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Zweite Halbzeit

von

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Es war vorbei. Filiz konnte es nicht fassen. Sollte das wirklich alles gewesen sein?

Als ihre Freundin Anja im vergangenen Jahr auf die Schule kam und begann, aus einer Gruppe von Außenseitern ein Fußballteam zusammenzustellen, hatte sie sich noch große Hoffnungen gemacht. Es ging nicht um das Spielen an sich, sie genoss die Gesellschaft der anderen, die sie nicht als das „komische Goth-Mädchen“ bezeichneten wie der Rest der Schule. Mit ihren kurzen, rot-schwarz gefärbten Haaren und ihrem markanten Gothic-Lolita-Stil fiel sie an einer normalen deutschen Schule schon ordentlich auf und hatte nicht viele Freunde. Doch seit sie mit Anya den zweiten Fußballclub der Schule gegründet hatte, fühlte sie sich endlich zu einer Gruppe dazugehörig, besser noch: zu einer richtigen Mannschaft.

„Das ist nun ein Jahr her“, dachte sich Filiz während sie auf dem Dachboden ihres Hauses saß und ein weißblaues Lolita-ähnliche Kleid auf einer Schneiderpuppe betrachtete. Da sie näherisch sehr begabt war, war sie für die Kleidung der Spieler verantwortlich.
 

Die üblichen Dressen bestanden aus einem schwarzen Shirt und einem schwarzen Minirock auf denen rot-weiße Kreuze aufgenäht waren. Doch dieses Kleid war etwas Besonderes. Anyas Freundin Luise, Loo genannt, hätte es als Torhüterin tragen sollen.

Filiz hatte es bis jetzt nicht übers Herz gebracht, das Kleid wegzuräumen. Langsam strich sie über den Stoff und seufzte. „Sie hat es nicht einmal anprobiert.“
 

In der Schule herrschte seit der Trennung eine recht niedergeschlagene Stimmung. Die Mannschaft hatte sich in kleine Gruppierungen aufgespalten in denen sich jeder nun möglichst aus dem Weg ging.

Fußball spielten jetzt nur mehr Anya und die kleine Julia, die schon vor Anyas Schulwechsel in der ersten Mannschaft gespielt hatte. Wobei „gespielt“ sehr positiv ausgedrückt ist, in Wirklichkeit wurde sie von dem Trainer jedes Mal nach dem Aufwärmtraining auf die Ersatzbank geschickt, auf der ihr nun auch wieder Anya Gesellschaft leistete.
 

„Das ist so lächerlich“, jammerte Anya während sie ihre Fäuste zusammenballte, „Wir hatten eine eigene Mannschaft! Warum sitzen wir jetzt erst wieder auf der Ersatzbank?!“
 

„Weil du Leon nicht verzeihen konntest“, antworte Julia trocken. Sie konnte sich Anyas Beschwerden jeden Tag anhören, während die restlichen (männlichen) Teamkollegen am Platz trainierten.
 

Anya war über Julias ehrliche Antwort sichtlich empört. „Das…das stimmt nicht! Ich wollte Leon nur aus der Mannschaft raus haben weil er gestört hat.“
 

Und wieder musste Julia ihre Freundin auf den Boden er Tatsachen zurückholen. „Er hat eigentlich nur dich gestört. Und das auch nur wegen einer Sache, die fast zehn Jahre zurückliegt. Niemand sonst hatte ein Problem mit ihm und wenn du ihm verziehen hättest würden wir jetzt spielen anstatt tagaus tagein die Ersatzbank zu drücken.“

Wütend blies Anya ihre Wangen auf und schmollte vor sich hin. Was sie so traf war die Tatsache, dass Julia Recht hatte. Leon hatte sie als Kind gemobbt und ihr das Leben zur Hölle gemacht. Aber er war damals erst acht und konnte sich heute gar nicht mehr daran erinnern. Er hatte sie um Verzeihung gebeten, mehrmals sogar doch mehr als einen heftigen Tritt in die Leistengegend konnte er Anya nicht abringen.
 

Anya schluckte. „Vielleicht hätte ich ihm verzeihen sollen. Wenn nicht für mich, dann doch wenigstens für die Mannschaft.“

„Das bringt nichts“, erwiderte Julia. „Es ist nobel von dir, dass du dich opfern willst aber eigentlich wollten Filiz, Loo und ich immer, dass du es für dich selbst machst. Wir haben bemerkt, wie es dir in seiner Nähe geht. Du wirst nervös und unruhig und du meidest manche Plätz an der Schule um ihn möglichst nicht anzutreffen. Uns ist klar, dass es eine schwere Situation für dich ist aber willst du wirklich für den Rest deiner Schulzeit von einem Vorfall bestimmt werden, der schon so lange zurückliegt?“
 

Bevor Anya darauf antworten konnte pfiff der Trainer das Spiel ab. Damit war die Fußballstunde beendet. „Bis morgen dann“, grinste er schadenfroh, während seine Jungs keuchend auf dem Rasen standen.

