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Forever Dream

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Hallo ihr Lieben!
Dieses und vermutlich das nächste Kapitel werden ein wenig sehr fluffig. Falls dadurch der Spannungsbogen abfällt, entschuldige ich mich im Voraus. Seid aber versichert, es gibt eine weiterführende Storyline - just have to get there.
Mit Patas Szenen habe ich aus mir unerfindlichen Gründen noch so meine Probleme. Ich hab aber den Eindruck, dass es immer besser wird. Egal. Work in Progress.
Ich hab außerdem beschlossen, ein Riesendoppelkapitel drauß zu machen. Das hier und Teil zwei gehören also auch wirkungsmäßig zusammen, deswegen ist es blöd, dass jetzt nur ein Teil fertig ist... Ich hatte mir als persönliche Deadline für all das eigentlich morgen gesetzt, aber ich fürchte, das wird utopisch........... Großes Sorry von mir an mich selbst.
Ich wünsche euch trotzdem viel Spaß!

P.S.
Ich möchte noch zwei Dinge zum letzten Kapitel anmerken:
Erstens rülpst Taiji in der Gegend rum (xD armer Yoshiki!),
zweitens dachte ich bei 'Subjekt, Objekt, Prädikat' an die die japanische Reihenfolge des Satzbaus... Hat anscheinend nicht funktioniert (º^º).

Ok, jetzt bin ich still. Komplett anzeigen

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And on the 8th Day (Part 1)

Toshi saß im Bus und betrachtete den schmalen Streifen Meer, der hinter den Häusern auftauchte und wieder verschwand. Kaum zu glauben, dass es schon wieder September war. Der letzte Monat war zwischen Proben, Familie, seinen Sportclubs (die in den Ferien genauso stattfanden wie während der Schulzeit) und hin und wieder doch mal in die Bücher schauen wie im Flug vergangen. Jetzt lag die erste Schulwoche bereits wieder hinter ihnen. Toshi hatte sein erstes Baseballturnier des Trimesters gehabt und seine Ferienhausaufgaben alle bestanden, und Yoshiki hatte schon wieder etwa ein Drittel der Unterrichtszeit damit zugebracht, irgendwo in der Sonne zu liegen. Ausnahmen wie Herr Tanaka bestätigten die traurige Regel: sobald man einmal als hoffnungsloser Fall eingestuft worden war, kümmerte sich eigentlich niemand mehr groß darum, was man tat oder nicht. Es war also vollkommen ausreichend, wenn Yoshiki sich irgendwo auf dem Schulgelände aufhielt und niemandem auf die Nerven ging. An besonders schönen Spätsommertagen beneidete er seinen Freund ein wenig um diese Freiheit. Meist aber nicht.

Doch Toshi für seinen Teil war in dieser Woche ohnehin mit der Gesamtsituation unzufrieden. Und wenn er ehrlich mit sich war, dann wusste er auch wieso. Es war nicht das Ende des Sommers. Es war nicht das verlorene Baseballspiel. Er hatte gehofft – und eigentlich fest damit gerechnet – hide am Wochenende, spätestens aber im Lauf der Woche wieder auftauchen zu sehen. Doch der Samstag, der Montag – an dem er selbst nicht hier gewesen war, sondern Volleyball gespielt hatte - und der Donnerstag waren vergangen und nichts, aber auch gar nichts hatte sich geregt. Nur die Tatsache, dass hides Gibson nach wie vor stand, wo er sie zurückgelassen hatte, gab Grund zu der Annahme, dass er überhaupt nochmal zurückkommen würde – und mit jedem Tag wurde die Befürchtung stärker, dass sie eines Tages einfach klanglos verschwunden sein könnte.

Jetzt war es wieder einmal Sonntagnachmittag und Toshi versuchte, sich keine zu großen Hoffnungen zu machen, als er über den Parkplatz stiefelte und ein schwülwarmer Ostwind ihm die Haare ins Gesicht wehte. Er hatte Enttäuschungen satt. So satt. Dennoch fiel es ihm schwer. Es nieselte leicht und auf dem Weg die Treppe hinunter bemühte er sich, die wirren, feuchten Strähnen wieder zu glätten. Wetter in Chiba – die Frisur sitzt nicht. Seufzend steckte Toshi den Schlüssel ins Schloss. Nach einer halben Drehung zeigte zusätzlicher Widerstand, dass er den Riegel bereits mitdrehte. Es war schon jemand da. Sein Puls ging um etwa fünfzehn Schläge pro Minute nach oben. Er öffnete die Tür und noch bevor er etwas sah, hörte er das Geräusch von Stahlseiten. Toshi lugte um die Tür herum. hide stand neben seinem Verstärker und hielt seine Gitarre umklammert, offenbar ein wenig erschrocken darüber, nicht mehr allein zu sein. Nervös.

„hide!“, rief Toshi glücklich und schloss die Tür hinter sich. Er ist zurück! Es war ihm vorher nie aufgefallen, aber: Das war sein Lieblingssatz!

Der Gitarrist räusperte sich. „Ja“, sagte er peinlich berührt und setzte sofort einer Entschuldigung an: „Tut mir leid, dass ich – hmpf!“

Bevor er den Satz hätte zu Ende bringen können, hatte Toshi die wenigen Schritte durch den Raum hinter sich gebracht und ihn an sich gezogen. Es qualifizierte nicht als die schönste Umarmung der Welt. Das Neonlicht flackerte und summte leise, hide war in den ersten Sekunden so perplex, dass er den Überfall einfach stocksteif über sich ergehen ließ und da war eine Gitarre zwischen ihnen, die mehr wert war, als Toshis Vater im Monat verdiente (Netto). Doch eine Hälfte dieser Umarmung war immer noch hide und das katapultierte sie mindestens in Toshis persönliche Top Ten. Er versank in einem Strudel aus Glückshormonen, ausgelöst durch den Jungen in seinen Armen - das weiche Material seines Oberteils und die Wärme des Körpers darunter, das seichte Heben und Senken seines Brustkorbs. Alter Zigarettenrauch und ein Hauch von Vanille stiegen Toshi in die Nase.

Das seltsame Gefühl, das sich die ganzen letzten Wochen wenn überhaupt als leichte Bauchschmerzen geäußert hatte, kehrte mit voller Wucht zurück: Schwindel, Herzklopfen und alles. Als der Gitarrist schließlich für ein paar Sekunden ebenfalls eine vorsichtige Hand auf seinen Rücken legte, wünschte Toshi sich, der Moment würde ewig halten. Scheiße, dachte er und öffnete die Augen halb. Es gab definitiv keinen Zweifel mehr: Es hatte ihn so was von erwischt. Vom ersten Moment an, mit dem ersten Blick, mit dem ersten He hatte es ihn erwischt, so plötzlich, so unvorhersehbar und so heftig, als hätte ihn ein Tsunami mitgerissen. Er war verliebt in hide. Und das war wundervoll und schrecklich und unglaublich verwirrend, und es war all das auch noch auf einmal.

Toshi gab sich vier Mississippi. Dann ließ er hide los und machte einen halben Schritt zurück.

„Wie geht es dir? Seit wann bist du wieder hier? Wo wohnst du jetzt?“

„Ähm…“, begann hide zögerlich und kratzte sich am Kopf. „Also… Sonntagnachmittag. Letzten. Ja. Und mir geht es…“ Er schüttelte den Kopf, stellte die Gitarre weg und sank auf die Sofalehne. „… den Umständen entsprechen“, schloss er von dort aus. „Gerade geht mir ziemlich die Muffe, wenn ich ehrlich bin. War… Waren die anderen sehr sauer?“ Er schaute scheu zu Toshi nach oben. „… bist du sehr sauer?“

Toshi schüttelte den Kopf. Standbein – Spielbein. „Nein. Du bist wieder da, der Rest ist mir egal. Also… nicht egal, aber… ach, du weißt schon. Bei Pata und Taiji weiß ich das nicht genau. Ich denke nicht. Yoshiki… Uhm.“ Er machte eine wellenförmige Handbewegung. „Ändert sich täglich. Aber ich denke, tief drinnen war er nur besorgt. Das darfst du nicht vergessen, weil es, ähm, zeigt sich manchmal auf… eigensinnigen Wegen.“

hide schloss für einen Moment die Augen. „… er reißt mir den Kopf ab, oder?“

Toshi hob die Schultern, aber konnte nichts gegen sein Grinsen tun. Vermutlich war es schon die ganze Zeit da gewesen, doch erst jetzt fiel es ihm auf. Und es wollte einfach nicht verschwinden. Scheiße! Er war doch kein… kein… Grinskissen! … Sein Gehirn war anscheinend so sehr mit der Gesichtsmuskulatur beschäftigt, dass es keine Leistung an anderer Stelle mehr bringen konnte. Wundervoll.

hide biss sich auf die Unterlippe, trommelte mit den Fingern auf seine Knie, bemerkte was er tat und erhob sich ertappt wieder von der Lehne, um zu seinem Wasser hinüberzugehen, das er auf seinem Verstärker abgestellt hatte. Er wich Toshis Blick aus, als er fragte: „Also… wisst ihr alle alles, huh?“

„Alles… alles wäre jetzt zu viel gesagt. Aber soweit schon.“

„Oh…“ hide knetete beklommen ein paar Mal die Plastikflasche, bevor er einen kleinen Schluck nahm. Reine Ausweichhandlung aus Nervosität. Er war nicht durstig.

Unter dem Vorwand, die Partituren durchsehen zu wollen, die auf der PA lagen, machte Toshi noch drei Schritte von hide weg. Offensichtlich war ihm gerade alles ein wenig zu viel. Vielleicht half etwas Abstand. „Was hast du denn die ganze Zeit gemacht?“, fragte er von dort aus.

hide schraubte die Flasche wieder zu und stellte sie zurück. „Ich weiß nicht. Nachgedacht. Nicht nachgedacht. Mich ein bisschen… geerdet. Keine Ahnung. Klingt bescheuert.“

Toshi schüttelte den Kopf. „Hat es geholfen?“

Der andere Junge hob die Schultern und betrachtete den Unsinn an der Kühlschranktür. Taiji hatte ein Bild von der Kleinen aus der Orangeneiswerbung aufgehängt und Toshi einen Magneten in Form einer Tomate. Mehr Unbekanntes gab es dort nicht zu sehen. „Ja. Nein. Teilweise.“

Toshi nickte und versuchte, dabei möglichst verständnisvoll auszusehen. „Und wo wohnst du jetzt?“, wiederholte er dann seine letzte Frage, die irgendwo auf der Strecke geblieben war.

„Oh. In einem kleinen Hostel in Shinjuku“, sagte hide betont sachlich.

Toshi runzelte die Stirn. „Hostel? So richtig mit Mehrbettzimmer und Gemeinschaftsdusche?“

„Ja, ähm… ja. Aber das… ist nicht so schlimm. Es geht schon. Ja.“ Er wandte sich schnell seinem Verstärker zu, um das aufsteigende Rot seiner Wangen zu verbergen. Blöderweise hatte niemand etwas an den Einstellungen verändert, seit er das letzte Mal hier gewesen war, also setzte der Gitarrist sich schließlich zurück auf die Sofalehne und kaute an den Fingernägeln.

„Und du –“, fing Toshi gerade an, als draußen jemand die Treppe hinunterpolterte. An der Art, wie die Person sich halb gegen die Tür warf, erkannte Toshi bereits Yoshiki. „Würdest du mir glauben“, schimpfte dieser als er den Raum betrat genervt und schmiss die Tür hinter sich zu, „dass ich schon wieder-“ Dann sah er hide.

„… Hallo“, sagte hide unbehaglich.

Yoshiki starrte erst einmal. Ein Teil von ihm wollte hide einfach um den Hals fallen. Optional auch mit Heulkrampf. Der andere Teil aber blieb wo er war und verschränkte schließlich mit versteinertem Gesichtsausdruck die Arme.

hide wurde ein Stückchen kleiner. „… Entschuldigung?“

Yoshiki schüttelte abweisend den Kopf.

