Zum Inhalt der Seite

ASS! of BIKE Band 1

Leseprobe
von
Koautor:  rhyfu

Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Werk ist frei erfunden. Ähnlichkeiten zu realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Da dieses Werk fiktiv ist, funktionieren einige Dinge selbstverständlich anders (z.B. Technik und Zeitverlauf), als in der Realitiät. Deal with it. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Ursprünglich war der japanische Text auch wirklich in Kanji geschrieben, aber zur Verbesserung der allgemeinen Lesbarkeit habe ich meine Japanologen-Tränchen unterdrückt und ihn euch transkribiert X'3

Wie immer: Kommentare jeglicher Art sind unglaublich gerne gesehen <3
Des Weiteren gilt: dieses Werk ist Fiktion. Ähnlichkeit mit realen Personen ist nicht beabsichtigt. Zudem erhebt dieses Werk keinerlei Anspruch auf Nähe zur Realität. Komplett anzeigen

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Tour 0: Olav Olsen

Bananen schmeckten am besten, wenn sie gelb waren. Nicht grün oder braun oder tief-gelb, sondern gerade erst gelb geworden, sodass man einen Widerstand verspürte, wenn man seine Zähne in ihnen versank und sie mit den Lippen umschloss.

Bananen, das wusste Olav, waren besser als große Melonen oder knackige Äpfel, an denen man sich die Zähne ausbiss und die einem Bauchschmerzen bereiteten. Am besten waren Bananen im Rahmen eines ausgewogenen Frühstücks, bei dem auch Eier nicht fehlen durften.
 

Und mit einem ausgewogenen Frühstück war keinesfalls etwas Anrüchiges gemeint, sondern lediglich ein ganzer Tisch voller Brötchen, Speck, Waffeln, Smoothies und Nudeln, die alle innerhalb kürzester Zeit den Weg in seinen Bauch finden mussten, bevor es anschließend noch zwei Tassen Kaffee, Obst und mehrere Proteinriegel gab.
 

Denn Olav war nämlich etwas speziell ... Olav war Radrennfahrer. Und nicht nur irgendeiner. Spätestens seit seinem spektakulären Ausscheiden bei der Tour de France im letzten Sommer erinnerte sich jeder, der nur irgendwie Profi-Radsport in den Medien verfolgte, an Olavs Namen.
 

Olav, die große Hoffnung aus Dänemark. Olav, der 21-jährige Sprint-Star der Viking Spades. Olav, der Allrounder, der selbst den höchsten Gipfel bezwingen konnte, ohne auch nur das Gesicht zu verziehen. Ein abgeklärter Stratege – und dabei doch ein bodenständiger junger Mann, der in einem Dorf an der deutschen Grenze geboren wurde und nichts mehr liebte als die Zimtschnecken seiner Mutter.
 

Zumindest stand das so in den Zeitungen und auf den Social-Media-Kanälen im Internet. Was aber keiner wusste: in Olavs Leben gab es etwas, das er noch mehr liebte als Zimtschnecken. Etwas viel Köstlicheres, dessen Anblick ihn in schiere Verzückung brachte und das der eigentliche Grund war, warum er sich seit Jahren immer wieder zu Höchstleistungen im Radsport abmühte:
 

Männerhintern.
 

Durchtrainierte Gesäße, die sich aus dem Fahrradsattel erheben, um den letzten Saft aus ihren wie wild in die Pedale tretenden Besitzern herauszupressen, während diese tief schnaubend um jeden Zentimeter kämpfen, der sie von ihren Rivalen absetzt. Schweiß rinnt den Radsportlern über ihre hochroten Gesichter und tropft ihnen vom Kinn. Und dann, der Siegesjubel bei der Zieleinfahrt, ein Chor aus tausend Stimmen, der all die Anstrengung wegbläst und jeden Fahrer in einen post-koitalen Zustand tiefer Befriedigung versetzt.
 

Ja, Radsport war Sex pur. Wenn man einmal davon absah, dass man nach hunderten von Kilometern im Sattel einen so wunden Arsch hatte, dass man eh keinen Sex mehr haben konnte. Und nein, das Gerücht, dass alle Radsportler impotent waren, konnte Olav so nicht bestätigen.
 

Zumindest bei ihn schien alles in Ordnung zu sein. Sein kleiner Freund hatte ihn während der Erholungsphase nach einem Rennen noch nie im Stich gelassen. Besonders im letzten Sommer, als er lange Zeit aussetzen musste. Dummerweise hatte er sich nämlich bei einem Massensturz eine Gehirnerschütterung und einen Trümmerbruch im rechten Ellenbogen zugezogen und konnte für ein paar Monate nur die linke Hand benutzen.
 

So unvollständig wie sein Sexleben war in dieser Zeit auch Olavs mentaler Zustand. Er konnte sich daran erinnern, wie er in der Normandie gegen den Fahrtwind gekämpft hatte und dennoch als einer der Ersten über die Ziellinie geradelt war. Wie er auch die erste Mittelgebirgsetappe mit seinen Freunden Haakon und Morten überstanden hatte, die wie er seit mehreren Jahren bei Team Viking Spades unter Vertrag standen.
 

Doch alles, was über die groben Umstände der letzten Tour de France hinausging, war so dumpf wie der Kopfschmerz, der hin und wieder hinter seiner linken Schläfe pochte. Er konnte nicht sagen, was er abends nach den Rennen gemacht hatte, welches Interview er wann mit welchem TV-Sender geführt hatte – und vor allem: was an jenem Tag des Unfalls passiert war.
 

Sooft hatte Haakon es ihm erklärt: es war die Königsetappe, die in den Pyrenäen stattfand. Zuerst war es heiß, brütend heiß. Schwitzend quälten sich die Viking Spades in der Masse der Radsportler, dem Peloton, einen Anstieg nach dem anderen hinauf. Morten und Ebbe, das in den Medien gefeierte Kletterer-Duo, hatte sich ans Ausreißen gemacht, um als erste den Gipfelpunkt einzunehmen.

Dann fing es plötzlich an zu hageln. Aus dem Sommerwetter wurde mit einem Mal ein finsterer Hagelsturm. Die Straße schwamm fast schon davon. Regentropfen auf den Schutzbrillen versperrten die Sicht und krochen in die dünnen Trikotjacken und Radlerhosen. Hagelkörner wie Nadelstiche nahmen selbst den noch so hartgesottenen Zuschauern die Lust an der Etappe und sogar die Kameramänner auf ihren Motorrädern und Begleitfahrzeugen machten einen Gesichtsausdruck, als hätten sie lieber ein langweiliges Billard-Turnier gefilmt, als klatschnasse Männer in engen Klamotten.
 

Und dann… Dann geriet alles ins Rutschen. Bremsen quietschten. Das erste Rennrad schlitterte in eine gefährliche Seitenlage. Der Hintermann bremste ruckartig und kam ebenfalls ins Schlingern. Dann krachte es. Mann und Rad flogen durch die Luft und eine unaufhaltsame Kettenreaktion begann. Weltuntergang auf Fahrrädern.

Wer Glück hatte, der konnte noch nach links ausweichen, wer Pech hatte, rauschte beim Ausweichen mit einem weiteren Radfahrer zusammen. Und Olav, der seinen Kopf stets unten gehabt haben sollte, erfuhr zum ersten Mal seit der Grundschule, wie es sich anfühlte kopfüber über den Lenker zu fliegen.
 

Zumindest sagte Haakon das so, während Olav sich nur verwundert durch das brünette Haar fahren und die Stirn kräuseln konnte, in der Hoffnung, dass dadurch seinem Gedächtnis wieder auf die Sprünge geholfen wurde.

Doch nichts regte sich. Die Fotos in den Sport-Magazinen blieben für ihn ohne Sinn und Zusammenhang und wann immer man ihn im Fernsehen danach fragte, konnte er nur die vorgefertigte Antwort geben, zu der ihm der Pressesprecher des Teams geraten hatte: „Der Wetterumschwung hat uns alle überrascht und mein Unfall war wirklich tragisch. Aber zum Glück habe ich mich wieder vollkommen erholt und werde für die Viking Spades weiterhin mein Bestes geben!“
 

Wenn man doch nur alles so leicht loswerden könnte, wie neugierige Reporter! Nagende Gedanken zum Beispiel. Immer wiederkehrende Bilder, die ihn verfolgten. Seltsame Gefühle, die Olav des Nachts den Schlaf raubten.
 

Etwas in ihm sprach zu ihm: „Du hast etwas Wichtiges vergessen! Etwas sehr Wichtiges! Du hast mich vergessen!“

Darauf tauchte immer wieder ein Bild in seinem Kopf auf: ein Hintern. Ein wohlgeformtes Gesäß, welches sich aus dem Sattel erhob und mit atemberaubender Geschwindigkeit davontänzelte. Olav wusste, dass er nicht nur einmal, sondern viele Male diesem Hinterteil hinterhergejagt war. Es hatte sich wie ein Stempel in seinem Inneren eingebrannt.
 

