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My Love Is Your Love

- Blind Date -
von

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Der Mut, der mir verloren ging

In letzter Zeit war Ryoske ziemlich oft unterwegs. Das sah ihm gar nicht ähnlich. In der Regel ging er selten aus, hauptsächlich dann, wenn Iji ihn rausschleppte. Ansonsten führte er seine Hunde aus und kam danach brav nach Hause. Aber es war nie später als acht Uhr. Iji fragte sich, wo sich sein Zwillingsbruder in den letzten Wochen herumtrieb. Zwar war Ryoske kein großer Redner und behielt vieles für sich, aber er erzählte dennoch das meiste seinem Bruder. Doch wie es aussah, müsste Iji ihm diesmal alles buchstäblich aus der Nase ziehen. Trotz dieser Eigenschaft oder vielleicht genau deswegen quälte Iji die Neugier. Obwohl sie Zwillinge waren, war Iji da ein wenig anders. Er verheimlichte nichts vor Ryoske.

Als die Tür zu ihrem gemeinsamen Zimmer aufging, sah Iji von seinem Buch auf. Er las zwar selten, aber manchmal packte auch ihn die Leselust. Wenn es sich dann außerdem um einen spannenden Krimi handelte, konnte Iji es in wenigen Stunden verschlingen.

„Na wer kommt denn da!“

Iji setzte sich auf und legte das Buch zur Seite. Die nervenaufreibende Stelle, die er grade gelesen hatte, war auf einmal vergessen. Das Leben seines Bruders war im Moment viel interessanter.

„Wo warst du denn wieder so lange?“

Ryoske hatte mit der Befragung gerechnet. Früher oder später musste sein Bruder danach fragen.

„Hey, Iji. Ich hab ein paar Hunde ausgeführt. Heute hat's länger gedauert“, ratterte er die Lüge runter, die er sich bereits zurecht gelegt hatte. Es lag nicht einmal Unsicherheit in seiner Stimme, doch dachte er wirklich, er könnte seinen Bruder täuschen?

„Du warst schon immer ein schlechter Lügner. Versuch's noch einmal.“

Ryoske ließ sich auf den Schreibtischstuhl nieder und lehnte sich zurück. Vergebens wartete Iji darauf, dass Ryoske mit der Wahrheit rausrückte. Das konnte einen ganz schön aufregen. Dieser Geheimniskrämer.

Iji versuchte es mal anders. Er stellte sich hinter seinen Bruder und legte ihm die Hände auf die Schultern.

„Ich weiß, wo du warst.“ Iji spürte wie sich sein Bruder versteifte. „Du warst bei einem Mädchen. Hab ich recht?“ Anders konnte er das Wegbleiben seines Bruders nicht erklären. Iji sah auf den braunen Schopf herunter, der perfekt geschnitten war. An den Seiten kürzer und in der Mitte etwas länger, sodass ihm einige lose Strähnen ins Gesicht fielen. Iji hatte fast denselben Haarschnitt, nur ein bisschen fetziger. Zudem waren seine Haare blond gefärbt.

„Ja... erwischt.“ Ryoskes Eingeständnis war so leise, dass Iji es beinahe überhört hätte. Wusst ich's doch!, dachte er triumphierend bei sich und fuhr fort: „Dann erzähl mal. Wer ist sie? Und vor allem, warum kenne ich sie noch nicht??“ Um seinem Unmut Ausdruck zu verleihen, rüttelte er seinen Bruder an den Schultern. Ryoske löste sich aus dem Griff seines Bruders und drehte sich auf dem Stuhl zu dem Blonden um.

„Genau deswegen weiß sie nichts von dir! Weil du einem ziemlich auf die Nerven gehen kannst.“

Iji lachte nur und wartete stur darauf, bis Ryoske ihm etwas über seine neue Flamme erzählte. Ryoske kannte seinen Bruder viel zu gut, um zu wissen, dass dieser ihn nicht in Ruhe lassen würde, solange er nicht ein bisschen mehr preisgab.

„Sie heißt Hitomi. Ich hab sie erst vor ein paar Wochen zufällig kennengelernt, als ich mit Shibu unterwegs war.“

Iji blinzelte. „Shibu? Wer is'n das?“

Ryoske seufzte. „Ein Hund.“

„Ein Hund“, wiederholte Iji und grinste, „so machst du also Frauen klar. Du gerissener Hund!“ Er wuschelte seinem Bruder durchs Haar. Ryoske schlug seine Hand weg und richtete sich wieder seine Frisur.