Der Junge auf dem Sofa schaute hilfesuchend zu Toshi. Da dieser allerdings in Yoshikis Sichtfeld stand, blieb ihm nur eine etwas hilflose Grimasse. hide fasste sich ein Herz. „Ok. Ähm. Das… ich weiß nicht, was da passiert ist, ich war einfach total fertig und hab nicht nachgedacht und das war so eine dumme spontane Überreaktion, ich hab das Geld wieder und es tut mir wirklich – “

„hide“, unterbrach ihn Yoshiki schneidend. hide hörte auf zu brabbeln und sah ihn an. „Du bist dir im Klaren darüber, dass wenn du mir gesagt hättest, wo du hinwillst, ich dir das Geld gegeben hätte? Nicht mal geliehen – gegeben? Stattdessen tust du so, als wäre alles in Ordnung und lässt mich in dem Glauben, dass – was ist los in deiner Welt!“ Er löste die Verschränkung seiner Arme und machte ein paar aufgebrachte Schritte durch den Raum, in Richtung hide, dann von ihm weg, dann wieder auf ihn zu. “Wir haben uns totale Sorgen gemacht, du Vollarsch! Meine Mutter war unglaublich sauer! Und dann sagst du auch noch Pata, er soll mir nicht sagen, wo du bist und deinen Eltern auch nicht und mir sagst du, ich soll niemandem sagen, was passiert ist – damit stellst du ihn total in die Mitte und mich auch! Freunde machen so was nicht! Und dann hast du es jetzt wirklich in fünf Wochen – fünf Wochen! – kein einziges Mal geschafft, dich bei mir zu melden! Ein Anruf, hide! Nur einer! Das hätte mir gereicht!“ Yoshiki trat einmal beherzt gegen den Mülleimer, der scheppernd in der Ecke zwischen Sofa und Kühlschrank landete. Zum Glück war er leer. „Echt, Scheiß-Aktion! Alles davon! Wie soll jemand mit dir befreundet sein, wenn man nicht drauf vertrauen kann, dass – Ich meine, gibt es irgendeine anständige Gehirnzelle da drin, die eine Vorstellung davon hat, wofür Freunde da sind?!“ Er hatte vor hide geendet und deutete mit einer Hand auf dessen Kopf. Die andere hatte er in die Hüfte gestemmt.

Der Gitarrist schluckte einmal, von dem Ausbruch vollkommen überrumpelt und lugte eingeschüchtert zu der vor ihm aufragenden Gestalt Yoshikis hinauf. Für so einen schmalen Kerl konnte er ziemlich furchteinflößend sein. „… dafür, anderen Freunden zu verzeihen, wenn die sich aufführen wie Vollärsche?“, piepste er vorsichtig.

„Gnaaargh!“ Yoshiki hob beide Hände zu einer würgenden Geste und funkelte hide an. „Wenn wir damit jetzt nicht schon so schlechte Erfahrungen hätten, würde ich dir so eine reinhauen!“ Hinter Yoshiki ging Toshi nun vorbeugend in Hab-Acht-Stellung.

hide zog eine Schulter hoch und duckte sich gleichzeitig noch ein wenig. „Das kannst du machen, wenn es dir hilft“, bot er an.

Doch Yoshiki schnaubte, ging in die Knie, sagte „Du Trottel!“ und umarmte ihn. Nach einem kurzen Moment umarmte hide ihn zurück. „Es tut mir leid“, sagte hide irgendwo in Yoshikis Nacken. „Was auch immer“, murmelte Yoshiki kaum hörbar.

„Awww. Rührend“, sagte eine Stimme. Yoshiki wusste nicht, wie lange Taiji bereits am Türrahmen lehnte, doch anscheinend lange genug. Er ließ hide los und richtete sich wieder auf.

Der Bassist betrat den Raum vollständig und machte eine grüßende Geste. „Willkommen zurück, Fopdoodle.“
 

-X-
 

Toshi grinste auch am Montag und am Dienstag und es hielt weiter an, bis in den Mittwoch hinein. Das war ein bisschen anstrengend, aber die Welt war einfach schön. Schrecklich verwirrend schön.

hide hätte sich dieser Euphorie nicht ganz anschließen wollen, denn er war in erster Linie müde. Seit vorgestern teilte er sich das Vierbettzimmer, in das er sich wegen der Preise (Tateyama war ein äußerst beliebtes Ausflugszielt für Sonne, Strand und Meer und das merkte man selbst um diese Jahreszeit noch deutlich) eingemietet hatte mit zwei allein reisenden Jungs, die sich scheinbar nicht leiden konnten und das war… fordernd. Außerdem hatte am Morgen eine Gruppe Rucksacktouristen das komplette warme Wasser weggeduscht und danach hatte er in der Gemeinschaftsküche gemerkt, dass irgendjemand seine Dorayaki aus dem Kühlschrank genommen und nicht ersetzt hatte. Traurig.

Wenn Tage schon so anfingen, erwartete man eigentlich nichts mehr und deshalb war hide äußerst erfreut gewesen zu sehen, dass zumindest hier im Proberaum niemand die seltsamsten („leckersten!“) seiner Softdrinks angerührt hatte. Ganz hinten in der Ecke des Kühlschranks hatte er noch eine Flasche Limonade mit Melonengeschmack gefunden, bei der Milch eine cremige Note beisteuerte. Nomnomnom. Es war hide ein vollkommenes Rätsel, dass ihm die niemand streitig machte! (Was hide vermutlich nie verstehen würde: Niemandem sonst war das ein Rätsel.) Er versuchte ja seit neustem, seine Laune auf einem annehmbar guten Niveau zu halten, doch ganz ehrlich: Das hier rettete seinen Tag.

Sie machten gerade Pause, also setzte er sich aufs Sofa und nahm einen großen Schluck Limo. Vielleicht sollte er einfach viel mehr Zeug hier zwischenlagern. Freunde aßen anderen Freunden nicht das Essen weg. Oder? Nein. Das klang irgendwie nicht richtig. Und wenn er schon dabei war, konnte er vielleicht auch hin und wieder auf dem Sofa ein Mittagsschläfchen halten…

Gerade war er mit diesem Gedankengang durch, als er sich einer seltsamen Stille gewahr wurde. Und als er einen Blick in die Runde warf, wurde ihm bewusst, dass alle ihn ansahen. Yoshiki war hinter dem Schlagzeug vorgekommen.

„Also, hide…“, begann er.

„Oh mein Gott“, sagte dieser tonlos und stellte die Melonenmilchlimonade zur Seite. Vielleicht war die Milch darin umgekippt? Ihm war wieder schlecht. Er hätte aufs Verfallsdatum schauen sollen. „Was passiert? Wirfst … du mich raus?“

„Was? Nein! Nein…“ Yoshiki fasste sich an die Stirn und massierte sich kurz die rechte Schläfe. hide legte die Hände in den Schoß wie ein Schuljunge und schaute verunsichert von einem zum anderen.

„Also“, fing Yoshiki noch einmal an, „wir haben lange diskutiert, ob es uns etwas angeht und sind zu keinem eindeutigen Schluss gekommen, aber wir haben dich gern und ja. Pata hat was, das er dich fragen möchte.“

Der Angesprochene nickte leicht und wandte sich an hide. „Wir haben ein kleines Zimmer, das ist gerade die Abstellkammer. Die könnten wir ausräumen. Es ist ein Drei-Quadratmeter-Raum. Ich sage das, damit du dir vorstellen kannst, was klein bedeutet. Aber wenn du möchtest, ist es deiner.“

hides Blick huschte einmal ungläubig über die Band und konzentrierte sich dann auf den anderen Gitarristen. Er fühlte sich seltsam betäubt. „… Du… ich… ich soll…“

„Wie gesagt, wir haben das diskutiert“, sagte Yoshiki. „Toshis Wohnung gibt keinen Zentimeter her, bei mir geht es offenbar nicht so gut und Taiji meinte zwar, er könne seinen Bruder in ein Zelt im Garten umquartieren, aber der tat uns doch leid. Das ist die einzige Lösung, die übrig war.“

„Und machen wir uns nichts vor“, sagte Pata, „du müsstest irgendwas dazuzahlen. Wir haben gerechnet und eine Person mehr… macht sich halt einfach doch bemerkbar.“

„Du… ihr… wer hat gerechnet?“

„Mein Onkel und meine Tante. Es ist ihr Haus. Ihre Nebenkostenrechnung.“

„Du… hast ihnen… das alles erzählt?“ hide wusste nicht ganz, ob er entsetzt, verletzt oder wütend sein sollte.

„Nicht im Detail“, wiegelte Pata ab. „Ich hab ihnen gesagt, du hättest familiäre Unstimmigkeiten und bräuchtest für ein paar Monate einen Ort zum Leben, bis du mit der Schule fertig bist. Sie waren relativ offen, nachdem ich ihnen klar gemacht hatte, dass das keinen Rattenschwanz an Problemen nach sich zieht.“ Er warf hide einen Blick zu, der etwa zwei Sekunden zu lang war. „Ich hoffe auch inständig, dass dem so ist.“

hide seufzte und lehnte sich auf dem Sofa zurück.

„Was?“, fragte Yoshiki. Offenbar verstand er nicht ganz, warum kein Freudensturm folgte. Pata und Taiji schienen weitaus weniger überrascht.

„Nichts“, sagte hide und schaute den Kühlschrank an. „Nur dachte ich als ich hier angefangen hab nicht, dass ich mal derjenige sein würde, auf den sich die allgemeine Fürsorge konzentriert. Das ist… ein bisschen unangenehm. Und peinlich. Und scheiße.“

Er warf dem Schlagzeuger einen flüchtigen Blick zu. Und vielleicht bildete Yoshiki sich das ein, doch er schien ihm ein wenig anklagend. Vielleicht, weil er in hides Welt derjenige war, der zuerst mit der Geschichte hausieren gegangen war. Aber Yoshiki würde sich jetzt sicher nicht dafür entschuldigen. „Du bist gerade ein bisschen in einer Notlage“, sagte er also und ignorierte den unausgesprochenen Vorwurf. „Wir wollen dir bloß helfen. Das hat mit peinlich überhaupt nichts zu tun.“

„Ah ja?“, machte hide zynisch. Ihm kam es eher wie der Beweis vor, dass er sein Leben nicht auf die Reihe brachte. Life of hide. Das beste Teledrama des Jahres. Und seine Bandkollegen hatten Plätze in der VIP Loge.

„Ja“, bekräftigte Toshi. Doch was anderes hatte hide auch nicht erwartet. Wenn es um die Wurst ging, würde Toshi vermutlich nie irgendetwas sagen, das Yoshiki dastehen ließ wie einen Volltrottel.

Er seufzte und streichelte mit einer Hand über die Sofalehne. Sie war stellenweise noch plüschig und an anderen Stellen bereits abgescheuert und rau. „Leute“, sagte er schließlich. „Das ist… nett gemeint von euch. Aber ich will hier Gitarrist sein, oder Kollege, meinetwegen auch Freund. Und nicht der armselige Typ, der Hilfe braucht. Ok?“

„Du kannst seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert mehrere Dinge auf einmal sein“, bemerkte Taiji trocken. „Da hat das Parlament ein Gesetz drüber erlassen.“ Yoshiki stieß dem Bassisten den Ellenbogen zwischen die Rippen.

hide schüttelte verständnislos den Kopf und wandte sich endlich an denjenigen, der hier am wenigsten beisteuerte, obwohl es ihn am meisten betraf. „Können wir mal kurz unter vier Augen sprechen?“
 

Sie waren halb über den Parkplatz, bevor hide sich zu Pata umdrehte.

„Ok“, sagte er und steckte sich die Hände in die Hosentaschen. „Ich hab ein Problem damit.“

Tomoaki nickte, sagte aber nichts. Damit spielte er den Ball sofort wieder zurück zu hide, den das mit einem Mall unendlich nervte. Aber da er inzwischen sicher war, dass der andere Junge auch unangenehme Stille wesentlich gleichgültiger aussitzen konnte als er selbst, seufzte er schließlich resigniert und sprach weiter: „Du kennst mich doch… überhaupt nicht.“

Tomoaki nickte, hob eine Schulter und ließ sie wieder fallen. hide zog die Augenbrauen hoch und machte eine halbkreisförmige Handbewegung. Er hatte keine Lust, dem anderen Jungen hier alles aus der Nase zu ziehen - da kam jetzt besser noch was nach!

Ein paar Sekunden lang tat sein Gegenüber nichts; schien stattdessen noch einmal alles zu durchdenken, was er wusste. „Nein“, gab er dann schließlich zu.

„Warum machst du das dann?“ Wildfremde Leute zum Abendessen einladen war eine Sache. Ihnen zu einer Bandprobe nachlaufen war eine andere. Aber ihnen anzubieten, unter dem gleichen Dach zu leben – das war verdächtig. Extrem verdächtig. Seltsamerweise schlug nur hides Kopf Alarm – der Rest war erstaunlich ruhig. Ihm war auch nicht schlecht.

