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Bartolomej

von

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Junge ohne Herz

I


 

 
 

 

Jeder hat diesen einen Menschen, an den er in schwachen Momenten denkt. Jeder – da gibt es keine Ausnahme. Bartolomej hat nicht viele von ihnen. An seinen letzten kann er sich nur schwer erinnern, also versucht er es gar nicht erst. Er muss Jahre zurückliegen. Ein flüchtiger Augenblick des Fühlens. Ein normaler Mensch würde ihn gar nicht bemerken. Er würde vorbeiziehen und nur den Randgedanken, dass man wegen irgendetwas traurig ist, aber dass es vorbeigeht, zurücklassen – so wie immer. Bei ihm ist es anders. Schwache Momente bedeuten aufwühlende Gedanken und blasse Erinnerungen, die Narben wieder aufreißen, die er für vergessen gehalten hat. Was ihm widerfahren ist, liegt viele Jahre zurück, aber es hat einen Teil seines Inneren getötet. Vielleicht den einzigen Teil, der überhaupt zu solcher Schwäche fähig gewesen ist. Wann hast du schon einmal so etwas wie Liebe erfahren?, fragt er sich dann. Warum vergleichst du diese hastigen Atemzüge mit etwas, das du nicht kennst? Niemand kann ihm darauf eine Antwort geben. Bartolomej erwartet auch keine. Niemand ist Zeuge dieser Momente. Manchmal schleichen sie sich nachts in sein Bewusstsein, wenn er keinen Schlaf findet, das Ticken der riesigen Uhr an der Wand außerhalb seines Käfigs zu laut ist und das Licht der einen Glühbirne innerhalb der gläsernen Mauern zu grell.

Dann denkt er an Adrijano und fragt sich, wie es sich angefühlt hätte, den Anderen zu küssen und dann erinnert er sich, dass er ihn niemals wiedersehen wird, um es in Erfahrung bringen zu können und würgt diese Erinnerungen ab, ergibt sich der Monotonie und zieht weiter seine Kreise, um ihn wieder zu vergessen. Diesen einen Menschen, der ihm nicht so egal gewesen ist wie alle anderen. Dieser eine Mensch, dem er nicht egal gewesen ist, als es geschehen ist. Diese Sache, die alles verändert hat. Diese eine Sache, die ihn innerlich getötet hat.

Und dann lacht er, weil es keinen Sinn macht, überhaupt darüber nachzudenken. Ein dunkler, wehleidiger Laut, der nicht zu ihm gehören kann und doch so tief aus seinem kalten Herzen kommt, dass es fast schon schmerzt, auch wenn er das gar nicht mehr fühlen sollte.
 

 
 

 

II


 

 
 

 

Adrijano war niemand Besonderes. Er sah nicht besonders gut aus, er war nicht beliebter als die meisten anderen, nicht der Klassenstreber und auch nicht der Beste im Sport. Dunkle Haare, helle Augen und ein Allerweltsgesicht – so wie es jeder hier hatte. Und doch geriet er stets in Bartolomejs Fokus, vor allem dann, wenn Adrijanos Klasse Sportunterricht hatte und Bartos sich unter den mobilen Tribünen vor seinen Klassenkameraden versteckte. Er war ein Sonderling. Nicht, weil er seltsam aussah. Wenn er sich im Spiegel betrachtete, fielen ihm nicht sonderlich viele Unterschiede auf. Seine Augen waren vielleicht etwas leerer als üblich, seine Lippen mehr nach unten verzerrt als nach oben, allgemein grimmiger als andere Schüler. Außerdem war er so viel größer als alle anderen seiner Altersklasse. Aber das war doch kein Grund, um … schlechter von ihm zu denken. Von seinen Familienverhältnissen wusste auch niemand. Zumindest hatte er nie etwas davon erzählt, aber vielleicht tratschten die Leute in der Stadt zu sehr und er hatte es nur nicht mitbekommen. Er konnte sich jedenfalls nicht erklären, warum die Anderen mieden ihn. Wenn sie das nicht taten, dann ärgerten sie ihn, spielten ihm Streiche und je älter sie wurden, desto schlimmer waren die Dinge, die sie sich einfallen ließen. Adrijano bemerkte von all dem nichts. Er war – so hatte Bartolomej gehört – in der Stufe über ihm und würde nur noch bis zum Sommer hier sein.
 