„Hör auf mit dem Scheiß. Du weißt, ich kann das nicht leiden.“

Iji hob abwehrend die Hände und schlenderte zurück zu seinem Bett, auf dem er wieder Platz nahm.

„Na ja, ich wollte damit nur ausdrücken, wie stolz ich auf dich bin. Endlich hast du mal eine Freundin. Ich dachte schon, du wirst als alte Jungfer sterben.“

Ryoske war die Sprüche seines Bruders gewöhnt, trotzdem nervte es ihn manchmal. Iji wusste einfach nie, wann er die Klappe halten sollte.

„Sie ist nicht meine feste Freundin“, erklärte Ryoske und Bedauern schwang in seiner Stimme mit.

„Aha. Lässt sie dich nicht ran?“

Ryoske wurde langsam sauer. „Sie ist nicht so ein Mädchen, ok?“

Iji verstand nicht, warum sein Bruder auf einmal so zickte. „Ich sag ja nicht, dass sie nur fürs Bett ist. Entspann dich mal.“

Dieses Gespräch nahm eine andere Wendung an, als Iji angenommen hatte. Sein Bruder sah so bedrückt aus, als stünde der Weltuntergang bevor.Vielleicht hatte er mit seinen Kommentaren ein bisschen übertrieben.

„Nun schmoll nicht, ok? - Sie ist nich' so ein Mädchen, ich hab's verstanden. Aber du willst doch mit ihr zusammen sein oder was läuft da zwischen euch?“

Als Ryoske nach einiger Zeit immer noch nicht geantwortet hatte, rechnete Iji nicht mehr damit. Doch dann sagte sein Bruder, es sei kompliziert, als wäre damit Ijis Frage geklärt. Iji hätte gerne nachgehakt, was er genau damit meinte, aber sein Bruder legte sich bereits ins Bett und schaltete sein Nachtlicht aus. So konnte man natürlich auch seinen Fragen ausweichen.

Iji griff erneut nach seinem Buch und legte sich hin, um noch ein paar Seiten zu lesen. Allerdings konnte er sich diesmal nicht auf die Geschichte konzentrieren. Stattdessen fragte er sich, was sein Bruder ihm wohl alles vorenthielt. Wer war diese Hitomi? Wo kam sie her? Und was das Wichtigste war, was war nun so kompliziert an ihrer Beziehung? War sie etwa eine verheiratete Frau? Oder vielleicht ein sehr junges Schulmädchen? Nein. Iji konnte sich nichts dergleichen vorstellen. Sein Bruder würde sich niemals in ein Drama verwickeln lassen. Dafür war er zu vernünftig.

Überhaupt war sein Bruder zu schüchtern, um ein Mädchen anzusprechen. Selbst wenn sie den ersten Schritt getan hätte, würde Ryoske es nicht hinkriegen, um sich mit ihr zu unterhalten. Iji hatte schon oft dieses Szenario bei seinem Bruder beobachtet. Seit Ryoske in der sechsten Klasse von seinem Schwarm abgewiesen wurde, hatte er eine leichte Phobie entwickelt. Sobald er mit einem Mädchen reden musste, das ihm wirklich gefiel, schaltete sein Gehirn vollkommen ab, er kam ins Stottern oder brachte keinen richtigen Satz zu Stande. Diese Hitomi musste etwas ganz Besonderes sein, wenn sie zu seinem Bruder durchdrang und Ryoske bei ihr seine Verlegenheit überwand.

 

Ryoske konnte nicht sofort einschlafen und lag eine ganze Weile wach, selbst nachdem Iji sich bereits ebenfalls schlafen gelegt hatte. Ryoske war nicht einmal müde, hatte sich aber schon mal ins Bett gelegt und so getan, als würde er schlafen, nur um dem Gespräch aus dem Weg zu gehen. Iji war zu neugierig. Ryoske konnte es ihm zwar nicht verübeln, dennoch fiel es ihm schwer, sich jemandem anzuvertrauen. Selbst wenn dieser jemand sein Zwillingsbruder war. Iji würde ihn in dieser Angelegenheit sicher nicht verstehen, denn für ihn war es ein Leichtes, sich mit Frauen zu unterhalten und ihnen näher zu kommen.