Pata schwieg und wandte die Augen ab, in Richtung Promenade und Meer und Horizont. Zum ersten Mal schien er einen Moment lang unsicher, als wisse er wirklich nicht, was er sagen sollte. Schließlich erwiderte er hides Blick. „Weil ich weiß, wie es ist, wenn Scheiße passiert.“

hide wartete noch ein paar Sekunden, doch Pata sagte nichts weiter, um sich zu erklären. „Ok“, sagte er also schließlich noch einmal. Wenn jemand verstand, dass man Dinge lieber für sich behielt, dann er. „Nehm ich mal so hin. Das ist …nett(?) von dir. Aber… Gott, das klingt jetzt mega undankbar, aber – ich hab einfach überhaupt keinen Bock darauf, hier den Sozialfall für deine gute Tat des … Jahres zu spielen.“

Tomoaki blinzelte einmal. Dann nochmal. Dann zuckte der mit den Achseln und klemmte sich eine zu lange Haarsträhne hinters linke Ohr, die der Wind ihm ins Gesicht geweht hatte. „Das ist nicht wirklich, worauf ich damit rauswollte, aber gut. Dann nicht.“

Der Leadgitarrist machte eine nicht eindeutig zuzuordnende Kopfbewegung. „Es tut mir wirklich leid… aber ich… glaub nicht, dass ich…“

Der andere Junge hob die Hand und hide brach ab. „Ich hab’s dir angeboten. Das ist alles. Was du letztendlich machst, geht mich nichts an.“

„Ok“, sagte hide. Damit war das hier also geklärt. Warum nur fühlte es sich dann so schlecht an? Er trat unbehaglich vom linken Fuß auf den rechten. „Sind Dinge jetzt komisch zwischen uns?“

Pata zog einen Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln hoch und wandte sich ab, um zu der alten Fabrik zurückzugehen. „Dinge waren immer komisch zwischen uns.“
 

-X-
 

Falls noch nicht in diesem Moment, so hatte hide über die nächsten eineinhalb Wochen ausgiebig Zeit, seine Entscheidung zu bereuen. Hollywood hatte ihm beigebracht, dass das echte Leben anfing, wenn man sich von der Familie löste und selbstständig wurde, und dass diese Zeit bestimmt wurde von großen Veränderungen, tiefen Freundschaften und der großen Liebe. Alles davon erschien ihm mit jedem Tag unwahrscheinlicher.

Die Romantik des bei seinen Reisen durch die verwirrende Welt der Moderne in einer mittelmäßigen Herberge gestrandeten Jugendlichen auf der Suche nach Sinn?

Am Arsch.

Die ersten vier Tage hatte er sich das Zimmer mit einer jungen Familie aus Sapporo geteilt. Das war in Ordnung gewesen. Der kleine Sohn hatte nicht die geringste Achtung für Privatsphäre und integrierte hide sofort als Bruder in die Verwandtschaft, und die Mutter schenkte ihm etwas bröselige aber sehr leckere Kekse. Doch am Sonntag zogen zwei koreanische Mädchen ein, die sich ständig darüber aufregten, dass sie sich das Zimmer mit einem Jungen teilen mussten, aber scheinbar auch nicht willens waren, die paar Yen mehr für ein eigenes Zimmer zu zahlen. Zumindest interpretierte er das aus ihrem Verhalten, denn obwohl sie scheinbar leidlich gut Japanisch sprachen, machten sie sich keine Mühe, es zu benutzen. hide war nicht unglücklich, als sie am Donnerstagmorgen verschwunden waren. Danach zogen für ein paar Tage ein paar junge Männer aus Nikko ein, die zu einem späten Surf- und Badetrip unterwegs waren. Sie verstanden sich eigentlich gut, doch hide, der früh aufstehen und nachts schlafen musste, fand es äußerst schwierig, sich mit ihrem Ferienrhythmus zu arrangieren. Als er am Sonntag von der Bandprobe zurückkam, war er allein. Doch spät am Abend fiel ein ziemlich betrunkener Mann in Anzug und Krawatte ins Zimmer, der erst populäre Schlagerlieder vor sich hin lallte und dann noch angezogen und laut schnarchend im Bett lag, während hide versuchte, seine Englischhausaufgaben für den nächsten Tag zu machen. hide war nicht sonderlich amüsiert und verzog sich in die Küche. Am Montag zog ein junges Pärchen ein, die nachts nach etwas, das hide als romantisches Dinner einstufte, scheinbar vergaßen, dass sie noch einen Mitbewohner hatten.
 

„Und dann“, erzählte hide an der Bandprobe am Dienstagabend, während er eine Flasche Cola öffnete, „hatten die beiden Sex. Im Bett neben mir.“

„Hast du nichts gesagt?“, fragte Toshi ungläubig. Er lehnte am Kühlschrank, aus dem er dem Gitarristen gerade die Flasche gereicht hatte.

„Doch“, sagte hide, nahm einen Schluck Koffeingetränk und rieb sich übers Gesicht. Er fühlte sich, wie man sich eben fühlte, wenn man die Nacht auf dem Gang verbracht hatte. „Aber statt sich zu entschuldigen, haltet euch fest, haben sie gefragt, ob ich mitmachen will.“ Geplättet hob er den Blick und warf einen fragenden Gesichtsausdruck in die Runde seiner Kollegen. „Was ist los mit den Leuten?“

„Und?“, fragte Taiji, der runtergedreht eine Bassline übte.

„Was und?“, fragte hide zurück und rieb mit dem Daumen Konsenswasser vom Glas. Seine Fingerspitzen wurden kalt.

„Hast du?“

hide schaute ihn nach wie vor verständnislos an.

„Mitgemacht?“, schob Taiji also hilfsbereit hinterher.

hide breitete die Arme aus und rief entgeistert: „Nein!“

„Sahen die beiden nicht gut aus?“

„Nein! Doch! – Das ist nicht der Punkt! Der Punkt ist“, er wandte sich an Pata, „steht das Angebot noch?“ Er fuhr sich einmal über die Haare und schaute kläglich aus der Wäsche. „Ich brauch einfach ein bisschen Zeit, um die Schule auf die Reihe zu kriegen und mir Arbeit zu suchen und das wird nicht besser, wenn ich keinen Ort für mich habe, und den habe ich nur, wenn ich Geld ausgebe, das ich nicht ausgeben kann, weil ich ja noch keinen Job habe, den ich nicht finde, weil ich nichts hinbringe, solange mich ständig was nervt! Und so. Scheiße.“ hide würgte die Colaflasche. Um Hilfe zu fragen war ein beschissenes Gefühl. Um Hilfe zu fragen, die man zuvor nicht auf die höflichste Art abgelehnt hatte, war ein richtig beschissenes Gefühl. Ihm war dezent zum Heulen.

Er rechnete es Pata hoch an, dass sein Gesicht nicht die geringste abschätzige Regung zeigte, als er sagte: „Es steht.“

Ohne es zu wollen lehnte hide sich auf dem Sofa zurück. Obwohl er sich kacke und verloren fühlte, nervös war und sich noch nie so geschämt hatte, fiel ihm auch ein Stein vom Herzen. Gut, er wusste nicht, was mit dieser Entscheidung auf ihn zukam und das machte ihm ziemliche Sorgen und ein bisschen Angst… aber es konnte eigentlich fast nur besser sein als das, war er zurückließ. „Danke…“ Immerhin, wie groß war die Chance, dass sich diese vier sehr unterschiedlichen Menschen darin zusammengetan hatten, ihm was Schlechtes zu wollen? Unwahrscheinlich. Oder?

„Kein Glück mit Arbeit, hu?“, fragte Taiji, dezent das Thema wechselnd und stoppte damit zum Glück auch hides Gedankengang. Er war mit seiner Baseline fertig und lehnte jetzt an der Wand.

„Nein“, sagte hide mit einem Seufzen und stellte die Cola zur Seite. „Ich hab mir fünf Sachen angeschaut. Einmal war ich zu jung und die anderen wollten alle Stundenzahlen oder Zeiten, die ich nicht leisten kann.“ Und beim jetzigen Stand ging ihm irgendwann in der kalten Jahreszeit das Geld aus. Januar war kein guter Monat, um vorübergehend auf einer Parkbank zu schlafen. Die Zeit lief wirklich an allen Fronten gegen ihn… und ein paar Verbündete waren bei so einem mächtigen Widersacher wohl nicht verkehrt. Er wandte sich zurück an Pata. Dieser schien auf diesen Blick gewartet zu haben, denn er antwortete „Freitag“, noch bevor hide die Frage gestellt hatte. hide nickte.
 

-X-
 

Tomoaki wartete bereits auf ihn, als hide am darauffolgenden Freitagnachmittag mit einer unförmigen Reisetasche, dem Rucksack und einem mittelgroßen Koffer aus der Herberge trat.

„Das ist alles?“

„Jupp.“ hide grinste, doch er schaffte es nie ganz, bevor die Regung wieder verschwand. „…Irgendwie seltsam, nicht? Dass achtzehn Jahre in zwei Koffer passen… Aber gut“, sagte er betont positiv und unterstrich es mit einem weiteren Lächeln, „so bekomme ich zumindest kein Platzproblem.“

Der andere Junge nickte und nahm ihm die Tasche ab. Sie fuhren vier Stationen mit dem Bus und bogen dann in die schmale Straße, in der die Ishizukas wohnten und arbeiteten. hide wurde mit jedem Schritt nervöser. Seltsam. Das hier war so seltsam. Und peinlich. So peinlich.

Einige Meter vom Laden entfernt hielt Tomoaki schließlich inne und wandte sich zu hide um. Dieser blieb ebenfalls stehen. Der ernste Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.

„Gut“, sagte Pata. „Hör zu. Ich möchte glauben, dass du ein lieber Kerl bist und ich will dir helfen. Deswegen sag ich das jetzt einfach und danach gehen wir wieder zu unserem normalen Verhalten über, in Ordnung?“

hide nahm den doch recht schweren Koffer mit beiden Händen und schaute ihn verunsichert an. „… ok?“

„Ich will einfach in Ruhe leben, meine Schwester hat so ihre Probleme und mein Onkel und meine Tante führen hier ein respektables Geschäft. Ich hab keine Lust und keine Ressourcen, um dir zu misstrauen. Deshalb: solange du hier bist, bist du ehrlich, du bist zuverlässig und du bist nüchtern. Wenn du unbedingt rauchen musst, gehst du dazu nach hinten in den Hof. Und wenn irgendetwas verschwindet – aus dem Laden, aus der Wohnung, sonst irgendwo – dann fliegst du hier hochkant raus und wir zwei sind geschiedene Leute. Das sind die Regeln.“ Tomoaki streckte die Hand aus.

hide schluckte einmal. Anscheinend hatte er einen so richtig guten Eindruck hinterlassen. Andererseits hatte ihn Pata trotzdem eingeladen, hier mit ihm zu wohnen. Das waren sehr widersprüchliche Signale. Vielleicht war das keine gute Idee gewesen. Aber er war jetzt hier und hatte keinen anderen Ort, an den er gehen konnte. Zögerlich löste er die rechte Hand vom Koffer, doch der andere Junge zog seine noch einmal ein Stück zurück.

Als er nach oben sah, begegneten seine Augen Patas, der Blick aus seinen Augen fest und unnachgiebig. „Mach das nur, wenn du’s ehrlich meinst.“ Er streckte die Hand wieder vollständig aus.

Obwohl hide es nach Möglichkeit vermied, anderen Menschen länger als nötig in die Augen zu sehen, verharrte er noch ein paar Sekunden, ohne sich zu bewegen. Am Ende war er sich nur in einem sicher: Pata machte keine Witze.

Er schlug ein.
 

-X-
 

„Bist du dir sicher, dass das für dich geht. Sei ehrlich.“

„Ja“, sagte hide. „Es ist vollkommen in Ordnung.“

Er stand mit Pata in der Tür der ehemaligen Abstellkammer und schaute hinein. Der andere Junge warf ihm noch einen forschenden Seitenblick zu, doch nickte schließlich.

„Ok. Dann lass ich dich jetzt ausräumen und hol dich, wenn das Abendessen fertig ist.“

„Uh-hu“, machte hide. „Danke.“

Pata verschwand von seiner Seite, einmal über den Gang und in die Küche. hide wandte sich dem Raum zu. Er war nur wenig breiter als der gerade noch in der Ecke zusammengelegte Futon und gerade so lang, dass am anderen Ende unter dem winzig kleinen Fenster noch eine schmale Kommode stehen konnte. Außerdem beherbergte der Raum noch einen ebenso winzigen Tisch, gerade groß genug, damit ein durchschnittlich großes Buch, die kleine Leselampe und ein Heft darauf Platz hatten und gerade klein genug, um nachts auf die Kommode gestapelt werden zu können. Löcher in den Wänden deuteten darauf hin, dass man Regale abmontiert hatte, um Wohnraum herzustellen, doch zwei Bretter hatte man gelassen, um mehr Stauraum zu schaffen. hide stellte den Koffer ab und schaute sich unschlüssig um. Auf einmal fühlte er sich ähnlich verloren wie am ersten Abend im Hostel. Vermutlich nur die Umgewöhnung. hide trat sich selbst in den Hintern – mental natürlich – und riss sich zusammen. Für Selbstmitleid hatte er später noch genug Zeit. Er nahm seine Reisetasche um sich daran zu machen, seine Klamotten einzuräumen. Auf der Kommode stand eine kleine rote Okiagarai Koboshi. hide stupste sie an und schaute ihr dabei zu, wie sie sich taumelnd wieder aufrichtete und dabei nie aufhörte, vor sich hinzulächeln. Irgendwie half das ein wenig, also stupste er sie noch einmal. Sie lächelte und richtete sich wieder auf.
 

