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Forever Dream

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Dieses Kapitel ist voller Teenagerhormone!
Außerdem sind darin zwei Weiterleitungen auf Youtube versteckt. Sie sind nicht wichtig für die Story, aber es macht mehr Spaß (und Stimmung) wenn man sie anklickt, deswegen bitte ich darum. :D

Danke an Kommischreiber- und Leser*innen. Bitte lest dann auch das Nachwort, es ist wichtig! Komplett anzeigen

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Hells Bells

Toshi hätte nicht erklären können, wie sie in diese Situation gekommen waren. Sie hatten lange geprobt und waren dann, noch auf dem Parkplatz, auf einmal allein gewesen. Nur hide und er. Spontan waren sie in ein nettes Restaurant essen gegangen und hatten dann einen Spaziergang durch den Park gemacht, wo ein unglaublich großer Vollmond die blütenbehangenen Bäume erhellt und die Kieswege mit einem silbernen Schimmer überzogen hatte. Es war ein magischer Abend, und Toshi hatte hide angesehen und dieser hatte Toshi angesehen und dann musste Toshi wohl vor Glück ausgestiegen sein, denn auf einmal war er mit hide in einem fremden Bett, in einem Raum, den er nicht kannte und anscheinend auch in einer anderen Stadt: Die Skyline draußen vor dem Panoramafenster sagte deutlich, dass sie nicht mehr in Tateyama waren. Es gab keine Hochhäuser dieser Größe in der Stadt, die Yoshiki manchmal liebevoll als ‘Kaff‘ bezeichnete. Aber es war Toshi auch egal. Was kümmerte es ihn, wo er war? Wichtig war mit wem.

An irgendeinem Punkt hatten sie sich ausgezogen, oder zumindest Toshi hatte wohl hide ausgezogen, denn dieser war nackt. Er selbst trug noch Hosen und langsam wurde es unangenehm, doch das war unwichtig. Er konnte hide berühren und das war alles, was zählte. Gott. Jetzt, wo er es tat, fiel ihm plötzlich auf, wie sehr es ihm bisher gefehlt hatte. Seine Hände und Lippen wanderten über den Körper vor ihm, nahmen jedes Detail in sich auf. Er wollte nie vergessen, wie der andere Junge aussah, wie er sich anfühlte, wie er schmeckte. Toshi lehnte sich nach oben, stützte sich auf seine Ellenbogen und nahm die formvollendeten Lippen in Beschlag. Das hier war perfekt. Einfach perfekt. Unglaublich perfekt.

Schließlich löste er den Kuss und sah hide an. Sein Daumen fuhr federleicht über hides Wange und hide schaute zurück. Ein überwältigendes Gefühl der Wärme machte sich in Toshis Oberkörper breit und er lächelte und tauchte ab. Hals, Schlüsselbeine, Oberkörper, Bauch, … Scheinbar willkürlich federleichte Küsse verteilend wanderte er langsam tiefer, schwelgte in dem Gefühl warmer, schweißfeuchter Haut unter seinen Lippen und genoss den leisen, lusterfüllten Laut, als er schließlich -

„Toshi!“

„…“

Toshi schlug die Augen auf und brauchte ein paar Sekunden, bis er wusste, wo er war – oder eher, bis ihm klar wurde, warum er nicht war, wo er dachte, dass er war. Dann wusste er es. Er war zuhause. Er hatte geträumt. Das Dinner war nicht echt. Der Spaziergang war nicht echt. hide war nicht echt. Nur sein Problem in den niederen Regionen, das war dem Gefühl nach mehr als echt. Toshi stöhnte lautlos. Das war jetzt ein Witz. Zur Sicherheit raffte er die Decke an betreffender Stelle ein wenig mehr zusammen. Mütter sollten nicht alles über ihre Kinder wissen.

„… Ja?“, antwortete er.

„Du musst aufstehen! Wir kommen sonst zu spät!“

Ah. Ja. Akimis letztes Kindergartenfest. Ganz große Sache.

„... bin dabei…“

Toshi lauschte noch ein paar Sekunden, bis er alle seine Familienmitglieder eindeutig in der Wohnung verortet hatte. Dann stand er auf. Ein Körperteil widerstand heiß und pochend der Schwerkraft. Oh Mann. Er war doch keine fünfzehn mehr! Scheiße. Wie peinlich… und das fiel wohl in die Kategorie der Dinge, die man besser niemals einer Menschenseele erzählte. Andererseits war draußen Frühling, die Bäume blühten in den romantischsten Farben und die Natur erwachte – anscheinend in jeglicher Hinsicht. Was konnte er als einfacher Sterblicher dagegen tun? Das war eine höhere Macht! Trotzdem… peinlich.

Nach einer halben Minute, in der er krampfhaft versuchte, an etwas Asexuelles zu denken und das seinen Kameraden scheinbar überhaupt nicht beeindruckte (Ach, die Jugend. Kurz kam Toshi der Gedanke, dass er sich diese Art von Problem in dreißig Jahren zurückwünschen würde), entschied er sich, das hier zu verlegen. Hiros Schuluniform lag noch auf der Kommode und er musste auch von seinem Bruder nicht mit einer Morgenlatte gesehen werden. Vorsichtig schob Toshi die Tür auf, lauschte noch einmal, rief „Spring nur kurz unter die Dusche!“ in die Wohnung und huschte ins Badezimmer, bevor ihn irgendjemand sah.

Das Badezimmer! Eine wundervolle Erfindung. Der einzige Ort, an dem man seine Ruhe haben konnte, ohne das Klo anzuschauen. Toshi schlüpfte aus seinem Pyjama, dabei etwas durch sein nach wie vor bestehendes Problem behindert, und stellte sich unter die Dusche. Er fuhr sich ein paar Mal mit der Hand übers Gesicht und einmal durch die Haare und genoss dann das angenehme Prasseln des Wassers auf seiner Haut. Dabei wanderte seine Hand langsam tiefer. Die Dusche war nicht der beste Ort für dieses Vorhaben und das wusste er, doch erfahrungsgemäß war es sonst sehr schwierig, in diesem Haushalt mehr als drei Minuten für sich zu haben. Schließlich, endlich schlossen sich seine Finger um seine Erregung und mit einem leisen Seufzen legte er den Kopf in den Nacken und drehte das Gesicht in den sanften, warmen Nieselregen der Brause. Ohne dass er nachhelfen musste, wanderten seine Gedanken zurück zu großen Mandelaugen, wunderschönen Händen und dem Geruch von Vanille. Das Fleisch unter seinen Fingern zuckte begierig. Doch noch bevor er die Hand einmal nach unten und zurück bewegt hatte, hielt er inne und blinzelte durch das Wasser in Richtung der Fliesen an der Wand vor ihm. Ein seltsam schuldiges Gefühl machte sich in seinem Brustkorb breit und lieferte sich einen harten Kampf mit der Hitze im Unterbauch. Es war mehr als eindeutig, dass er das hier wollte – doch wie sollte er hide danach jemals wieder in die Augen schauen? Unwillkürlich schoss ihm die abstruse Vorstellung durch den Kopf, es gäbe eines Tages vielleicht ein Gespräch zu diesem Thema. Jemand könne Gedanken lesen. Oder man sah ihm vielleicht an der Nasenspitze an, dass er sich in Gedanken an einen Freund einen runtergeholt hatte. …scheiße.

Er konnte das hier nicht.

Toshi boxte einmal frustriert die Wand und drehte das Wasser auf kalt.

Er hatte die blöde Vorahnung, dass Sport und kalte Duschen in Zukunft einen wesentlich größeren Teil seiner Zeit einnehmen würden als bisher.
 

-X-
 

Mit Schuhen aus Blei stieg hide die Stufen zum Eingang seiner Schule hoch. Der Weg hierher war ihm noch nie so lang erschienen wie heute: mit jedem Schritt wurde sein Brustkorb etwas enger, sein Puls etwas höher und seine Hände etwas verschwitzter. Oder wem versuchte er hier etwas vorzumachen: Alles wurde verschwitzter. Und bis er die vier kleinen Stufen erklommen hatte, klebte ihm sein T-Shirt endgültig am Rücken. Als er in den langen Gang trat war ihm einen Moment, als würde dessen Ende erst näherkommen, dann in weite Ferne fliehen und sich schließlich etwas zur Seite neigen.

Ok, dachte hide und atmete bewusst tief, fahr runter. Wie auch immer das hier ausgeht: keine Panikattacke in der Schule. Kein Ohnmachtsanfall. Diese Peinlichkeiten wollte er für andere Höhepunkte seines Lebens reservieren, wie… und ihm fiel gerade nichts ein. Sein Kopf schien mit Marshmallow-Fluff gefüllt.

Die Abschlussprüfungen waren jetzt zwei Wochen her und die Endergebnisse hingen vor der Aula aus. Ein letztes Mal der Vergleich mit allen anderen. Der eigene Wert, schwarz auf weiß.

Eine Menschentraube hatte sich vor der Wand mit dem Aushang gebildet und hide brauchte ein paar Minuten, bis er sich so weit nach vorne geschoben hatte, dass er die kleine Schrift lesen konnte. Er orientierte sich kurz, fand das richtige Blatt und scannte die Liste.

