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Ahnungslose Augenblicke

von

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Neuankömmlinge

Jodie machte einen Schritt nach hinten und spürte bereits das kalte Fensterglas in ihrem Rücken. Ohne es zu realisieren, stand sie auf dem frischen Blumenbeet und blickte den fremden Jungen an.

„Oh nein“, stieß Shukichi aus und kniete sich sofort zu dem Karton. Mit Bedacht riss er das Klebeband herunter, schob die Kartonlaschen auseinander und begutachtete den Inhalt. Das Geschirr lag in Scherben vor ihm. „Oh Mist“, murmelte er anschließend. Das würde Ärger geben.

„Shukichi?“ Mary sah zu ihrem Sohn. „Was ist passiert?“

Jodie beobachtete den Jungen mit den mittellangen, zerzausten, braunen Haaren und blauen Augen. Wie sie, trug auch er eine Brille mit großen, runden Gläsern. Er wirkte schlaksig und ungeschickt zugleich. Und jetzt bekam er Ärger für etwas, was sie verschuldete.

„Mama…“, fing er an. „Ich…“

„Das ist unsere Schuld“, begann Angela und stellte sich neben Jodie. „Wir bitten um Entschuldigung und werden den Schaden natürlich ersetzen.“

Mary sah Angela skeptisch an, ehe ihr Blick zu Jodie ging.

„Ist ja nur Geschirr“, entgegnete Tsutomu ruhig. „Machen Sie sich deswegen nur keine Umstände. Es waren nicht gerade die hübschesten Teller.“

„Was soll denn das heißen?“ Mary stemmte die Hände in die Seiten. „Das Geschirr haben wir von meinen Eltern zur Hochzeit bekommen.“

„So hab ich das nicht gemeint“, versuchte er zu beschwichtigen. „Trotzdem würde mich interessieren, warum zwei fremde Personen durch unser Fenster gespäht haben.“

Jodie fühlte sich ertappt. „Ich…ich…“, stammelte sie leise. Wie sollte sie Fremden erklären, was sie dazu bewogen hat, zum Haus zu gehen? Sie wusste ja nicht einmal selbst, warum sie hier stand.

„Wir wollten gerade nach Hause gehen, als wir Ihren Umzugswagen sahen“, fing Angela an. „Da wurden wir neugierig und haben durch das Fenster geschaut. Wir wissen, dass man so etwas natürlich nicht macht, aber in dem Moment gewann unsere Neugier.“

„Wohnen Sie in der Gegend?“, wollte Tsutomu wissen.

„Wir wohnen ein paar Straßen weiter. Oh, wo sind meine Manieren. Ich bin Angela Starling und hier neben mir steht meine Tochter Jodie.“ Sie reichte dem fremden Ehepaar die Hand.

„Hallo“, murmelte diese leise.

„Tsutomu Akai“, stellte sich der Mann vor. „Das sind meine Frau Mary und mein Sohn Shukichi.“ Er vernahm ein Husten und sah nach unten. Seine kleine Tochter stand direkt hinter ihm und hielt sich an seiner Hose fest. „Und das hier ist unser kleiner Wirbelwind Masumi.“

„Ich bin nicht klein“, gab diese von sich. „Und du hast Shu-nii vergessen.“

Angela lächelte und kniete sich zu ihr. „Es freut mich dich kennen zu lernen, Masumi. Verrätst du mir, wer Shu-nii ist?“

Masumi sah zu ihrem Vater. „Darf ich?“

Tsutomu nickte.

„Shu-nii ist mein anderer großer Bruder.“

„Ach so..? Und lernen wir diesen noch kennen?“

Masumi nickte. „Er kommt ganz bald hier her. Er war sogar vor uns hier“, erzählte sie.

„Unser ältester Sohn Shuichi lebt bereits seit einem Jahr in New York“, erklärte Mary. „Und studiert hier Ingenieurswissenschaften.“

„Das ist ja großartig“, entgegnete Angela.