Jedes Mal, wenn er in der Reha-Klinik wieder nur seine linke Hand benutzen konnte, war dieses Bild wieder da. Wie sollte ein Olav Olsen das nur beschreiben, wenn man ihn danach fragte? „Liebe Talkshow-Zuschauer. Ich glaube, auf der letzten Tour de France war doch nicht alles so schlecht. Ich denke nämlich, dass ich mich verliebt habe. Irgendwie…“
 

Genau, Olav Olsen war nichts weiter als ein triebgesteuerter Profi-Radsportler, der sich in einen seiner Kollegen verliebt hatte.
 

Genau das wollten die Medien doch hören!
 

Mit Sicherheit nicht!
 

Die Medien wollten Ergebnisse. Etappensiege. Nette Geschichten von Zimtschnecken und den Bauern im Dorf, die sich extra zum Public-Viewing trafen, wann immer sich Olav, ihr Held, in den Sattel schwang.
 

Olav hatte erbittert gekämpft und geackert. Monatelang alles getan, um körperlich nicht abzubauen, während sein rechter Arm heilen musste. Und das Einzige, was ihn davon abgehalten hatte, in der langen Zeit nicht wahnsinnig zu werden, war er: dieser eine Hintern.
 

Dieser eine, der nur einer von Vieren sein konnte. Vier Sprinter, die wie er verbissen um jeden Zentimeter gekämpft hatten. Am Ende stand die Schlagzeile „Olav, unser Zimtschnecken-Held!“ auf Seite Eins aller Tageszeitungen und zeigten ihn im Freudentaumel, während die vier anderen Sprinter die Köpfe zu Tode erschöpft gesenkt hatten.
 

Er wusste, wie sie hießen und wie er sie hätte erreichen können. Aber mal ehrlich, welcher Mann würde auf ein „Hallo, darf ich mal deinen Arsch sehen, damit ich weiß, ob ich auf dich stehe?“ denn mit „Ja, klar! Geht es so oder soll ich dabei Rad fahren?“ antworten.

Mit Sicherheit niemand.

Olav musste schmunzeln und zupfte am Klettverschluss seiner Handschuhe. Die ganze Geschichte war einfach zu absurd. Doch es war egal, was die anderen dachten. Ihm jedenfalls hatten die Vier dabei geholfen, wieder fit zu werden.
 

Nobuhiko Honda von den Japanese Jokers.

Peng Li von den Diamond Dragons.

Kim Lutz-Park von den Helvetia Hearts.

Punyaa Boonmee von den ShamroClovers.
 

Allesamt Profi-Radfahrer wie er, die unterschiedlicher nicht sein konnten, aber eine Gemeinsamkeit hatten: sie waren Asiaten.

Welche Sprache bevorzugten sie? Konnte er Englisch mit ihnen reden? Und wie war das mit der Durchschnittsgröße? Waren Europäer wirklich größer?
 

Wie gerne wollte er es herausfinden, aber diese Frage zu stellen war nochmal um Längen, wirklich um Längen, absurder als die nach dem Hintern!
 

Also blieb ihm nur seine linke Hand und ein Kopf voller Fragen…
 

PLATSCH!
 

Ein Schwall Wasser traf Olav so hart wie der Hagelsturm in den Pyrenäen.
 

„Hey!“
 

Plötzlich war er wieder wach und in der Realität angekommen.
 

Morten, der einen gepflegten Vollbart trug und unter buschigen schwarzbraunen Augenbrauen kindlich aufgeweckt dreinblickte, grinste breit und drückte ein weiteres Mal auf die Sportflasche. „Chef, ich glaube Olav hat schon wieder unkeusche Gedanken!“

Während Haakon, seines Zeichens norwegischer Hüne und Anführer der Viking Spades, sich räusperte, sprang Olav auf und schnappte nach der Wasserflasche. „Jetzt gib schon her!“
 

Morten schnalzte mit der Zunge und versteckte sich hinter seiner Frau, die sich gerade die ölverschmierten Hände mit einem alten Putzlappen abwischte. „Hilfe, Märtha, Olav bedroht mich schon wieder!“ Er lachte schallend.
 

Haakon räusperte sich ein zweites Mal, diesmal laut genug, um die volle Aufmerksamkeit des Teams zu erhalten. Olav griff nach einem Handtuch und rubbelte sich das störrische braune Haar trocken.
 

„Ihr wisst, dass ich nicht so der Fan von großen Ansprachen bin. Deswegen lasst es mich so sagen.“ Er verschränkte die kräftigen Unterarme, nahm einen tiefen Atemzug und sah den versammelten Viking Spades tief in die Augen. „Die Kacke ist so richtig am Dampfen!“
 

Selbst Morten verging angesichts Haakons autoritärer Ausstrahlung das Lachen und er senkte betrübt die Flasche. Er wusste ganz genau, was der blonde Wikinger ihnen jetzt sagen würde.
 

„Unser Team ist finanziell gesehen echt am Ende. Ihr wisst, ich will euch das nicht sagen, aber wenn wir bei dieser Tour de France nicht ein respektables Ergebnis einfahren, dann war’s das.“
 

Er schlug mit der Faust auf die Handfläche. „Aus, Ende, Finito! Wir können alle nach Hause fahren und uns einen neuen Job als Straßenkehrer oder Dschungelcamp-Insasse suchen, wenn sich hier nicht endlich was tut.“
 

Olav senkte den Blick und vergrub seine Finger tief im Handtuch. Er hatte das Gefühl, dass er an allem schuld war. Er, Olav Olsen, Sprint-Ass der Viking Spades, der einfach mal monatelang aussetzen musste, weil er verletzt war.
 

Haakon knurrte gereizt. „Nein, Olav, dich trifft keine Schuld!“ Sein Blick aus wasserblauen Augen schien ihn zu durchbohren. „Du hast deine Auszeit gebraucht, also hör auf, dir einen Kopf zu machen, Junge!“
 

Er schlug Olav kollegial auf die Schultern. „Die meisten Sponsoren sind jetzt zwar weg, aber deswegen sind wir trotzdem noch ein ausgezeichnetes Team, das einen UCI-Weltranglisten-Platz hat. Und den geben wir nicht so leicht wieder her!“
 

Olav blickte verunsichert in die Runde. Doch anstatt in frustrierte Gesichter zu blicken, lächelten sie ihn alle an. Morten, dessen Frau Märtha als Technikerin mitgekommen war, Ebbe, ein begnadeter Kletterer, der auch beim Trinken die höchsten Rekorde aufstellen konnte, der finnische Frischling Matti mit der sympathischen Zahnlücke, sowie all die anderen, die in den letzten Monaten noch nicht das Handtuch geworfen hatten.
 

„Ich, äh…“ Mist, jetzt fing er schon wieder an rot zu werden und zu stottern! Für einen Sprinter war Olav eigentlich viel zu unscheinbar, auch wenn ihn die Medien zu einem Helden machten.
 

Er schluckte kurz, dann sprach er weiter. „Ich werde eure Erwartungen nicht enttäuschen!“ Sein Blick wurde fest und zuversichtlich. „Ich habe mich solange auf die Tour de France vorbereitet, dass ich diesmal garantiert den Eiffelturm sehen werde!“
 

Schallendes Gelächter brach aus. Olavs Ohren verfärbten sich rot. Morten sprang auf und knuffte ihn kollegial. „Unser Olav! Immer viel zu bescheiden! Du wirst nicht nur den Eiffelturm sehen, sondern dieses Jahr als Erster über die Ziellinie an der Champs-Élysées brettern!“
 

Ebbe, den Olav schon aus dem Jugend-Sport-Förderzentrum kannte, hakte sich auf der anderen Seite ein. „Wir ziehen dich über jeden noch so hohen Berg und dann schnappst du dir das gelbe Trikot!“
 

Olav wurde hin und her gerüttelt. Er wollte am liebsten heulen. Vor Freude. „Warum habt ihr nur alle so großes Vertrauen in mich?“
 

Haakon hob den Daumen: „Weil du der Zimtschnecken-Held bist! Und jetzt raus hier, gleich fängt die Teamvorstellung auf der großen Tribüne an!“
 

Zimtschnecken-Held? Bodenständig, süß, braun und klebrig? Wie auch immer.
 

Olav fuhr sich noch einmal kurz durch die Haare und schmiss anschließend das Handtuch in eine Ecke des großen Zeltes, welches man für sein Team bereitgestellt hatte. Beim Herausgehen fiel sein Blick noch einmal auf das Magazin, welches die letzten Monate seine Hoffnung und Rettung zugleich war: Olav und die vier anderen Sprinter. Nicht mehr lange und er würde sie alle wiedersehen.
 

Und wer wusste das schon… Vielleicht hielt die diesjährige Tour de France die eine oder andere Überraschung für ihn parat – nicht nur sportlich.

Tour 1: Wer ist dieser Max Mustermann?

Eine Wand aus Hitze schlug ihm entgegen, als Olav und seine Viking Spades das Teamzelt verließen. Es war noch früh am Morgen, doch der deutsche Sommer zeigte, dass auch er hin und wieder etwas freundlicher war als seine Landsleute.