Seine Tasche und der Koffer waren fast leer, als das Abendessen fertig war. Die Situation war seltsam, aber das Essen war lecker und das glich sich fast aus. Vielleicht, aber nur vielleicht kam er wirklich damit zurecht, dachte hide, als er am Tisch saß, in seinem gebratenen Reis stocherte und versuchte, sich nicht wie der eine schlechte Apfel im Korb vorzukommen – oder wie das mitleiderregend winselnde Hündchen, das man aus dem ramponierten Pappkarton an der Straßenecke gerettet hatte. Es würde auf jeden Fall Zeit brauchen. Nach dem Essen redeten Patas Onkel und er über das Geschäftliche. Er legte ihm eine Schätzrechnung vor und erläuterte hide, wie er auf die einzelnen Teile kam und dass er mit dem Preis auf eine Nullrunde abzielte und nicht auf einen echten Gewinn, was man seiner Meinung nach bei den paar Quadratmetern schon aus moralischen Gründen gar nicht machen könne. Der Preis erschien hide fair.

Danach verzog er sich unauffällig.

Er packte fertig aus und stapelte Koffer und Tasche hinter der Tür. Funktionierte so halbwegs. Als letztes räumte er seine Regale ein. Auf dem einen reihte er seine Schulbücher aneinander, auf dem anderen ein paar persönliche Dinge, um es ein wenig heimeliger zu machen. Zumindest war das sein Plan gewesen. Denn nachdem er alle seine Sachen einmal durchgeschaut hatte, war das Regal bis auf die Okiagarai Koboshi und seinen uralten Stoffhund immer noch leer. Seine Mutter hatte Prioritäten gesetzt und das war in Ordnung, doch kurz vermisste hide einige der Dinge, die noch zuhause stehen mussten. Die meisten von ihnen hatte er eigentlich seit Jahren nicht mehr angerührt und trotzdem war es seltsam schmerzlich, sich nun endgültig von ihnen zu trennen. Nun, dachte er und setzte sich an den Tisch, mit etwas Glück konnte er irgendwann zurückgehen und zumindest seine Kassetten holen. Aber er war ja eigentlich zum Arbeiten hier. Ein Blick auf die Uhr. Acht. Ja. Da ging noch was. Er angelte nach seiner Mathearbeit fürs Wochenende. Block Eins. Extremwertaufgaben.

Eine Fabrik verkauft pro Monat n Stück Maschinen zu einem Preis p. Die Anzahl n der pro Monat verkauften Maschinen und der Stückpreis p hängen wie folgt zusammen:

n=n(p)=1200−3⋅p¥

Bestimmen Sie den monatlichen Umsatz in Abhängigkeit vom Stückpreis p. Für welchen Preis p ist der Umsatz maximal?

… Ja. Genau. Ganz seine Meinung. Und das hatten sie mal behandelt? hide blätterte in seinem Heft zurück. Tatsächlich. Hahaha. Ha.

Scheiße.

Ok. Keine Panik. Er musste nur zurückgehen und das letzte finden, das er verstanden hatte und dann aus allem zwischen damals und jetzt kleine, handliche Stückchen machen und die abarbeiten. Das war die Vorgehensweise. hide blätterte zurück. Und weiter zurück. Und dann noch ein Stück zurück. Dann musste er das vorangegangene Heft suchen. Aha. Hier. Oj. Gut. Dann fing er wohl im Januar des letzten Schuljahrs an. Das war… machbar. Ja… Nein… Ok. An welcher Stelle musste er anfangen, um Extremwerte zu verstehen? Analysis. Ableitungen. Ok. Dann fing er erstmal dort an. Mann. Er musste sich einen Plan machen. Sonst sah er da niemals Land. Morgen. Plan morgen. Heute Analysis.

hide schlug das Buch zwanzig Seiten weiter vorne auf. Analysis.

Höhö, dachte er unwillkürlich und musste kichern, anal.

Er räusperte sich und riss sich zusammen.

Eine ganze Weile arbeitete er ruhig vor sich hin, während sich langsam die Stille der Nacht über das Haus legte. Als er das nächste Mal auf die Uhr schaute, war es halb zehn. hide legte einen Zettel zwischen die Seiten und klappte das Buch zu. Er war müde und hatte seine maximale Aufnahmefähigkeit ohnehin vor etwa einer Viertelstunde erreicht. Doch was dann? Einen kurzen Moment dachte er darüber nach, noch einmal durch die Wohnung zu geistern und zu sehen, ob er sich irgendwo anschließen konnte, doch es war nur eine halbherzige Überlegung. Gut… Dann… ging er wohl ins Bett. hide wandte sich seiner Kommode zu, um nach seinem Handtuch und einem der übergroßen Shirts zu suchen, die er zum Schlafen trug.

Gerade hatte er beides gefunden, den Futon ausgebreitet und wieder begonnen, sich ziemlich einsam zu fühlen, als es klopfte. hide legte Shirt und Handtuch auf das Kopfkissen, rappelte sich hoch und öffnete die Tür. Davor stand Pata.

„Hier“, sagte er.

„Was ist das?“, fragte hide und nahm einen unförmigen Stapel Papier und eine Rolle Tesafilm entgegen.

„Poster für die meine Schwester keinen Platz mehr findet. Sie meinte, wenn dir was gefällt – wörtlich – to get you out of this rock ’n‘ roll hell, kannst du sie dir rausnehmen und ihr den Rest zurückgeben. De facto heißt das, leg es ihr vor die Tür. Außerdem dachte ich, du willst vielleicht zwischendurch was lesen, das nichts mit Schule zu tun hat.“ Er lugte kurz an hide vorbei. „Gehst du ins Bett?“

„Demnächst“, antwortete hide. „Das war alles in allem doch ein… anstrengender Tag. Obwohl ich nichts gemacht hab.“

„Un“, machte Pata verstehend. Dennoch unterzog er hide noch einem prüfenden Blick. „Alles klar?“

„Bisschen Heimweh.“ Obwohl ich nicht genau weiß, wonach, dachte er. „Geht von selbst weg.“

„Ok“, sagte Pata. „Dann… gute Nacht.“

„Gute Nacht. Danke.“

Sachte schloss hide die Tür.
 

Die nächste halbe Stunde brachte er damit zu, auf dem Boden seines neuen Zimmers auf Zeit zu sitzen und durch den Papierhaufen zu blättern. Einiges davon waren echte Poster, andere waren Flyer oder ganzseitige Fotografien aus entsprechenden Magazinen. Nicht alle hatten etwas mit Musik zu tun. Dabei summte er leise Rock ‘n‘ Roll Hell vor sich hin.

Am Ende belief sich seine Ausbeute auf Pink Floyd, Kiss, einen traditionell gezeichneten Koikarpfen, The Clash und das Bild eines knuddeligen Koalabären, den er irgendwie nicht mehr hatte zurücklegen können (er hatte es viermal versucht). Er klebte den Karpfen an die Stelle, unter der sonst der Schreibtisch stand, die Bands unter das Fenster und den Koala so, dass er ihn morgens beim Aufstehen anschauen musste. Konnte ja nicht schaden, zu einem schönen Anblick aufzuwachen. Es begann langsam, ein wenig wie ein Zimmer auszusehen. Den Rest der Poster stapelte er wieder ordentlich und legte sie vor die Tür des Nebenzimmers. Danach verschwand er kurz ins Bad und schließlich legte er sich hin. Es war früh für einen Freitagabend, doch ihm fiel nichts mehr ein, was er noch tun konnte. Aber es war ja auch nichts falsch an einer besinnlichen Abendgestaltung, dachte er, ohne koreanische Mädchen, ohne Geschäftsleute, ohne Sorgen darüber, ob morgen früh warmes Wasser da war.

Er kuschelte sich in die Decke, nahm wahllos eines der Bücher vom Stapel und schlug es auf.

„Sonne und Mond, Tage und Monate verweilen nur kurz als Gäste ewiger Zeiten“, und so ist es mit den Jahren auch, las hide. Sie gehen und kommen, sind stets auf Reisen. Nicht anders ergeht es den Menschen, die ihr ganzes Leben auf Booten dahinschaukeln lassen, oder jenen, die mit ihren am Zügel geführten Pferden dem Alter entgegenziehen: tagtäglich unterwegs, machen sie das Reisen zu ihrem ständigen Aufenthalt. Viele Dichter, die vor uns lebten, starben bereits auf der Wanderschaft. Meine Gedanken hören dennoch nicht auf, wohl angeregt durch den Wind, der die Wolkenfetzen jagt, um das stete Getriebenwerden zu schweifen.

hide las noch eine halbe Stunde, dann drehte er sich auf die Seite und knipste das Licht aus. Durch das kleine Fenster fiel ein Quadrat aus Licht herein und erhellte das Zimmer ausreichend, um sich seiner Fremdheit gewahr zu werden. Erneut stieg ein Hauch von Einsamkeit in ihm hoch. hide waren abendliche Depressionsschübe nicht fremd, doch das hier hatte noch einmal eine andere Qualität. Er betrachtete den dunklen Fleck im helleren Rechteck, welcher den Koala im Blätterdickicht darstellte. Irgendjemand, dem er erzählen konnte, wie es ihm ging, dachte hide und wischte sich einmal übers Gesicht, bevor er sein Kissen einweichte. Vielleicht würde das schon helfen. Doch er konnte sich schlecht jetzt in den Gang stellen und seine Großmutter anrufen. Oder Yoshiki, falls es den interessierte. Das wäre den Ishizukas gegenüber mehr als unhöflich und, eigentlich, hatte er ja auch gar keinen Grund, sich zu beschweren. Denn immerhin war es friedlich hier. Alles war gut. Er musste sich nur eingewöhnen und er wusste das. Durchhalten. hide drehte sich in seine Schlafpose auf dem Bauch, atmete tief und versuchte, angemessen zu genießen, dass er ein eigenes Zimmer hatte, egal wie klein, ein eigenes Bett, egal wie spartanisch und seine Ruhe, egal für wie lang.

Die Augen geschlossen lag er da und lauschte den ungewohnten Geräuschen des fremden Hauses.

Das leise Ticken seiner Uhr. Das ferne Geräusch einer ruhigen Unterhaltung. Knacken im Gebälk. Leise Schritte auf dem Gang. Tür. Geraschel im Nebenzimmer. Terumi musste ihre Poster entdeckt haben. Sein eigener Atem und der Schlag seines Herzens. Die zwei Konstanten im Leben. Er konzentrierte sich darauf.

Tateyoko no

goshaku ni taranu, kam ihm noch sein letztgelesenes Tanka in den Sinn,

kusa no io

musubu mo kuyashi

ame nakariseba.*
 

Und dann schlief er.
 

-X-
 

Die Uhr in der Küche zeigte am nächsten Vormittag kurz vor zehn, als hide zwar angezogen aber ziemlich zerstrubbelt in die Küche getappt kam. Er war schon einige Zeit wach gewesen, hatte sich aber nicht aufraffen können, den Tag zu beginnen. Einen kurzen Moment hatte er noch überlegt, ob er sich vielleicht erst komplett fertig machen sollte, so wie man das im Hotel tat, doch dann hatte er sich dagegen entschieden. Immerhin würde er mit diesen Leuten mindestens ein halbes Jahr zusammenleben. Er konnte versuchen, nicht gerade bei offener Tür zu masturbieren, aber er konnte nicht über sechs Monate hinweg so tun, als wäre er perfekt. Doch er hätte sich gar keine Sorgen zu machen brauchen – die Küche war nämlich leer, bis auf Terumi, die im angrenzenden Wohnzimmer saß und gerade ein Ei pellte.

„Guten Morgen“, sagte hide.

„Hallo“, sagte sie.

Wunderbar, dachte hide, während er sich der Küchenzeile zuwandte, jetzt hatte er die Wahl zwischen mit ihr reden, was in der Vergangenheit wunderbar geklappt hatte, und nicht mit ihr reden, was noch schlimmer war. Er sammelte Reis, ein Ei und eine Tasse mit Misosuppe zusammen und erwischte sich dabei, wie er einen Moment zögerte. Um es zu überspielen angelte er noch eine Kyohotraube aus dem Obstkorb und zwang sich, sich auch mal in ihre Lage zu versetzen: Da war ein nahezu unbekannter Junge ins Nebenzimmer eingezogen und saß ihr jetzt beim Frühstück gegenüber. Und nun musste sie mit dem Kerl reden. Auch kein toller Start in den Tag. Er ließ sich auf der anderen Seite des Tisches nieder und fühlt sich wieder ein wenig wie bei seinem ersten Besuch: Genauso unwohl. Doch er schaffte ein Lächeln. „Danke für die Poster“, sagte er und zückte sein Besteck. „Sie helfen sehr.“ „Gut“, sagte Terumi. „Ja…“, sagte hide. Dann fiel ihm nichts mehr ein, also konzentrierte er sich auf sein Frühstück. Normalerweise fiel es ihm nicht schwer, sich irgendein Thema an den Haaren herbeizuziehen, doch es war schwierig mit Frauen, noch schwieriger mit Mädchen und das hier, das musste die Königsdisziplin sein.

