because we found in life what's true
Das Haus fühlte sich kalt an, als Delthea es betrat — nicht ungeheizt, das war es ohnehin, eher leblos. Die zahllosen Bücher, mit denen sie und Luthier aufgewachsen waren standen vor sich hinstaubend in den Regalen, vereinsamt nachdem ihr liebevoller Besitzer gegangen war.
Delthea wusste nicht, wieso sie sich dazu entschlossen hatte, das Haus zu behalten. Sie selbst hatte nach dem Krieg Anstellung in der Hauptstadt gefunden, bei einer Apothekerin und hin und wieder bei Leon im Laden. Es war vollkommen anders als sie es sich ausgemalt hatte, vielleicht weil sie nie ein Leben gekannt hatte, in dem sich nicht alles um Magie gedreht hatte.
Ihr Heimatdorf war zu einem Randgedanken geworden, zu Erinnerungen an eine Zeit, die sie erst mit dem Alter zu schätzen gelernt hatte. Sie war glücklicher in der Stadt, frei von den Erwartungen, ihre Talente so zu nutzen wie es ihre Familie gerne hätte, aber wie sie jetzt in der kleinen Stube stand und sich umsah war ihr klar, dass ein Teil ihres Herzens immer den Menschen gehören würde, die diesen Raum bewohnt hatten.
Zurückzukehren war seltsam gewesen. Die Zeit stand nirgends still und auch hier, fernab von der Hauptstadt veränderten sich die Leute. Ladenbesitzer die sie aus ihrer Kindheit kannte waren nun Grosseltern und sassen vor den Häusern, ihre Enkel auf dem Schoss, ihre Spielkameraden gingen ihrer alltäglichen Arbeit nach und die Kinder waren zwar niedlich, ihr aber alle unbekannt. Man grüsste sie, mal herzlicher, mal skeptischer und sie hatte ihr Tempo schnell gehalten, bevor sich jemand nach ihrem Bruder erkundigen konnte.
Nach dem Krieg waren Delthea und Luthier zu Helden geworden. König Alm hatte ihnen sogar Titel und eine Position am Hof angeboten, die keiner von ihnen angenommen hatte.
Was würde sie schon dort wollen? Alm kannte sie als Magierin, als das, von dem sie sich schon ihr ganzes Leben zu trennen gewünscht hatte und Luthier hatte es zu fremden Ufern gezogen.
Ihr Bruder schrieb selten, Briefe erreichten sie vielleicht ein, zwei Mal im Jahr, wenn es hochkam. Meistens waren es lange Berichte, teils wissenschaftlicher Natur, teils Erfahrungen, von denen letztere die Mehrheit Delthea zum Lachen brachten. Luthier war schon immer ein Exzentriker der unschuldigen Sorte gewesen, sich unbewusst, wie ungewöhnlich sein Verhalten sein konnte. In Person hatte sie sich oft genug für ihn und seine soziale Inkompetenz fremdgeschämt, in seinen Briefen jedoch schaffte er es, seine Abenteuer dermassen mitreissend klingen zu lassen, dass sie eine neue Wertschätzung für seine Art entdeckt hatte.
Vielleicht hätte sie das auch, wenn sie länger mit ihm aufgewachsen wäre. Aber als Luthier nicht lange nach der Schlacht gegen Duma gefragt hatte, was sie davon halten würde, eine Weile mit Lukas statt mit ihm zu leben hatte sie mit Begeisterung reagiert.
Lukas war freundlich und charmant und hatte nichts mit Magie am Hut. Lukas war alles, was sie sich von einem grossen Bruder hätte wünschen können und damals hatte ein Leben weit weg von Luthier wie grenzenlose Freiheit gewirkt.
Anfangs hatte sie ihren alten Alltag nicht vermisst, schliesslich hatte das Leben so viel zu bieten, Delthea wäre nicht mal dazu gekommen, wenn sie es gewollt hätte.