 

Es war schon Winter, als er sich am gleichen Ort versteckte, nur war es noch schwerer ihn zu finden, denn die Massen an Schnee sorgten dafür, dass die Tribünen eingefahren wurden und draußen kein Unterricht mehr stattfand. Trotzdem nutzten viele die Rückseite der Schule dafür, um Dingen nachzugehen. Zigaretten wurden hin und her getauscht oder auch gleich geraucht. Andere kamen her, um sich nahe zu sein, ohne dass gleich alle davon Wind bekamen. Eines Tages war auch Adrijano einer von diesen Menschen, die mit einem anderen verschwanden, um herumzuknutschen. Bartolomej sah es aus der Ferne und das Gefühl, das in seinem Inneren aufstieg, konnte er nicht benennen, aber es fühlte sich an, als würde es seine Eingeweide durch den Fleischwolf drehen. Er kannte das Mädchen nicht, das Adrijano gegen die Wand drückte und in deren Hose er unkoordiniert herum fummelte, doch in diesem Augenblick hasste er sie so abgrundtief, dass er sich vorstellte, wie er sie aus dem Weg räumen konnte. Dann wurde dieser Gedanke von der Frage ersetzt, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn er an ihrer Stelle wäre und Adrijanos Lippen auf seinen spürte. Das war ihm bei niemandem sonst passiert. Nie. Und dieser Wunsch erschreckte und verstörte ihn.
 

 
 

 

III


 

 
 

 

Er war 16, als vier seiner Mitschüler ihn während der großen Pause zu den Toiletten zerrten, die kaum jemand benutzte, weil sie widerlich waren und nie sauber gemacht wurden. Er schrie nicht. Er wehrte sich auch nicht. Das tat er erst, als er den Campingkocher mit dem Topf an der Wand stehen sah. Dampf stieg von dem kochenden Wasser auf und alles in ihm schrie nach Flucht. Doch trotz seiner Größe hatte er gegen vier ebenfalls recht kräftig gebaute Jungen nicht den Hauch einer Chance. Sie schrien ihn an, warfen ihm vor, seine Mutter sei eine Hure und sein Vater ein Säufer, dass er stank und allen Schülern Angst einjagte, weil er ständig schaute, als würde er jeden Einzelnen von ihnen umbringen wollen. Sie hatten Topflappen. Drei hielten ihn am Boden, der Vierte deutete an, den kochenden Inhalt über ihn zu schütten, wenn er sich nicht entschuldigte. Er tat es, auch wenn er nicht verstand, wofür. Er flehte sie an, wehrte sich weiter, traf den Kerl, der den Topf hielt, mit den Füßen. Vielleicht war er im Endeffekt selbst Schuld daran, dass sein Mitschüler das Gleichgewicht verlor, der Topf seinen Händen entglitt und samt dem Inhalt auf ihn fiel.

Für den Schmerz existierte keine Beschreibung, kein Vergleich … nichts.

Das Gefühl, als sich der Stoff seines Shirts unter die Haut brannte …

Das entsetzte Keuchen der Anderen, die rechtzeitig ausgewichen waren und dann rannten, während er zitternd zurückblieb, weil er nichts anderes tun konnte. Sein Gesicht, sein Hals, sein Oberkörper und seine Arme … alles schien nicht mehr zu ihm zu gehören in diesem Augenblick. Sein ganzer Körper war ein einziger Schmerz. Er war gelähmt. Nicht einmal schreien konnte er. Nur viel zu schnell atmen, wimmern, zittern, wimmern, zittern, wimmern …
 

 
 

 

IV


 

 
 

 