Da.

M.

Matsu.

Er las.

Matsuda Jun.

Matsushita Kaede.

Zur Sicherheit überflog er noch die nächsten fünf Namen in jede Richtung. Nichts. hide zwang sich, ruhig zu atmen und sich zu konzentrieren. Er las noch einmal. Alle Namen mit M, langsam und sorgfältig. Doch an der Stelle, an der sein Name hätte sein müssen: immer noch nichts.

Matsuda Jun.

Matsushita Kaede.

Langsam, um nicht auf die Füße derjenigen zu treten, die versuchten, ebenfalls endlich einen Blick auf das eigene Ergebnis zu erhaschen, löste hide sich aus der Traube und schlich zu der zweiten Liste einige Schritte entfernt hinüber. Diejenigen, die seinen schweren Gang bemerkten, warfen ihm etwas mitleidige Blicke zu, bevor sie sich wieder ihrem eigenen Leben zuwandten. Eine Zeile eines Gedichts aus einem der Bücher, die Pata ihm im Lauf der Zeit hingelegt hatte, kam hide in den Sinn: No man is an island entire of itself, hatte es begonnen. Als er es gelesen hatte, war es ihm sehr tiefgründig erschienen, doch gerade hätte er nicht zustimmen wollen.

Er hatte sich selten mehr wie eine Insel gefühlt.

hide schluckte, atmete noch einmal durch und stellte sich vor die Liste. Es war nur eine Seite, beschrieben mit sehr wenigen Namen. Einen Moment lang sah er nur schwarze Symbole auf weißem Grund. Vielleicht, musste er sich gut zureden, war es nur ein Fehler. Ja, ganz bestimmt.

Erst durch diese Hoffnung bestärkt war sein Hirn bereit zu lesen.

Kusanagi Ran, las er.

Matsumoto Hideto.

Ogawa Akito.

Sein Herz setzte einen Schlag aus und ihm wurde kalt.

hide blinzelte und las noch einmal.

Vielleicht würde er gleich aufwachen.

Doch da war es.

Schwarz auf weiß.

Matsumoto Hideto.
 

-X-
 

„Er hat’s nicht geschafft, mmh?“, fragte Yoshiki gedämpft, während er aus seinen Schuhen schlüpfte.

Pata schüttelte den Kopf. „Seien wir ehrlich: Die Chancen waren immer verschwindend gering.“

Yoshiki nickte langsam und richtete sich wieder auf. Das war das Ding mit Pata – wenn er Wahrheiten aussprach, dann sprach er auch die unangenehmen aus. „Und ist er…“ Er machte eine Faust, spreizte Daumen und kleinen Finger ab und kippte die so symbolisierte Flasche auf Höhe seines Gesichts.

Noch einmal schüttelte Pata den Kopf. „Nein. Er schien mir nüchtern.“

„Gut...“, sagte Yoshiki und nochmal, leiser, „gut… Dann… werd ich mal nach ihm sehen.“

„Viel Glück“, meinte Pata und verschwand mit einer vagen Geste in Richtung der ersten Tür auf der rechten Seite wieder nach unten in den Laden.

Erst als er verschwunden war, wurde Yoshiki wirklich bewusst, was er gesagt hatte. Er atmete durch, zog sein Shirt zurecht, strich sich seine zu langen Haare aus dem Gesicht und klopfte.

Nichts passierte.

„hide?“, fragte er also, „kann ich reinkommen?“

Nach einigen Sekunden sagte eine Stimme dumpf durch die Tür: „Es ist ein freies Land.“

Yoshiki runzelte die Stirn. Ok. Er hatte einfach ein ‘Ja‘ gehört. Behutsam drückte er die Klinke hinunter und lugte in den winzigen Raum dahinter. hide lag auf dem Boden und sah an die Decke. Vorsichtig glitt der Schlagzeuger ins Zimmer. Eigentlich bescheuert, dachte Yoshiki dabei, als wäre es schon einmal irgendeiner Person auf diesem Planeten besser gegangen, weil man in ihrer Nähe auf hektische Bewegungen verzichtete. Vielleicht war das noch einer der letzten Urinstinkte: verletzte Wesen reagierten unvorhersehbar und man sollte sich mit Fingerspitzengefühl näher. Ja. Das machte Sinn. hide sah allerdings nicht so aus, als würde er sich demnächst bewegen, geschweige denn jemanden anfallen.

„He“, sagte er also sachte. „Wie geht es dir?“

hide zuckte mit den Schultern und sah ihn nicht an.

Yoshiki ging neben hides Füßen in die Hocke. Er wusste nicht ganz, was er machen sollte, also legte er leicht die linke Hand auf hides Knöchel und drückte, wie man sonst die Schulter drücken würde. „Ich versteh, dass du frustriert bist“, meinte er leise. „Aber es ist in Ordnung. Du hast es versucht und es hat nicht geklappt und jetzt probieren wir was anderes, ok? Es wird alles gut. Ich versprech’s. Also komm. Lass uns irgendwas machen, was dich ablenkt, wenn schon nicht aufheitert.“

hide schüttelte den Kopf.

Yoshiki seufzte lautlos, stellte Augenkontakt mit dem Koala an der Wand her und sagte dann: „Willst du ein Eis essen gehen? Die Bude am Park hat Anfang der Woche aufgemacht. Sie haben einige neue, sehr äh, interessante Sorten.“ Perfekt für jemanden, der Marmelade zu seinen Eiern und Käse zu Schokolade aß.

hide schüttelte den Kopf.

Ok. Kein Erfolg mit Essen. Ein schlechtes Zeichen. „Dann… Musikgeschäft?“ Yoshiki verlagerte sein Gewicht und musste sich kurz mit der Hand am Boden abstützen. „Ich bin auf der Suche nach einem Keyboard.“

hide schüttelte den Kopf.

Yoshiki seufzte noch einmal, diesmal hörbar. hide sollte wissen, dass er nahe dran war, aufzugeben. Aber noch nicht ganz. „Ok… Gibt es… irgendwas anderes? Irgendwas, was ich – oder irgendwer – tun kann?“

hide schüttelte nicht den Kopf. Daraus schloss Yoshiki, dass er nachdachte und wartete ab.

„Kannst du die Tür vielleicht zu machen?“, fragte er schließlich.

„Klar“, sagte Yoshiki und schloss die Tür.

„… das ist mir jetzt ein bisschen unangenehm“, gestand hide nach wenigen Sekunden, „aber ich meinte: von der anderen Seite.“

Die Bedeutung der Worte bahnte sich langsam ihren Weg durch Yoshikis Gehörgang und in seine Hirnwindungen. „Oh“, machte Yoshiki. „Oh. Ja. Auch gut. Klar. Ok.“ Er erhob sich, wenn auch mehr aus Überforderung heraus, konnte sich aber noch nicht ganz zum Gehen überwinden. „Dann… bis übermorgen?“, fragte er also unschlüssig. Die letzte Hoffnung.

„Ja“, sagte hide.

Ok. Und da ging die letzte Hoffnung hin.

Yoshiki nickte noch einmal langsam, sich bewusst, dass hide es nicht sah. Dann öffnete er die Tür, schob sich auf den Gang hinaus und zog sie leise wieder hinter sich zu.

Unten im Laden saß Pata an der Kasse.

Er fragte nicht, wie es gelaufen war.
 

-X-
 

hide blieb auf dem Boden seines Zimmers liegen und sah dem kleinen Viereck aus Licht, das durch das geöffnete Fenster nach drinnen fiel dabei zu, wie es langsam höher wanderte, dabei zu einem Rechteck wurde und schließlich verschwand. Niemand kam, um ihm zum Abendessen zu holen und obwohl es in seinem Magen etwas zu rumoren begann, konnte er sich nicht aufraffen zu gehen. Draußen wurde es nun langsam dunkel. Die abendliche Schläfrigkeit senkte sich über die Straße, vereinzelt begannen Grillen zu zirpen und der intensive süßliche Geruch der blühenden Büsche und Bäume im kleinen Blumenbeet gegenüber drang durchs Fenster und kitzelte ihn in der Nase.

Gerade war es so dunkel geworden, dass man nicht mehr hätte ohne Licht lesen können, als sich Schritte auf dem Gang näherten und vor der Tür stoppten.

Es klopfte dreimal.

„Mmh“, machte hide. Komm rein, hieß das, oder bleib draußen. Ihm egal.

Ein Kopf wurde zur Tür hereingestreckt. Im fahlen Dämmerlicht erweckte das blasse, von langen Haaren umrahmte Mädchengesicht ein wenig den Anschein eines Horrorfilms. Es hätte hide gar nicht gewundert, wenn der Hals auf einmal länger und länger geworden wäre, um dem Kopf zu erlauben, ohne den Körper der Besitzerin im Zimmer herumzuschweben. Zum Glück mochte hide Horrorfilme.

„Oh.“ Er setzte sich auf und knipste die Schreibtischlampe an. „Hi.“

„Hallo.“ Terumi blinzelte ein paar Mal gegen das Licht. Erst jetzt wurde hide bewusst, dass sich ihr Kopf auf gleicher Höhe mit seinem befand – sie musste also vor der Tür knien. Hatte sie vorhergesehen, dass er sich zusammen mit seiner Laune in Bodennähe aufhalten würde?

