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Seelen des Schicksals

Ein glorreiches Abenteuer des gar finsteren Odin!
von

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Hinter dem Wegesrand


 

Weder in Ylisse noch in Nohr war Odin je zu einem großen Pferdefreund geworden. Wahrscheinlich hatte er nie versucht, anders zu kämpfen, als mit beiden Beinen auf dem Boden und dem Schwert in der Hand. Selbst jetzt, da er magische Folianten schwang, wie andere Leute Äxte, hatte sich daran wenig geändert. Entsprechend oblag es Laslow, den Lichtfuchs in einem gelassenen Schritt aus der Stadt zu führen.

Am Osttor hatte man nur ein knappes Gähnen für sie übrig.

Keiner der Soldaten hielt sich damit auf, ihre Identitäten zu prüfen. Vermutlich hätte Laslow es ihnen zum Vorwurf machen sollen, doch in den ersten Monaten in Nohr hatten er und seine Freunde selbst in der Nationalgarde gedient. Er kannte die Nachtschichten und er kannte den Sold.

Laslow schenkte den Wachen ein mitleidiges Lächeln, das niemand erwiderte, dann ließen sie Windmire hinter sich.

Ihr Weg zog sich nach Osten, vorbei an abgeernteten Feldern und den befestigten Bauernhöfen des niederen Adels. Auf den ersten Kilometern hinter der Stadt bot die Straße weder die Gelegenheit für einen Hinterhalt, noch eine, um Odins Schlüsselkräuter zu pflücken. Und auch ansonsten gab es nicht viel zu sehen. Das Spannendste waren bei Weitem Anthones Satteltaschen.

Sie öffneten sie, kaum, dass die Dämmerung weit genug über den Horizont gekrochen war, um mehr als Odins Silhouette erkennen zu können. Das hieß – Laslow öffnete sie. Nach wie vor auf dem Rücken der Stute überließ er Odin die Zügel und griff nach der ersten Tasche.

Unter Odins wachem Blick ließ er seine Finger über die Verschlüsse gleiten. Das Leder lag schwer und stabil unter seinen Fingern. Er spürte deutlich die Erhebungen von den Dingen in der Tasche, hätte aber nicht sagen können, was sich darin befand.

Er schlug das Leder zurück und spähte hinein.

Stoff quoll ihm entgegen, dicht gewebt und weich. Jedes Tuch hatte seine eigene Farbe, doch im Dämmerlicht hätte Laslow sie kaum genau bestimmen können. Vorsichtig tastete er über die Wolle. Ohne die Lederschicht dazwischen, spürte er die darin eingewickelten Gegenstände deutlicher. Auf der rechten Seite befanden sich eine Reihe von Zylindern und Kugeln, alle mit konischen Verjüngungen an der Oberseite. Wenn er genauer tastete, konnte er Korkverschlüsse fühlen. Die Flaschen waren zu klein, um eine nennenswerte Menge Alkohol zu transportieren, aber ausreichend für Heiltränke – oder ähnliche Flüssigkeiten.

Laslow ignorierte sie vorerst. Stattdessen wandte er sich dem einzigen, anderen Paket in der Tasche zu. Auf den ersten Blick hätte man es für einen zusammengeschlagenen Umhang halten können, doch auch hier spürte er, dass sich etwas darin befand. Vorsichtig zog er an dem Paket und schlug die obersten Stoffschichten zurück. Zahlreiche dünne Metallplatten kamen zum Vorschein. So groß wie seine Handfläche und quadratisch, die Seiten konkav und scharf geschliffen. Er hätte sie für eine seltsame, nohrische Währung halten können, doch er erkannte Stahl, wenn er ihn sah.

„Reiche Beute?“, fragte Odin in die Stille.

Laslow runzelte die Stirn.