Die Apothekerin, bei der sie Anstellung gefunden hatte war im Alter, in dem ihre Mutter gewesen wäre und so in etwa hatte sie das Mädchen auch behandelt. Adaline, so ihr Name, hatte ihre Kinder noch vor dem Krieg verloren und war glücklich um die Gesellschaft gewesen. Die Arbeit war abwechslungsreich und anspruchsvoll und während sie Delthea an ihre Eltern erinnert hatte, oder vielleicht genau deshalb, war sie überglücklich gewesen, als Adaline sie Jahre später gefragt hatte, ob nicht sie vielleicht den Laden übernehmen wollte.
Vielleicht würde sie die Magie nie ganz loswerden, aber je länger desto mehr war es in Ordnung gewesen.
Und dann war Boey passiert und plötzlich hatte sie nebst der Arbeit eine zögerlich blühende Romanze gehabt, um die es sich zu kümmern galt.
In Leute verguckt hatte sich Delthea schon oft, aber es befanden sich Welten dazwischen, sich ein gemeinsames Leben auszumalen und wirklich eines mit ihren anderen Verpflichtungen und Wünschen zu balancieren. Als sie und Luthier König Alm auf seinem Feldzug begleitet hatten, hatte sie sich eine komplette Geschichte für sich und Sir Clive ausgemalt, inklusive möglicher Kindernamen — zwei Mädchen, einen Jungen, alle schön blond wie er es war. Als Sir Clive etwas nach der Vereinigung von Valentia seine Verlobung mit Lady Mathilda abgesagt hatte, waren ihre Hoffnungen in Windeseile in die Höhe geschossen und hätte sie nicht Lukas, Python und Forsyth darüber sprechen hören, wie Clive viel glücklicher mit Nicht-mehr-Sir Fernand schien, vielleicht hätte sie nochmals zwei Jahre damit verbracht, ihren Ritter auf dem weissen Ross anzuhimmeln.
Boey war vieles und viel davon war weit von Clive entfernt. Lange waren sie nicht mehr als Namen füreinander gewesen; Königin Celicas bester Freund, das kleine Mädchen aus König Alms Armee. Wirklich Worte miteinander gewechselt hatten sie erst, als er als Abgesandter von Novis an den Hof gekommen war und sich in der Hauptstadt eingenistet hatte.
Wenn man dreizehn ist, scheinen sechzehnjährige fremdartig alt und fern in all ihren Interessen. Sowieso, in dem Alter hatte Boey fest daran geglaubt, dass er eines Tages Königin Celicas beste Freundin Mae heiraten würde, oder so hatte er ihr im Laufe der Jahre gebeichtet.
«Weiss Mila, wieso ich dachte, dass ich glücklich damit sein würde, ein ganzes Leben damit zu verbringen, mich mit ihr zu streiten.»
Er hatte gelacht und Delthea war ganz glücklich das Schicksal doch andere Pläne für sie gehabt. Als er auf Lukas’ Rat hin eines Nachmittags in die Apotheke gestolpert war, war Delthea siebzehn und Boey zwanzig gewesen und wo sie vielleicht zuvor nur über den Krieg zu sprechen gewusst hätten, waren sie nun auf andere Themen gekommen.
Und zwischen seinem Hin und Her zwischen Zofia-Stadt und Novis war etwas entstanden, das überhaupt nicht wie ihre alten Tagträume von Sir Clive aber mindestens so wertvoll gewesen war.
Sie hatte Luthier davon erzählt, vielleicht drei, vier Briefe her, aber bei der Geschwindigkeit, mit der sie Korrespondenz führten waren in der Zeit fast dreieinhalb Jahre vergangen und als sie ihren Bruder im letzten Schreiben zu ihrer Hochzeit eingeladen hatte, war sich Delthea nicht mal sicher gewesen, ob es ihn bereits erreicht hatte. Mittlerweile blieben kaum noch zwei Wochen und noch immer war keine Antwort eingetroffen.
Vielleicht hatte die Erkenntnis, dass niemand aus ihrer Familie zur Feier kommen würde sie zurück zu ihrer Heimat geführt. Boey war im Süden unterwegs, in einem letzten Auftrag auf Novis bevor er für längere Zeit bei ihr bleiben und auf dem Rückweg auch gleich seine Verwandtschaft aufsammeln würde und alleine im Haus ihrer Kindheit fühlte sich Delthea wieder einsam. Einsam wie damals, als sie geglaubt hatte, dass niemand hier verstehen würde, dass sie nicht alten Traditionen folgen wollte.