Sie legte den Kopf schief und betrachtete ihn einige Wimpernschläge lang. „Bist du ok?“, fragte sie schließlich.

hide erwiderte den Blick. Er wollte lügen, doch wem konnte er was vormachen? Er hatte seit heute Mittag sein Zimmer nicht verlassen und das mochte für Terumi normal sein, für ihn selbst war das ein schlechtes Zeichen. Außerdem, alle Mädchen hatten diesen komischen sechsten Sinn für anderer Leute Gefühle, oder etwa nicht? Das traf sicher auch auf die merkwürdigen zu. Und, und das war vielleicht das Wichtigste: Eigentlich fiel ihm kein guter Grund ein, warum er ihr etwas vorspielen müsste. Jemand, der sich seit über einem Jahr drinnen verkroch, konnte ihm schlecht einen Vorwurf aus einem Tief machen, geschweige denn gefährlich werden. Vermutlich, und das fühlte hide mehr als dass er es wirklich dachte, verstand sie es sogar. Schließlich seufzte er also und wandte den Blick ab. „Eigentlich nicht.“

„Mmh“, machte Terumi. Sie rutschte ins Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. „Ich hab keine guten Ratschläge“, sagte sie dann, sich mit dem Rücken an der Tür bequemer in den Schneidersitz umsetzend, „aber ich hab Schokolade.“ Sie präsentierte eine etwas lädierte Tafel.

hide musste lächeln. „Schokolade wird in diesen Breitengraden als Ratschlag akzeptiert.“

„Un.“ Terumi nickte, wickelte die Tafel aus dem Papier und der Aluminiumfolie, brach eine Reihe ab und reichte hide den Rest. „Was machst du jetzt?“, fragte sie, während sie an einer Ecke herumnibbelte.

hide löste zwei Stücke Schokolade aus der Tafel und legte den Rest zwischen sich und das Mädchen auf den Boden, für sie beide in Reichweite. „Weiß nicht. Ich nehme an, ich sehe zu, dass ich ein paar mehr Stunden im Restaurant kriege oder such mir noch eine zweite Arbeit. Das hätte ich vermutlich auch mit Abschluss gemacht, also eigentlich macht es keinen wirklichen Unterschied. Es wäre nur irgendwie schön gewesen… wegen… Optionen oder so. Aber gut. Jetzt ist es so.“

Terumi sagte nichts. Das wunderte hide nicht. Sie hatte ja bereits angekündigt, dass sie keine Ratschläge hatte und hide war seltsamerweise fast dankbar dafür. Gut gemeinte Ratschläge und platte Aufmunterungen hatte er in seinem Leben genug gehört.

Schweigend arbeiteten sie sich durch ihre jeweiligen Schokoladenstücke.

„Es ist nur“, sagte er dann und wischte seine Hand an der Hose ab, „ich hab den Abschluss um elf Punkte verpasst.“ Er stützte die Stirn auf Daumen, Zeige- und Mittelfinger. „Elf verschissene Punkte. Das ist eine Frage in einer Mathearbeit. Das ist echt frustrierend.“

Terumi sagte nichts.

„Es sagen einem immer alle, dass man alles schaffen kann, wenn man es nur wirklich versucht. Aber das stimmt nicht. Manchmal… ist man wirklich einfach nicht gut genug.“ hide ließ die Finger für einen Moment zu seiner Nasenwurzel wandern und hob den Kopf dann wieder. „Ja. Sorry. Genug semidepressives Gebrabbel.“ Er lächelte entschuldigend.

Das Mädchen zog die Beine unter dem Körper hervor, stellte die Füße auf den Boden vor sich und schlang einen Arm um die angezogenen Knie. „Weißt du“, sagte sie dann und griff mit der anderen Hand noch einmal nach der Tafel, brach hide eine Reihe ab und nahm die verbliebenen zwei Stücke aus der, die er zuvor geteilt hatte – vielleicht der Fairness halber, vielleicht, weil man sich nicht schlecht fühlen musste, wenn ein anderer genauso viel Süßes fraß wie man selbst, „ich glaube, manchmal, da muss man sich zurücklehnen und gute Musik hören und einfach drauf warten, dass die ganzen… Sachen und Leute, für die man nicht gut genug war oder was auch immer, ihre Hintern aus deinem Leben schieben. Danach fühlt man sich besser.“

hide runzelte die Stirn. „Gibt man dann nicht einfach an vielen Fronten auf?“

„Nein. Ich glaub nicht. Ich glaub, man sieht klarer, was übrig bleibt. Und wofür sich die Anstrengung lohnt.“

„Klingt für mich immer noch nach allgemeinem Standart-Senken.“ hide war nicht überzeugt, aber Terumi schüttelte den Kopf.

„Es wird nicht einfacher davon. Aber bei den richtigen Dingen und den richtigen Leuten gibt es nicht so was wie nicht gut genug.“

Ein paar Sekunden lang versuchte hide, einen Sinn für sich in ihren Worten zu finden, doch er schaffte es nicht. „Darüber muss ich nachdenken“, sagte er schließlich. „Sorry. Ich bin nicht mehr ganz bereit für philosophisches Zeug. Heute war ein langer, beschissener Tag.“ Er seufzte. „Ich warte um ehrlich zu sein grade bloß, dass er vorbei geht.“

„Das ist ok. Warten auf morgen.“

hide zögerte einen Augenblick. Dann überwand er sich und sprach etwas aus, das ihm bereits länger auf dem Herzen lag. „Und wenn morgen auch beschissen ist?“

„Dann wartest du auf übermorgen.“

„… und so weiter?“

Terumi nickte. „Und so weiter.“

hide musste lächeln.

Sie lächelte zurück. Es ging fast in den Schatten unter. Dann verschwand es wieder. Stattdessen ließ sie ihren Blick einmal durch den kleinen Raum wandern, stellte Augenkontakt mit Paul Stanley her und sah schließlich zurück zu hide. Sie nickte nach links, in Richtung Wand, in Richtung ihres Zimmers. „… willst du Musik hören?“

hide rappelte sich vom Sitzen in die Hocke. „Nichts lieber als das.“
 

-X-
 

Als hide einige Tage später am frühen Nachmittag durch die Innenstadt zurück nach Hause schlenderte (eine Bezeichnung, die er nur verwendete, weil er nicht die ganze Zeit ‘zu Pata‘ denken wollte), erschien ihm die Welt wieder ein ganzes Stück fröhlicher. Jobsuche erfolgreich. Zwei kleine Jobs waren fast ein großer Job und ließen ihm trotzdem noch Zeit, um Gitarre zu spielen. Das war gut. Jetzt musste er nur noch eine eigene Wohnung finden und schon stand er auf eigenen Beinen. Fürs erste. Ja.

Abwesend sah er im Vorbeigehen in die Schaufenster entlang der Straße. Schuhe. Brillen. Künstlerbedarf. hide wurde langsamer und blieb schließlich stehen.

Er hatte jetzt zwei Jobs und, noch wichtiger, Zeit. Es gab keinen rationalen Grund dagegen. Und wenn er Musik zum Beruf machte, brauchte er ein neues Hobby. Jeder Mensch brauchte doch eines, oder nicht? Er ging die paar Schritte wieder zurück und trat ein. Irgendwo weiter hinten im Laden klingelte es und obwohl er nicht der einzige Kunde war, war es hier drin sehr ruhig. hide schaute sich um, wanderte die Regale entlang und atmete den Geruch nach Holz und Papier ein. Er hatte eigentlich sofort gesehen, was er wollte und wanderte jetzt nur noch aus Spaß an der Freude. Schließlich aber – zwanzig Minuten später – stand er doch wieder vor der langen Reihe mit Zeichenutensilien. Er liebäugelte ein wenig mit den teuren Aquarellstiften, doch riss sich am Riemen. Klein anfangen. Also beschränkte er sich auf Bunt- und Bleistifte und ein großes, massives Skizzenbuch und verließ den Laden wenig später seltsam beschwingt.

Zurück bei den Ishizukas verzog er sich sofort ins stille Kämmerchen, setzte sich in den Schneidersitz und schlug das Buch auf. Leere, wundervoll weiße Seiten begrüßten ihn, perfekt in ihrer Reinheit. Etwas wie Ehrfurcht ergriff hide und er zögerte kurz. Doch er hatte das Ding ja nicht gekauft, um erstarrt davor zu sitzen. Es muss nicht perfekt sein, dachte er fest. Es muss nur deins sein.

Seine Hand kreiste über den Stiften und entschied sich schließlich. Bleistift. Der gute alte B2. Es war eine ganze Weile her.
 