Er schaffte es durch die Misosuppe. Dann hielt er es nicht mehr aus. „Ähm“, begann hide und ließ das Ei sinken, von dem er gerade hatte abbeißen wollen. Terumi sah von ihrem Essen auf. „Ok, ich weiß, das alles muss ein bisschen komisch für euch sein… und ich will nur sagen, ich bin wirklich dankbar und… nicht halb so seltsam, wie das vielleicht… jetzt… erscheint. Ja.“ Kleine Lügen vergab der liebe Gott bestimmt. Er räusperte sich und drückte das Ei ein wenig. Das fühlte sich etwas eklig an. Schlechte Idee…

Seine Gegenüber nickte und senkte die Augen wieder.

…das hatte ja ganz toll funktioniert.

hide biss in sein Ei. Ok. Letzter Versuch. Das Einzige, das sie potentiell gemeinsam hatten.

„Ich wollte dir schon länger sagen… du spielst ziemlich smooth Gitarre.“

„Danke.“

Und nichts mehr.

Wow. Und er hatte Pata bisher für schweigsam gehalten. Wie man sich irren konnte. Aber sein Stil war ja auch blöd. Man kam mit einem Wort sehr gut aus der Nummer raus. Was würde wohl passieren, wenn er ihr eine offene Frage stellte? Interessantes Gedankenspiel. Doch irgendwie war hide nicht ganz so scharf darauf, das bereits am ersten Morgen auszuprobieren… zu groß das Risiko eines absoluten Desasters. Vielleicht war die beste Strategie – wenn man nicht mit Stille leben konnte – sie einfach ein bisschen zuzuschwallen. Sie konnte ja auf Durchzug stellen, dachte hide, wenn es ihr nicht passte.

„Dein Bruder ist ja auch echt gut…“, sagte er also und machte sich an seinen Reis. „Ich werd um ehrlich zu sein nicht so ganz schlau aus ihm. Er redet ja nicht viel. Aber es macht wirklich viel Spaß, mit ihm zu spielen. Das heißt ja was… also… wenn man gute Musik mit jemandem macht, dann muss man sich auch immer irgendwie mögen. Also… da ist was dahinter, nicht? Und ich glaube, die anderen mögen ihn auch. Da war ich froh. Das weiß man ja immer vorher nicht. Yoshiki hat Ansprüche… und Taiji hat auch… irgendwas. Ich nenn es jetzt mal Charakter.“ Er ging einfach mal davon aus, dass Tomoaki zumindest so viel erzählt hatte, dass Terumi die Namen ein Begriff waren. Sie fragte nicht nach – ob das jetzt wirklich ein Zeichen in diese Richtung war, wagte hide aber zu bezweifeln. „Ja…“ hide aß ein wenig schweigend vor sich hin. Essen und gleichzeitig reden konnte man auch nur vor Leuten, die man schon wesentlich besser kannte. Er wollte nicht unbedingt Patas Schwester mit Reisstückchen besprühen. „Umm…“, machte er wieder, als er eine Pause im Kauen einlegte, um die Traube zu schälen. Das war eklig – als würde man ein kleines, glibbriges Tier häuten. Aber der Geschmack war den leichten Ekel wert… „Zum Thema Charakter… hat er dir eigentlich mal erzählt, wie Yoshiki Taiji kennengelernt hat? Ach, warte, das kann er ja gar nicht wissen… Lustige Story.“ Und er erzählte. Die Geschichte war nicht unendlich lang, aber lange genug, um ihn durch das Traubenschälen und den Rest Reis zu retten, und am Ende wurde er mit etwas belohnt, das ein verhaltenes Lachen gewesen sein konnte oder auch nicht. Als er prüfend von der Frucht hochsah, lächelte sie noch, so seicht wie eine Pfütze im Sommer. An dieser Stelle fiel ihm auch auf, dass das Mädchen ihm gegenüber bereits seit einiger Zeit mit dem Essen fertig sein musste. Aber sie saß noch da. War sie einfach nur zu höflich gewesen?, dachte hide, oder interessierte sie tatsächlich was er da so von sich gab? In jedem Fall schaffte er ebenfalls ein Lächeln. Es war einfacher als das erste. Sie machten ja richtig Fortschritte hier! Vielleicht konnte er sich also auch mit dieser weiblichen Freakshow arrangieren.

„Ja“, sagte er also und steckte sich den Rest Traube in den Mund. „Und das war das. Sag mal, ist Pata da?“ Er brauchte ihn zwar nicht wirklich, aber eventuell hing davon ab, wann er später zur Probe ging.

Sie schaute ihn perplex an. Und antwortete zum ersten Mal mit mehr als einem Wort, als sie zurückfragte: „Wer ist Pata?“
 

-X-
 

Besagter Pata war nicht da. Er hatte eine Tüte mit Lebensmitteln gepackt und kurz bevor hide sich zum Aufstehen bequemte das Haus verlassen. Der Himmel draußen war bewölkt, aber noch lag ein letzter Rest Spätsommerwärme in der Luft, und da er ohnehin zu früh dran war, sparte er sich also den Bus. Er ging am Kiosk vorbei und kaufte Terumi die Zeitschriften, die sie jeden Monat las. Es war nicht viel, aber zumindest war es eine Verbindung in die echte Welt. Dann schlenderte er noch ein wenig die Promenade entlang, machte einen Umweg zu den Schaufenstern des (sehr kleinen) Musikgeschäfts und gegen elf Uhr schließlich stand er gegenüber des Nachhilfeinstituts in der Nähe des Tempels und wartete. Es wurde elf. Es wurde kurz nach elf. Tomoaki zog eine der Zeitschriften aus der Tüte und blätterte durch. An einem Artikel über Alice Cooper und seinen Rückfall blieb er hängen.

Bei der Hälfte des dritten Absatzes etwa piekte ihn etwas in die Seite und machte „Buh!“.

„Hallo“, sagte er, nicht wirklich hochschreckend, aber mit einer etwas schnelleren Drehung als sonst für ihn typisch war und schloss das Magazin. „Gut dich zu sehen.“

Neben ihm war ein Mädchen in gestreiftem Pullover aufgetaucht. Masami. Sie lugte in die Zeitschrift, beschloss, dass sie das nicht interessierte und wandte die Aufmerksamkeit lieber wieder ihm zu.

„Danke, dass du mich abholen kommst. Soll ich dir was abnehmen?“

Tomoaki ließ den Blick einmal an ihr hinunter und wieder hinaufwandern. Sie hatte bereits drei Bücher auf dem Arm und eines davon sah aus wie ein Lexikon mit mindestens achthundert Seiten.

„Ist in Ordnung“, sagte er und packte die Zeitschrift mit einem Rascheln des Plastiks wieder ein. „Eigentlich müsste ich noch deine Bücher nehmen.“ Die eindeutige Geste um Außenstehenden deutlich zu machen, worum es sich bei ihnen beiden handelte.

„Ich wollte immer eine moderne Beziehung“, sagte sie und setzte sich in Bewegung. Während sie gingen, richtete sie den verdrehten Schultergurt ihrer Umhängetasche. Ihre Bücher verrutschten dabei bedenklich, doch wurden erfolgreich weiter balanciert.

„Interessant“, sagte Tomoaki neben ihr. „Ich wollte immer eine traditionelle Beziehung.“

„Wirklich? So richtig mit Frauchen bleibt zuhause und passt auf die Kinder auf?“ Sie warf ihm einen amüsierten Seitenblick zu.

„Ich mag Kinder.“

„Mmh.“ Masami dachte bis zur nächsten Kreuzung darüber nach. Dort bogen sie rechts ab. „Vielleicht in ein paar Jahren. Aber ich steck zu viel Zeit in das hier, um später zuhause zu sitzen…“ Sie hob ihre Bücher ein wenig.

„Viel Erfolg.“

„Machst du dich lustig?“

„Nein. Ich unterstütze dich bei jeder Zukunft, die dir vorschwebt. Auch, wenn ich trotzdem hoffe, dass Kinder und deine gebratenen Nudeln darin vorkommen. Außerdem lass mich ehrlich sein: Ich kann nicht bügeln.“

Sie lächelte leicht. „Vorschlag: „Ich koche und ich wasche und bring dir Bügeln bei, und wenn ich eine Kakerlake sehe, steig ich schreiend auf den Stuhl und du darfst du mich vor ihr retten. Über die Kinder reden wir nochmal, wenn ich mit der Ausbildung fertig bin. Und jetzt trage ich meine eigenen Bücher. Wie klingt das?“

„Von einer wie großen Kakerlake sprechen wir?“, fragte Tomoaki.

Masami zeigte einige Zentimeter zwischen Daumen und Zeigefinger.

„Damit kann ich leben.“

Sie gingen nun durch ein ruhigeres Wohnviertel und hielten wenig später vor einem kleinen Häuschen mit einem noch kleineren Vorgarten. Masami zog mit einem leisen Klingeln ihren Schlüssel mit dem Winkekätzchen daran aus der Tasche und trat schließlich ihm voran in den Flur. Bis Tomoaki die Schuhe ausgezogen und die Jacke an die Garderobe gehängt hatte, war sie bereits in ihre Häschenpuschen geschlüpft und mit der Einkaufstüte in der Küche verschwunden. Das Radio wurde angeschaltet. Er folgte ihr, lehnte sich an den Küchentisch und sah ihr beim Auspacken zu. Sie tat es zum Rhythmus des viel zu fröhlichen Popsongs. Was auch immer sie beide zusammenhielt: ihr Musikgeschmack war es nicht.

Als sie drei verschiedene Packen Miso aus der Tüte gezogen hatte, hielt sie inne.

„Was ist denn das?“, fragte sie belustigt.

„Ich war nicht mehr ganz sicher, welche ihr wolltet.“

Sie drehte sich zu ihm um, ging auf die Zehenspitzen und strich ihm lächelnd die Haare aus der Stirn. „Du bist auch ein wenig neben der Spur zurzeit, nicht?“

Tomoaki seufzte, rieb sich einmal übers Gesicht und setzte sich auf einen der Küchenstühle. „Ja. Ich weiß nicht. Meine Mutter. Terumi. hide. Und dann hab ich ja auch noch ein eigenes Leben. So nebenbei. Ich frag mich schon die ganze Zeit, ob die Idee so schlau war. Die anderen scheinen zu glauben, dass ich da jetzt ein Auge drauf habe. Auf ihn. Ich weiß nicht, ob mir die Rolle so gefällt. Immerhin… er ist praktisch erwachsen. Und…“ Er vollendete den Satz nicht, weil er nicht wusste, wie er alles, was ihm durch den Kopf ging, in wenige, möglichst treffende Worte verpacken konnte: Dass er hide kaum kannte. Dass sie das Freunde-Level in seinen Augen noch nicht erreicht hatten. Dass er nicht noch jemanden brauchen konnte, für den er sich verantwortlich fühlen musste.

Also schüttelte er schließlich den Kopf und behielt all das, wie so oft, für sich.

Masami schwieg ein paar Sekunden, in denen sie die Packung mit dem weißen Miso in der linken Hand wog und nachdenklich auf ihrer Unterlippe herumkaute. Scheinbar fand sie die Antwort aber nicht selbst, denn schließlich fragte sie: „Warum machst du es dann? hide, meine ich.“

Mit einem schiefen Lächeln wandte Tomoaki den Blick einen Moment lang ab, auf die kleine, etwas traurig in ihrem Topf hängende Pflanze auf der Fensterbank und dann wieder zu seiner Freundin zurück. „Das hat er auch gefragt.“

Masami lehnte sich mit dem Rücken an die Küchenzeile. Manchmal konnte man den Eindruck gewinnen, dass Gespräche mit Tomoaki ein wenig dauerten – bis man darauf kam, dass es genauso wichtig war, auf das zu hören, was er sagte, wie auf das, was er nicht sagte. Also hatte sie Geduld. Als die Stille zu lang wurde, seufzte ihr Gegenüber. „… Hast du dich schon mal gefragt, wie anders alles sein könnte, wenn nur eine kleine Sache ein klein wenig anders gelaufen wäre?“

Sie verlagerte ihr Gewicht ein wenig und legte das Miso zur Seite, das sie die ganze Zeit abwesend geknetet hatte. „Was meinst du?“

„… ich weiß nicht.“ Tomoaki schaute zurück zur Topfpflanze.

Masami legte den Kopf schief und wartete ab, ob noch etwas nachkam. Doch dieses Mal passierte nichts. Sie war sich nicht ganz sicher, ob sie alles verstand, was hinter seiner Stirn vorgehen mochte. Doch im Endeffekt war es wohl auch nicht so wichtig. Wichtig war gerade, ihm zu zeigen, dass sie auch da irgendwie durchkamen. Also löste sie sich von der Anrichte, beugte sich vor und legte ihre Finger auf seine Schulter. Nach einigen Sekunden fand seine größere Hand den Weg nach oben, auf ihre, und ein paar Herzschläge lang verharrten sie so.

Schließlich ließ seine Hand ihre los und dann ihre seine Schulter, und sie wandte sich zurück zur Tüte. Fast als wäre nichts geschehen.

Ganz am Boden begegnete ihr eine Packung Kiwi-Fruchtgummi.