„Ja, Shu-nii kann alles.“

Tsutomu schmunzelte. „Masumi ist sehr stolz auf ihren älteren Bruder. Und nehmen Sie es ihr nicht übel, wenn Sie manches Mal nicht verstehen, was sie sagt. Sie braucht noch eine Weile um zwischen dem Japanischen und dem Englischen zu wechseln. Manchmal vertauscht sie auch noch die Begriffe.“

„Aber nicht doch. Das ist kein Problem.“ Angela sah zu Jodie. „Jodie war in dem Alter genauso. Obwohl sie nur eine Sprache spricht, konnte ich sie manches Mal auch nicht verstehen.“

„Mom!“ Jodie wurde rot.

„Ich hör ja schon auf“, sagte Angela schmunzelnd. „Wenn ich Ihnen beim Kisten reinbringen helfen kann, sagen Sie es nur. Falls Sie Hilfe beim Renovieren oder Aufbauen von Möbeln brauchen, können Sie uns natürlich auch informieren.“

„Das ist nicht nötig. Wir schaffen das schon“, antwortete Mary.

„Shu-nii kommt nachher auch zum helfen“, warf das kleine Mädchen ein.

„Ich verstehe“, kam es von Angela. „Dann sollte ich lieber nicht helfen, nicht wahr, Masumi?“

Masumi dachte nach und nickte dann. „Ja, dann kann Shu-nii viel helfen.“

Tsutomu strich ihr durch das Haar. „Geh doch schon wieder rein und hilf Shukichi.“ Er sah seinen Sohn an. Shukichi schloss die Kiste mit dem kaputten Geschirr und nahm sie hoch. „Na komm, Masumi, gehen wir rein.“

Masumi nickte und folgte ihrem Bruder.

„Kannten Sie die Vormieter?“, wollte Mary wissen.

„Das kann man so sagen“, antwortete Angela. „Amber, die Tochter der Westons war mit meiner Tochter Jodie befreundet. Jodie war öfters hier.“

„Oh“, stieß der Mann aus. „Wir haben gehört, was passiert ist. Schreckliche Sache.“

„Ja, das war wirklich eine schreckliche Sache“, murmelte Angela zustimmend.

„Auch wenn es nur ein schwacher Trost ist, aber wenigstens haben sie denjenigen gefunden, der diese Tat begangen hat“, sprach Tsutomu.

„Falls er es war“, sagte Jodie leise.

„Wie?“ Mary sah sie erstaunt an.

„Ich kann…mir nicht vorstellen, dass es…Connor war…“

„Jodie hat den Jungen kennen gelernt“, fügte Angela hinzu. „Irgendwie kann sich keiner von uns vorstellen, dass er es wirklich gewesen ist. Aber die Beweise sprechen gegen ihn.“

Tsutomu nickte. „Man sollte den Beweisen Glauben schenken, außer man hat einen Hinweis, dass die Beweise falsch sind. Natürlich haben wir uns vor dem Hauskauf die Historie des Hauses und den Hintergrund zu dieser Gegend angesehen. Nachdem, was alles in den Medien berichtet wurde, scheint es nicht so, als seien die Beweise fingiert gewesen.“

Angela war erstaunt. „Sie haben recht“, sagte sie. „Wird ihr älterer Sohn auch hier wohnen?“, wollte sie wissen um das Thema zu wechseln.

„Es ist nicht geplant. Shuichi will lieber unabhängig sein und bleibt in seiner Wohnung. Von den Zimmern her, müsste er sich sonst eines mit seinem Bruder teilen und ich nehme nicht an, dass er das möchte“, antwortete Tsutomu. „Ich kann es ja auch verstehen und würde nicht anders handeln. Er ist ein junger Mann und möchte nach einem Jahr Unabhängigkeit nicht wieder im Hotel Mama wohnen. Und seine Wohnung ist auch näher zum Campus. Natürlich hätten wir nichts dagegen, sollte er sich anders entscheiden, aber Sie wissen ja wie das mit den Kindern ist.“

Angela nickte. „Ich will gar nicht wissen wie es sein wird, wenn Jodie im nächsten Jahr studiert und möglicherweise von zu Hause ausziehen will.“ Sie sah zu ihrer Tochter. „Auch wenn es ein ganz normaler Prozess ist. Ich wollte damals auch nicht mehr bei meinen Eltern wohnen.“

„Mom?“

Angela nickte. „Ja, natürlich, wir wollten Sie nicht so lange aufhalten.“

„Das haben Sie doch nicht. Es war uns eine Freude Sie kennen zu lernen“, sprach Mary.