-X-
 

Am letzten Dienstag im März saß Toshi in der Aula seiner Schule und wartete. Natürlich saß er dort nicht allein: mit ihm saßen sämtliche Mitglieder seiner Jahrgangsstufe, ihre Familien und die engsten Freunde unten im Zuschauerraum. Oben auf der Bühne saß das Kollegium, inklusive des Rektors, an einer langen Tafel, um noch einen letzten Blick auf ihre Schüler werfen zu können, die sie an diesem heutigen Tag in die Welt hinaus entließen. Das war einfach, denn ihre Schüler nahmen die ersten zwei Reihen ein. Toshi drehte den Kopf und lehnte sich nach vorn, um einen Blick auf Yoshiki werfen zu können. Dieser saß in seiner Reihe ganz am Rand, um später einen kürzeren Weg zur Bühne zu haben. Dann drehte er sich auf seinem Stuhl um und nahm das Getümmel in sich auf. Es waren wirklich erstaunlich viele Leute hier. Der Gedanke, später dort hinauf gehen zu müssen, um sein Zeugnis in Empfang zu nehmen, jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Ein weiterer Blick in Richtung Yoshiki. Dieser betrachtete gerade seine Fingernägel und schien trotz seiner anstehenden musikalischen Einlage nicht im Geringsten nervös. Andererseits, dachte Toshi, hatte er das schon des Öfteren gemacht, also war das wohl kein fairer Vergleich. Er drehte sich noch einmal um und suchte im Getümmel nach seinen Eltern und anderen bekannten Gesichtern. Ein paar Lächeln und ein Kopfnicken wurden ausgetaucht und seine Mutter gestikulierte irgendwo auf Kopfhöhe. Vermutlich hieß das, er solle seine Haare noch einmal zurechtlegen, doch bevor er es eindeutig identifiziert hatte, trat eine Lehrerin ans Mikrofon, die Toshi nie gehabt hatte, um auf den Beginn der Veranstaltung hinzuweisen. Gerade wollte Toshi seine Aufmerksamkeit daher wieder nach vorne richten, als sein Blick plötzlich an jemandem hängen blieb, der ganz hinten bei der Tür saß. Er kniff die Augen zusammen und reckte den Hals, um zwischen den vielen Köpfen einen Blick erhaschen zu können. Ja. Kein Zweifel. Er drehte sich wieder um und versuchte, Augenkontakt mit Yoshiki herzustellen, doch Yoshiki schaute jetzt in seine Partitur und beachtete weder ihn noch das Geschehen auf der Bühne.

Dort gab die Lehrerin das Mikro jetzt an den Rektor ab. Dieser sprach ehrwürdige und zeremonielle Worte ohne Inhalt und dann folgte die festgelegte und über Jahre eingeübte Choreografie aus zuhören, klatschen, sich erheben, sich verbeugen, sich setzen, während Redner um Redner ans Mikrofon trat. Es dauerte ewig, ganz so, als wollte unbedingt jeder zu Wort kommen, der auch nur im Entferntesten an der Bildung und Erziehung dieser jungen Menschen teilgehabt hatte.

Schließlich, nach einer gefühlten Dekade, stand Yoshiki auf und schlich nach vorn. Dort trat gerade Herr Urano ans Mikrofon. „Liebe Eltern, liebe Angehörige“, sagte er, „aber vor allem: Liebe Schülerinnen und Schüler! Viele Jahre sind vergangen, seit Sie – Ihre Kinder, Ihre Geschwister, Ihre Freunde – Ihre Schullaufbahn begonnen haben. Sie haben viel gelernt, viele Erfahrungen gemacht und viele Freunde gewonnen.“ Im Hintergrund setzte sich Yoshiki ans Klavier. Toshi sparte es sich, seinen Blick auffangen zu wollen – es war hell auf der Bühne und der Zuschauerraum konnte für Yoshiki nicht viel mehr sein als eine Ansammlung von Schatten. „Die nächsten Jahre werden für Sie viel Neues bringen, Gutes und nicht so Gutes. Aber ich hoffe, dass Sie sich heute an die schönen Momente zurückerinnern und das immer so beibehalten werden. Deswegen, und bevor wir Ihnen gleich Ihre Zeugnisse überreichen, möchte Ich Sie bitten, noch einmal für fünf Minuten inne zu halten und zu lauschen. Sich zu erinnern – und auch von der Zukunft zu träumen. Ich wünsche Ihnen von Herzen, dass Sie für alle von Ihnen wundervoll wird.“

Applaus brandete auf. Herr Urano machte einen Schritt zur Seite und nickte Yoshiki zu. Dieser nickte zurück.

Das letzte Händeklatschen verhallte und es wurde wieder ruhig im Saal.

Yoshiki legte die Finger auf die Tasten und verharrte einen Moment regungslos. Dann begann er zu spielen. Die ersten Anschläge kamen sanft und melodisch. Doch dann veränderte sich die Stimmung. Toshi erstarrte. Diese Tonfolge…! Er erkannte fast sofort und beinahe erschrocken, was Yoshiki da spielte. Und nach den plötzlich gefrierenden Mienen der Lehrer und der Schulleitung realisierten sie es auch. Es war ganz eindeutig nicht klassisch. Die Gesichtszüge ihres Musiklehrers entgleisten, langsam aber überraschend beständig. Gleichzeitig wurde er rot, so dass er schließlich aussah wie eine fassungslose Tomate. Doch das sollte vorübergehen: Innerhalb von zehn Sekunden würde er aussehen wie jemand, der sich wünschte, vor Scham im Boden versinken zu können – um dann wenn möglich hinter Yoshiki wieder aufzutauchen und ihn zu erwürgen! Er tauschte Blicke mit der Lehrertafel. Dort wurde hektisch getuschelt. Anscheinend überlegte man, wie man die Situation bestmöglich in den Griff bekam.

In der Zwischenzeit hatte Yoshiki sich bereits in Ruhe bis weit in den ersten Refrain vorgearbeitet.

Toshi verfolgte all das von seinem Platz in der zweiten Reihe aus nur zu genau. Fast war ihm nach Lachen, doch er war auch seltsam verlegen und machte sich ein wenig Sorgen. Das musste es sein, dieses Fremdschämen, von dem immer alle sprachen. Und es schockierte ihn ein wenig, dass es ihm nun auch einmal bei Yoshiki passierte. Aber das hier, das hier ging auch seinem Empfinden nach bei aller Witzigkeit der Aktion fast ein wenig zu weit. Er sah sich um. Einige seiner Klassenkameraden grinsten, doch viele hatten sich zu ihren Eltern umgedreht oder starrten einfach entgeistert auf die Bühne. Dort diskutierte man noch bemüht unauffällig. Toshi fragte sich, was für Ideen es wohl gab. Stromausfall? Doch es war ein Flügel. Und einem Flügel konnte man nicht einfach den Saft abdrehen. Die einzig Option wäre folglich, Yoshiki vom Klavier zu zerren – und anscheinend war man sich noch nicht einig, was die größere Blamage war: ihn zu Ende spielen zu lassen oder es durch rigoroses Einschreiten zu stoppen. Bliebe noch ein Ablenkungsmanöver, dachte Toshi. Vielleicht ein gefälschter Feueralarm oder ein medizinischer Notfall. Doch so weit würden sie nicht denken. Menschen in Anzügen und Kostümchen dachten nie so weit.

Und so kam es, dass durch zu viel Diskussion und zu viel höfliches ‘Aber was halten Sie denn davon? Nein, Nein, Sie zuerst!‘ Yoshiki bereits die letzten Töne ausklingen ließ, lange bevor ein Kompromiss auch nur am Horizont zu sehen gewesen wäre. Toshi schloss die Augen. Das waren mit die längsten Minuten seines bisherigen Lebens gewesen. Er schaute sich noch einmal im Raum um. Auf der anderen Seite, einmal über den Gang und ein Stück weiter hinten, saß Yoshikis Mutter. Sie war bleich wie die Nacht finster.

Eine tiefe, schreckliche Stille senkte sich über den Saal und wurde lang, länger – so lang, dass Toshi den Drang verspürte zu husten, nur um ihr ein Ende zu bereiten. Doch dann begann jemand zu klatschen und nach und nach stimmten die meisten anderen mit ein – in dem Versuch so zu tun, als wäre das gerade nicht passiert. Herr Urano fing sich als erster. „Ja, meine lieben Anwesenden“, sagte er mit einem Lächeln, das ehrlich wirkte, „die Jugend für heute ist immer für eine Überraschung gut! Genau wie das Leben, nehme ich an. Und jetzt: Bitte erheben Sie sich für die Zeugnisübergabe!“

Eines musste man ihm lassen, dachte Toshi während er aufstand, er war ein ziemlich souveräner Redner. Doch es täuschte ihn keine Sekunde: der Blick, den Yoshiki und der Musiklehrer tauschten, als ersterer von der Bühne ging, war eisig.
 

Eine halbe Stunde später dann war es vorbei. Yoshiki fand seine Mutter draußen auf dem Gang, wo sie neben einem Wasserspender stand und auf ihn wartete.

Er reichte ihr die Urkunde.

Sie schaute ihn an.

Sie schwiegen.

Andere Schüler, ihre Eltern, die Lehrerschaft bahnten sich ihre Wege an ihnen vorbei und um sie herum. Wie Steine im Fluss, dachte Yoshiki, inmitten von allem und doch nicht dabei.

„… tut mir leid“, sagte er schließlich.