„Huch? Nach denen hatte ich dich gar nicht gefragt.“ Sie hielt die Packung zur Veranschaulichung hoch.

„Nein. Die sind für dich.“

„Aaah! Das sollst du doch nicht immer machen. Guck mal hier!“ Sie piekte demonstrativ ihren Bauch und rief anklagend: „Waaaabbeeeel!“

Tomoaki blinzelte einmal. „Du bist gut wie du bist.“

„Schleimbolzen! Und das ist überhaupt nicht gut! Ich krieg schon wieder diese roten Pünktchen innen an den Oberschenkeln und die jucken und nerven!“ Sie klatschte sich seitlich an die Beine, um die Problemzone einzugrenzen und verkündete: „Wenn ich nicht mehr in meine Sachen passe, werde ich dich wochenlang damit zuheulen.“

„Ich komme zurecht damit.“

Sie machte ein schnaubendes aber doch amüsiertes Geräusch und warf die Süßigkeit an ihm vorbei auf den Küchentisch, bevor sie sich den letzten zu verstauenden Stücken auf der Anrichte zuwandte. „Bleibst du zum Mittagessen?“

Tomoaki schüttelte den Kopf. „Nein. Probe.“

Masami hob den Rettich zum Himmel und seufzte gespielt theatralisch. „Genau was ich immer wollte. Einen Mann, der mich für andere Männer und eine Gitarre verlässt.“

„Es soll ja Frauen geben, die von diesem Problem träumen“, ertönte ein Murmeln hinter ihr.

Statt das mit einer Antwort zu würdigen, packte sie den Daikon in den Kühlschrank und grinste schelmisch. „Kann ich mal mitkommen? Ich würd gerne mal diesen Taiji treffen.“

Tomoaki hatte den Kopf auf den Arm gestützt und runzelte nun die Stirn, was ihm eine sehr grüblerische Aura verlieh. „Wieso gerade Taiji?“

„Ach, ich weiß nicht.“ Sie zwinkerte ihm über die Schulter zu und legte eine Packung Nudeln in den Küchenschrank. „Ich mag die rebellischen Typen.“

Tomoaki verdrehte die Augen. „Genau was ich immer wollte. Eine Frau, die mich für einen Mann mit zwei Saiten weniger verlässt.“

Sie lachte und stellte mit einem letzten Blick auf die Anrichte fest, dass diese nun vollständig leer war. Also drehte sie sich zu dem Jungen in ihrer Küche zurück und ließ sich schließlich auf seinem Knie nieder. Der schon etwas ältere Stuhl protestierte – sie waren beide nicht gerade Bohnenstangen. Doch so konnte sie den Kopf genau auf seiner Schulter ablegen und zu ihm nach oben schielen, als sie leise gegen sein Schlüsselbein flüsterte: „Weißt du was? Mama ist mit Koto beim Fußball und Papa arbeitet heute. Wir haben die Wohnung also noch … eine ganze halbe Stunde für uns.“

Tomoaki, der zur Sicherheit einen Arm um ihre Taille gelegt hatte, musste lächeln und murmelte gegen ihren Haaransatz zurück: „Das sind gute Nachrichten.“

Von denen brauchte er mehr.
 

-X-
 

Als Tomoaki später am Abend mit hide im Schlepptau zurück in die Wohnung kam, geisterte gerade Terumi von der Küche zurück in ihr Zimmer, ein Glas Orangensaft in der Hand.

„Abend“, grüßte Tomoaki.

„Hallo Pata“, sagte sie.

Der solcherart Angesprochene drehte sich vorwurfsvoll in Richtung hide, welcher sich gerade gebückt hatte, um seine Schuhe auszuziehen.

„… das ist mir so rausgerutscht“, wehrte sich hide, allerdings sichtlich schuldbewusst, und richtete sich wieder auf. „Ich… äh…“ Er machte einen halben Schritt zur Seite und war damit auch schon in seinem Zimmer. Kleine Entfernungen rockten in manchen Situationen. „Gute Nacht!“

Und weg war er.

Tomoaki schüttelte schicksalsergeben den Kopf und wandte sich an seine Schwester. „Ich hab dir was mitgebracht“, sagte er und reichte ihr die Tüte.

„Danke“, sagte sie. Sie schob die Tür zu ihrem Zimmer auf und er folgte ihr nach drinnen und schob die Tür wieder zu – die Illusion von Privatsphäre.

Terumi knipste zusätzlich zur Lichterkette über dem Bett ihre Schreibtischlampe an.

„Pata, hu?“, fragte sie dann. Ihr rechter Mundwinkel wanderte leicht spöttisch nach oben.

„Verbreite es nicht…“, antwortete er seufzend.

Terumi lächelte halb und ließ sich auf den Boden zwischen eine benutzte Reisschüssel und einen linken Sneaker fallen. Ihr Bruder schaute sich unwillkürlich nach dem rechten um, wunderte sich aber nicht, als er nicht fündig wurde… sie war schon immer ein rechter Messie gewesen. Terumi nahm in der Zwischenzeit mit einem leisen Knistern die Hefte aus der Tüte. „Pata ist süß. Klingt nach einem kleinen Bären. Oder einem großen Hund.“ Sie blätterte durch die Seiten ihres Music Life. „Es passt zu dir.“

„Wundervoll.“

Sie saßen einige Minuten schweigend nebeneinander, in denen Terumi die Bilder in einem Artikel über Paul Stanley begutachtete.

„Wie geht’s Masami?“, fragte sie dann.

„Wie immer. Beschäftigt.“

„Beschäftigt ist gut.“

„Hhm.“

„Sag ihr einen schönen Gruß. Ihr altes Parfüm war angenehmer.“

„Woher willst du das wissen?“

„Tja, es ist entweder ihres oder du benutzt seit neustem Rosenduft. Es sei dir gegönnt.“ Sie blätterte in einer Art um, von der er wusste, dass es nur dazu diente, die Aura ihrer überlegenen weiblichen Intuition zu unterstreichen.

„Pff“, machte Tomoaki. Ein paar Augenblicke lang widerstand er – dann drehte er den Kopf zur Seite, um unauffällig an seiner Schulter zu riechen. Ja. Ein wenig. Mist. Hatte er heute auf Probe etwa nach Rosen gerochen? Wunderbar... Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder seiner Schwester zu und fragte sich einen Moment lang, wie viele Informationen aus der Außenwelt sie wohl auf diese Weise aufnahm, ohne das Haus verlassen (oder, wenn man darüber nachdachte, überhaupt kommunizieren) zu müssen.

Doch deswegen saß er nicht hier. Er räusperte sich und sagte, so leise, dass es selbst durch die zentimeterdünnen Wände der Wohnung nicht tragen konnte: „Also, du hast mit hide geredet, hu?“

Seine Schwester blätterte noch einmal um. „Reden wäre zu viel gesagt.“

“Mmh.” Er betrachtete einige Augenblicke lang den Teil ihres Gesichts, den er sehen konnte und fragte schließlich, ebenso leise: „Macht es dir sicher nichts aus?“

Terumi ließ die Zeitschrift in den Schoß sinken. „Was meinst du?“

„Dass er hier ist. Ich meine… Naja.“

Terumi blinzelte zweimal, als verstünde sie nicht und sagte nichts.

Ihr Bruder seufzte ergeben und setzte zu einer Erklärung an. „Du warst ziemlich… gestresst im letzten Jahr und das hier ist ein Einschnitt. Und ich will wirklich vermeiden, dass es… ein Problem wird.“

Terumi lächelte noch einmal ihr schiefes Lächeln und tauchte wieder hinter der Zeitschrift ab. „Wir hatten dieses Gespräch. Es macht mir wirklich nichts aus. Uh. Schau mal. Paul hat jetzt eine B.C. Rich mit Leo-Muster. Ist das geil oder was?“ Sie drehte das Magazin in Tomoakis Richtung.

Dieser ignorierte die Unterbrechung.

„Mich irritiert das“, sagte er.

„Da gewöhnt man sich dran“, erwiderte sie.

„Nicht die Gitarre“, sagte Pata und verdrehte die Augen. „Du. Um ehrlich zu sein hatte ich erwartet, dass du… nicht mehr rauskommst.“

Sie seufzte, ließ die Zeitschrift wieder sinken und erwiderte seinen Blick noch einmal, diesmal fast vorwurfsvoll. „Steht da irgendwo Teen Psycho auf meiner Stirn?“

„Nein“, gab er zu. In einer Ecke hatte er inzwischen den fehlenden rechten Turnschuh entdeckt. Es war ein wenig beruhigend, dass dieses Zimmer immerhin nichts verlor. „Aber angesichts der Tatsache, dass du sonst vor dem Postboten flüchtest, musst du mir ein bisschen Verwunderung schon zugestehen.“

Sie senkte den Blick auf ihre Zeitschrift, doch ihre Augen bewegten sich nicht, wie sie es hätten tun müssen, hätte sie gelesen. „Naja. Er ist ziemlich durch. Das ist mir angenehm in anderen Personen.“ Dann schien sie wieder aus ihrer Kurzzeittrance aufzutauchen, denn sie blinzelte einmal und blätterte weiter zum Artikel über Mick Jagger.

Tomoaki runzelte die Stirn, doch sagte nichts weiter dazu.

Im Haus war es ruhig und die friedliche Atmosphäre der Nacht machte auch vor Terumis Müllhalde nicht gänzlich Halt. Die kleinen Anhänger der Lichterkette hatten die Form von Sternen und diese Sterne tauchten den Raum in warmes Licht. Doch die helle Leselampe zerstörte die Idylle zu einem gewissen Grad und verlieh dem Ganzen einen Hauch von Akteneinsicht auf der Polizeistation. Von den Wänden beobachteten ihn Katzen, Paul Stanley, Alice Cooper, Paul Stanley und Gene Simmons – mit Paul Stanley. Er bemühte sich, keine Blicke mit den stummen Zeugen ihrer Unterhaltung, den zu Papier gewordenen Geschworenen zu tauschen und wartete stattdessen geduldig. Er hielt Stille besser aus als die meisten anderen Menschen. Das hier war keine Ausnahme.

Wie vorhergesagt legte Terumi schließlich Music Life zur Seite und schaute ihn an. „Ok“, sagte sie. „Spuck’s aus.“

Am liebsten hätte Tomoaki jetzt erstmal ‘Was?’ gefragt, nur um den Moment hinauszuzögern, in dem er tatsächlich sagen musste, was er hier wollte. Doch das war nicht sein Stil. Also nutzte er die Zeit, die sie sonst diese zutiefst unnötige Konversation geführt hätten dazu, sich klar zu werden, was er auszuspucken hatte.

„Du bist die erste, die nicht fragt, warum hide hier ist“, sagte er schließlich.

„Tja“, entgegnete sie und drehte sich nach ihrem Orangensaft um, der irgendwohin verschwunden war. Dieses Zimmer war ein kleines Bermuda-Viereck – wenn man hier etwas aus den Augen verlor, war es vermutlich weg. Für immer. „Dann bin ich wohl die erste, die es sich ohne Professor Pata erklären kann.“ Sie hatte ihren Saft gefunden, trank und stellte ihn dann vor sich ab.

Die Geschwister schauten sich im Halbdunkel an und Tomoaki spürte unvermittelt den Drang in sich hochsteigen, sie zum Weitersprechen zu nötigen. Plötzlich war ihm, als müsse er dringend irgendetwas hören: Eine Bestätigung in seiner Entscheidung vielleicht; das Wissen, nicht allein zu sein; die Gewissheit, dass er verstanden wurde. Und es war ihm zuvor selten so bewusst gewesen, dass seine Schwester die Person war, von der er all das brauchte.

Doch schließlich kam sie ihm zuvor. Sie fragte: „Was hast du ihnen gesagt, wenn sie gefragt haben?“

Darüber musste er einen Augenblick nachdenken. Schließlich gestand er: „Nichts eigentlich.“ Nur Worte. Manchmal mit Satzzeichen darin. Oft nicht einmal so viel. Und wenn er darüber nachdachte… war er hide gegenüber sogar am offensten gewesen. Und ob dieser ihm nicht nur geglaubt, sondern ihn auch verstanden hatte? Er wagte es zu bezweifeln.

“Gut”, sagte sie und leerte ihren Saft.

„Gut?“, fragte er.

„Gut“, bestätigte Terumi. Und dann lächelte sie und mit ihrem Lächeln verschwand auch das drängende Gefühl in seiner Brust. Es war in Ordnung. Sie verstand wirklich. Und das reichte.
 

He's not a victim, you can see it in his face

But he can't see what he's become

There ain't nobody gonna tell him what to do

Think he's a little like me and you
 

-X-
 

Der September ging bereits in einen feuchten, windigen Oktober über, als Toshi neben hide auf dem Sofa im Proberaum saß und sein Glück nicht fassen konnte.