Vielleicht sollte sie das Haus endlich verkaufen. Es gehörte Luthier, aber Luthier war in Archanea oder Jugdral oder wohin auch immer ihn seine Forschungsreise nun verschlagen hatte, endlos viele Meilen entfernt. Er brauchte das Haus nur, um die absurde Anzahl Bücher die ihre Eltern über die Jahre angehäuft hatten aufzubewahren und das konnte Delthea in ihrer Wohnung über der Apotheke auch tun.
Sonnenlicht fiel durch die Fenster und liess Staub durch die Luft tanzen.
Es war beinahe zehn Jahre her, seit König Alms Armee durch ihr Dorf marschiert und das Leben der Geschwister auf den Kopf gestellt hatte, aber in dem Augenblick fühlte es sich wie eine Lebzeit und einen Tag gleichzeitig an.
Die Tür ging mit einem Knarren auf und Delthea seufzte, mental bereits darauf vorbereitet, dem Bürgermeister zu versichern, dass alles in Ordnung war und dass er doch bitte kein Aufsehen um ihre Anwesenheit veranstalten sollte (sie war geschmeichelt, aber ehrlich gesagt war ihr nicht nach Feiern zumute). Doch als sie sich umdrehte, fand sie jemand völlig anderes vor.
Auf den ersten Blick sah Luthier beinahe gleich aus. Sein Haar war länger und der Vollbart war ungewohnt, aber die Art auf die er überrascht die Augenbrauen hochzog war genau gleich. Delthea bewegte sich, bevor sie sich wirklich darüber Gedanken machen konnte.
«Hast du noch nie davon gehört, Leuten Bescheid zu geben, wenn du nach Hause kommst?» Schimpfte sie in den Stoff seines Umhangs. Luthier brauchte einen Augenblick um sich zu fassen, aber als er es endlich tat fanden seine Arme beinahe automatisch ihren Platz auf Deltheas Rücken, kalt vom Herbstwind, der sich langsam ins Land schlich.
Er roch nach Schweiss und trockenem Laub und Lagerfeuer und auch nach fast zehn Jahren fühlte sich die Umarmung so richtig wie früher an.
«Der Brief hätte genau gleich lange gebraucht», antwortete er etwas verwirrt, die emotionale Komponente ihrer Klage komplett verpassend. Delthea lachte. Natürlich würde er nicht recht verstehen. Es war so sehr Luthier, es trieb ihr Freudentränen in die Augen.
«Habe ich die Hochzeit schon verpasst?»
Sie sah auf und inspizierte sein Gesicht etwas näher. Er war sonnenverbrannt, um seine Augen bildeten sich die ersten Falten und in seinem kratzigen Bart fand sie auf Anhieb ein graues Haar. Hoffentlich würde sie nicht so schnell wie er ergrauen.
Davon abgesehen sah ihr Bruder gesund, wenn auch etwas dünn und müde aus und sie schluchzte vor Erleichterung. Oder vor Rührung. Oder vor beidem, so recht wusste sie es nicht mehr.
«Nein, hast du nicht. Du weißt das Datum doch, du Dummbatz!»
Luthier klopfte ihr sanft und etwas unbeholfen auf die Schulter um sich aus der Umarmung zu lösen. Delthea liess nur zögerlich los.
«Schon, aber ich kenne das heutige Datum nicht.»
Oh. Das machte Sinn. Luthiers zufriedenes Gesicht sagte ihr, dass er immer noch so gerne wie früher Recht hatte und vielleicht hätte es sie genervt, wäre sie dreizehn gewesen und hätte keine Ahnung davon, wie sehr sie ihren besserwisserischen, sozial schwerfälligen grossen Bruder irgendwann vermissen würde.
«Das Datum ist egal.»
Delthea beschloss, dass sie genug Rücksicht auf seine Unbeholfenheit gezeigt hatte und umarmte ihn erneut, dieses Mal etwas fester.
«Was wichtig ist, ist dass du wieder daheim bist.»
Luthier lachte.