„Die Freude ist ganz auf unserer Seite. Komm, gehen wir, Jodie.“

Jodie sah zum Haus. „Kann…kann ich rein? Nur…kurz?“

„Jodie?!“

„Nein, ist schon gut“, entgegnete Tsutomu und blickte zu Jodie. „Geh ruhig rein.“

„Danke“, murmelte das Mädchen und ging langsam auf die Haustür zu. Sie zögerte einen Moment, trat dann aber ein. Jodie sah sich um. Obwohl sie so oft im Haus war, kam ihr alles fremd vor. Es war nicht mehr das Haus, das sie kannte. Im Flur standen die ersten Kisten und Jodie konnte bereits in das Wohnzimmer blicken. Das Sofa und weitere Kisten standen im Raum. Jodie blickte zu den Treppen. Sie wusste, wohin diese führten und stieg langsam nach oben.

Angela runzelte die Stirn und wollte ihrer Tochter nachgehen.

„Warten Sie“, kam es von Tsutomu. „Ich glaube, es ist besser für Ihre Tochter, wenn sie alleine nach oben geht. Auch wenn es schwer ist, sie muss es alleine schaffen.“

Angela schluckte. „Das ist nicht so einfach für Jodie.“

„Ich weiß. Wie gesagt, ich kenne die Historie des Hauses und dieser Gegend. Ihre Tochter war das Entführungsopfer, nicht wahr?“

Angela nickte.

„Die Zeitungen haben nicht viel darüber berichtet. Ist es richtig, dass es nur ein Scherz sein sollte, der gehörig in die Hose ging?“

„Was das angeht, hat die Zeitung nicht gelogen.“ Angela seufzte. „Amber hat die Entführung damals inszeniert und den Jungen glauben gemacht, dass es mit Jodie abgesprochen war. Jodie wusste allerdings nichts davon. Auch die Zeit danach war nicht einfach für Jodie.“

„Dann sollten Sie ihr jetzt wirklich diesen Moment lassen. Sie sind zwar Ihre Mutter, aber es gibt Dinge im Leben, die muss ein Kind selbst schaffen, auch wenn es schwer ist…“ Tsutomu brachte sie ins Wohnzimmer. „Ich weiß, das Zimmer ist noch nicht fertig, aber setzen Sie sich doch. Möchten Sie einen Kaffee?“

„Machen Sie sich wegen mir keine Umstände. Ein Wasser ist ausreichend.“
 

Jodie stand vor Ambers Zimmer. Ganz langsam legte sie die Hand auf die Türklinke, atmete tief durch und drückte die Tür auf. Es sah nicht mehr so aus, wie sie es kannte. Die ganzen Möbel von Amber waren verschwunden und es erinnerte nichts mehr an das Mädchen. Statt weißen Wänden fand Jodie diese in einem hellen rosa vor. Ein Bett – viel kleiner als das von Amber – stand abgedeckt an der Stelle, wo sich früher der Computer von Amber befand. Jodie fuhr mit den Fingerspitzen über die Folie.

„Das ist Masumis Zimmer.“

Jodie zuckte zusammen und sah zur Tür. „Das habe ich mir gedacht“, murmelte Jodie. „Das war früher Ambers Zimmer.“

„Es tut mir leid, was passiert ist. Das muss schlimm für dich gewesen sein.“

„Wie mans nimmt“, murmelte Jodie. „Ich war früher oft hier…wir saßen auf ihrem Bett oder auf dem Boden und haben…Spaß gehabt. Aber…“ Jodie brach ab und kämpfte mit den Tränen.

„Ist schon gut“, entgegnete Mary. „Willst du noch weitere Zimmer sehen?“

Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Ich geh zurück zu meiner Mom.“ Jodie wischte sich die Tränen weg und ging an Mary vorbei. Ihr Weg führte sie nach unten, wo sie die Stimme ihrer Mutter hörte.