Nichtsdestotrotz wurde Olav schlecht. Düsseldorf, der Ort, an dem die diesjährige Tour de France beginnen würde, stank. Stank wie jede Großstadt nach Abgasen und Unrat, auch wenn der Verkehr für den Start der Tour großräumig abgeriegelt wurde und die Müllabfuhr die Straßen fast schon abgeleckt haben musste.

Sofort klickten die Kameras. Fernsehteams aus aller Herren Länder hatten sich vor der Absperrung versammelt, um eine gute Aufnahme der Radsport-Stars zu erhaschen. Olav nahm eine schutzsuchende Position hinter Haakon ein, doch es war zu spät. Ein blaues Mikrofon an einer Teleskopstange landete direkt vor seiner Nase.

Das deutsche Fernsehen. „Wie geht es einem Olav Olsen so kurz vor seinem großen Comeback? Sind Sie schon nervös?“

Ah, Deutsch! „Es ist, äh, gut.“ Er war etwas eingerostet und suchte nach Worten. „Düsseldorf ist eine sehr schöne Stadt. Ich, äh, freue mich, freue mich sehr heute hier sein zu dürfen!“

Den Medien immer sagen, was sie hören wollten. Ein freundliches Lächeln stahl sich in sein Gesicht.

„Na das hört man gerne! Was sind Ihre Ziele für das heutige Zeitfahren? Werden Sie gegen Max Mustermann gewinnen? Der hat Sie ja letztes Jahr ganz schön alt aussehen lassen.“

Max wer?

Olav begann herumzudrucksen. Haakons Augenbrauen zuckten und er machte eine rasche Bewegung mit den Händen, welche wohl ein rasches Treten in die Pedale bedeuten sollte.

„Ja, Max Mustermann ist wirklich ein ausgezeichneter Sprinter und Rivale!“ Die Miene des Fernsehmenschen hellte sich auf. „Also werden Sie ihn schlagen?“

Haakon legte unauffällig den Kopf in die Seite. Olav verstand und dichtete sich augenblicklich die passende Antwort zusammen. „Max Mustermann ist als Top-Sprinter eine Klasse für sich. Ich denke, im heutigen Zeitfahren wird der deutsche Star die Nase vorn haben. Aber wenn es morgen nach Lüttich geht, werde ich ihm schon zeigen, wo der Hammer hängt!“

Olav war selbst überrascht, wie gut es ihm immer gelang, solche perfekten Antworten zu geben. Dieses ganze selbstbewusste Getue war eigentlich so gar nicht seins. Er wollte einfach nur in die Pedale treten, seine Grenzen austesten und dabei den einen oder anderen Hintern anstarren.

„Max Mustermann hat selbst angekündigt, dass seinen Namen nach der diesjährigen Tour de France jedes Kind in Deutschland kennen wird. Aber ich bin mir sicher, dass auch ein Olav Olsen dieses Jahr Großes erreichen wird.“

Olav bedankte sich förmlich. „Liebe Zuschauer, wir können gespannt sein. Vielen Dank für das Interview. Das war Olav Olsen von den skandinavischen Viking Spades, der…“

Den Rest hörte er schon nicht mehr. Seine Hände waren schweißnass geworden. Nervös nestelte Olav an seinem Reißverschluss und zupfte sein Trikot glatt.

Matti gab ihm einen Stoß in die Rippen. „Sieht schon ganz gut so aus, unser Star!“ Als er lächelte, kam die kleine Spalte zwischen seinen Schneidezähnen zum Vorschein. Dieser Zahnlücke hatte es der 19-jährige hellblonde Finne zu verdanken, dass er bereits jetzt auf den Titelblättern zahlreicher Teenager-Magazine abgebildet war und täglich säckeweise Fanpost von verliebten Mädchen bekam.

Olav kräuselte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Ich mag das eigentlich gar nicht, also tu mir bitte den Gefallen und fahre heute einen neuen Rekord für unser Team heraus, junger Padawan.“ – „Damit ich in Zukunft interviewt werde? Tut mir ja leid, Brauner, aber für die deutschen Fernsehteams musst weiterhin du dein hübsches Gesicht hinhalten, ich kann nur Englisch.“ Er lachte.

Sie nahmen ihre Fahrräder in Empfang und machten sich auf den Weg zur Bühne. Wie jedes Jahr wurden vor dem großen Start alle Teams und Fahrer dem Publikum vorgestellt. Es war noch mehr Show, noch mehr Lächeln und noch mehr Winken. Olav freute sich schon darauf, dass es morgen endlich raus aus der Stadt und rein ins Abenteuer ging, raus aus Deutschland, rein nach Belgien. Endlich wieder Geduld, Plackerei und am Ende hoffentlich ein gutes Ergebnis beim Sprint durch die Altstadt von Lüttich.

Dabei fiel es ihm wieder ein… „Wer ist denn jetzt dieser Max Mustermann?“ Morten stöhnte genervt, doch Haakon hob ruhig die Hand und deutete auf die Bühne.

„Meine sehr verehrten Damen und Herren, hier sind die Bismarck Bells!“ Neun Fahrer in schwarz-rot-goldenen Outfits schoben ihre Fahrräder über eine Rampe auf eine große Bühne. „Letztes Jahr Sieger in der Teamwertung mit einer wirklich herausragenden Vorstellung ihres Zeitfahr- und Sprint-Stars, Max Mustermann!“

Während sich auf der Bühne eine Gruppe von acht Männern mit dunkelblonden bis braunen Haaren, sowie ein südländischer Typ in einer Reihe formierten, explodierte das Publikum.

„MAX SPEED! MAX SPEED! MAX SPEED!”

Ein langhaariger Blonder mit gelb getönter Sonnenbrille begann euphorisch zu winken und zeigte beim Grinsen seine schiefen Eckzähne. „Der Star aus Deutschland, Max Mustermann!“

Aha. Das war er also. Max Mustermann. Ein auffälliger Kerl von vielleicht Ein Meter Achtzig Körpergröße, aber mit bestimmt 15 Kilogramm weniger auf den Rippen als Olav. Genau richtig gebaut, wenn man beim Zeitfahren die letzten Hundertstel herausholen wollte.

Und dieser Max Speed, so wie ihn das Publikum nannte, schien die Aufmerksamkeit zu genießen. Er posierte breitbeinig mit seinem Fahrrad, senkte die Brille und zwinkerte neckisch in die Fernsehkameras.

Ja, solche Typen sollten interviewt werden und nicht er, Zimtschnecken-Olav. Ihm ging ja jetzt schon wieder die Pumpe, wenn er nur daran dachte, dass er gleich ebenfalls dort hochmusste, um sich ankündigen zu lassen.

Er atmete tief durch und starrte auf den Asphalt unter seinen Füßen. Mit jedem Atemzug verschwamm die Sicht vor seinen Augen mehr und mehr. Ein flaues Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus.

Was, wenn es dieses Jahr wieder zu einem Massensturz kam? Wenn er wieder nichts tun konnte, außer zu sehen, wie vor ihm alle wie Dominosteine umfielen? Und warum erinnerte er sich gerade jetzt wieder an dieses Detail?

Olav hielt sich den Kopf. Nein, er würde sich jetzt ganz sicher nicht übergeben. Nicht so kurz vor der Vorstellung. Danach vielleicht, aber nicht jetzt.

„Hier. Nimm das.“ Jemand hielt ihm eine Wasserflasche entgegen. Mit zitternden Händen versuchte er sie entgegenzunehmen, doch es gelang ihm erst beim dritten Versuch. Und als er schließlich am Drehverschluss nestelte und den Blick hob, rutschte ihm fast das Herz in die Hose.

„Du?“

Rot-schwarzes Outfit mit weißen Akzenten, ein H für „HELVETIA“ auf der Brust und blauen Augen so klar wie ein Schweizer Bergsee. Oder ein Koreanischer, oder…

„Ich?“ Der andere musste schmunzeln. Schwarzes Haar mit roten Spitzen, lange Wimpern. Ja, das war definitiv einer der vier Typen, die in die engere Auswahl für Olavs Traum-Hintern kamen.

Olav nahm einen Schluck aus der Wasserflasche und verschluckte sich prompt.

„Trink nicht so schnell. Jetzt kannst du noch langsam machen.“

Wie hieß er doch gleich nochmal? Kim, oder? Mit Vor- oder Nachnamen? Nachname, oder? Sein Vorname?

„Kim Lutz-Park. Du erinnerst dich an letztes Jahr? Du hast mir bei zwei Etappen die Führung weggeschnappt. Das war ein echtes Desaster!“

Desaster! Wenn hier jemand ein Desaster war, dann wohl Olav selbst. Wenn er nicht aufpasste, dann hatte er gleich wieder Wasserflecke auf den Klamotten und musste damit auf die Bühne gehen.

„Ich“, fand er seine Stimme wieder, „hab garantiert nicht vor, dich dieses Jahr gewinnen zu lassen, Kim!“ Hörte sich das cool genug an? Hoffentlich!

Wieder dieses sanfte Lächeln. „Ich freue mich schon darauf.“

Der Jubel schwoll an. Zeit, auf die Bühne zu gehen. „Äh…“ Olav hielt die Wasserflasche hoch und sah sich planlos um. Hinter ihm verdrehte Morten schon wieder die Augen und warf ihm einen „Mach hinne!“-Blick zu.