Seit drei Wochen versuchte er jetzt, hide allein zu erwischen. Doch die Gelegenheit hatte sich nie ergeben. Da Toshi den gleichen Weg zum Proberaum hatte wie Yoshiki und/oder Taiji, war es im normalen Alltag nicht ganz einfach, sonderlich viel Extrazeit einzuplanen. Und an den wenigen Tagen, an denen er das geschafft hatte, war der Gitarrist nie als zweites aufgetaucht. Da er nicht rauchte, hatte er auch keine Entschuldigung, hide einmal zu viel hinterherzulaufen und als der Leadgitarrist schließlich bei Pata eingezogen war, hatte Toshi alle seine Hoffnungen begraben und sich schon einmal darauf gefasst gemacht, einsam und allein zu sterben.

Doch an diesem Tag war alles anders.

Sie hatten Jan-Ken-Pon gespielt, Yoshiki und Pata waren in der Folge losgezogen, um das Abendessen zu kaufen, Taiji war eine rauchen gegangen und plötzlich war er mit hide allein.

So einfach.

So unglaublich.

Der Gitarrist hatte sich vor einigen Minuten aufs Sofa gesetzt und übte ein wenig vor sich hin. Neben ihm stand eine große Taschentuchbox, die erklärte, warum er auf die Raucherpause verzichtet hatte: er war seit vorgestern total erkältet. Gerade nieste er zweimal, sagte „‘Tschuldigung“ und griff sich ein neues Taschentuch. Es war der Wahnsinn, dachte Toshi, dass jemand, der so verrotzt war, immer noch so niedlich sein konnte wie ein niesendes Pandababy. Langsam schwante ihm allerdings, dass seine Wahrnehmung was hide anging möglicherweise manchmal ein ganz klein wenig verzerrt war.

„Du hättest vielleicht im Bett bleiben sollen“, sagte Toshi.

„Ach“, sagte hide dumpf von hinter dem Taschentuch, schnäuzte sich und hustete einmal. „Nein. Ich war ja auch in der Schule, wenn ich das überstehe, will ich auch hierher kommen... Vermutlich ist das der Stress, der nachlässt… Dabei hab ich überhaupt keine Zeit, um krank zu sein. Naja, egal. Halt einfach ein bisschen Abstand. Ich bin ein Mutterschiff der Viren.“ Er warf das Taschentuch in den Müll und hustete noch einmal.

„Magst du einen Tee?“, fragte Toshi.

„Ja. Danke. Da ist Erdbeer auf dem Kühlschrank“, nuschelte hide nasal und kehrte endlich zu seiner Melodie zurück.

Toshi stand auf, um sein Angebot in die Tat umzusetzen. „Enthält sicher alles außer Erdbeeren“, bemerkte er, kippte aber etwas Wasser von einer Flasche in den Wasserkocher und hängte einen Teebeutel in die Tasse. Dann ging er neben dem Gerät in die Hocke, um abzuwarten.

Eine halbe Minute lang lauschte er den ätherischen Gitarrenklängen und dem weniger ätherischen Schniefen vom Sofa und versuchte krampfhaft, einen erneuten Gesprächseinstieg zu finden. Jetzt, wo es wieder halbwegs normal war, hide hier zu haben, war sein altes Problem zurückgekehrt – nicht mit diesem Wesen reden zu können, als wäre es ein Normalsterblicher. Toshi riskierte einen Seitenblick. hide war aber auch wundervoll! Scheiße verdammt. Er knetete seine Finger. Einen nicht unwesentlichen Teil des Augusts hatte er damit zugebracht, sich einzureden, dass es vielleicht gar nicht so schlecht war, hide ein paar Wochen nicht zu sehen, um die Sache noch einmal mit ein wenig Abstand bewerten zu können. Nach ausgiebigem Starren an seine Zimmerdecke, langen Joggingrunden über die Felder und verstohlenen Blicken in einschlägige Magazine war er sich sicher: es waren nicht Männer. Also – was ihm gefiel. Es war absolut nichts falsch an weiblichen Kurven in oder außerhalb spitzenbesetzter Unterwäsche. Auf der anderen Seite tat sich beim Anblick prominenter Kinne und verheißungsvoll praller Boxershorts gar nichts. Und trotzdem bestand absolut kein Zweifel an dem, was hier passiert war. Glückshormone logen nicht.

Der Wasserkocher schaltete sich mit einem Klicken ab, als die Maximaltemperatur erreicht war und das Geräusch riss Toshi aus seinem Tagtraum. Was machte er denn hier? Da wartete er die ganze Zeit auf die passende Gelegenheit, dann bekam er eine und jetzt saß er hier und baute Luftschlösser. Toshi löste seine Hände voneinander. Wer wusste, wann Taiji wieder runterkam? Wer wusste, was nach der High School passierte? Wer wusste, ob sie sich noch einmal wiedersahen, wenn sie sich heute Nacht trennten? Selbst jetzt, wo hide eine Bataillon Killerviren auszubrüten schien, konnte sich Toshi keinen schöneren Ort auf der Welt vorstellen als hier. Mit ihm. Das sollte was heißen. Und wenn man einmal wusste, mit wem man einen Abschnitt oder, falls so möglich, den Rest seines Lebens verbringen wollte, dann musste man dafür sorgen, dass dieser Rest so schnell wie möglich begann.

Das Leben endete jede Sekunde. Ihre gemeinsame Zeit war begrenzt.

Toshi drehte sich in der Hocke zu dem Jungen auf dem Sofa und sagte in einem Ruck und ohne noch einmal darüber nachzudenken: „Willst du mal mit mir Abendessen gehen?“

Die Luft im Raum kam ihm auf einmal drückend und leicht elektrisiert vor, wie kurz vor einem Sommergewitter; schwer mit dem Gewicht hunderter von Dingen, die sich aus diesen Worten ergeben konnten. Die Zeit lief langsamer und langsamer und kam schließlich für einige Sekunden zum Stillstand, in denen Toshi nur seinen eigenen Herzschlag und das letzte Blubbern des heißen Wassers im Wasserkocher hörte.

Der Gitarrist hatte bei der Unterbrechung aufgehört zu spielen, schaute sich jetzt einmal suchend über die Schulter, fand dort niemanden, nahm das Plektrum aus dem Mund und fragte überrascht: „Ich?“

Seine Stimme renkte das Raum-Zeit-Kontinuum wieder ein und Toshi antwortete in Echtzeit: „Es ist sonst keiner da.“

„Öhm…“, machte hide also verdutzt, aber nicht unfreundlich. „Klar.“

Die Art, wie er Klar sagte, machte Toshi sehr deutlich, dass hide die Implikation hinter der Einladung nicht verstand. Alle Konversationen, die er sich in seinem Kopf ausgemalt hatte und die irgendwie mit Variationen der Frage ‘Du meinst… als Freunde?‘ und seiner Antwort (‘Nein‘) begannen, waren auf einmal nutzlos. Was jetzt? Er konnte hide schlecht mit der Nase auf die eigentliche Bedeutung seiner Frage stoßen! Oder? Toshi wünschte sich einen Zettel mit einer ausgearbeiteten Liste für einen Fall wie diesen. Doch er hatte keinen gemacht. Und außerdem sprach hide bereits weiter.

„Aber ich muss dich warnen“, sagte er. „Ich bin etwas knapp mit dem Do-Re-Mi. Das heißt du hast die grandiose Auswahl zwischen Yakitori-Stand und dem billigen Ramenladen am Hokujo-Park.“ hide schniefte und griff nach einem neuen Taschentuch.

Toshi musste lächeln. „Billigramen sind absolut in Ordnung.“

Er wandte sich ab, um den Tee aufzugießen.

Gut, dachte er, als er dem Gitarristen die dampfende Tasse anreichte, gerade als Taiji wieder zurückkam. Vielleicht war das als erster Schritt sogar klüger so. Dann war es eben kein offizielles Date. Aber immerhin: er hatte es geschafft. Und ein paar Stunden mit hide allein konnten überall hinführen.

Die Zukunft war weit offen.
 

-X -
 

„Also gut“, hörte Toshi eine wohlbekannte Stimme, als er dem schmalen Grünstreifen zwischen der Turnhalle und dem Biologietrakt folgte. „Karten auf den Tisch, Gentlemen.“

„He!“, protestierte eine weibliche Stimme.

„Karten auf den Tisch, Gentlemen und die Lady“, verbesserte sich der Sprecher.

„Danke. …das gibt es doch nicht! Du Flachwichser!“

„Das ist jetzt schon das, was, siebte Mal?“, sagte eine andere Stimme.

Toshi bog um die Ecke der Turnhalle. Unter einem Grinkobaum saßen vier Gestalten, eine davon Yoshiki, um einen Stapel Schulbücher, auf denen Karten und Münzen lagen. Naja, dachte er innerlich seufzend, zumindest benutzten sie die Bücher zu irgendwas.

„Ich glaub, Hayashi betrügt“, sagte der Junge mit den zurückgegelten Haaren gerade.

Yoshiki sammelte die Münzen ein. „Ich glaub, ihr seid schlechte Verlierer.“

„Was macht ihr denn da?“, fragte Toshi ein wenig leidend und ging die letzten Meter zu ihnen hinüber.

Yoshiki hob den Blick, grinste und winkte ihm mit seiner Zigarette zu. „Wir spielen. Ich gewinne.“

Mit einem Seufzen und einem verstohlenen Blick über die Schulter ließ sich Toshi zwischen Yoshiki und den bulligen Daisuke fallen und schaute in die Runde. Diese bestand aus den üblichen Verdächtigen: Mori Taro, einem wie Toshi fand etwas unangenehmen Jungen aus der zehnten Klasse, der zu selten badete, zu viel Gel benutzte und immer eine Adidasjacke trug, Kato Emi, einem Mädchen mit aufgehellten Haaren, das sich die Nägel in schrecklichen Farben lackierte und keinen Satz rausbrachte, ohne mindestens einmal zu fluchen und eben Watanabe Daisuke, der zwar groß und breit und dämlich, aber eigentlich harmlos war.

„Is‘ schon Pause?“, fragte Yoshiki und mischte die Karten.

„Ja“, sagte Toshi seufzend. „Also du könntest zumindest ein bisschen die Zeit im Auge behalten.“

„Tz“, machte Yoshiki. Er verteilte Karten und alle vertieften sich für einen Augenblick in ihr Blatt, bevor er weitersprach. „Ich geh erst wieder in Japanisch und in Englisch. Das sind die letzten zwei Stunden. Alles cool.“

„Du bist ein ziemlicher Partypupser“, bemerkte Kato. Sie kaute auf eine äußerst enervierende Art Kaugummi. „Ich erhöhe um 300.“

„Danke“, sagte Toshi ungerührt. Er mochte Emi nicht sonderlich. Und bei jemandem, der sonst glaubte, alle Frauen verdienten zumindest den leichten Ansatz ritterlichen Verhaltens, hieß das wirklich was.

„Du bluffst“, sagte Taro und dann zu den anderen, „sie blufft.“

„Deine Mutter blufft“, sagte das Mädchen. „Gehst du mit oder bist du raus?“

„Ich geh mit. Und erhöhe um 200.“

„Gibt’s irgendwas oder ist dir einfach langweilig?“, fragte Yoshiki. „Und schau mal bitte bei Dai in die Karten und blinzle, wenn er zwei Damen hat.“

Toshi verdrehte die Augen und machte natürlich nichts dergleichen. Daisuke hatte Oberarme wie er Waden. Auf seiner Todesliste wollte man nicht stehen. „Beides. Urano-san hat mich gerade auf dem Gang angehalten. Er will wissen, ob du an der Zeugnisübergabe Klavier spielst und du sollst mal vorbeischauen. Und ich wollte dich ans Mittagessen erinnern.“

Yoshiki schnaubte und tauschte eine Karte. „Ich hab das zweimal gemacht und trotzdem gibt der Arsch mir immer nur beschissene Noten. Wenn er glaubt, dass ich auch nur noch einmal irgendwas für ihn oder für sonst wen hier tue, dann ist er schief gewickelt. Und ich hab keinen Hunger.“

„Vielleicht würde er dir mal bessere Noten geben, wenn du hingehen würdest, ohne dich die ganze Zeit zu beschweren, dass du seinen Unterricht inkompetent und langweilig findest.“ Toshi, der mit dieser Antwort gerechnet hatte, zog einen Apfel aus seiner Umhängetasche und legte ihn Yoshiki in den Schoß.

„Ich bin raus“, sagte Daisuke und warf seine Karten ins Gras.

„Ach, geh ihn doch heiraten!“, rief Yoshiki genervt. Er ging 500 Yen mit. „Er hat mir jetzt in zweieinhalb Jahren nichts, aber auch gar nichts beigebracht, das für Musik auch nur annähernd relevant gewesen wäre. Damit muss er leben. Er kann mich mal und ich spiel nicht nochmal Klavier und Nein, ich komponier ihm auch nichts mehr für seine scheiß Bigband! Sag ihm das!“ Yoshiki wandte sich wieder an seine Pokerrunde.