Jetzt kann er sich nicht mehr im Spiegel anschauen. Er will es einfach nicht. Seine Haut ist nie richtig geheilt. Sie spannt bei jeder Bewegung, die er macht, ist taub und fühlt sich unter den Fingerspitzen an wie Leder. Er verbirgt sie unter schwarzen Pullovern, selbst in den Sommermonaten. Ein Teil in ihm glaubt, der derbere Stoff würde sich nicht einbrennen, wenn er mit kochendem Wasser übergossen wird. Es ist ein irrationaler Gedanke. Die Kapuzen sind nur ein Bonus. Unter ihnen kann er sein entstelltes Gesicht verbergen. Er hat Probleme mit dem Trinken oder dem Essen von Suppen, weil er kein Gefühl mehr in seinen Lippen hat. Jetzt wird ihn niemand mehr küssen wollen. Und wenn, dann wird er trotzdem nicht erfahren, wie es sich anfühlt. Niemand wird ihn jemals berühren wollen. Von niemandem will er noch berührt werden. Manchmal nimmt er einen seiner Dolche und ritzt in die Haut, um sie zu fühlen. Nichts passiert. Es blutet nicht einmal wirklich. An seinen Handflächen ist das anders. An seinen Oberschenkeln. Doch nicht einmal der Schmerz ist der Rede wert. Nichts ist mit dem zu vergleichen, was ihn damals zerrissen hat. Nicht einmal die Ohnmacht hat ihn erlöst. Die Uhr an der Wand bringt ihn immer wieder ins Hier und Jetzt zurück, weil sie die Zukunft zeigt. Immer. Nicht das, was hinter ihm liegt. Die Zeiger bewegen sich immer nur vorwärts, nie rückwärts. Dann beginnt er zu laufen. Hin und her, bis der Selbsthass nachlässt. Bis das Bedürfnis verschwindet, sich selbst zu verletzen. Oder die Gedanken daran, was gewesen wäre, hätte er sich damals nur anders verhalten. Hätte er Freunde gehabt? Was hättest du mit ihnen angestellt? Du hast keine Ahnung von solchen Dingen. Und dann verschwindet auch diese Frage im Nichts seines Bewusstseins und nur ein Drang bleibt. Jemand anderen verletzen. Denn das ist alles, was eine Rolle spielt. Alles, was er kann, was ihm irgendetwas gibt, auch wenn er selbst dafür kein Wort hat.

 

»Du bist perfekt für den Job. Du hast keine Hemmungen, kennst keine Reue. Du hinterfragst nicht, sondern handelst. Es sollte mehr Menschen wie dich geben.«

 

Juuri hat das nicht nur ein Mal zu ihm gesagt.
 

 
 

 

V


 

 
 

 

Adrijano war Derjenige, der ihn damals gefunden hat. Bartolomej hat sich nie nach dem Grund gefragt, warum jemand freiwillig diese versifften Toiletten besuchen sollte, aber vielleicht hat es ihm das Leben gerettet. Er kann sich viel zu gut daran erinnern, wie der Junge ausgesehen hat. Ganz anders als sonst. Entsetzt oder besorgt, auch wenn Letzteres vorausgesetzt hätte, dass sie einander kannten und da dem nicht so war, konnte das keine Sorge in dem fassungslosen Gesicht sein. In den hellen Augen mit dem Schatten über dem sonstigen Funkeln.

»Oh Gott … was ist passiert? Warte … ich hole Hilfe … verdammt … oh Gott …«

Wie ein Singsang, der sich tief in die frischen Wunden wühlte.
 

 

Danach war es lange Zeit dunkel. Aufgewacht ist er im Krankenhaus, eine piepende Maschine neben sich, die verletzte Haut unter zahlreichen Bandagen verborgen. Er konnte sich nicht bewegen, konnte nach niemandem rufen. Niemand saß an seinem Bett und niemand kam ihn besuchen. Sie sagten ihm, seine Mutter wäre hier gewesen und hätte Sachen vorbei gebracht. Sachen, die er nicht tragen konnte, da sie seine Verbände fast stündlich wechseln mussten. Er wunderte sich nicht darüber, dass seine Eltern kein Interesse an ihm zeigten. Das hatten sie nie. Vermutlich waren sie froh, ihn für eine Weile los zu sein. Bartolomej wusste, dass ihn das wütend machen sollte. Traurig. Dass er enttäuscht sein sollte, dass er ihnen tatsächlich so wenig bedeutete. Doch er fühlte nichts. Nur den Schmerz, gegen den selbst das Morphium, das sie ihm gaben, nicht helfen konnte. Eine Hauttransplantation sei nicht möglich, sagten sie ihm. Es gibt keinen Spender. Immer nur Worte am Rande. Worte aus einer Welt, von der er kein Teil mehr war.
 

 

Wochen später kam Adrijano ihn besuchen. Er saß einfach an seinem Bett, als er eines Nachmittags aufwachte. Bartos hielt ihn für eine Erscheinung. Für eine Einbildung, die ihm sein Geist vorgaukelte. Doch diese Einbildung begann zu sprechen. Kein Hallo oder Wie geht es dir?