„Nein.“

Er griff nach einer der Metallscheiben, zögerte aber im letzten Moment. Mittlerweile war das Tageslicht hell genug, um ihn die Schlieren sehen zu lassen, die sich in Violett und Orange über die geschliffenen Klingen zogen. Öl von der letzten Politur, vielleicht. Oder – Laslows Blick glitt zurück zu den in Wolle gehüllten Phiolen …

Umständlich zog er sich seinen Handschuh wieder an. Erst danach fasste er nach einer der Scheiben und hob sie hoch. Das Metall glänzte im Morgenlicht. „Vorschläge?“

Natürlich hatte Odin die. Die und genug Elan für sie beide. Mit einer raumgreifenden Geste packte er sich ans Herz, taumelte zurück und riss beinahe an den Zügeln der Stute. In seinem Sattel schwankte Laslow bedrohlich.

Er ächzte.

„Bei den Göttern!“, intonierte derweil sein Freund, „dieser infernale Widersacher, den du wähltest! Er nimmt die Klingen des Ostens in seine Dienste! Berühre sie nicht, mein Kumpan!“

Einen Moment lang starrte Laslow seinen Begleiter an. Sein Blick flackerte zu der Metallscheibe in seiner Hand. Er hob die Augenbrauen.

„Übersetzung. Du hast drei Sätze. Und keine Kommas.“

Odin schnaubte.

„Pfft. Dein kleiner Geist weiß die Relevanz dieser Enthüllung wahrhaft nicht zu schätzen!“

„Noch zwei Sätze.“

Sein Gegenüber öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Sicher hätte er die Arme vor der Brust verschränkt, hätte er nicht immer noch die Zügel der Fuchsstute gehalten.

„Das sind Shuriken. Ninja tauchen sie in Gift oder Pegasidung und werfen sie auf ihre Feinde.“

Laslow blickte zurück zu der Waffe und ihren Schlieren. Im Licht der Dämmerung zeichneten sie sich noch deutlicher auf den geschliffenen Kanten ab.

„Pegasidung?“ Laslow überlegte, ob er selbigen in diesem Fall verwerfen konnte oder ob Pegasi hier tatsächlich Regenbogen schissen. Die Antwort seines Magens war eindeutig – er drehte sich allein beim Gedanken daran um.

„Ewwwww!“

„Wyvernmist funktioniert sicher auch“, antwortete Odin, vielleicht eine Spur zu begeistert. „Shuriken schlagen nur selten tiefe Wunden. Sie dienen vornehmlich der Ablenkung des Feindes. Zugleich hofft der Anwender, seine Widersacher mögen nach dem Austausch der Feindseligkeiten elendig an einer Infektion oder am Gift zugrunde gehen. Milord Leo hat dazu ein paar herausragend illustrierte Bildbände in seiner Bibliothek. Die meisten davon sind farbig und sehr detailgetreu. Aber natürlich sind sie nichts im Vergleich zu den entsetzlichen Mächten des Finsteren Odin!“

Laslow warf ihm einen leeren Blick zu. Er wollte lächeln, aber der Ekel war größer. In Momenten wie diesen fragte er sich, ob es sich bei sein Kumpel wirklich Robins Sohn handelte und ob ihr Taktiker wirklich so verzweifelt hatte sein können, um ausgerechnet Henry auf seine Kinder aufpassen zu lassen.

„Zu viele Informationen, Odin“, würgte er schließlich hervor. Zu viele Informationen, zu viele Adjektive, zu viele Dinge, die er niemals hatte wissen wollen. Er brauchte einen Themenwechsel und er brauchte ihn jetzt. Laslow räusperte sich. „Du hast gesagt, Ninja verwenden sie? Was will ein nohrischer Ritter mit Waffen aus Hoshido?“

„Das, Laslow des azurblauen Himmels, ist die Frage.“

 

~ ♦ ~

 

Ein paar Stunden später, als es hell genug war, um enge, nohrische Handschriften entziffern zu können, kannten sie die Antwort.