Kim lachte amüsiert. „Schon gut, jetzt geh schon! Ich hoffe, es hat etwas geholfen?“ Er nahm die Wasserflasche entgegen. Olav nickte stumm und schob sein Rad die Rampe hinauf.

Sofort nahm die ohnehin schon unangenehme Temperatur weiter zu. Die Bühne war perfekt ausgeleuchtet und grillte die Viking Spades zusätzlich, damit sie für die Fernsehkameras besonders attraktiv aussahen.

„Die stolzen Wikinger des Nordens! Die Viking Spades! Einen Applaus, bitte!“

Olav konnte spüren, wie der Boden unter seinen Füßen zu beben begann. Gaströten und Trillerpfeifen ertönten. Irgendwo weiter hinten schlug eine Gruppe von Männern mit Plastik-Wikingerhelmen auf große Trommeln. Und als wäre dies nicht schon peinlich und überwältigend genug gewesen, skandierten die Zuschauer seinen Namen.

„OLAV! OLAV! OLAV!“

Hilfe, jetzt war ihn wirklich danach sich zu übergeben! Er verstand nicht einmal mehr, was der Moderator sagte und antwortete nur mit einem Nicken und einem kurzen „Ja“ auf jede Frage, die man ihm stellte.

Dann war es auch schon vorbei und sie durften endlich die Bühne verlassen. Olavs Schultern entspannten sich langsam. Jetzt würde endlich der ernsthafte Teil beginnen: sich auf den Rollen warm fahren und darauf warten, dass man beim Individualzeitfahren an der Reihe war.

„Na dann wollen wir uns mal in die Ganzkörperkondome werfen!“, scherzte Matti, als sie die Räder zurück zum Teamzelt schoben. „Ich bin ganz schön aufgeregt. Meine erste Tour. Hoffentlich blamiere ich euch nicht!“

Und selbst wenn er sich blamierte, die finnischen Mädchen würden ihn trotzdem noch anbeten. „Lass dich einfach nicht ablenken. Du hast so oft im Windkanal trainiert, du kannst gar nicht versagen. Beim heutigen Zeitfahren geht es fast nur geradeaus, mach einfach den Kopf frei, dann wird das schon.“

Wow, Olav, das waren ja richtig aufmunternde und erwachsene Worte! Wenn du nur zu dir selbst auch mal so motivierend sein könntest!

„Du bist noch jung, aber du hast definitiv den Dreh…“ – „Scheibenbremsen? Ist das dein Ernst?“ Eine argwöhnische Stimme mit ausländischem Akzent unterbrach ihn. „Ich hätte ja nicht gedacht, dass der harte Wikinger Olav Olsen bei seinem Comeback so handzahm geworden ist!“

Wollte ihn gerade jemand beleidigen? Olav schürzte die Lippen und sah seinen Kontrahenten an. Und zum zweiten Mal an diesem Tag rutschte ihm das Herz fast in die Hose.

„Nobuhiko…“ – „Honda, genau der!“ Olav traute seinen Augen nicht. Es war noch nicht mal Mittagszeit und er lief schon Hintern Nummer Zwei über den Weg, den er fast nicht wiedererkannt hätte.

„Äh, schicke Frisur!“, versuchte er etwas Smalltalk zu initiieren, doch der Japaner wimmelte ihn ab. „Vielen Dank, aber trotzdem! Scheibenbremsen! Ich wusste echt nicht, dass du so ein Schisser bist!“

Scheibenbremsen gab es noch nicht sehr lange im Profi-Radsport und es gab nicht wenige, die diese auf Grund der Optik nicht mochten. Während bei gängigen Modellen die Bremsklötze auf den Felgen des Rades lagen, wurde bei Scheibenbremsen in der Mitte des Rades die Bremswirkung erzeugt, was zu einem stabileren Bremsverhalten führte.

Olav hob eine Augenbraue. Suchte der etwa Streit? Zugegeben, mit seiner neuen Frisur, dem Undercut mit gelb einrasierten Blitz, sah Nobuhiko endlich einmal anders aus als seine Teamkollegen, bei denen Olav echt Probleme hatte, sie auseinanderzuhalten.

Ob die schwarzhaarigen Japanese Jokers ebenso über die blonden bis mittelbraunen Viking Spades dachten? „Scheibenbremsen sind gut und zuverlässig“, erklärte Olav langsam auf Englisch. „Sie bremsen besonders bei nasser Fahrbahn optimal. Und ja, wenn du das so sehen willst, ich bin ein Schisser, weil es mich letztes Jahr bei Regen voll auf die Fresse gehauen hat!“

Nobuhiko zischte entnervt. „Wir werden morgen ja sehen, wessen Bremsen besser wirken. Falls wir die überhaupt brauchen. Ich habe jedenfalls nicht vor, morgen vor der Ziellinie den Schwanz einzuziehen. Shitsurei shimasu!“

Als der Japaner in der gelb-schwarzen Teamkluft sein Fahrrad an ihm vorbeischob, hörte er dessen Teamkollegen mit vorwurfsvollem Ton etwas sagen. Doch Olav verstand kein Wort Japanisch und konnte deshalb nur ratlos nur mit der Schulter zucken.

Das war also Nobuhiko Honda? Was für eine Persönlichkeit! Dabei sagte man doch immer, dass Japaner nett, zurückhaltend und stets freundlich waren! Aber wahrscheinlich traf das genauso wenig zu, wie Olav ein dänischer Nationalheld war.

Olav fixierte das Hinterrad seines Spezialfahrrads für Zeitfahrten und begann sein Aufwärmtraining. Auch wenn das Individualzeitfahren nur 13 Kilometer lang war, musste doch jede Faser seines Körpers perfekt vorbereitet sein. Er war zwar kein Zeitfahrspezialist wie Matti, der sich bereits einen besonderen Anzug angezogen hatte, welcher den Luftwiderstand auf seinem Körper verringern sollte, aber es stand ja wohl außer Frage, dass er, Olav, der Zimtschnecken-Held, am morgigen Tag woanders als in der ersten Gruppe starten würde.

Selbst wenn die finanzielle Lage der Viking Spades noch so prekär war, hatten sie noch immer das beste Equipment vom besten zur Verfügung. Anstatt am Material zu sparen, wurden seit dem letzten Jahr systematisch die Fahrer entlassen. Von ursprünglich 25 Fahrern waren inzwischen nur noch 15 übrig, von denen wiederum neun an der Tour teilnahmen.

Olav versuchte sich aber immer wieder einzureden, dass das gar nicht einmal so schlecht war. Die Viking Spades, so wie sie jetzt waren, war für ihn wie eine Familie. Viele von ihnen kannte er noch aus dem Sport-Förderzentrum, in welchem er seit seinem 14. Lebensjahr trainiert und gelernt hatte. Er sah sie öfter als seine richtigen Verwandten und es war auch nicht übertrieben zu sagen, dass sie sogar mehr über ihn wussten als seine eigenen Eltern.

Als er zehn Minuten später langsam ins Schwitzen kam, fühlte sich Olav schon viel selbstbewusster. Sollte Nobuhiko noch so viel Gift und Galle spucken und sollte ein Max Mustermann, der deutsche Nationalheld, doch vor Selbstbewusstsein sprühen, ihm konnte das doch egal sein. Er würde einfach ruhig und abgeklärt sein Ding machen.

Am Nachmittag war es endlich soweit. Team Viking Spades holte seine Nummern ab und reihte sich in die Schlange zum Individualzeitfahren ein. Matti rückte noch einmal seinen futuristisch aussehenden Helm zurecht, überprüfte jedes noch so kleine abstehende Bändchen, sowie die Funkverbindung zu Märtha im Begleitfahrzeug und schoss mit dem Abschluss des Countdowns so schnell los, dass er binnen kürzester Zeit hinter der ersten Kurve verschwunden war.

Olav wippte unruhig mit den Zehenspitzen und fuhr mit dem Zeigefinger den Kragen seines Rennanzugs nach. Auch er trug einen aerodynamisch geformten Helm und würde wie Matti heute mit einem Spezialfahrrad starten, dessen Lenker besonders geformt war und das im Hinterrad keine Speichen, sondern eine windreduzierende Scheibe hatte.

Ein Jahr war es jetzt her, dass er an so einem mörderisch langen Turnier teilgenommen hatte. Im Frühjahr hatte er sich zwar zaghaft an mehrere kleine Rennen herangetraut, aber so einen großen Hammer wie die Tour de France hatte er sich seit seinem Unfall nicht mehr angetan. Die Erwartungen der Zuschauer und Medien lasteten schwer auf seinen Schultern.

Würde alles gut gehen? Würde er diesmal den Erwartungen gerecht werden? Er fixierte seine mit Metallschienen ausgestatteten Schuhe in den Pedalen und schärfte die Sinne. Noch wenige Sekunden, dann würde auch für ihn die Tour de France beginnen. Hier oben, auf der kleinen Startrampe, umringt von Zuschauern hinter Absperrgittern, die seit Stunden in der Sonne ausharrten, um ihn zu sehen.