Seine Mutter schüttelte seufzend den Kopf. „Das war so du… Es hätte mich gewundert, wenn du nicht so was in der Art gemacht hättest.“ Sie seufzte noch einmal. „Trotzdem hab ich mich in Grund und Boden geschämt für dich. Und ich will, dass du das weißt.“

Yoshiki senkte die Augen. „Tut mir leid“, sagte er noch einmal. Es stimmte. Der leichte Anflug eines schlechten Gewissens meldete sich. Es war aber nicht so, dass er plötzlich erkannte, dass seine Aktion sie verletzt haben musste. Nein. Yoshiki war zu intelligent für so einen Faux Pas. Nein, es war vielmehr so, dass er das von Anfang an gewusst und es in Kauf genommen hatte. Das war kein schöner Zug und Yoshiki wusste das. Aber manchmal… war er einfach kein sonderlich netter Mensch. Das war die Wahrheit. Und Wahrheiten waren nun einmal selten schön – aber auch nie so einfach. Kurz dachte er darüber nach, ob er ihr erzählen wollte, das mehr dahinter steckte als nur verletzter Stolz und pampige Rebellion. Doch das würde sie nur noch mehr verletzen. Nein. Es war besser, wenn sie glaubte, was sie eben glaubte. Was auch immer das war. „Ich… ich mach irgendwann was, worauf du stolz sein kannst. Das hier… ist es nur einfach noch nicht.“ Yoshiki wich ihrem Blick aus und nickte stattdessen in Richtung Ausgang. „Ich… geh noch ein bisschen…“ Ihm fiel nichts ein, wo er hingehen wollte. „Ich geh noch ein bisschen“, sagte er also schließlich noch einmal, mit einer anderen Betonung, die den Satz an dieser Stelle abschloss. Gerade hatte er Stück weiter im Gewusel Toshis Rücken entdeckt. „Warte nicht auf mich. Ich nehm den Zug.“

Er ließ seine Mutter stehen und sah nicht zurück.

„He“, sagte er dreißig Sekunden später und schob sich mitten in das Gespräch zwischen Toshi und einem Jungen aus der Baseballmannschaft. „Meine Mutter ist sauer und ich find’s scheiße hier. Lass uns irgendwohin gehen.“ Kaffee trinken, auf einer Bank sitzen, Steak essen – alles war in Ordnung. Alles. Er hatte sich schon halb umgedreht, in der sicheren Erwartung, dass Toshi für alle Schandtaten bereit sein würde wie sonst auch, als dieser sagte: „Ähm… Yoshiki…“ Yoshiki drehte sich wieder zu ihm. „Ich hab grade meinen Abschluss bekommen“, erklärte Toshi, in einer Art entschuldigender Belustigung, die er soweit er wusste noch nie bei jemand anderem als Yoshiki gebraucht hatte. „Ich… geh das jetzt mit meinen Eltern feiern.“ Yoshiki blinzelte ein paar Mal, als gäbe es an dieser Aussage unendlich viel zu verarbeiten, das er nicht verstand. „Oh“, sagte er schließlich, und dann noch einmal: „Oh. Ja. Klar. Natürlich. Ähm. Ja. Dann… viel Spaß.“ Toshi zog die Augenbrauen zusammen und betrachtete ihn kritisch. „… bist du ok?“, fragte er. „Mmh? Ja. Klar. Warum sollte ich nicht ok sein?“, fragte Yoshiki zurück, zog einen Mundwinkel hoch und machte eine verabschiedende Geste mit der rechten Hand. „Wir sehen uns Samstag.“ „Bis dann“, sagte Toshi.

Yoshiki steckte die Hände in die Hosentaschen, wanderte ein letztes Mal über den Schulhof, warf einen letzten Blick auf alles, was er hasste und trat schließlich nach draußen auf die Straße. Dort löste sich die Menge allmählich auf, verstreute sich plappernd und lachend in alle Himmelsrichtungen und ließ ihn als Einzigen etwas ratlos vor dem Tor stehend zurück.

Auf einmal fühlte er sich seltsam verloren.

Gerade hatte er einmal nach links und einmal nach rechts die Straße hinunter geschaut, in Hoffnung einer spontanen Eingebung, was er mit sich anfangen sollte, als er eine Stimme hinter sich sagen hörte: „Netter Auftritt, Fuckface.“

Yoshiki drehte sich stirnrunzelnd in Richtung des Sprechers um. „Was machst du denn hier?“

„Weiß nicht. Du warst die letzten Wochen immer so angepisst, wenn du darüber geredet hast. Ich dachte mir schon, dass es was zu lachen geben würde.“ Yoshiki schaute skeptisch. „Außerdem mag ich Klavier.“ Taiji zuckte mit den Schultern.

„… verdächtig“, murmelte Yoshiki und wandte sich wieder seiner Abendplanung zu. Vielleicht ging er einfach eine Runde durch den Park spazieren – die Kirschblüten waren herrlich um diese Jahreszeit. Andererseits war er nicht der Einzige, der das so empfand und ihm stand der Sinn nicht nach weiteren Menschenansammlungen.

Taiji trat neben ihn und warf ihm einen Seitenblick zu. „… also, gehst du jetzt feiern, oder…?“

Yoshiki zuckte mit den Schultern und sagte nichts. Das war vermutlich Antwort genug.

„Mmh“, machte Taiji also. Sie standen ein paar Sekunden unschlüssig und seltsam unbeholfen in der Gegend herum.

„Willst du irgendwas machen?“, fragte der Bassist dann.

„Mit dir?“, fragte Yoshiki zurück, bevor er etwas dagegen machen konnte. Allein?, wollte er noch anhängen, doch dieses Wort fing sein Hirn gerade noch auf der Zunge ab und ersetzte es durch ein weniger unhöfliches: „Zum Beispiel…?“

Taiji zog eine Schnute und trat von einem Bein aufs andere. „Naja. Wir könnten Stop Bloody Rain üben gehen.“ Yoshiki glaubte ihm trotz des recht überzeugenden Gesichtsausdrucks keine Sekunde, dass er wirklich nachgedacht hatte. Taiji musste diesen Vorschlag schon länger im Hinterkopf haben.

„Wieso?“

„Weil du da scheiße bist.“

Yoshiki schloss die Augen und seufzte. Genau was er jetzt noch brauchte.

„Ich bin auch scheiße“, schob Taiji gedehnt nach. „Wir sind beide scheiße. In dem Song. Und ich werd nicht besser, solange mir hide da ständig ins Ohr dudelt.“

Yoshiki runzelte die Stirn und schenkte ihm einen schiefen, wenig begeisterten Blick. „Heute teilst du nach allen Seiten aus, hu?“

Beschwichtigend hob Taiji die Hände. „Alles was ich sage ist, dass ich dich mal solo hören will. Muss ja nicht heute sein. Alter…“

Eine halbe Minute lang taten sie beide so, als gäbe es plötzlich überall etwas total interessantes zu sehen: Taiji betrachtete eine Gruppe Mädchen, die gerade durch das Schultor traten, Yoshiki die Autos auf der Straße. „Ok“, sagte Yoshiki schließlich. „Lass uns Stop Bloody Rain üben.“
 

-X-
 

Sich auf dem Hocker aufrechter hinsetzend, bog Yoshiki den Rücken durch und streckte mit einem leisen Seufzen die Arme. Sie hatten in den letzten zwei Stunden wirklich große Fortschritte gemacht. Und an der Art, wie Taiji den Bass abstellte und ebenfalls seine Hände und Schultern dehnte, konnte Yoshiki sehen, dass nicht nur er mit dem Ergebnis zufrieden war. Eigentlich, dachte er, hatte das sogar Spaß gemacht. Vermutlich hätte jede andere Gestaltung des heutigen Abends in ein Tief geführt. Das Erfolgserlebnis hier glich diese schreckliche Zeremonie und dieses schreckliche Zeugnis aus und würde vielleicht, irgendwann in einer schöneren Zukunft, auch einen kleinen Beitrag dazu leisten, diese schrecklichen letzten Jahre einfach für immer hinter sich zu lassen. Yoshiki wusste, wenn er irgendwann auf diese Zeit zurückschaute, würde er nicht von erleben sprechen. Er hatte die meiste Zeit einfach nur überlebt. Doch Abende wie heute… waren gute Abende. Und das besserte seine Laune erheblich.

Kaum zu glauben, dass ein solcher Abend Taiji beinhalten konnte.

„Ist dir schon mal aufgefallen“, fragte Yoshiki, während Taiji in den Kühlschrank schaute, „wie viel besser das zwischen uns funktioniert, wenn wir einfach überhaupt nicht reden?“

Taiji tauchte mit einer Flasche Bier wieder auf. „Jap.“

„Vielleicht sollten wir das zu einer Grundregel machen.“

„Was?“, fragte Taiji und suchte auf hides Amp, auf der PA und schließlich zwischen den Sofakissen nach dem Flaschenöffner. „Auf Bandproben nicht mehr miteinander sprechen?“

„Ja.“

„Scheißidee, Alter. Aha!“ Der Bassist kehrte zum Kühlschrank zurück und bückte sich. „Dann können wir uns nicht mehr sagen, was gut funktioniert.“ Er öffnete mit dem wiedergefundenen Werkzeug das Bier.