Bereits vor einer Weile hatten sie einen Hain aus dürren Fichten und Birken erreicht, der ihrer Straße über mehrere hundert Meter hinweg folgte. Das Wetter war nicht ideal für eine Pause. Zu sehr drückten die Böen, die beständig aus östlicher Richtung über sie hinweg wehten und dabei dicke, stahlblaue Wolken mit sich brachten, die Temperaturen in den Keller. Letztendlich hatten sie das Wäldchen nicht wegen des Komforts gewählt, den es ohnehin kaum versprach, sondern vor allem wegen des Schutzes vor neugierigen Blicken. Wenn man ein paar dutzend Schritte in das Dickicht aus Birken und Heidebüschen trat, erreichte man eine Lichtung, die ausreichend Platz für zwei Getreue und ihr geklautes Pferd bot. Außerdem war sie von der Straße nicht mehr einsehbar.

Nach einer kurzen Diskussion über das Für, Wider und die Geschwindigkeit eines Reiters ohne Pferd hatten sie Priscilla (Ja. Mittlerweile hatte Odin die Fuchsstute benannt und nach ihr noch mindestens die Hälfte der Shuriken.) an eine der Birken gebunden. Während ihre Geisel seitdem an ein paar halb vertrockneten Grasbüscheln knabberte, hockten sie auf einem umgestürzten Baumstamm und kramten sich durch den Inhalt der Satteltaschen.

Die zweite Tasche war ergiebiger gewesen, als die Erste. Bereits unterwegs hatte Laslow nicht nur Proviant und Anthones Sold darin gefunden, sondern auch eine Mappe mit Umschlägen. Das Siegel des ersten Briefes, adressiert an eine Riona von Galen, hatten sie sich zu brechen nicht getraut. Die übrigen Umschläge waren längst geöffnet, das Wachs, das sie einst verschloss, aufgerissen und brüchig, einige von ihnen so abgenutzt, dass sich ihr Wappen kaum noch erkennen ließ. Sie enthielten ein Sammelsurium von Briefbögen und halb zerrissenen Zetteln, so durcheinander, dass sie aus unterschiedlichen Schreiben stammen mussten.

Eine enge, geschwungene Handschrift hatte jede der Seiten bis in den letzten Winkel beschrieben. Sie erzählte von Abenden bei Tee und Kerzen, von diskreten Treffen, geheimen Gängen und einer Frau namens Katerina und deren dummen, kleinen Jungen. Die ersten Bögen enthielten kaum mehr als das – belangloses Geplapper einer Frau, die vor Jahren am Königshof gelebt hatte.

Tatsächlich hatte Laslow die Briefe schon zur Seite legen wollen, wäre da nicht der Siegelring gewesen. Offenbar hatte eine gewisse Olivia selbigen bereits vor Jahren in einem der Palastgärten verborgen – nachdem sie ihn in den königlichen Gemächern hatte verschwinden lassen. Zur Krönung des Ganzen enthielt der Briefbogen nicht nur die Anekdote selbst, sondern auch eine detaillierte Beschreibung, wo der Ring zu finden war.

Weitere Informationen folgten. Ausführung über Nohr, das Schloss und seine Bewohner. Alles Dinge, die für einen Ritter wie Anthone nur relevant hätten sein sollen, um sie bei seinen Vorgesetzten anzuzeigen. Informationen über Tunnel, die aus der Festung in die Kanäle unter der Stadt führten, über zu versendende Wurfsterne und über Mächte tief im Inneren des Schlossen, bei denen es sich nur um Drachenadern handeln konnte.

Im Nachhinein betrachtet, wirkten selbst die dahergeplapperten Informationen über Tanzbälle und die Adeligen, die daran teilgenommen hatten, seltsam. Und hatte er nicht sogar den Namen Katerina irgendwo schon einmal gehört?

Laslow ließ die Papiere sinken.