„Wollten Sie schon immer nach New York oder sind Sie wegen Ihrem Sohn hier her?“

Tsutomu lachte. „Sowohl als auch. Wir haben schon lange mit dem Gedanken an einen Umzug gespielt, aber immer passte irgendwas nicht. Entweder es lag an der Arbeit oder wir konnten nichts Passendes finden. Als Shuichi dann seinen Studienplatz in New York bekam, haben wir uns intensiver mit dem Umzug beschäftigt. Wir haben schnell das Haus gefunden, der Preis war akzeptabel und Shuichi hat sich vor dem Kauf in der Umgebung etwas Umgesehen.“

„Vielleicht kann sich Ihr Sohn mal mit Jodie unterhalten. Nächstes Jahr möchte sie auch mit dem Studium anfangen, allerdings hat sie sich noch für kein Hauptfach entschieden. Ein Austausch mit einem Studenten, auch was die Bewerbungen angeht, ist da bestimmt hilfreich.“ Angela sah zu ihrer Tochter die ins Wohnzimmer kam.

„Mom…“, murmelte Jodie leise. „Das muss doch nicht sein.“

„Ich frag doch nur ganz unverbindlich.“

„Das ist kein Problem“, sagte der Mann. „Shuichi wollte sowieso demnächst mit seinem Bruder die Bewerbungsunterlagen durchgehen. Jodie kann sich dem gern anschließen. Natürlich nur wenn du möchtest.“

„Wahrscheinlich ist es keine schlechte Idee“, gab sie schließlich klein bei.

„Gut. Am besten Sie geben mir Ihre Adresse, Angela. Unser Ältester macht sich momentan sehr rar. Wenn er nicht in der Uni ist, lernt oder arbeitet er.“

„Aber er kommt und hilft uns“, warf Masumi ein, als sie mit ihrer Mutter ins Wohnzimmer kam. „Das hat er mir versprochen. Er wollte meinen Schrank aufbauen.“

„Natürlich kommt er“, nickte Tsutomu. Er wandte sich wieder zu Jodie und Angela. „Shuichi ist immer sehr wortkarg unterwegs…außer es handelt sich Rätsel oder irgendwelche Baupläne.“

„Sie müssen sehr stolz auf ihn sein. Einen Ingenieur kann man immer in der Familie brauchen.“

„Das sind wir“, nickte Mary.

„Aber er will nicht als Ingenieur arbeiten“, platzte Masumi heraus.

„Will er nicht?“

„Masumi“, mahnte Mary ihre Tochter.

„Tschuldigung, Mama“, sagte das Mädchen und kletterte auf das Sofa.

Tsutomu lachte. „Man merkt fast gar nicht, dass Shuichi ihr Held ist.“

„Darf ich fragen, was Ihr Sohn später machen will, wenn er nicht als Ingenieur arbeiten möchte?“

Tsutomu räusperte sich. „Shuichis Berufswunsch ist etwas Ungewöhnlich“, gestand er. „Und ich muss auch gestehen, dass wir am Anfang alles andere als begeistert waren. Aber mittlerweile haben wir uns daran gewöhnt. Er kommt zu sehr nach uns, was manchmal nicht unbedingt einfach ist. Seit einigen Jahren hat er sich in den Kopf gesetzt zum FBI zu gehen.“

„Wirklich?“ Angela sah die Familie erstaunt an.

„Ja, unser Sohn hat große Pläne. Wir unterstützen ihn natürlich dabei und greifen ihm so gut wie es nur geht unter die Arme.“

„Wenn Ihr Sohn möchte, kann er gerne bei uns vorbei kommen. Mein Mann ist FBI Agent. Die Beiden haben sicher einiges miteinander zu besprechen.“

Masumi weitete ihre Augen. „Wirklich?“

„Ja“, nickte Angela. „Er ist Special Agent und bereits seit einigen Jahren im Dienst“, antwortete sie stolz.

„Das ist wirklich interessant.“ Mehrere Augenpaare blickten zur Wohnzimmertür.

„Shu-nii“, stieß Masumi aus, kletterte vom Sofa runter und lief auf ihren großen Bruder zu.



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