„Du sagt mir ja auch immer nur, was scheiße ist.“

„Ja. Und im Umkehrschluss ist alles andere gut – was machst du denn da?“

Yoshiki war aufgestanden und hatte nach seiner Jacke gegriffen. „Wir sind fertig. Ich geh nach Hause.“

Taiji hob entgeistert die Arme. „Jetzt Alter. Ich hab mir grade ein Bier aufgemacht. Sei kein Arsch und trink eins mit. Du hast offiziell die High School bestanden und Stop Bloody Rain ist fertig. Ein bisschen feiern wirst du irgendwas davon ja wohl können, oder was.“

Nach einigen Sekunden des unschlüssig-neben-dem-Schlagzeug-Stehens legte Yoshiki seine Jacke wieder ab – diesmal auf den Hocker – und ging zum Kühlschrank hinüber. Eigentlich stimmte es. Er hatte keine bessere Abendgestaltung parat. Bis er zuhause ankam, wirkte bereits wieder das mütterliche Klavierverbot bei Nacht, müde war er nicht, Schulaufgaben hatten sich ein für alle Mal erledigt, Toshi war heute Abend damit beschäftigt, ein guter Sohn zu sein und mit seiner Mutter konnte er morgen noch nachfeiern… falls sie bis dahin denn etwas zu feiern in seinen Glanzleistungen sah. Er nahm also eine eigene Flasche aus dem Kühlschrank und den Flaschenöffner vom Bassamp und setzte sich in die andere Ecke des Sofas. Das Bier knackte und zischte.

Er legte den Flaschenöffner auf Patas Amp und lehnte sich wieder zurück. Plötzlich erschien ihm das Ganze doch etwas komisch. Seit ihrem Gespräch auf dem Dach war er nicht mehr mit Taiji allein gewesen, ohne dass Musik zwischen ihnen gestanden hätte und eigentlich war das kein Umstand, den er bedauerte. Yoshiki nahm einen großen Schluck Bier. Wenn er sich nicht noch ein wenig Toleranz antrank, endete das hier bloß wieder schrecklich.

„Manche Leute“, sagte Taiji trocken und Yoshiki drehte den Kopf in seine Richtung, „stoßen ja an, bevor sie trinken. Aber vielleicht bin ich da auch ein wenig komisch.“

Schnell ein wenig Toleranz antrinken, dachte Yoshiki, ganz schnell. „Uh-hu“, machte er und streckte die Flasche über die Weite des Sofas.

„Auf deinen Abschluss“, sagte Taiji.

„Auf das Ende einer echt beschissenen Ära“, sagte Yoshiki. „Kampai.“

Sie tranken.

„Hast –“, begann Taiji.

Yoshiki fiel ihm ins Wort. „Ich hab überhaupt kein Problem damit“, sagte er, „einfach schweigend zusammen zu trinken.“

Taiji schob die Unterlippe ein Stück vor, nickte dann aber. „Ok. Fair enough.

Eine ganze Weile saßen sie also nebeneinander, hingen ihren Gedanken nach und sagten nichts. Doch auch ohne zur Seite zu sehen konnte Yoshiki nicht anders, als die Blicke zu bemerken, die der Bassist ihm in regelmäßigen Abständen zuwarf.

„Ok“, sagte er schließlich, doch nicht mal halb so genervt, wie er eigentlich hätte sein müssen. Das Bier half tatsächlich. „Spuck’s aus.“

„Das, was du da eigentlich spielen solltest…“, sagte Taiji, „kannst du’s spielen?“

„Natürlich“ sagte Yoshiki mit einem kurzen Seitenblick. „Ich musste das proben.“ Was war das überhaupt für eine Frage… Er nahm noch einen tiefen Schluck.

Der Bassist nickte einmal und puhlte eine Weile am Etikett seiner Bierflasche herum. „Würdest… du’s jetzt tun?“

Yoshiki runzelte die Stirn und stellte Blickkontakt her. „Warum?“

Taiji zuckte mit den Schultern. „Ich mag Klassik hin und wieder. Und ich kann nicht Klavier spielen.“ Er erwiderte Yoshikis Blick. „Wär vielleicht ein schöner Abschluss des Tages, denkst du nicht?“

Ein paar Sekunden lang tat Yoshiki nichts, außer unentschlossen das neue Keyboard zu betrachten und sich zu fragen, ob er jetzt darauf wirklich Lust hatte. Einerseits war es spät und er trank gerade Bier und legte die Füße hoch. Andererseits war es schwer, von der Bitte nicht irgendwie geschmeichelt zu sein, auch wenn er sich nach allen Regeln der Kunst dagegen zu wehren versuchte, er mochte das Klavierspielen und das Lied, das er sich – wenn auch niemals mit der Intention, es wirklich zu spielen – für den heutigen Tag ausgesucht hatte. Er seufzte also und stellte das Bier auf den Boden. „Ok. Von mir aus“, willigte er ein und stand auf. „Aber erwarte nichts. Klavier ist… besser als das da.“

Taiji protestete ihm zu und lächelte schief. „Joa. Von mir aus. Ich hab keinen Vergleich.“

Ein wenig missbilligend zog Yoshiki die Mundwinkel nach hinten, doch nahm die Noten aus seiner Mappe und setzte sich ohne ein weiteres Wort an das Tasteninstrument. Auf einmal war er fast nervös. Das fand er seltsam. Er war zwar ein im Grunde schüchterner Typ, das stimmte, doch er spielte jetzt seit vierzehn Jahren Klavier und da gab es nichts mehr, das ihn abschreckte. Keinen Grund zur Aufregung. Publikum, kein Publikum. Egal. Er legte die Finger auf die Tasten. Es ist Taiji, dachte Yoshiki, gerade als er zu spielen begann. Es war schwieriger, vor Leuten zu spielen, von denen man wusste, dass sie einen kritisch betrachteten. Oder nicht mochten. Und, dachte er weiter, obwohl er es nicht mal in Gedanken hören wollte, es war besonders schwer, wenn man sich um die Meinung der betreffenden Personen scherte. Er hätte es geleugnet, wenn er gekonnt hätte, doch: Taijis Kommentare zogen ihn runter, wenn sie schlecht waren. Auf irgendeiner Ebene war ihm sein Urteil also… Nein, er wollte wirklich nicht 'wichtig' sagen. Bewusst war vielleicht ein besserer Ausdruck. Ja. Und jetzt: Kopf aus! Andante espressivo, mein Herr!

Yoshiki machte sein konzentriertes Klaviergesicht und ließ sich auf das Gefühl ein, wie die Zusammenarbeit vieler, vieler Muskeln schließlich Melodie entstehen ließ, verlor sich in den Noten und der Bewegung und dem Gefühl. Doch plötzlich dachte er: Wie Taiji es wohl findet? Und er wusste, er musste eine Antwort haben.

Yoshiki persönlich machte die Augen ja bei klassischer Musik gerne zu, zumindest, wenn er nicht selbst spielte. Als er zur Seite schaute, wurde ihm allerdings bewusst, dass Taiji ihn sehr eindringlich beobachtete. Das war… ein bisschen gewöhnungsbedürftig. Yoshiki richtete den Blick wieder auf die Tastatur und versuchte, sich nicht davon irritieren zu lassen. Was für eine Antwort war das nun?

Als er geendet hatte, passierte eine gefühlte Ewigkeit nichts.

„… Tadaaa“, machte er nach etwas, das trotz allem nur einige wenige Sekunden gewesen sein konnten, nur um die merkwürdige Stille zu beenden.

Taiji zog eine Schnute, tippte mit den Fingern ein paar Mal auf die Sofalehne und sah dann, das erste Mal in den letzten Minuten, weg. „Ok“, sagte er dabei, mit einem gesetzten Nicken, als müsse er sich selbst etwas eingestehen. „Das war wundervoll. Danke.“

„Ironie?“ Yoshiki kam hinüber, sammelte sein Bier ein und setzte sich aufs Sofa zurück.

„Nein. Arsch.“

„Bitte."

Eine Weile saßen sie wieder schweigend nebeneinander und nippten in ihrem Bier.

„Weißt du, was diesem Raum fehlt?“, fragte Taiji irgendwann.

„Du meinst neben einem gescheiten Anstrich, einem Waschbecken, einer Tonstudio-Einrichtung und einer weniger fischigen Grundnote?“

„‘ne Anlage. Wenn man einfach so dasitzt, ist das schon relativ unspektakulär.“

„Der Raum war auch nicht zum einfach so dasitzen gedacht“, murmelte Yoshiki.

„Mmh.“

Eine Viertelstunde später stellte Yoshiki die leere Flasche neben dem Sofa ab und seufzte.

„Was?“, fragte Taiji.

„Ich wünschte, die Toiletten wären nicht so weit weg.“ Ein ganzes Stockwerk und einmal über den Eingangsbereich… es war ein Trauerspiel.

„Tragisch“, spendete der Bassist ihm Mitleid.