In der Ferne sah er ein violettes Banner im Wind flattern, auf das sein Gesicht gedruckt war. Ein Jahr. Und im Gegensatz zu ihm, der so viel vergessen hatte, hatte ihn das Publikum nicht vergessen.

GO VIKING.

GO CINNAMON ROLL.

GO OLAV.

Olav musste schmunzeln, leckte sich noch einmal über die Lippen und atmete tief durch. Dann war der Countdown abgelaufen und seine Tour de France begann.

Wie konnte man beschreiben, was in einem Rennradfahrer im Moment des Starts vor sich ging? Wie dieses Gefühl erklären, das über denjenigen kommt, dessen Anspannung sich wie die Sehne eines Bogens konzentriert, nur um dann im perfekten Moment den Pfeil hervorschnellen zu lassen?

Olav liebte den Nervenkitzel vor dem Start und das Gefühl der Euphorie, sobald all die gesammelte Energie losbrach. Das feste Umgreifen des Lenkers, wie sich seine Beine streckten und der Oberkörper nach vorne gebeugt wurde. Die unbändige Kraft, die mit jeder Umdrehung der Pedale in sein Fahrrad strömte.

Schon bald legte er sich in die erste Kurve, spürte den Fahrtwind und hörte verzerrt den Jubel der Zuschauer, die sich an den Seiten der Banden versammelt hatten. Dumpf drangen die Trommeln der Pseudo-Wikinger an sein Ohr. Olavs Atem beschleunigte sich und ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht.

Ja, wie sehr er dies doch vermisst hatte! Dieses Gefühl, einfach wieder mit dabei zu sein auf der großen Bühne des Radsports!

Es dauerte nicht lange und die Ziellinie kam in den Blick. Wehmut erfüllte Olav, doch gab er noch einmal alles. Er biss die Zähne zusammen, schaltete einen Gang nach oben und trat in die Pedale, was das Zeug hielt. Damit war die erste Etappe und das Zeitfahren für ihn auch schon vorbei.

„Das war ja unbefriedigender als ein Quickie!“ Olav schnallte den Helm ab und trank aus der Sportflasche, die man ihm reichte. Nur 13 Kilometer! Das war ja genauso fade wie der Sport-Drink, den man ihm in die Flasche gefüllt hatte.

Er zuckte mit den Schultern und betrachtete die digitale Anzeigetafel. Max Mustermann, Platz 1. Matti Meikäläinen, Platz 5. Olav Olsen, Platz 12. Wenn man bedachte, dass am Ende bestimmt noch 150 andere Fahrer hinter ihm liegen würden, dann war es ein gutes Ergebnis. Platz 1 konnte er sich immer noch morgen holen.

„Olav?“ Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und warf sich das Handtuch anschließend über die Schultern.

„Hallo-hoo, Olav?“ Da die Anspannung vorbei war, konnte er nun endlich einmal auf die Toilette gehen. Ganz in der Nähe befand sich eine blaue Ansammlung von mobilen Toilettenhäuschen, die sogar noch relativ frisch rochen.

Na ja, wenn die anderen 100 Fahrer, die jetzt noch am anderen Ende von Düsseldorf warteten, erst einmal hier angekommen waren und ihren Entspannungs-Schiss verrichteten…

„Olav Olsen? Erkennst du mich noch?“ Gerade, als er die Tür zu einem noch sauberen Toilettenhäuschen öffnen wollte, tippte ihm jemand auf die Schulter.

Schon wieder ein Reporter? Hatten die hier überhaupt Zugang? Einfach immer nett lächeln, obwohl er gerade wirklich dringend musste! „Ja, bitte?“

Wie aus heiterem Himmel wurde er in eine Blitz-Umarmung gezogen. „Ich habe dich ja so vermisst, Olav, das kannst du mir glauben! Mir war so schrecklich langweilig ohne dich!“

Wer war das nur? Schwarzer Lockenkopf, dunkelhäutig und grün-weißes Teamoutfit mit orangenen Akzenten. Olav konnte gar nicht so schnell reagieren, wie sich plötzlich ein paar schlanke Hände um seinen Nacken legten und ihn nach unten zogen. Der Lockenkopf kam ihm immer näher und näher, bis schließlich ein paar weiche, braune Lippen auf seinen landeten.

Olav riss die Augen auf und rang nach Luft. Ein Kuss? Was? Wie? Warum so plötzlich?

Er stieß den Anderen von sich und wischte sich aus Reflex über die Lippen. Doch der legte nur den Kopf schief und sah ihn verwundert an. „Du musst mich ja wirklich vergessen haben, lieber Olav!“

Er zwinkerte und berührte ebenfalls seine Lippen, als wollte er den flüchtigen Kuss noch einmal nachspüren. „Ich bin’s doch, dein Punyaa! Punyaa Boonmee, seines Zeichens Ass-Sprinter der ShamroClovers – und dein größter Fan!“

Tour 2: Schweiß, Blut und ... noch mehr Küsse?!

Wenn es etwas gab, was Olav an Deutschland ganz besonders zu schätzen wusste, dann war es die Wurst. Deutsche Wurst gab es in unglaublich vielen Formen und Farben und jede schmeckte aufregend und anders. Und auch vom Brötchenbacken hatten die sonst so mürrischen Deutschen echt Ahnung.

Das Brötchen, welches Olav aus der eingenähten Rückentasche seines Trikots zog, war auf den letzten 140 Kilometern zwar etwas zerdrückt worden, doch schmeckte die Salami darauf immer noch hervorragend. Nachdem er den letzten Bissen verspeist hatte, griff er nach einem Sport-Gel und zwang sich dazu die glibberige Flüssigkeit herunterzuschlucken. Erdbeergeschmack. Wahrlich nicht seine Lieblingssorte, doch bevor er bei der brütenden Hitze des zweiten Tour-Tages zusammenklappte, war es besser, seine Energiereserven beizeiten wieder aufzufüllen.

Die zweite Etappe hatte für die Viking Spades durchschnittlich begonnen. Am Morgen prasselte ein kleiner Regenschauer über Düsseldorf nieder, doch ihre Fans in Regenponchos waren euphorisch wie immer und hoben die Trinkhörner, wann immer ein lilafarbenes Trikot an ihnen vorbeirauschte. Das Peloton setzte sich langsam in Bewegung und mit jedem Kilometer, den sie der Stadtgrenze näherkamen, nahm die Geschwindigkeit zu.

Die Masse an Radfahrern glich bald eher einer Karawane und die deutschen Bismarck Bells, in deren Mitte das leuchtende gelbe Trikot Max Mustermanns zu sehen war, setzten sich beizeiten ab. Morten und Ebbe gaben ihr Bestes, um die erste Bergwertung im Grafenberger Wald einzunehmen, doch die Deutschen ließen sich den Sieg auf heimischem Boden nicht streitig machen.

Auch den ersten Zwischensprint in Mönchengladbach musste Olav zähneknirschend an den strammen Max abgeben. Vielleicht hatte die Boulevardpresse ja doch recht gehabt und Olav war etwas zu dick geworden, um mit der Crème de la Crème der Sprinter mitzuhalten. Doch wann immer Olav sich nach dem Duschen im Spiegel betrachtete und die festen Muskelpakete unter dem Bauchspeck erfühlte, dachte er daran, dass er nach 21 Etappen und knapp 3500 Kilometern froh über die Fettreserve sein würde, die er bis dahin mit Sicherheit abgebaut haben würde.

Lars, ein eher wortkarger Geselle mit dunkelblonden Locken, reichte ihm im Vorbeifahren eine frische Wasserflasche, die Olav gegen seine leere austauschte. Soeben war das Versorgungsfahrzeug der Viking Spades an sie herangefahren und hatte ihnen nicht nur frisches Wasser, sondern auch neue Informationen gebracht.

Als Lars nach vorne aufgeschlossen war und auch Haakon sein Wasser reichte, konnte Olav sehen, wie sich ein Lächeln in das Gesicht des Anführers stahl. Lars murmelte etwas und ließ sich dann wieder zurückfallen, um die gesammelten leeren Wasserflaschen zurück durch das offene Fenster an der Beifahrerseite des Wagens zu geben. 

Der blonde Hüne hob den Arm. „Leute, wir haben soeben die Information bekommen, dass der deutsche Panzer hinter dem nächsten Hügel ein Manöver plant. Bevor uns dieser blonde Dracula also wieder durch die Lappen geht, nehmen wir die Verfolgung auf. Morten? Ebbe?“

Haakon ließ sich zurückfallen und schickte die beiden Kletterer der Viking Spades nach vorne. Olav griff nach der Wasserflasche und nahm einen tiefen Schluck. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Der deutsche Dracula! Irgendwie passte das. Dieser Max Mustermann hatte aber auch spitze Eckzähne! Und nicht nur das. Beim Zwischensprint hatte er ihm fast wortwörtlich seine Reserven ausgesaugt.

Er schaltete einen Gang nach oben und verringerte den Abstand zwischen seinen und Mortens Rädern. Der bärtige Däne trat so heftig in die Pedale, als wäre er ein hungriges Raubtier, welches durch die verlorene Bergwertung erst recht Lust auf den Beutefang hatte. „Auf geht’s!“

Links und rechts neben den Viking Spades dünnte sich das Feld aus. Schon bald nahm das klickende Geräusch der Zahnradkränze ab und der Motorensound der Begleitfahrzeuge und Fernseh-Motorräder zu.