Woran lag das nur, dass er sich bei Hitomi öffnen konnte und nicht zum stotternden Volltrottel wurde? Ihr konnte er unbeschwert alles erzählen, ohne sich darüber Gedanken zu machen, ob er sich zum Volldeppen machte. Bei ihr fühlte er sich frei, er war ganz er selbst. Woher dieses Gefühl herrührte, konnte er sich selbst nicht erklären. Am Anfang war er auch in ihrer Gegenwart zurückhaltend und verlegen, aber das war schnell verflogen. Mit ihr konnte er sich mühelos unterhalten und er befürchtete nicht, dass sie sich über ihn lustig machen würde. Sie hatte ihm sogar gesagt, dass sie froh war, ihn kennengelernt zu haben. Das sagte man nicht ohne Grund, wenn das nicht ernst gemeint war. Ryoske wusste, von ihr würde er keinen schrägen Blick kassieren, der ihn verunsicherte. - Ihr Blick! Das musste es sein.

Oft waren es die Blicke seines Gegenübers, die ihn aus der Fassung brachten. Aber bei Hitomi hatte er so etwas nicht zu befürchten. Er hätte sich nie so weit an ein Mädchen herangewagt. Dabei sah er gar nicht mal so schlecht aus, weshalb es ihm an Selbstbewusstsein nicht mangeln durfte. Er hatte schon öfters Komplimente erhalten und er wusste, dass nicht nur sein Bruder sondern auch er von vielen Mädchen aus ihrer Schule umschwärmt wurde. Im Gegensatz zu seinem Zwillingsbruder besaß Ryoske jedoch nicht denselben Mut oder dieselbe Gelassenheit, die es ihm ermöglichte, unkompliziert mit Frauen zu sprechen. Wenn sich irgendein Mädchen an Ryoske traute und ihn kennenlernen wollte, bekam er kaum seinen Mund auf und wirkte eher desinteressiert, gar arrogant. Dabei war er nur schüchtern.

Es war zum Haareraufen. Bei Frauen, die ihm vor allem sehr sympathisch waren, schaltete sich sein Verstand vollkommen aus. Er war ja nicht dumm, man konnte sich prima mit ihm über alles unterhalten. Er steckte seine Nase gerne in Bücher und tauchte in neue, fremde Welten ein. Mit Vergnügen würde er sich mit Mädchen darüber unterhalten. Aber... kaum trafen sich ihre Blicke, fing er an zu stottern und ihm wurde furchtbar heiß. Anscheinend ist bei der Verteilung von Mut und Selbstbewusstsein, als Gott diese Eigenschaften zwischen ihm und seinem Bruder aufteilen sollte, etwas schief gelaufen.

Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr, denn er hatte Hitomi getroffen. Mit ihr konnte er über Gott und die Welt reden.

Und nun?

Diese auf den ersten Blick einfache Frage bahnte sich unwillkürlich an und ließ ihn nicht mehr los. Wie sollte es zwischen ihnen weitergehen? Ijis Frage, ob Ryoske mit ihr zusammen sein wollte, war berechtigt. Natürlich wollte er das. Er konnte sich das mit keiner anderen vorstellen. Leider wusste er nicht, wie es um ihre Gefühle stand. Was war er für sie? Ein Freund? Oder doch mehr als das? Woher sollte man so etwas denn wissen, wenn man nicht danach fragte? Aber würde er genug Mut aufbringen, um ihr diese Frage zu stellen? - Da war er wieder bei seinem ursprünglichen Problem angelangt: dem Mut.

Ryoske wälzte sich auf die andere Seite. Sein Blick war jetzt auf das Bett von Iji gerichtet, das am anderen Ende des Zimmer stand. Er hörte Ijis leisen Atem und fragte sich, was sein Bruder an seiner Stelle tun würde. Ohne Zweifel würde er dem Mädchen, für das er etwas empfand, offen seine Gefühle gestehen. Er war schließlich kein Feigling.

Vielleicht war die Situation gar nicht so kompliziert, wie er dachte. Angenommen er würde Hitomi von seinen Gefühlen erzählen und sie bitten seine Freundin zu sein, dann konnte sie doch nur ja oder nein sagen. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, dass sie sich über ihn lustig machen oder ihn verspotten würde. Aber sie könnte nein sagen, und Ryoske wusste nicht, ob er mit dieser Abweisung zurechtkommen würde. Außerdem wer würde mit jemandem zusammen sein wollen, den er noch nie gesehen hatte? Er konnte noch so gut aussehen! Wie sollte das überhaupt funktionieren? Er für seinen Teil konnte sie ja sehen. Ihre süßen Löckchen, ihre weichen Gesichtszüge, ihr strahlendes Lächeln. Sie war so wunderschön. Aber spielte Aussehen wirklich so eine große Rolle? Sie verstanden sich gut, hatten jede Menge Spaß zusammen. Darauf kam es doch an. Oder?

Mit diesem Gedanken schlief Ryoske ein und als er am nächsten Morgen aufwachte, stand sein Entschluss fest. 



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