»Bartolomej … ich muss wissen, wer das gewesen ist. Ich werde mich um diese Bastarde kümmern.«

Adrijano kannte seinen Namen, aber vermutlich hatte er ihn von einer der Schwestern erfahren. Vielleicht auch von dem Lehrer, den er geholt hatte. Das bedeutete nichts. Die Tatsache, dass er sich um die Jungen kümmern wollte, die ihm das angetan hatten, war da schon verwirrender. Bartolomej wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Dazu war er auch gar nicht imstande. Die Verbände in seinem Gesicht fixierten seinen Mund. Sie hatten ihm nur eine Öffnung gelassen, durch die er Suppe und pürierte Speisen zu sich nehmen konnte, während sein restlicher Wasserhaushalt von einer Infusion aufrecht erhalten wurde, die sie wechselten, sobald sie leer war. Doch seine Augen waren frei und mit denen starrte er den Anderen an. Der Schatten über den hellbraunen Iriden war noch da. Er war auch auf den Lippen, auf dem ganzen Gesicht. Ihm wollte nicht mehr einfallen, was er einst mit diesem Jungen verbunden hatte. Dieses namenlose Gefühl war nicht mehr da.

»… warum?«

Dieses eine Wort kostete ihn schon alle Kraft, die er aufbringen konnte und langsam ließ die Wirkung des Morphiums nach. Der Schmerz begann sich zurück in sein Bewusstsein zu fressen. Mehr als er ertragen konnte und doch betätigte er nicht die Klingel. Er wollte, dass Adrijano sah, wie sehr er litt und sich schlecht fühlte, weil er sich nie um ihn gekümmert hatte. Aber vermutlich war er auch daran nur selbst Schuld. Er hätte einen Versuch wagen können, mit dem Anderen ins Gespräch zu kommen. Vielleicht wären sie Freunde gewesen. Doch die Dinge waren anders gelaufen und jetzt … brauchte er das nicht mehr. Überhaupt nichts mehr. Da war nur noch Hass. Das einzige Gefühl, dessen er sich noch bewusst war.

Adrijanos Augen wurden größer. Er gestikulierte mit seinen Händen. »Damit können sie doch nicht durchkommen! Dafür müssen sie ins Gefängnis. Du wärst beinahe drauf gegangen!«

»… was … interessiert … dich … das …?«

»Du verdienst Gerechtigkeit …«

Als wäre es die einzig mögliche Aussage. Bartolomej wollte fast lachen, wäre er nicht so gelähmt. Er verdiente nicht mehr als den Tod, aber der hatte ihn angesehen, ihm den Mittelfinger entgegen gestreckt und war wortlos weiter gegangen. Was er mit diesem Leben nun anstellen sollte, blieb noch abzuwarten. Nichts Gutes – das war das einzige, was er wusste. Er würde nicht hier bleiben. Nie wieder würde er auch nur einen Fuß auf das Schulgelände setzen. Er würde niemanden von ihnen jemals wiedersehen. Auch Adrijano nicht. Das verlieh dessen Aussage noch mehr Ironie. Hinzu kam, dass einer der Jungen, die ihn verbrüht hatten, Mateo gewesen war – Adrijanos kleiner Bruder. Wie wollte sich der Andere darum also kümmern? Nichts als leere Worte.
 

 
 

 

VI


 

 
 

 

Vielleicht hätte Bartolomej ihm damals den Namen nennen sollen. Mittlerweile spielt das keine Rolle mehr. Er weiß nicht, was die Jungen jetzt machen oder ob sie überhaupt noch leben. Sie haben kein anderes Leben geführt als er selbst, als würde es ihn nicht überraschen, wenn sie auf der Straße gelandet sind oder Drogenprobleme haben. Kroatien ist kein reiches Land und wird es vermutlich nie sein. Ins falsche Milieu abzurutschen, passiert schnell. Er für seinen Teil hofft, dass sie bereits alle in der Hölle schmoren und er ihnen bald Gesellschaft leisten kann, um sie all die Qualen durchleben zu lassen, die er durchgemacht hat.
 