„Ich fürchte, deine Mission muss warten“, sagte er schließlich. „Wir müssen Prinz Xander davon unterrichten. Umgehend.“

Sie tauschten einen Blick.

Odin wirkte nicht glücklich. Natürlich nicht. Vermutlich war er auf die Erfüllung seiner Aufgabe erpichter, als es sein Herr – oder Laslow – je hätten sein können. Trotzdem nickte er. Es war eine träge Bewegung, die selbst seinen Oberkörper erreichte. Schließlich ließ er nicht nur seinen Kopf hängen, sondern auch die Schultern. Laslows Blick wich er aus.

„Ja“, antworte er, genauso schwerfällig, wie er zuvor genickt hatte, „ja, wahrscheinlich hast du recht.“

„Komm schon.“ Laslow lächelte. „Der Finstere Odin wird jene obskuren Kräuter, nach denen es seinen Gebieter dürstet, schon noch in seinen Besitz überführen.“

Odin sah auf. Er zog die Augenbrauen hoch.

„Natürlich wird der Finstere Odin das! Doch die Zeit drängt. Nur die Samen des seltene Raskovnikkrauts überdauern den harschen, nohrischen Winter. Die Mutterpflanze verliert ihre Kräfte bald nach dem ersten Frost.“

Frost hatten sie, natürlich, schon seit ein paar Nächten, doch Laslow biss sich auf die Zunge. Er lächelte noch etwas breiter.

„Dann sollten wir uns beeilen. Desto schneller wir Bericht erstatten, desto schneller können wir nach deinen Kräutern suchen.“

Odin nickte. Selbst ihm musste einleuchten, dass sie keinen Tagesritt mehr von der Nördlichen Festung entfernt waren.

„Wir befinden uns sicher ohnehin zu weit im Norden“, gab Odin zu. „Die Schriften sprechen von Fundorten entlang einer Linie zwischen Windmire und den Dämonenfällen.“

Dämonenfälle?

Das klang, selbst für jemanden, der bereits zwei Zeitreisen und einen überdimensionalen Drachen hinter sich hatte, ungesund. Sein Lächeln bröckelte.

„Siehst du?“, fragte Laslow. „Also, lass uns diese Pause beenden und weiterreiten.“

Umsichtig tat er die Briefe zurück in die Ledermappe. Die Metallverschlüsse klickten, als er die Satteltasche schloss. Schließlich erhob er sich.

„Auch wenn das Raskovnikkraut natürlich in Lichtungen wie diesen wächst …“

Vermutlich hätte er ein guter Zuhörer sein und Odins Gemurmel beachten sollen, doch seine Gedanken kreisten noch immer um die Dämonenfälle. Ob dort wohl besonders tückische Stromschnellen auf unvorsichtige Kräuterpflücker warteten? Oder stürzten sich vielleicht sogar echte Dämonen die Fälle hinunter? Nein, wahrscheinlich hatten Nohren einfach einen Hang zu eindrucksvollen Ortsnamen. Ganz sicher …

Er legte die Satteltaschen zu seinem Gepäck. Neben ihm nahm Priscilla den dumpfen Aufschlag zum Anlass, ihren Kopf zu heben. Er warf ihr einen knappen Blick zu, dann streckte er die Hand nach ihrer Stirn aus.

„Das war zu laut, hm?“, fragte er, während er sie tätschelte. „Tut mir leid, Süße.“

Hinter sich hörte er Odin irgendetwas von Heidekraut und morschen Birken faseln, doch er nahm sich die Zeit, die Stute zu kraulen, bis sie ihre Nase in seine Richtung streckte.

„Ich habe noch Dörrfleisch. Möchtest du welches?“, bot Laslow in Odins nächster Atempause an. Er hörte seinen Freund einatmen, doch der nächste Wortschwall blieb aus.