Yoshiki seufzte noch einmal. Toshi hätte ihm vielleicht angeboten, ihn hinzutragen. Aber das hier war leider nicht Toshi. Also los. Auf drei. Eins, zwei, und dr - Er stand auf und der Raum schwankte kräftig. „Wow“, machte Yoshiki und setzte sich wieder.

„Was?“, fragte Taiji.

„Ich bin… betrunkener als ich dachte. Glaube ich.“ Dabei fühlte er sich eigentlich überhaupt nicht so dusselig! Yoshiki hielt sich den Kopf und wartete, bis der Raum aufhörte, sich zu drehen. Dann startete er einen erneuten Versuch des Aufstehens. Besser.

Der andere Junge beäugte ihn kritisch. „Hast du was gegessen?“

„…ja?“

„Wann?“

„Heute Morgen beim Frühstück.“

Taiji verdrehte mit einem Seufzen die Augen. Der Schlagzeuger war einfach sturzbesoffen. Er nickte nach rechts. „Wunderbar. Schau mal auf den Kühlschrank. hide bunkert da Scheiß.“

Doch Yoshiki hatte einen, wie er fand, viel besseren Vorschlag. „Wie wär’s mit ich geh pissen und du schaust auf den Kühlschrank?“ Er schaute gar nicht mehr zurück um zu sehen, mit welcher Reaktion diese Anregung aufgenommen wurde, sondern drehte sich stattdessen auf den Ballen um, winkte noch einmal über die Schulter und verschwand nach draußen.
 

Als er wiederkam, hatte Taiji eine Schachtel Waffeln mit Cremefüllung zu Tage gefördert. Er reichte Yoshiki einen der einzeln verschweißten Packen. Dieser setzte sich, nestelte eine halbe Minute am Plastik herum, gestand sich ein, dass das nichts wurde und reichte sie mit einem Seufzen Taiji. Knisternd löste dieser die Waffel aus ihrer Verpackung und gab sie dem Schlagzeuger zurück.

„Ich versteh nicht, wie hide sich sowas reinschieben kann“, sagte Yoshiki und drehte die Süßigkeit einmal misstrauisch. Sie roch intensiv nach Puderzucker und fühlte sich weich an, wie Pancakes. „Das hat doch keinen einzigen natürlichen Bestandteil mehr.“

Taiji verdrehte die Augen. „Iss einfach“, sagte er.

Yoshiki zierte sich noch ein wenig und piekte die unbekannte Lebens(?)form, biss dann aber ab. Die Waffel schmeckte lecker und sahnig und vanillig. Nochmaliges abbeißen. Zu perfekt, um echt zu sein. Aber scheiße – so sahnig! Er steckte sich den Rest in den Mund. „Das Zeug ist pervers“, befand er kauend.

Taiji packte noch eine aus und reichte sie ihm. „Kann ich dich was fragen?“

„Von mir aus.“ Yoshiki knabberte am Teigrand. Er war ein bisschen zu müde und zu beschwipst und zu… gleichgültig, um sich groß hinter seine Widerborstigkeit zu klemmen.

„Warum hast du das heute gemacht?“

Er drehte den Kopf leicht nach rechts, um Taiji ansehen zu können. „Was meinst du?“

„Naja. Du hast den ganzen Gesichtern einen wichtigen Moment in ihrem Leben versaut. Den meisten zumindest.“

„Rebellion gegen das System“, antwortete Yoshiki knapp. Zu knapp, wie ihm nach einigen Sekunden klar wurde, in denen der andere Junge einmal wissend nickte.

„Ok“, sagte Taiji. „Das glaub ich dir soweit. Und jetzt noch der wahre Grund.“

Yoshiki ließ die Waffel, von der er gerade noch einmal abgebissen hatte, in den Schoß sinken und legte den Kopf auf der Lehne ab, um an die Decke sehen zu können. Er sah aus als würde er nachdenken. Vermutlich darüber, ob er Taiji erzählen wollte, was es zu erzählen gab. Er warf dem Bassisten einen kurzen Seitenblick zu. Dieser wartete ab.

„Am Anfang der Junior High“, sagte Yoshiki schließlich langsam, Blick immer noch an die Decke gerichtet, „in der siebten Klasse. Da hatten wir einmal die Hausaufgabe aufzuschreiben, was wir werden wollen und warum und was wir dann den ganzen Tag so machen. Man musste aufstehen und es den anderen vorlesen. Alle hatten irgendwas aufgeschrieben – Koch, Geschäftsmann, Sekretärin, … so was. Dann kam ich dran. Und ich hatte Rockstar geschrieben. Ich kam überhaupt nicht dazu, zu erzählen, warum ich das machen will, da hat mir der Lehrer schon das Blatt aus der Hand gerissen und mich gefragt, ob das ein Witz sein soll und warum ich so einen Unsinn schreibe. Dann hab ich ihm gesagt, dass ich das ernst meine. Und rate mal, was dann passiert ist.“

„Du musstest den Rest der Stunde draußen auf dem Gang sitzen und durftest nicht mehr mitmachen?“, riet Taiji. Das war eine der üblichen Strafen, die ihm gerade einfiel. Ihm war aber schon klar, dass es nicht die richtige Antwort sein würde.

Und tatsächlich antwortete Yoshiki: „Nope. Ich musste nach vorne kommen und jeder in der Klasse musste aufstehen und mir sagen, warum das Unsinn war. Da waren zwanzig Kinder in meiner Klasse. Es hat die ganze Stunde gedauert und danach hab ich geheult. Ich konnte keinem von ihnen mehr in die Augen schauen. Am Vormittag hatte ich mich noch mit den Jungen neben mir zum Fußballspielen verabredet. Dann bin ich nicht hingegangen. Ich meine - wie sollst du dich mit Leuten anfreunden, die solche Sachen zu dir gesagt haben.“ Yoshiki zog sich aus den Bauchmuskeln wieder nach oben und weiter nach vorne und griff nach seiner Bierflasche. „Seitdem stand in meinen Zeugnissen immer, dass ich mich nicht in die Klassengemeinschaft einbringe und damit liegt die Schuld bei mir. Perfide, wenn man drüber nachdenkt. – Mist.“ Das Bier war immer noch leer.

„Trinken wir noch eins?“, fragte Taiji.

Yoshiki fiel kein Grund ein, warum nicht. Er zuckte mit den Schultern. „Trinken wir noch eins.“

Eine leichte Bewegung ging durch das Sofa, als der Bassist aufstand, um Nachschub zu holen. Als er wieder saß klinkten sie die Flaschen aneinander und nahmen beide einen Schluck.

Taiji legte einen Fuß auf hides Amp ab. Yoshiki aß seine Waffel auf. Sie schauten beide an die Decke.

„Was Salziges wär jetzt geil“, sagte Yoshiki und musste aufstoßen. Er klopfte sich auf die Brust. „‘Tschuldigung.“ Vanillewaffel und Bier – keine gute Kombination.

„Und warum willst du Rockstar werden?“, fragte Taiji und drehte den Kopf auf der Lehne nach links.

Yoshiki schnaubte. „Warum will irgendjemand nicht Rockstar werde…“

„Wichser“, sagte Taiji so entspannt, als stünde diese Einschätzung nicht zur Diskussion.

Sie schwiegen kurz. Dann antwortete Yoshiki. „Weil ich nichts anderes kann. Weil ich nichts anderes will. Weil ich keine Lust hab, irgendwo ein Rädchen im System zu sein. Weil ich Probleme hab und anders nicht drauf klar komme. So was. Alles. Und so. Keine Ahnung.“ Er trank. „Ist schon eine Zeit lang her, dass ich das ausformuliert hatte.“

Taiji machte „Mmh“ und nickte. Dann grinste er. „Und was machst du dann so den ganzen Tag?“

Yoshiki musste ebenfalls lächeln. Ja, das war eine schönere Fantasie. „Weiß nicht. Ich mach Musik. Ich spiel Instrumente. Ich hock in meinem eigenen Tonstudio. Ich rauche zu viel und trink manchmal einen. Ich les Fanpost. Ich nehm verboten lange Bäder. Ich kauf mir Zeug, das ich nicht brauche, weil ich’s kann. Ich mach alles, was ich will und Leute müssen es mir durchgehen lassen, weil ich berühmt bin. Ich geb Interviews. Vielleicht mach ich mal ‘nen Fotoshoot. Ich trag die Haare lang.“

Der andere Junge drehte den Kopf ein Stück, um ihm einen schiefen Seitenblick zuwerfen zu können. „Lässt du jetzt wachsen?“

„Ja.“ Yoshiki nahm noch einen Schluck Bier. „Und was machst du als Rockstar den ganzen Tag?“

„Deine Vorschläge waren gar nicht schlecht. Ich würde vielleicht nicht so viel Baden und stattdessen Fangirls abschleppen ergänzen.“

„Daran denkst du?“

Taiji hob eine Hand zu einem seichten Winken nach außen, was signalisierte, dass er seine Gedanken für durchaus normal und natürlich hielt. „Einer der Gründe, warum man berühmt sein will, sind immer die Fans, die alles für einen tun… und wenn ich alles sage, dann meine ich alles.“ Taiji betrachtete kurz und etwas nachdenklich seine Fingerspitzen, wo sich durch den jahrelangen Kontakt mit Stahlsaiten eine dünne Schicht Hornhaut gebildet hatte. „Ein schicker Wagen wäre auch noch nett.“

„Du bist so oberflächlich…“

Ein gleichgültiges Schulterzucken antwortete Yoshiki. „Kann dir doch egal sein. Ist ja mein Leben.“

Der Schlagzeuger verzog das Gesicht. Er hatte Recht… es war ihm nie aufgefallen, aber es war schrecklich, wenn andere Leute Recht hatten! Dann aber riss er sich zusammen. Es gab noch etwas, das er fragen wollte – jetzt erschien ihm eine gute, wenn nicht sogar die einzige Gelegenheit. Er richtete sich etwas auf und redete sich ein, dass es nur war, um es sich bequemer zu machen. „… glaubst du denn, dass… das geht?“

„Rockstar?“

Yoshiki nickte.