Haakon nickte zufrieden. Wie er es gedacht hatte, schienen die meisten Teams erst nach dem kurzen Anstieg ein strategisches Überholmanöver zu planen. Und das, so war er sich sicher, würde ihnen einen erheblichen Vorsprung verschaffen, den er, Matti und Olav zum Ausreißen auf der Abfahrt nutzen wollten.

Die meisten Teams planten so, jedoch nicht alle. 20 Meter vor ihnen tauchte plötzlich ein neunköpfiges Team mit weiß-grünen Jerseys auf. „Oh nein…“ Olav senkte den Kopf und versuchte sich möglichst unauffällig zu verhalten, doch es war zu spät. Kaum hatten Ebbe und Morten den Vorsprung der ShamroClovers aufgeschlossen, wandte sich Punyaa freudestrahlend um.

„Olav! Da bist du ja endlich! Ich dachte schon, das wird heute gar nichts mehr!“

Oh nein, bitte nicht der!

Olav spürte, wie ihm das Blut in die Ohren schoss. Bilder vom Vortag bahnten sich den Weg in sein Gedächtnis.

Geküsst. Geküsst. Punyaa hatte ihn geküsst. Einfach so, als wäre es die normalste Sache der Welt gewesen.

Olavs Puls beschleunigte sich und er nahm einen weiteren großen Schluck aus der Sportflasche. Punyaa ließ sich zurückfallen und näherte sich Olav seitlich so sehr, dass sich ihre Arme kurz berührten.

Scheiße, scheiße, scheiße!

Es durchzuckte ihn wie ein Blitzschlag. Punyaas weiche braune Lippen, seine gelockten langen Haare, die selbst unter dem Helm nicht zu bändigen waren und die lustigen, fröhlichen Augen, die ungewöhnlich bernsteinfarben waren.

Geküsst. Geküsst! Warum tat er sowas?

„Hi!“, presste er hinaus und blickte zu dem kleinen Thailänder hinüber. Nur nicht aus dem Rhythmus kommen!

„Lief nicht ganz so gut, aber heute ist ja erst der zweite Tag!“ Er hob den Daumen und versuchte dabei möglichst cool zu wirken. Um keinen Preis der Welt wollte er sich blamieren. „Du wirst schon sehen, ich werde heute der erste sein, der auf dem Boulevard de la Sauvenière über die Ziellinie brettert!“

Punyaa lächelte ganz verzückt. „Da bin ich aber ganz schön gespannt!“ Er musterte ihn von oben bis unten, während er selbst sich aus dem Sattel erhob und zu tänzeln begann. „Siehst auch schon viel fitter aus als in der Reha, auch wenn du echt ein bisschen Speck angesetzt hast!“

Er lachte und hob kurz die Hand. „Bye bye!“ Dann trat er fest in die Pedale und schloss wieder zu seinem Team auf, welches noch immer mit zehn Meter Vorsprung vor den Viking Spades fuhr.

Olav sah ihm ratlos nach. Reha… Reha… Moment mal, woher wusste dieser thailändische Wirbelwind, in welchem Zustand er sich in der Reha-Klinik befunden hatte?

Morten rotierte mit Ebbe und verdrehte darauf die Augen. „Dein Gesicht sagt mir, dass du mal wieder eine Lücke hast, Brauner?“ Olav nickte stumm.

„Na die ShamroClovers, weißt du nicht mehr?“ Er machte eine Geste, als wollte er in der Luft jemandem zuprosten und anschließend etwas trinken.

Ebbe lachte. „Ja, der gute Sheamus und seine Crew, die können ganz schön bechern! Aber mich wundert es ja, dass Punyaa so dicke mit dir ist, Olav. Ist da irgendwas in der Reha gelaufen, von dem wir nichts mitbekommen haben?“

Der Fahrtwind pfiff kühl um Olavs Ohren, doch die Hitze in ihnen wollte nicht abnehmen. „Ich weiß es echt nicht“ nuschelte er in den Energieriegel, bevor er dessen Verpackung mit den Zähnen aufriss und ihn anschließend komplett in den Mund stopfte.

Während seiner Zeit in der Reha-Klinik hatte er viel Besuch bekommen. Freunde, Familie, aber auch Sportreporter und Klatschjournalisten, die seinen bemitleidenswerten Zustand begutachten wollten. Vielleicht hatte Punyaa ihn also wirklich besucht und er hatte es als unwichtig abgetan, weil er die meiste Zeit damit beschäftigt war, alternative Trainingsmethoden zu finden, bei denen er fit bleiben und dennoch seinen rechten Ellenbogen auskurieren konnte.

Olav, wenn das wirklich stimmt, dann bist du manchmal echt ein oberflächlicher Arsch. Der nette Punyaa – ach! Apropos Arsch…

Verstohlen blickte er zu dem Zug der ShamroClovers und versuchte so beifällig, wie nur irgendwie möglich Punyaas Hintern auszumachen. Wenn nicht jetzt, wann sollte er dann die Gelegenheit haben seiner Erinnerung mit diesem Anblick auf die Sprünge zu helfen?

Ein Grinsen machte sich in seinem Gesicht breit. Ja, an Punyaa war alles etwas weicher und runder geraten. Unter der olivbraunen Haut zeichneten sich kaum Muskeln ab und sein Handgelenk schien so dünn zu sein, dass es bestimmt zwischen Olavs Zeigefinger und Daumen gepasst hätte.

Aber war das Gesäß in seiner Erinnerung wirklich so prall gewesen?

Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Wieder hatten Morten und Ebbe die Position gewechselt und erhöhten stetig das Tempo, mit denen sich die Viking Spades dem Gipfel der Anhöhe näherten. Schon machte sich Morten daran, die ShamroClovers zu überholen.

Punyaa musste Olavs Blick gespürt haben, denn er wandte sich plötzlich um und zwinkerte ihm zu. Olav hoffte inständig, dass man die Röte in seinem Gesicht nur für Anstrengung hielt.

Geküsst! Geküsst! GE-

„ZOOM-ZOOM!“

Wie aus dem Nichts schoss plötzlich das Team der Japaner wie ein gelber Lichtblitz an ihnen vorbei. Der kleinste von ihnen, Yoshiki Matsuda, hatte sich tief nach vorne gebeugt und trat mit schwindelerregend hoher Umdrehungszahl in die Pedale.

Staub wurde aufgewirbelt und Olav konnte spüren, wie der Fahrtwind der Japanese Jokers an seinem Lenker rüttelte. Und als Olav nach links blickte, kam es ihm fast so vor, als warf ihm Nobuhiko, der Sprint-Star mit der ungewöhnlichen Frisur, ein gehässiges Grinsen zu.

Haakon reagierte sofort. „Matti, Olav! Hinterher!“

Mit einem Mal wurde die Nervosität in seinem Inneren zu einem angenehmen Nervenkitzel. Sein Blick wurde fest. „Sorry, Punyaa, aber … wir sehen uns erst hinter der Ziellinie wieder!“ Er nickte dem verdatterten Thailänder noch kurz zu, dann umgriff er fest den unteren Teil des Lenkers und tänzelte hinter Haakon und Matti die Anhöhe hinauf.

Nobuhikos Grinsen wurde immer breiter. Der Neue, Yoshiki, war zwar nicht ganz dicht in der Birne, doch wenn man ihm sagte, dass er in die Pedale treten sollte, dann jagte er wie ein geölter Blitz davon.

„Deutsches Team entdeckt!“ In Yoshikis Augen blitzten die Sterne und er legte noch ein paar Umdrehungen zu. Nobuhiko beugte sich ebenfalls stark nach vorne, um den Luftwiderstand zu verringern. Hinter ihm schwitzten Mamoru, ihr Anführer, und sein Assistent, Jun. Sie taten sich schwer mitzuhalten, denn der Hügel war vorbei und die Abfahrt begann. Kleine und leichte Sprinter wie Yoshiki waren bei Abfahrten eindeutig im Vorteil. Der Abstand zum Rest des Teams, unter denen sich auch die Brüder Daisuke und Keisuke befangen, wurde immer größer.

Schon schoben sich Haakon, der mit Matti getauscht hatte, und Olav in die Lücke. Olav war nicht wiederzuerkennen. Aus dem besonnenen Zimtschnecken-Held war ein hochkonzentriertes Monster mit finsterem Blick geworden, welches sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte.

Endlich! Endlich! Endlich ging es los! Und dieses Mal würde er diesem Nobuhiko das Maul stopfen, damit der sich nicht noch einmal über sein Fahrrad lustig machen konnte!    

„Matsuda-san! Urashima Taro Manöver!“, brüllte der Teamchef der Japanese Jokers, der als einziger kein schwarzes Haar hatte, sondern es mittelbraun aufgehellt hatte.

„Roger, Mamo-chan!“ Yoshiki salutierte, dann schaltete er zwei Gänge nach oben und brüllte erneut „ZOOM-ZOOM“. Nobuhiko ließ einen kehligen Kampfschrei verlauten und er und der jüngste Japanese Joker setzten sich von ihren Teamkameraden an.

