezeigt, dass wir ohnehin nie wieder aus dieser Nummer herauskommen.Einmal Weiß, immer Weiß. Ich bin und bleibe ein Mörder. Das Blut an meinen Händen wird auf ewig daran kleben bleiben. Ich könnte es nicht ertragen, sie mit diesen Händen zu berühren.'

'Boohoo, sucks to be you', dachte Schuldig, ohne Aya an dieser Weisheit teilhaben zu lassen. Er kannte Shopping-Kanäle die interessanter waren.

'Wahrscheinlich ist es ohnehin sinnlos, sich darüber Gedanken zu machen. Er wird mir nicht helfen. Selbst wenn er es könnte, was ich bezweifele. So gut ist selbst er nicht.'

'Hey, jetzt reicht's aber!“, dachte Schuldig laut und fühlte, wie der Wagen kurz ins Schlingern geriet.

'Pass auf die Straße auf, Kätzchen. Du wirst uns noch alle umbringen.'

'Schuldig!'

'Ja wer den sonst? Du denkst ja so laut, dass ich davon Kopfschmerzen kriege. Du hast also ein süßes, kleines Schwesterlein, dass im Dornröschen-Schlaf liegt und nicht aufwachen will, ja? Und ich soll nun ihr rettende Prinz sein? Interessante Vorstellung.'

'Du wirst sie nicht anrühren!'

Es war erstaunlich, wie wütend Aya sogar denken konnte. Seine Worte krallten sich förmlich in Schuldigs Gehirn und ließen ihn zusammenzucken. Er war heute wirklich nicht auf der Höhe.

'Von anfassen war ja auch nicht die Rede. Obwohl physischer Kontakt die Wirksamkeit durchaus noch erhöht.'

'Vergiss es!' Die Gedanken waren zu einem Knurren ausgewachsen, das Schuldig eher an einen Tiger, denn an eine Katze denken ließen. Einem ziemlich schlecht gelaunten Tiger.

'Sachte, sachte, du willst doch nicht den Retter deines geliebten Schwesterleins verärgern, mein Großer. Gut, sagen wir mal, ich würde mich dazu bereit erklären, der holden Jungfrau in Nöten zu helfen. Was bekäme ich dafür?'

Die Gedanken auf der anderen Seite machten eine Pause, um dann in einen heilloses Durcheinander zu verfallen. Für und Wider prallten aufeinander, Angst und Hoffnung, Pflichtgefühl und Misstrauen, Mordgedanken und Resignation.

Schuldig zog sich für einen Moment zurück, um sich nicht in dem Strudel mitreißen zu lassen, und wiederholte dann noch einmal: 'Was bekomme ich dafür?'

Ayas Gedanken waren oberflächlich jetzt wieder ruhig und gleichmäßig, auch wenn Schuldig den Sog in der Tiefe darunter spürte, als er zurückfragte: 'Was willst du?'

 

 

 

 

 

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Soundtrack:
„Devil in a midnight mass“ - Billy Talent
"The Wolf" - SIAMÉS


Die Siegelwörter sind übrigens - wer hat´s erkannt? - Weiß Kreuz Episoden-Namen. Die waren so schön passend. *grinsel* Tja, nun haben wir also Ken wieder und dafür Schuldig am Hals. Ob Weiß sich das so gut überlegt hat? Und was könnte Schuldig dazu bringen, Aya tatsächlich zu helfen? Tjaaa...schauen wir mal. ^_~

P.S.: Ich war übrigens kurz davor, Schuldig wirklich sterben zu lassen, aber ich habe es dann doch nicht übers Herz gebracht. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  radikaldornroeschen
2018-05-24T06:56:50+00:00 24.05.2018 08:56
Sooo, nachdem ich gestern keine Zeit mehr hatte, heute mein Kommentar...
(ich fühl mich hier wie zu Hause XD *sessel aufstell*)

Sehr ausgefuchst, dass Schuldig scheinheilig Kens Siegel löst, aber eigentlich auf eine Selbstzerstörung abzielt! Mit dieser Folge hätte keiner der Weiß-Mitglieder rechnen können! Und dass Ken das weitestgehend unbeschadet übersteht - super! Die Überraschung in Schuldigs Gesicht hätte ich zu gerne gesehen XD

Dass Farfarello nun so... clever ist... was die Schnitte angeht. Sehr beeindruckend. Als Leser kann man da gut mit Schuldig mitfühlen - Zufallstreffer oder Können? Das macht mir Farfi direkt sympathisch ^^
Ich hoffe, da wird noch einmal darauf zurückgekommen.

Dass Crawford ihn (vorerst) hat fallen lassen, passt irgendwie zu ihm. Auch wenn durch die Precog-Sache offen ist, ob er vielleicht noch weiter in die Zukunft denkt und Schuldig wieder bei Schwarz landet.
Aber wohl eher nicht. (Meinem Gefühl nach)

Tja, ein Tod Schuldigs hätte genau so gut reingepasst wie sein Überleben. Beide Varianten hätten sich sicher gut in die Story eingefügt. Nun nimmt die Geschichte aber mit Rans Schwester schon wieder eine neue Wendung O_O;

*auf sessel bierchen öffne*
Bin gespannt, wie es weiter geht!
Antwort von:  Maginisha
24.05.2018 10:11
Huch, so ein langer Kommentar. Danke!

Jaa, alles gar nicht so einfach gerade. Ich hoffe, dass ich es überzeugend hinbekomme, alle losen Fäden zusammenzubekommen. Und alles hoffentlich noch vor meinem Urlaub, sonst musst du ja so lange warten, um die Auflösung zu bekommen. Ich beeile mich. ^_~


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