 

Aber die schwachen Momente kehren trotzdem immer wieder zurück. Nicht oft, aber auch nicht so selten, wie er es gern hätte. Und dann stellt er sich vor, was passiert wäre, hätte er Adrijano gesagt, dass es sein eigener Bruder gewesen ist, der ihm den Topf mit heißem Wasser über den Körper geschüttet hat. Oder wie sehr er es genießen würde, wenn er die mittlerweile erwachsenen Männer suchen und töten würde – so wie er es schon bei so vielen getan hat. Ihre Namen stehen in dem kleinen Notizbuch, was das Einzige ist, das er aus seinem alten Leben mitgebracht hat. Sie sind rot markiert. Mateo, Milan, Wladimir und Alexander. Nur ein weiterer Name ist mit dieser Farbe unterlegt. Kyrill. Doch das ist eine andere Geschichte. Eine der wenigen unerledigten Sachen, die noch ausstehen. Das hat nichts mit seiner Vergangenheit zu tun. Bullseye ist einfach der Einzige, der gut genug war, seinem Tod zu entgehen. Die Anderen hätten dabei nicht so viel Glück. Und wenn er daran denkt, muss er unwillkürlich lächeln, auch wenn das sein Gesicht zu einer geisterhaften Fratze werden lässt. Vielleicht sollte er das wirklich tun, wenn Juuri ihn lässt. Aber dann wird er auch bei dem Mädchen vorbei schauen, das ihn Adrijano streitig gemacht hat. Und bei den Lehrern, die immer nur zugesehen haben, wie sie ihn fertig gemacht haben, weil er doch so ein großer Junge gewesen ist, der damit schon fertig wird. Er ist damit nicht klargekommen. Nie. Selbst jetzt nicht.
 

 

Zum Glück sind diese Augenblicke selten.

Er würde durchdrehen, wären sie präsenter.
 

 

Er ist nicht wie sie und wird es nie sein. Wie kann er sich überhaupt sicher sein, dass er nicht immer so gewesen ist und ihn diese Sache nicht zu dem gemacht hat, was er jetzt ist? Vielleicht war er schon immer so und sie haben ihn deswegen alle gehasst. Das ergibt mehr Sinn als die Ungewissheit, die ihn damals so gequält hat. Seine Eltern müssen das auch gespürt haben, oder nicht? Er ist sich nicht einmal sicher, ob sie noch leben. Es interessiert ihn schlichtweg nicht. Seine Mutter hat damals nicht einmal vom Fernsehen aufgesehen, als er nach Hause zurückgekommen und an ihr vorbei gelaufen ist, um in seinem Zimmer direkt ein paar Sachen zusammen zu packen. Sein Vater hat ihn erst an der Tür aufgehalten, nach Wodka stinkend und brüllend. Bartos kann sich an den genauen Wortlaut nicht mehr erinnern. Es ist ihm damals egal gewesen. Er musste weg. Musste verschwinden. Und dann ist er einfach losgelaufen. Immer Richtung Norden. Immer weiter. Er hat so vielen Menschen den Tod gebracht. Manche hatten es verdient. Andere vielleicht nicht. Es gab keine Unterschiede. Es gibt sie auch jetzt nicht. Nur Juuri selektiert das alles ein wenig. Kontrolliert, was er tut. Es macht ihm nichts aus. Diese Strukturen braucht er. Sein Blick wandert zurück zur Uhr. 22:07 Uhr. Die Tür öffnet sich. Er lässt nicht von ihr ab, bis sich der Mann, der ihm mittlerweile auch nicht mehr ganz so egal ist, in sein Sichtfeld drängt.
 

 

»Ich habe Arbeit für dich.«
 

 

Der Moment zieht vorbei. Er winkt ihm nicht hinterher. Bartolomej löst den Blick von der Uhr und es interessiert ihn nicht mehr, was gewesen ist. Er darf töten. Das ist seine Gegenwart. Das ist seine Zukunft. Juuri darf nie erfahren, dass er manchmal in die Vergangenheit zurückkehrt und tatsächlich beginnt, Dinge zu hinterfragen. Sein jetziges Leben darf er nicht auch verlieren. Danach würde nichts mehr von ihm übrig bleiben. Nicht einmal der Tod. Das ist fast schon wieder eine Anekdote, die kein Ende hat, sondern sich endlos weiter in die Länge zieht, bis dem Leser das Kotzen kommt und er doch nicht aufhören kann, der Tragödie weiter zu folgen.

So geht es ihm.

Eine Endlosschleife von monotoner Routine und dazwischen … die Sehnsucht nach Küssen von Adrijano, dem Hinterhertrauern verpasster Möglichkeiten und der Erkenntnis, dass er an diesem Nachmittag in den widerlichen Toiletten hätte sterben sollen, damit aus ihm nicht das wird, was er nun ist.
 

 

Ein Mensch, der nichts mehr fühlt. Weder Emotionen, noch Schmerzen.

Ein Mensch, von dem nicht mehr übrig ist, als der Hass, von dem er sich ernährt.



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