Haakons Augenbraue zuckte. Hatten die beiden tatsächlich vor, sich jetzt schon den Tagessieg zu sichern? Na wenn das so war…

„Olav, Matti! Wir lassen uns auf keinem Fall auseinanderreißen. Also Zähne zusammenbeißen und durch, die Wikingerflotte setzt die Segel!“

Olav hatte das Gefühl, als würden seine Beine ein Eigenleben entwickeln. Fester, schneller, immer schneller traten sie in die Pedale. Der Fahrtwind schnitt ihm ins Gesicht und ließ seine Lippen ganz trocken werden. Er griff nach der Wasserflasche und schüttete sich einen Schwall Flüssigkeit ins Gesicht, ohne wirklich etwas davon in den Mund zu bekommen. Und das, was über seine geöffneten Lippen in seinen Mund strömte, schmeckte ohnehin mehr nach salzigem Schweiß, als nach Wasser.

Olav sah nichts mehr außer Mattis Rücken und Gelb. Gelb-schwarze Teamoutfits direkt vor sich. Yoshikis verrückter Zauberspruch, der ihn jedes Mal, wenn sie ihn fast zu fassen bekommen hatten, erneut um mehrere Meter nach vorne katapultierte.

Es war frustrierend. Waren sie wirklich so schwach? Hatte das gesamte Team seit seinem Ausscheiden im letzten Sommer abgebaut?

Es kam ihm so vor, als würde er doppelt sehen. Plötzlich waren vor ihm nicht ein Yoshiki, sondern zwei. Zwei gelbe Haufen, die sich eine abartig schnelle Talfahrt lieferten.

Olav nahm kurz die Sonnenbrille ab und wischte sich über die Augen. Doch auch das half nichts. Das Gelb blieb doppelt. Und als Matti erneut an die Spitze rotierte und das Tempo erhöhte, erkannte Olav auch den Grund dafür: sie hatten Max Mustermann endlich eingeholt.

Die Zuschauer am Wegesrand jubelten. Wieder erschallten Gaströten, Trillerpfeifen und Rasseln. Die Straße wurde langsam breiter und die Häuser am Wegesrand nahmen zu.

Es war soweit. Sie hatten Lüttich erreicht. Olav wusste, was jetzt passieren würde: Matti, der junge Zeitfahrspezialist, würde auf den nächsten Kilometern das letzte aus sich herauspressen, um anschließend ihn und Haakon auf den Zielsprint zu schicken.

„OLAV! OLAV!“, „MAX SPEED! MAX SPEED!”, skandierten die Fans. Vereinzelte „NIPPON, BANZAI!“ Rufe waren zu hören. Wieder Gaströten. Fahnen wehten am Straßenrand. Schwarz-rot-gold, weißes Kreuz auf rotem Grund, roter Punkt auf weißem Grund, violette „GO VIKING“-Banner zwischen „Unser Kaiser Max“ und japanischen Schriftzeichen, die Olav nicht lesen konnte.

Das alles flog so schnell an dem Brünetten vorbei, dass er an gar nichts anderes mehr denken konnte als ans Atmen und in die Pedale zu treten. Schließlich hatten sich Yoshiki und Matti verausgabt und fielen zurück. Nobuhiko und Max rempelten im Sprint immer wieder gegeneinander, während Olav sich noch etwas zurückhielt.

Die Häuser wurden immer größer und schon bald kam der Stadtkern in greifbare Nähe. Aus den Augenwinkeln sah Olav die Kirche Saint Martin. Das war das Zeichen. Er holte tief Luft, ließ einen Kampfschrei verlauten und heftete sich an Max und Nobuhiko.

Die Zuschauer sahen nur gelb, gelb, lilafarben, wieder gelb. Die drei Spitzen-Sprinter schenkten sich nichts. Als sie in die letzte ausgedehnte Kurve auf dem Boulevard de la Sauvenière einbogen, explodierte das Publikum. Zehntausende jubelten ihnen zu.

Doch Olav nahm sie alle nicht wahr. Er wollte gewinnen. Gewinnen. Endlich wieder gewinnen. Morgen wollte er mit dem gelben Trikot antreten. Er wollte es SO SEHR!

Vor seinem inneren Auge blitzte noch einmal die Zeit in der Reha-Klinik auf. Die Gehirnerschütterung war nach kurzer Bettruhe wieder verheilt, doch sein rechter Ellenbogen musste mehrmals operativ gerichtet werden, bis alles wieder an seinem Platz war und normal zusammenwuchs. Die Ärzte sagten zwar, dass er es ruhig angehen sollte, doch wann immer Olav seine Kollegen und Rivalen im Fernsehen sah, kochte die Frustration wieder hoch.

Warum er? Warum musste er sich bei dieser beschissenen neunten Etappe auch so verletzen, dass die Tour für ihn gelaufen war? Das sollte auf keinem Fall noch einmal passieren!

Olav legte sich tief in die Kurve. Sein Blick war verschlossen und ernst. Nicht so wie der von Max und Nobuhiko, deren Augen hinter ihren Schutzbrillen animalischen Wahnsinn verströmten. Sie schnauften und brüllten. Niemand war bereit, seinem Gegner auch nur einen Zentimeter zu schenken.

Als die Kurve vorbei war, sah Olav seine Chance gekommen. Er schaltete einen Gang nach oben, lehnte sich weit nach vorne und trat und trat und trat in die Pedale. Schweiß tropfte von seinem Kinn. Seine Beine schmerzten und sein Herz schien in seiner Brust zu explodieren.

Jeder normale Mensch wäre lieber gestorben, als sich solchen Qualen auszusetzen. Doch nicht Olav Olsen. Olav, der Zimtschnecken-Held, war glücklich.

Die Stimmen der Moderatoren dröhnten unverständlich aus den Boxen. Noch wenige Meter, dann gehörte ihm das gelbe Trikot. Endlich. Endlich! Olav war zurück. Zurück auf der großen Radsport-Bühne dieser Welt, er…

„Niemand unterschätzt Max Speed!“

20 Zentimeter.

30.

40.

Ein halber Meter.

Nur ein gottverdammter halber Meter!

Max Mustermann brüllte triumphierend und reckte die Hände zum Himmel. Olav hatte das Gefühl augenblicklich auf dem Lenker zusammenzubrechen. Er bremste ab, ließ sein Rad ausrollen und blieb schließlich keuchend stehen.

Jemand half ihm aus dem Sattel und stützte ihn ab. Ein Handtuch wurde um seine Schulter gelegt und man reichte ihm eine Wasserflasche, die er gierig leertrank.

Das Publikum jauchzte seinen Namen.

„OLAV! OLAV! OLAV!“ Man klopfte ihm auf die Schultern und schüttelte ihm die Hände, doch Olav konnte sich nicht freuen. Ein gottverdammter halber Meter! Das waren bestimmt nicht einmal drei Hundertstel, um die er den Etappensieg verschenkt hatte. Und im Profi-Radsport bedeuteten Hundertstel manchmal leider alles...

Haakon erreichte als Vierter das Ziel. Darauf folgte der geschlossene Trupp der Bismarck Bells, schließlich Matti, Mamoru, Jun und dann die ShamroClovers.

Olav rubbelte sich das schweißnasse Haar trocken und warf das Handtuch anschließend frustriert in die Menge. Ein paar Mädchen kreischten und stritten sich zankend darum, doch Olav konnte darüber nicht mal mehr lachen. Mit hängenden Schultern trottete er zu den mobilen Toilettenhäuschen und hoffte, dass er diesmal in Ruhe sein Geschäft verrichten konnte, ohne dass Punyaa ihm um den Hals fiel.

Draußen tobte noch immer das Publikum und die Wände des Plastikhäuschens bebten, wann immer der Sprecher die nächste Zieleinfahrt ankündigte. Von Ruhe konnte also nicht wirklich die Rede sein.

Wenig später beendete Olav sein Geschäft und gähnte herzlich. Die Tür quietschte in den Angeln, als er sie aufstieß und ins Freie trat. Na also, kein Punyaa! Der hatte wohl begriffen, dass ihm die Knutschattacke gestern doch etwas peinlich war.

„Hey, Wikinger!“ Olav wollte gerade ein Taschentuch hervorholen und sich schnäuzen, doch hielt er inne und steckte das Papier wieder in seine Rückentasche. Wollte er sich wirklich auf ein weiteres Streitgespräch mit dieser rotzigen Stimme einlassen?

„Ja, bitte?“ Er lächelte freundlich und baute sich lässig vor Nobuhiko auf, den er um eine Stirnlänge überragte. In Wirklichkeit war ihm aber danach breit zu grinsen.

Nobuhiko schürzte die Lippen. Sein schwarzes Haar war ganz nass und er hatte es nach hinten gekämmt. Mit der freien Stirn sah er nicht halb so verwegen aus wie gestern.

Olav konnte sehen, wie es in dem Japaner arbeite. Nobuhiko kräuselte die Stirn, zog die Augenbrauen zusammen und blickte zur Seite.

Na los, sag es schon, sag es!