„Denkst du, es gibt hier Igel?“

Laslow hielt inne. Einen Moment lang starrten die Stute und er einander an. Priscillas Motivation dafür war sicher eine andere. Vermutlich fragte sie sich nur, warum seine Finger nicht mehr durch ihr Fell strichen. Er fühlte sich trotzdem verstanden.

Skeptisch blickte Laslow über seine Schulter.

„Odin? Ich bin ein Söldner, kein Tierforscher.“

„Papperlapapp! Wir benötigen keine alles umwälzende Erkenntnisse! Lediglich eine simple Schätzung, mein Freund! Also?“

Laslow tauschte einen weiteren Blick mit der Stute. Sie stupste ihn mit ihrer Nase an, fast wie um zu sagen „Kraul endlich weiter!“ Er kam der Aufforderung nach.

„Nun selbst wenn“, antwortete er kraulend, „sie sind nachtaktiv, oder?“

„Argh! Bei Armads Fluch!“

„Warum willst du das überhaupt wissen?“

Hinter ihm seufzte Odin, laut, gedehnt und offensichtlich frustriert.

„Weil, Laslow der tauben Ohren,“ – Ups – „unsere stacheligen Freunde die Fähigkeit besitzen, die Stengel des Raskovnikkrautes zu erkennen. Einzig einen Anreiz muss man ihnen zuvor bieten.“

Abermals hielt Laslow inne. Dieses Mal drehte er sich – sehr zu Priscillas Bedauern – um und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ich dachte, du brauchst eine Jungfrau dafür?“

Leider wirkte Odin nicht, als würde es ihm leid tun – höchstens, als gäre da schon die nächste, dumme Idee hinter seinen Schläfen. Laslow sah es, in der Art, wie er die Stirn runzelte.

„Für bestimmte Schlösser eignen sich auch hier selbstredend die einen Schlüssel besser, als die Anderen. Die Art, wie man das Raskovnikkraut aufspürt, beeinflusst daher die Magie des Krautes selbst. Die Suche des Igels wäre gewiss nur ein Testlauf, aber natürlich hast du recht!“, erklärte sein Freund. Noch während er sprach, stürzte er sich auf ihr Gepäck und begann damit, seinen Reisesack auseinanderzunehmen. Bücher, die bedenklich nach diversen aneinander geklebten Folianten aussahen, landeten im Gras. Amulette und etwas, das aussah wie eine Wyvernklaue, flogen hinterher. Schließlich zerrte er einen letzten Gegenstand aus dem Bündel. Triumphierend hielt er ihn Laslow entgegen. „Hier, leg das an.“

Laslow öffnete den Mund – kein Ton kam heraus. Er hörte nur, wie der Wald hinter ihm knackte und wie Priscilla mit den Hufen scharrte. Irgendwo in der Entfernung grollte es, vermutlich der Wind. Es war, als sei sämtliche Feuchtigkeit aus ihm gewichen. Sein Rachen kratzte, seine Zunge fühlte sich an, wie Pelz. Er wollte schlucken, doch da war nur dieser fette Kloß in seinem Hals. Letztendlich entschied er sich dazu, die Lippen aufeinanderzupressen.

Das … Ding – die Dinger – in Odins Händen schwangen im Wind, so, als hätten sie unschuldig sein können. Eine grob zusammengeschlagene Kette, Ringe an beiden Enden.

Priscilla stupste seine Schulter. Das machte es nicht besser.

„Das“, würgte er schließlich hervor, „sind Fußeisen, Odin.“

„Das ist der Anreiz“, erwiderte sein Freund mit einem Strahlen in den Augen. „Die Jungfrau legt sie an und streift mit ihnen über die Lichtung. Das Raskovnikkraut wird die Schellen öffnen.“

„Ich bin keine Jungfrau, Odin.“

„Du bist das Näheste an einer Jungfrau, das ich habe!“

„Ich werde keine Fußfesseln anlegen! Und ich bin keine Jungfrau, hörst du? Keine. Jungfrau.“

Laslow schlang die Arme fester zum seine Brust. Er starrte, die Augenbrauen zusammengezogen, die Lippen ein dünner Strich. Leider starrte Odin zurück – und der hatte seinen Bettelblick schon an ganz anderen Leuten perfektioniert.