„Hmm.“ Taiji setzte sich ebenfalls aufrechter hin. „Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich nichts unversucht lassen werde.“ Sein Blick streifte Yoshiki. „Und wenn ich dich inzwischen ein bisschen kenne, dann du mit Sicherheit auch nicht. Und ich glaube“, hängte er an, wieder an dem Etikett herumnestelnd „es gibt nichts Mächtigeres als einen Menschen, der für etwas brennt.“

Yoshiki konnte nicht anders, als ein klein wenig zu lächeln.

„Was?“, fragte Taiji und sah kurz von seiner Flasche auf.

„Nichts“, sagte Yoshiki instinktiv abwehrend, aber lächelte gleich darauf weiter. „Es… tut nur irgendwie gut, das mal zu hören. Alle anderen sagen immer nur so was wie ‘In Ordnung, mach du mal‘. Aber sie… glauben es nicht wirklich. Das ist manchmal schlimmer als diejenigen, die dir gleich ins Gesicht sagen, dass du irgendwann an einem Straßenstand Hähnchenspießchen wenden wirst.“

Taiji schnaubte, doch es richtete sich eindeutig nicht an Yoshiki. „Ist doch scheißegal, was die Leute reden“, sagte er dann abschätzig. „Die wissen halt nicht, wie das ist. Ich meine… wenn die Leidenschaft dich ruft, dann folgst du. Was willst du sonst machen?“ Er nahm einen weiteren Schluck Bier. „Alle echten Momente im Leben kommen doch irgendwie davon, dass man was wirklich, wirklich fühlt. Und dann muss man damit auch was tun. Du sitzt ja nicht einfach da und denkst dir: Boah geil, Musik, und dann kommt jemand und sagt Ne und du so: Ok, dann nicht. Das passiert nicht.“

Yoshiki musste leise lachen.

„Ich meine“, fuhr Taiji fort und pfriemelt weiter das Etikett von der Flasche, „klar. Wenn man weniger… besessen - oder was auch immer - wäre, insgesamt, dann wäre man vielleicht auch… zufriedener. Oder ruhiger. Oder so was. Aber ich glaube, man wäre auch irgendwie… leer. Hohl. Und dann läufst du zwar noch rum, aber eigentlich bist du tot.“

Eine Weile sagte Yoshiki nichts, sein Gesicht ausdruckslos. Vielleicht, weil er nicht verstand, was Taiji ihm sagen wollte. Vielleicht, weil er es nur zu gut verstand und nicht wahrhaben wollte, mit wem er diese Konversation führte. „Du bist ein melancholischer Trinker, oder?“, fragte er dann mit einem Seitenblick.

Taiji schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht. Ich wollte nur sagen, Leidenschaft kommt ja von Leiden. Es geht nicht darum, dass alles immer schön ist und glitzert und Leute um einen rumjubeln, die alles geil finden, was man tut. Es geht darum, …“

„Es unbedingt tun zu müssen“, vollendete Yoshiki den Satz, „um noch irgendwie leben zu können, bevor man stirbt.“

„Ja“, sagte Taiji überrascht und sah ihn an, als sehe er ihn zum ersten Mal. „Genau.“

Yoshiki schaute zurück. Ihre Blicke trafen sich und keiner von ihnen sah weg, wie sie das sonst machten. Da lag irgendetwas Seltsames in Taijis Gesichtsausdruck und Yoshiki identifizierte es fast unmittelbar als das gleiche seltsame Etwas, das ihn schon vorhin am Keyboard irritiert hatte.

Doch noch bevor er Taijis Blick einordnen konnte, überbrückte der Bassist die Armlänge Abstand zwischen ihnen und legte seine Lippen auf Yoshikis. Dieser hatte, durch jahrelange Übung an Drumsticks, innerhalb von Zehntelsekunden am Flaschenhals umgegriffen, ohne das Bier abstellen zu müssen. Damit war er mehr als bereit, Taiji das Ding wie eine Keule über den Kopf zu ziehen. Doch er tat es nicht. Er kam zwar Taiji nicht entgegen, doch er zog sich auch nicht zurück – wie ein kleiner Dieb saß er da und versuchte sich einzureden, dass es eine vollkommen rationale Erklärung für sein Verhalten gab. Doch welche das sein sollte, das wusste er nicht. Seine Hirnrückwand, an der sonst Gedanken wie Werbetafeln aufflackerten und wieder erloschen, war schwarz. Stromausfall. Testbild. Er hatte keine Ahnung, wie das hier zu allen Dingen in der realen Welt passte – zu ihrer, Nein, seiner Band, zu seinem Leben, zu seinen Plänen für die Zukunft, zu der Tatsache, dass er Taiji doch eigentlich überhaupt nicht wirklich leiden konnte. Doch diese Welt außerhalb der kleinen Blase, in der er und Taiji auf diesem Sofa saßen, wurde kleiner und kleiner und war schließlich verschwunden. Und innerhalb der Blase... war... es...

Taiji löste den Kuss und Yoshiki nutzte die Gelegenheit sofort. „Warum –“, begann er.

„Shh.“ Der Bassist legte ihm zwei Finger an den Mund und schüttelte den Kopf, bevor er die Finger wieder durch seine Lippen ersetzte. Yoshiki reagierte immer noch nicht. Er musste noch nachdenken und weder sein Pegel noch Taijis Lippen halfen dabei sonderlich. Warum hatte er angefangen. Und diese Frage konnte auf mindestens zwei Arten enden, das hatte Taiji vor einigen Wochen ganz richtig erkannt. Warum der Bassist das machte, das konnte Yoshiki sich nach wie vor nicht erklären. Und er bezweifelte, dass er ohne Taijis Mithilfe sonderliche Fortschritte bei der Beantwortung dieser Frage machen würde. Aber warum er ihn nicht auf der Stelle umbrachte, das war bei Weitem das größere Rätsel. Wow. Yoshiki hatte sich ja schon immer für einen undurchsichtigen Mann gehalten, aber dass er so mysteriös war, war auch ihm neu.

An dieser Stelle bemerkte er, dass seine rechte Hand irgendwie auf Taijis Oberarm gelandet war, als dieser sich zu ihm gebeugt hatte – um ihn abzuhalten, oder um ihn zu stützen? Diese Dinge lagen so nahe beieinander, dachte Yoshiki und wusste im selben Moment nicht mehr, ob er es auf die Rolle seiner Hand oder viel mehr bezog. Doch eigentlich war seine linke Hand auch interessanter. Diese hielt immer noch den Hals der Bierflasche umklammert – nicht als Getränk sondern als potentielle Waffe. Langsam löste er die hinteren drei Finger vom Flaschenhals und griff wieder um.

Eine Situation.

Andere Situation.

Alles lag so nah beieinander.


Nachwort zu diesem Kapitel:
So meine Lieben!
An dieses Ende anschließend hätte ich jetzt eine...... Erwachsenenszene. (Keine Sorge, nicht SO erwachsen... aber etwas erwachsen.) Aber ich kenn meine Charaktere zu gut, deswegen kann ich nicht mehr ganz einschätzen, ob das aus eurer Sicht zu schnell geht. Man kann das ohne Probleme auch noch ein paar Kapitel später anbringen, deswegen überlass ich jetzt euch, ob ihr's hier wollt oder bei der nächsten Gelegenheit.
Jo. Feedback if you please. :'D Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  SamAngel
2017-06-26T16:30:30+00:00 26.06.2017 18:30
Och Toshi..nur'n Traum..aber mit einem Traum faengt ja alles mal an, ne? *breit grins*

Armer Hide..aber Terumi hat Recht und ich mag, dass die beiden die Konversation hatten.

Ich stimm NatsUruha zu..bring it on :D

LG
Sam
Von:  NatsUruha
2017-06-24T11:23:33+00:00 24.06.2017 13:23
Aaach mist.. wäre ja zu schön gewesen.. wäre es kein Traum... sondern Realität....

Das nen ich mal ein dezenten rausschmiss..

Ich hab kein datenvollumen mehr... xD
Kann die vids also nicht anschauen.. x.x
Bzw. Erst nächste woche.. x')

Mnhhhhh schwer zu sagen.. ob es zu schnell geht...
Also alles in mir schreit... hau raus die scene.. xD

Lg



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