Auch wenn sich Olav sehr darüber geärgert hatte, dass Max heute schneller war als er, war der Sieg über Nobuhiko, der nur Dritter geworden war, die reinste Genugtuung. Und diese Genugtuung hätte er ihm am liebsten ins Gesicht gerieben. Doch Olav wäre nicht Olav gewesen, wenn er nicht die sportliche Fassung behalten und freundlich geblieben wäre.

„Ore ha, chigau! Eigo desu-ne! Ich wollte sagen…“

War der Gute etwa nervös? Olav verstand kein Wort von dem japanischen Gebrabbel und war froh, dass sich Nobuhiko schnell wieder gefangen hatte und Englisch sprach.

Er sah verlegen zur Seite und nuschelte etwas.

„Wie bitte? Sorry, ich habe dich nicht verstanden.“ Seine Mundwinkel zuckten. Doch er musste den netten Olav noch etwas aufrechterhalten.

„Gut gemacht…“ Nobuhiko kratzte sich am Hinterkopf. „Heute hast du gewonnen, Olav. Es war ein gutes Rennen.“

Er sah ihn immer noch nicht an und hielt ihm kollegial die Hand hin.

Olav schlug ein. „Danke! Es hat mir auch wirklich Spaß gemacht, mich wieder mit dir messen zu dürfen, Nobuhiko!“ – „Nobu to yonde mo ii-yo“ – „Was hast du gesagt?“

Der Japaner hielt seine Hand noch immer umgriffen und sah ihm plötzlich tief in die Augen.

„Jitsu ha…“

Olav schwante Schlimmes.

„Ore ha Olav no koto ga…“

Olav machte einen Schritt rückwärts und versuchte seine Hand freizubekommen, doch Nobuhiko ließ nicht los. Dann stieß er mit dem Rücken gegen das Toilettenhäuschen.

„Suki!“

Plötzlich ging alles so schnell, dass Olav am Ende nicht mal mehr sagen konnte, wie es überhaupt dazu gekommen war. Dabei hatte er die letzten Sekunden des Rennens doch so glasklar im Kopf abgespeichert, als wären diese in Zeitlupe abgelaufen! Warum ließ ihn sein Verstand also jetzt wieder im Stich?

Nobuhikos freie Hand schnellte empor und traf neben Olavs Kopf die Tür der mobilen Toilette. Der Japaner verringerte den Abstand zwischen sich und Olav. Olav kniff die Augen zusammen. Er konnte dessen heißen Atem spüren, als er noch einmal „Suki desu, Olav!“ hauchte und anschließend seine Lippen auf Olavs presste.

Und ich habe noch gedacht, dass die letzte Tour de France das schlimmste Radturnier war, das ich jemals gefahren bin!

…ich nehme alles zurück!

Tour 3: Alles heiße Luft!

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]


Nachwort zu diesem Kapitel:
Folgt uns auf Facebook. Hier gibt es Bilder und ganz viel zusätzlichen Inhalt:
https://www.facebook.com/VikingSpades/ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Neugierig geworden? Kapitel 2 kommt auf Patreon bereits am 1.Mai! Wer bis zum 15. Mai Supporter wird, bekommt außerdem noch ein fünfteiliges Sammelkarten-Set geschenkt. Schaut doch mal rein: https://www.patreon.com/assofbike Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu dieser Fanfic (5)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Akira-Akuma
2017-05-12T20:22:36+00:00 12.05.2017 22:22
Hey hey !

Also jetzt muss ich echt mal was schreiben xD
Ich hab eure Flyer auf der Animuc gesehen (und sofort einen eingesteckt XD) und wusste nicht was mich erwartet !
Aber ich finde super klasse was ich gefunden habe !

Ich kenne mich null aus mit Radrennen und das Genre Sport war auch eigentlich nie meins, aber wenn ich das hier lese, habe ich das Gefühl so schnell zu lesen wie Olav fährt XD

Es liest sich super flüssig und ist verdammt gut erklärt (für jemanden der keine Ahnung hat, kann ich mir das super vorstellen XD) Es ist so spannend und an manchen Stellen kommen Wendungen, die ich nicht erwartet habe!

Besonders solche wie die am Schluss gerade ಥ⌣ಥ

Alles in allem finde ich es sau geil und bin weiterhin extrem gespannt und freue mich auf neue Kapitel !
Antwort von:  Atsusa
13.05.2017 07:29
OMG ich freue mich! Jemand, der durch den Flyer hergefunden hat. Dann hat es sich ja schon gelohnt, die drucken zu lassen *__*

Ehrlich gesagt: bevor ich durch Yowamushi Pedal auf die Idee kam, mal so eine Story über Radrennen zu schreiben, hab ich das auch nie verfolgt. Und jetzt fiebere ich jeden Tag beim Giro d'Italia mit und bin voll erleichtert über jeden Aspekt und Kommentar, der mich in meiner Recherche bestätigt. Hab von November bis Januar erstmal zwei Monate Berichte gesammelt und Videos geguckt, bevor ich mich da rangetraut habe. Wenn ich damit also wenigstens eine Person begeistern kann, dann wars das wert, haha^^
Von:  ddha
2017-04-28T16:02:25+00:00 28.04.2017 18:02
Tag,
also erst einmal.
Ich bin jetzt nicht der größte Yaoi/shounen-ai fan, also nimm meinen Kommentar wie du willst.
Außerdem sind dies nur die ersten Reaktionsgedanken die ich hier direkt aufschriebe.
Ich sehe hier einige Dinge, welche womöglich fragwürdig bezüglich Olavs Character sein könnten.
Es ist hauptsächlich seine Motivation für den Radsport.
Wenn, und davon gehe ich mal aus, die anderen Love-Interests nicht nur random teil seines "harems" werden ohne wirklichen grund, sondern den Radsport wirklich lieben, so werden sie doch kaum mit jemandem klar kommen, der den Radsport nur wegen seiner sexuellen Begierde betreibt.
Zumal Olavs Motiavation doch von ihm verlangt, dass er mindestens immer zweiter Platz ist,da er erst dann seine vollen Begierde verwirklichen kann.
Wie sollte jemand, der den Radsport ziemlich ernst nimmt jemanden mögen können der immer der 2. Platz bleibt.

Dies sind nur einige Gedanken welche hier umherschwirren.
Du musst sie nicht allzu ernst nehmen, da ich nicht zuviel von diesem Genre verstehe.
Gerne würde ich, allerdings deinen Standpunkt dazu hören.
Antwort von:  ddha
28.04.2017 18:05
EDIT:eventuell ist es aber auch so beabsichtigt und sogar teil der sich noch entfaltenden Konflikte der Story.
In dem Falle wird das natürlich ok sein, dass es so erstmal da steht.
Antwort von:  Atsusa
29.04.2017 17:44
Danke für dein Feedback X3
Mir kommt es so vor, als hättest du nur zwei Absätze gelesen? Bereits im weiteren Verlauf des Prologs wird doch schon klar, dass Olav ziemlich motiviert ist und sich zurückkämpfen will. Aber es gibt nun mal solche und solche Charaktertypen: der eine ist ein Draufgänger, der andere eher schüchtern. Bloß, weil Olav schüchtern ist, heißt das nicht, dass er keinen Willen zum Gewinnen hat. Es ist nur nicht sein Stil, die Rampensau raushängen zu lassen^^

Kapitel 1 ist jetzt ja online. Da wird das Ganze hoffentlich etwas eindeutiger. Tatsächlich geht es in der Story zu 75% um Sport und diesbezügliche Konflikte und nur 25% werden wirklich Fanservice sein. Dass natürlich in einer fiktiven Geschichte bestimmte Aspekte verzerrt und unrealistisch dargestellt werden, ist doch hoffentlich klar? Sonst würde ich hier ja einen reinen Tatsachenbericht schreiben X3
Von:  Xares
2017-04-05T07:27:14+00:00 05.04.2017 09:27
Ich bin nun endlich zum Lesen gekommen ∩( ・ω・)∩ hatte den Tab seit ein / zwei Tagen offen xD
Also ich muss sagen, ich finde den Einstieg echt gut soweit! Der Text hat sich schön gelesen und auch der Ausdruck ist sehr angenehm. Die zweideutigen (oder gar eindeutigen) Stellen haben mich sehr zum Schmunzeln gebracht //D auf eine gute Art und Weise, versteht sich
Prinzipiell kann ich noch sagen, dass mir Olav als Charakter wirklich gefällt! Am Anfang war ich davon ausgegangen, dass er einfach nur ein draufgängerischer Charakter ist, da war die Schüchternheit am Ende eine schöne, unerwartete Wendung
Bin schon sehr gespannt, wie es weiter geht und ob der Herr so schnell seinen "Traumhintern" finden wird ;D
PS: bei "Dann kracht
e es" kommt vermutlich kein Absatz oder ein e mehr xD sonst sind aber keine Fehler zu sehen!
Antwort von:  Atsusa
05.04.2017 17:30
Danke für den Hinweis! Wird geändert, sobald ich wieder am regulären PC sitze^^
Hey, herzlichen Glückwunsch zu Kommentar Nummer 1 >XD (Endlich, ich freue mich so, danke danke <3)


Zurück