 

~ ♦ ~

 

Da war kein Raskovnikkraut auf dieser verdammten Lichtung.

Natürlich nicht.

Mit jedem Schritt verfinsterte sich seine Miene weiter. Laslow fühlte sich erbärmlich. Bislang hatte er nur ab und zu Schmuckreifen getragen. Goldene oder silberne Ringe, die beim Tanzen glänzten und ihm dabei halfen, sein Gleichgewicht zu halten.

Die Fußschellen halfen bei gar nichts.

Bereits seit dem ersten Schritt drückten die Eisen durch seine Stiefel. Leder scheuerte an Stellen, von denen er nicht einmal wusste, dass es dort scheuern konnte. Und obwohl er von Glück reden konnte, überhaupt eine schützende Schicht Leder zwischen dem rauen Metall und seiner Haut zu haben – nach den ersten Runden über Baumstümpfe und durch Gestrüpp war Laslow wund.

Sich auf etwas anderes zu konzentrieren, half nicht.

Die Heidesträucher und Grasbüschel, durch die er stapfte? Mittlerweile nur noch eine einzige, verschwommene Masse aus gelb, grün und rosa.

Die Geräusche des Hains? Das hatte er versucht. Nur für den Fall, natürlich. Er hätte es besser gelassen. Mittlerweile hörte Laslow jedes Geräusch überdeutlich. Jedes Knarzen der Fichten, jedes Knacken im Unterholz. Der Wind heulte zwischen den Bäumen und rauschte zwischen den Kronen. Jedes Mal, wenn Priscilla mit den Hufen scharrte, zuckte er zusammen, jedes Mal, wenn sie schnaubte, wirbelte er herum.

Odins dämliche Ratschläge? Mit denen fing er besser gar nicht erst an.

Ständig drückten abgebrochene Äste und im Heidegrün verborgene Steine durch die Sohlen seiner Stiefel. Mehr als einmal wäre er beinahe gestürzt.

„Siehst du irgendwo Klee wachsen?“, rief Odin gerade vom anderen Ende der Lichtung. „Versuch es mal dort!“

Statt nach Klee Ausschau zu halten – das hatte er bereits drei Mal getan und mittlerweile kam er sich vor, wie ein Schaf – blieb Laslow stehen. Er verschränkte die Arme vor der Brust und starrte in den Wald vor ihm. Fichten ragten vor ihm auf, krumm und mit struppigen Ästen. Der Wind brummte zwischen ihnen.

„Das hat keinen Sinn“, verkündete er.

Irgendwo vor ihm knackte ein Ast und übertönte jedes Seufzen, dass Odin vielleicht für ihn übrig hatte.

„Ein paar Schritte links von dir existiert ein weiterer Pfad, den du noch nicht beschritten hast“, drang Odins Stimme zu ihm.

„Das hast du bei den letzten drei Runden auch schon gesagt.“

Dieses Mal seufzte Laslow, doch sicher übertönte der Wald auch das.

„Diese drei Runden hattest du zuvor auch noch nicht beschritten.“

„Ich bin bereits im Zickzack für dich gelaufen, Odin“, erwiderte er. Die Fichten vor ihm wogen im Wind. „Sieh es ein. Wir sind zu weit nördlich.“

„Nur noch ein Versuch, Laslow.“

Das Gefühl, der Wald starre zurück, kroch seinen Nacken hinauf, doch er ließ sich nicht erweichen.

„Außerdem bin ich keine Jungfrau.“

Die Härchen in seinem Nacken stellten sich auf. Eine Gänsehaut kroch über seine Arme.