„Sag es ihm selbst“, murrte Toshi. „Ich bin doch hier nicht der Postbote. Und iss was.“

„Hör auf, mich zu nerven.“ Yoshiki nahm den Apfel und biss ein zu großes Stück ab. „Tschufried‘n? Mawnn.“

„Wenn ich euch beide so anschaue“, sagte Emi, „dann will ich niemals heiraten.“ Sie tauschte eine Karte.

„Ach komm“, sagte Taro und beugte sich ein Stück zu ihr (sie steckte ihre Karten zum Schutz vor seinen Blicken in ihren Ausschnitt). „Tu nicht so. Wir wissen beide, dass man die Spannung zwischen uns beiden mit einem dieser labbrigen Plastikmesser von McDonalds schneiden kann.“

Emi drehte den Kopf in seine Richtung und machte eine Kaugummiblase, die an seiner Nase kleben blieb und mit einem leises ‘Plopp‘ dort platzte. Dann sagte sie: „Du bist in Ordnung. Aber ich könnte mir einen besseren Mann aus einer Banane machen. Keine Beleidigung.“

Taro zog einen missbilligenden Flunsch und entfernte ein Stück Kaugummiblasenaußenhülle von seiner Nasenspitze. „Wo genau ist das keine Beleidigung?“

„Ich will sehen“, unterbrach Yoshiki und nahm noch einen Bissen Apfel.

„Full House“, sagte Taro.

„Scheiße“, brummte Emi und warf ihre drei Joker, eine Sieben und eine Zehn von sich.

„Scheiße“, sagte auch Yoshiki. Toshi hatte bereits gesehen, dass er einen Flush auf der Hand hatte. „Toshi, du hast meine Glückssträhne unterbrochen!“, nörgelte er vorwurfsvoll in die Richtung seines Freundes.

„Wurde ja auch mal Zeit“, sagte Daisuke.

„Soll ich wieder gehen?“, fragte Toshi pikiert. Er hatte jetzt auch nicht gerade die Zeit seines Lebens hier!

„Nein. Oder ja. Aber ich komm mit.“ Yoshiki griff nach seinen Sachen. „Ich wollte eh gerade Schluss machen.“

„He!“, rief Taro. „Du musst uns zumindest die Chance geben, unser Geld zurückzugewinnen!“

„Einen Scheiß muss ich“, verkündete Yoshiki. „Aber um euch zu beweisen, dass ich kein Arsch bin, geht nächste Woche ein Getränk eurer Wahl auf mich.“

„Hört hört“, sagte Emi. Sie stand ebenfalls auf und zog ihre zwei Bücher aus dem Stapel.

„Geht ihr jetzt alle oder was?“, fragte Dai.

„Ich bin blank“, sagte Emi und fuhr ihm einmal gegen den Strich durch die Haare. „Und ohne Hayashi seid ihr nicht mehr die Runde, wo ich mit was anderem als Geld bezahlen will.“

Langsam schlenderten sie den Weg zurück, den sie gekommen waren. Toshi schien der Einzige hier zu sein, der sich ein wenig unwohl fühlte und erst wieder leichter atmete, als sie ungestört den Pausenhof erreicht hatten. Dort wandte Emi sich an Toshi. „Hast du noch so ‘nen Apfel?“

Wortlos griff er in seine Schultasche und reichte ihr seinen eigenen. Er war ein Gentleman. Und ein Trottel. Toshi seufzte innerlich. Frauen waren einfach sein Kryptonit.

„Cool. Danke.“ Sie biss ab und schaffte das irgendwie, ohne sich dabei den Lippenstift zu ruinieren. Dann wandte sie sich weiter an Yoshiki und schlug ihm gegen den Oberarm. „Yo-chan, ich brauch ein paar Yen zurück. Das war mein Busgeld. Ich lauf nicht. Laufen ist für Loser.“

Yoshiki reichte ihr einige Münzen.

Sie steckte das Geld ein, nahm noch einen Bissen Apfel, reichte den Rest Toshi zurück und ließ sie dann stehen - nicht ohne ihnen über die Schulter noch eine letzte Kusshand zuzuwerfen.

Stirnrunzeln betrachtete Toshi das angebissene Obst mit den Lippenstiftresten in seiner Hand und wandte sich dann an seinen Freund. „Sie ist unglaublich…“ Er ließ den Satz offen enden, weil er nicht wusste, ob er sich für nervig, anstrengend oder das doch etwas harte nuttig entscheiden wollte.

Doch Yoshiki zuckte ohnehin mit den Schultern. „Ach, naja. Sie ist nicht so übel.“

Mit sich ringend blickte Toshi zurück auf den Apfel und biss schließlich von der dem lila Lippenabdruck gegenüberliegenden Seite ab. „Warum verteidigst du sie?“

„Ah, ich weiß nicht.“ Yoshiki winkte ab. „Es ist noch kompliziert.“

„Ihr wart einen Sommer zusammen und das ist über ein Jahr her.“

„Ich hab sie nackt gesehen. Das verändert alles.“ Yoshiki warf das Apfelgehäuse im Vorbeigehen in einen Mülleimer. „Also“, sagte er dann. „Was gibt es? Außer Klavier-Geschichten?“

„Kann ich nicht mal nach dir gucken, ohne was zu wollen?“ Toshi arbeitete sich in großzügigem Abstand um die Bissspuren herum.

„Doch. Aber wir verbringen normalerweise nicht viel Poker-Zeit miteinander.“ Yoshiki bog in Richtung Bücherei ab.

Toshi folgte ihm, ohne darüber nachzudenken.„Ok. Ja. Ich wollte mit dir reden. Und zwar… ähm…“ Er nestelte am Gurt seiner Tasche herum. Der Anfang war immer am Schwersten. Er hatte einen Zettel in der Tasche. Auf diesem stand: Yoshiki, ich muss dir was sagen. Dir wird das nicht gefallen, wegen der Band und allem. Es ist riskant und ich weiß das, aber so ist es halt und du bist mein Freund und deswegen finde ich, solltest du das wissen. Die Sache ist: Ich mag hide ein bisschen mehr, als ursprünglich geplant. Und ich weiß nicht, ob ich eine Chance habe, oder haben sollte, oder… alles. Du kennst ihn besser als ich und du kennst mich manchmal auch besser als ich. Was denkst du?

„Also… es…“

Er schaute Yoshiki an. Er konnte das. Ja, er konnte das.

Ja.

Nein.

Er konnte das nicht.

Toshi seufzte innerlich. „Ich hab ‘ne Idee für No Connexion.“ Auch das stimmte… Es war also nicht so, dass er log. Er sagte nur nicht ganz die Wahrheit.

„Ok?“, machte Yoshiki gedehnt und warf ihm einen etwas argwöhnischen Blick zu. Offenbar fragte er sich, was an dieser Info jetzt so grandios war, dass es rumdrucksen erforderte. Doch vermutlich kam er zu dem Schluss, dass es sich hierbei wohl um eine von Toshis Eigenarten handeln musste, die hin und wieder spontan ausbrachen. „Dann folge mir in die Bibliothek und berichte mir.“

„Was machst du denn freiwillig in der Bibliothek?“, fragte Toshi, während sie die Treppe nach oben stiegen.

„Was sind denn das für infame Unterstellungen?“, entrüstete sich Yoshiki neben ihm. „Zu deiner Information, ich bin sehr oft in der Bibliothek.“ Er hatte kein Problem mit Lesen, solange man ihn nicht dazu zwang.

„Ok.“ Diesmal war es Toshi, der argwöhnische Blicke verteilte. Genau wie zuvor er selbst, reagierte auch Yoshiki nicht darauf.
 

Einige Minuten später saßen sie an einem der langen weißen Tische am Fenster nebeneinander und schauten auf ein Blatt Papier. Toshi hatte einen (anderen) Zettel aus der Tasche gezogen, auf dem er sich eines Abends ein paar Gedanken notiert hatte. Der Schlagzeuger war jetzt dabei, es mit seinen eigenen Vorstellungen zu verbinden.

„Sag mal“, sagte Toshi schließlich unvermittelt, während Yoshiki noch herumkritzelte, „hat hide eigentlich mal was erwähnt, dass er eine Freundin hat? Oder so?“

„Nein“, antwortete Yoshiki abwesend. „Und ich denke auch nicht. Wenn er eine hätte, wäre das doch der erste Ort, an dem er sich einnistet."

„Mmh", trug Toshi seinen Teil zur Konversation bei. So betrachtet machte das natürlich schrecklich viel Sinn. Das bedeutete, er hatte theoretisch tatsächlich Chancen. Es gab noch niemanden, dem er hide entreißen musste. Unzählige Stunden Kopfkino also mal wieder völlig umsonst geschaut. Aber es war auch auf allen Kanälen dasselbe gelaufen - was hätte er machen sollen?

„- gemacht?", fragte Yoshiki.

„Hä?", machte Toshi, aus seiner kurzen Abwesenheit hochfahrend. Das mit diesen Sekundentagträumen wurde noch ein echtes Problem!

Sein Freund tippte mit dem Stift aufs Papier und seufzte. „Ich fragte", sagte er, anscheinend nicht zum ersten Mal und deshalb überdeutlich, „ob du eigentlich was mit deiner Stimme gemacht hast."

„Wie meinst du?", fragte Toshi zurück. „Ich hab... ein bisschen geübt. Falls du das meinst. Falls du meinst, dass sie scheiße klingt - keine Ahnung. Sorry."

„Nein", sagte Yoshiki und verdrehte die Augen. „Klingt gut. Besser. Was auch immer."

„Danke", sagte Toshi.

„Wie kommt's?", fragte Yoshiki, einige Nuancen leiser. Die Bibliothekarin war wie ein Schatten zwischen den Regalen aufgetaucht, wohl um zu sehen, wer ihren geheiligten Tempel der Stille entweihte.

Toshi zuckte mit den Schultern und ließ den Blick über das Regal rechts von sich wandern. An einem dicken Buchrücken blieb er hängen. Es war Tolstois Auferstehung. „Weil es ein paar Sachen gibt", wollte er antworten, „die ich scheinbar anders nicht sagen kann."

Er sagte nichts.


Nachwort zu diesem Kapitel:
* In Länge und Breite
mißt diese Grashütte kaum
fünf Fuß! – Hätte ich mich
abgemüht, sie zu errichten,
wenn es den Regen nicht gäbe? Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  SamAngel
2017-06-08T12:33:12+00:00 08.06.2017 14:33
„hide!“, rief Toshi glücklich und schloss die Tür hinter sich. Er ist zurück! Es war ihm vorher nie aufgefallen, aber: Das war sein Lieblingssatz! <--------Welcome back!!

Yoshiki starrte erst einmal. Ein Teil von ihm wollte hide einfach um den Hals fallen. Optional auch mit Heulkrampf. Der andere Teil aber blieb wo er war und verschränkte schließlich mit versteinertem Gesichtsausdruck die Arme. <---------Ach Yosh..nich heulen..er is ja wieder da!!

Yoshiki trat einmal beherzt gegen den Mülleimer, der scheppernd in der Ecke zwischen Sofa und Kühlschrank landete. Zum Glück war er leer. <-------Besser der Eimer als Hide :)

„Echt, Scheiß-Aktion! Alles davon! Wie soll jemand mit dir befreundet sein, wenn man nicht drauf vertrauen kann, dass – Ich meine, gibt es irgendeine anständige Gehirnzelle da drin, die eine Vorstellung davon hat, wofür Freunde da sind?!“ Er hatte vor hide geendet und deutete mit einer Hand auf dessen Kopf. Die andere hatte er in die Hüfte gestemmt.
Der Gitarrist schluckte einmal, von dem Ausbruch vollkommen überrumpelt und lugte eingeschüchtert zu der vor ihm aufragenden Gestalt Yoshikis hinauf. Für so einen schmalen Kerl konnte er ziemlich furchteinflößend sein. „… dafür, anderen Freunden zu verzeihen, wenn die sich aufführen wie Vollärsche?“, piepste er vorsichtig. <---------Das is unendlich suess!!

Hide zieht bei Pata ein..die beste Idee, die diese Chaoten je hatten!! *Pata rockt*

Pata und seine Freundin..einfach suess und knuffig :D

Toshi hat end..endlich sein Date mit Hide..na mal gucken, was da bei raus kommt.



Man liest sich wieder.

LG
Sam
Von:  NatsUruha
2017-06-03T20:21:27+00:00 03.06.2017 22:21
Hide is immer noch verschwunden?
Och Mensch. O.o

Kommando zurück... :
Welcom back hide.. :3

Die Erkenntnis kommt früh, lieber Toshi...
Aber ob die Hilft?

Yoshi .. wird er hide zerknuddeln oder abmurksen? O.o

Umarmung.. gut.. *erleichtert*

Das ist aber lieb das sie hide anbieten bei Pata zu wohnen.. :D

Und er lehnt ab?
Eijee o.o

Muhahhhaaa xD
Das is doch mal ein Angebot.. lolz.. xD

Pata hat eine Freundin?
Wie süß ~

Und da wars auch schon wieder mit dem Kap...


Bis zum nächsten mal..
Lg







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