„Íñigo. Diese Mission-“

„Diese Mission ist Humbug. Das weißt du genauso gut, wie ich. Vermutlich hat Prinz Leo dich nur losgeschickt, weil er-“

Die Rest des Satzes erstickte in einem Keuchen.

Es war nicht der Wald, der starrte.

Es war ein ausgewachsener Bär.

Das Tier verharrte reglos zwischen den Fichten, nur wenige Baumreihen vor ihm. Zwischen den Stämmen verschwamm er beinahe mit dem Wald. Er grollte.

Laslow trat einen Schritt zurück. Die Kette zwischen seinen Beinen klirrte. Odin sagte irgendwas, doch er war viel zu weit weg-

Der Bär tat einen Schritt vor.

Er tastete nach dem Schwert an seiner Hand.

Das Vieh war riesig. Braun und struppig und mit Krallen-

Noch einen Schritt zurück.

Noch einen Schritt vor.

„B-braver B-b-bär …“

Zurück.

Vor.

Äste knackten.

„F-f-fri-friss m-mich n-n-nicht?“

Zurück.

Vor.

„I-ich b-b-bin z-zäh! W-wirklich!“

Odin rief, irgendwas, zu weit weg-

Der Bär grollte. Laslow sah die Anspannung in seinen Vorderbeinen, als er sich duckte. Er fragte nicht nach – er wirbelte herum und rannte.

Versuchte zu rennen.

Schreiend.

Die Kette stoppte seinen Schritt. Laslow stolperte, fing sein Gleichgewicht nur mit Mühe, verkürzte seine Schritte, tippelte über Gras, Heidekraut, Äste. Hinter ihm brach das Vieh durchs Unterholz. Endlich schien Odin zu verstehen-

Er kam bis zum nächsten Birkenstumpf.

Laslow hörte es Knacken. Der nächste Schritt stoppte abrupt. Sein Gleichgewicht verabschiedete sich strauchelnd. Er sah sich fallen. Einen Moment war alles schwarz und grün und rosa, dann Schmerz in seinen Knien, Brennen in seinen Handgelenken-

Er hob den Kopf, alles drehte sich. Die Vorahnung von Magie brach über ihn herein. Er duckte sich, hoffent in die richtige Richtung, Knistern, Donnern, Brüllen-

Wieder sah er auf. Der Bär schüttelte sich. Verdammt. Er drückte sich hoch, schwankte, kniete, riss an der Kette, doch die Birke hielt stand. Zur Seite. Zur Seite-

Eine Bärenpranke neben seinem Gesicht.

Waldboden.

Er spuckte.

Dreck. Blut. Die Lippe schon wieder im Eimer.

Odins Stimme.

Seine Finger fanden sein Schwert. Ein Klirren füllte seine Ohren. Reflexe übernahmen.

Auf.

Schritt.

Sprung. Abrollen. Ausfallschritt. Stich.

Als sein Verstand wieder einsetzte, brannte alles. Seine Lippe, seine Arme, seine Lungen. Sterne tanzten vor seinen Augen. Blut rauschte in seinen Ohren. Schwerfällig atmete er ein, genauso schwerfällig wieder aus. Langsam verfolgte sein Blick seinen Schwertarm, sein Schwert, Fleisch, Fell.

Der Bär verdrehte die Augen.

Klauen vergruben sich in seinem Gambeson. Er zappelte, doch der Griff war stärker, zerrte-

Er machte einen Schritt, zwei-

Der Aufschlag war genauso hart, wie der letzte. Es presste ihm die Luft aus den Lungen. Hinter ihm dröhnte es, doch in seinen Ohren dröhnte es auch.

„Íñigo?“

Er blinzelte.

„Íñigo?“

Diese Stimme …

„O-“

„Es tut mir leid! Es tut mir so leid! Ich bin ein verdammter Narr! Íñigo!“

Irgendwo zwischen dem Bedürfnis, Odin zuzustimmen und dem Drang, Odin zu erwürgen, hörte die Welt auf, sich zu drehen. Er blinzelte erneut. Blondes Haar drängte sich in sein Blickfeld. Graue Augen folgten.

„Die Eisen haben sich gelöst.“

Odin hielt inne.

„Du hast Prioritäten! Alles in Ordnung mit dir?“

Nichts war in Ordnung, aber das wussten sie beide. Laslow leckte sich über die Lippen.

„Was ist mit dem Bären?“

„Den hast du abgestochen.“

Hatte er? … Oh, ja. Richtig. Hatte er.

„Gut.“ Er zwang sich zu einem Lächeln. „Geh deine Kräuter pflücken.“

„Íñigo.“

„Laslow.“

Seine Lippe brannte immer noch. Langsam kehrte auch das Gefühl in den Rest seines Körpers zurück. Seine Hand krampfte um den Schwertgriff. Zweige stachen in seinen Rücken. Sein Magen verkündete, jetzt sicher kein Dörrfleisch zu wollen.

„Laslow. Gut. Laslow. Tut dir was weh?“

Er warf Odin einen Blick zu und zog dabei eine Augenbraue hoch.

„Außer alles?“, fragte er, lächelnd.

„Ja?“

„Nein.“ Er seufzte. Langsam löste er die Finger von seinem Schwertgriff. „Deine Kräuter verschwinden, wenn du sie nicht bald erntest, oder?“

„Ich sagte doch schon-“

„Odin.“

Laslow setzte sich auf und ließ seinen Blick gleiten. Odin starrte ihn immer noch an, die Augen weit aufgerissen, aber immerhin entschuldigte er sich nicht mehr. Grüne Schrammen hatten sich neben die Schlammspritzer auf seinen Umhang geschlichen. Hinter ihm erhob sich ein Berg aus Zottelfell und Blut. Irgendwann blieb sein Blick an seinen Beinen hängen. Seine Stiefel hatte es durchgescheuert. Er konnte die Risse sehen und bei einem der Löcher sogar die Haut darunter. Die Fußeisen lagen einen halben Meter weiter zwischen Heidekraut und Gras. Und dazwischen kleine Stängel mit kleinen, grünen Blättern an ihren Enden. Beinahe, wie Klee.

Er runzelte die Stirn. Als Odin sich weiterhin nicht rührte, streckte er sich. Einen Augenblick später schlossen sich seine Finger um ein paar der Halme. Er spürte die Magie auf seiner Haut, angenehm, dieses Mal. Kein Vergleich zum Stern von Rigel – oder einer der übrigen Spielereien aus dem Hause des Finsteren Odin.

„Du musst das nicht tun-“

Noch während Odin sprach, zog er an den Pflanzen. Widerstandslos gaben die Pflanzen nach.

„Hier.“

Auffordernd hielt er seinem Freund die Kräuter hin. Zusammen mit ein paar Stängeln Heidekraut, das er mit erwischt hatte, sahen sie fast aus, wie ein Miniatur-Blumenstrauß. Odin sah immer noch aus, als wolle er protestieren. Trotzdem hob er die Hand. Beinahe ehrfürchtig nahm er das Sträußchen entgegen.

„Es tut mir leid“, wiederholte er. „Ich bin ein Volltrottel.“

In Laslows Mundwinkeln zuckte es.

„Wenigstens siehst du es ein“, entgegnete er. Dieses Mal war sein Lächeln echt. „Ich hoffe, du weißt, dass du dafür mit mir ausgehen musst.“

Odin öffnete den Mund. Kein Ton kam heraus. Stattdessen zog er die Stirn kraus. Erst jetzt verstand Laslow, was er da gesagt hatte. Augenblicklich vergrub er den Kopf zwischen seinen Knien.

„Bei den Göttern“, sagte er zu den Grashalmen unter seinem Hintern. Leider tat sich der Boden darunter nicht auf, um ihn zu verschlucken. „Ich glaube, ich brauche ne Pause. Dringend.“
 



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