Das Lachen verging ihm allerdings in dem Moment als er Anya auf sich zukommen sah.
 

„Du solltest doch unter der Dusche sein“, äußerte er misstrauisch.

Anya hob eine Augenbraue. „Duschen nach dem Sport setzt normalerweise voraus, dass man erst mal Sport gemacht hat. Wieso dürfen Julia und ich nie mitspielen?“

Der Trainer nahm sein Cappi ab und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Dann schüttelte er leicht genervt den Kopf und blickte Anya in die Augen. „Tsss, da ist sie wieder.“ Er beugte sich zu ihr hinunter. „Die gleiche trotzige Entschlossenheit wie auf dem Fußballplatz. Ok, deine Mannschaft hat meine Jungs zumindest von ihrem hohen Ross runtergeholt, mehr aber nicht. Und wenn ich mich recht erinnere, kam euer eines Anstandstor von dem Typen, den du offensichtlich nicht leiden kannst. Delia hat mir von eurem Geplänkel erzählt. Irgendwie musste sie mir ja erklären, warum ihr den Platz nicht mehr braucht obwohl ihr so hart dafür gekämpft habt“, zwinkerte er ihr zu.
 

Anya sah zu Boden. „Ich habe mich geirrt, ich dachte immer Leon wäre das größte Arschloch auf dieser Schule.“
 

„Bitte?“
 

Sie hob ihren Kopf und starrte ihm tief in die Augen. „Aber eigentlich sind SIE das. Jetzt reicht es mir!“, mit diesen Worten zog sie wild an ihrem Trikot und versuchte es über den Kopf zu bekommen.
 

Der Trainer stand derweil daneben und wusste nicht so recht wie er reagieren sollte. „Wenn ich ihr nicht helfe erstickt sie vielleicht und ich hab eine Klage am Hals weil es die Trikots meiner Mannschaft sind. Der Rektor wird mich feuern und ich kann die Studiengebühren nicht mehr bezahlen. Aber wenn ich ihr helfe muss ich sie anfassen und dann verklagt sie mich wegen sexueller Belästigung. Der Rektor wird mich feuern und ich kann die Studiengebühren nicht mehr bezahlen. Und die Miete auch nicht. Schon wieder...Moment, wie lang stehe ich hier eigentlich schon? Die zappelt ja immer noch rum und ich schaue ihr dabei zu. Oh Gott, was mache ich nur?“
 

Im nächsten Moment hatte er ein Trikot im Gesicht. Damit hatten sich alle vorangegangenen Fragen erledigt. Als er sich das Trikot aus dem Gesicht zog sah er eine sichtlich wütende Anya, die vor ihm stand und mit dem Finger auf ihn zeigte. „Ich verlasse die Fußballmannschaft!“
 

Der kurzen aber umso heftigeren Panik des Trainers folgte nun wieder seine gewohnte Coolness. „Danke, damit tust du mir echt einen Gefallen. Wenn du jetzt noch Julia mitnimmst kann ich mich wieder voll und ganz auf das Training der Jungs konzentrieren.“
 

„Sie sollten mich nicht mehr verarschen!“
 

Anteilnahmslos zuckte er mit den Schultern. „Was willst du tun? Eine eigene Mannschaft gründen? Weil das ja letztes Mal so gut geklappt hat?“
 

Anya hatte genug gehört. Bevor sie dem Trainer noch ernsthaft weh tun wollte drehte sie sich um und ging Richtung Umkleidekabine.
 

Er winkte ihr mit dem Trikot nach. „Willst dus nicht doch noch kurz haben?“
 

In diesem Moment wurde Anya erst bewusst, dass sie gerade nicht mehr als einen Sport-BH trug und der Weg zur Umkleide quer über das Schulgelände führte. Sie machte kehrt, schnappte das Trikot, zog es in Eile so „elegant“ über den Kopf wie sie es ausgezogen hatte und begann heftigst zu fluchen während sie alles trat, was ihr in den Weg kam.

Der Trainer setzte seine Kappe wieder auf, zog sie zurecht und sah Anya nach. „Donnerwetter, wenn die so spielt wie sie fluchen kann könnten wir ernsthafte Probleme bekommen.“
 

Filiz saß verträumt an ihrem Tisch und sah aus dem Fenster. Nicht einmal dem Klingeln der Schulglocke schenkte sie besondere Beachtung. Plötzlich landete eine Hand auf ihrem Pult und ließ sie hochschrecken.

„Na wie gehts, Fizzers?“, grinste ein blondes Mädchen sie an. Es war allerdings kein freundliches Lächeln, sondern eines deutlicher Verachtung.
 

Filiz vergrub ihr Gesicht in ihren verschränkten Armen auf dem Tisch. „Geh weg, Marie,“ murmelte sie.

Marie beugte sich zu ihr nach vor. „Wie bitte? Ich hab dich nicht verstanden?“
 

„Sie hat gesagt, dass du verschwinden sollst!“, hörte sie eine Stimme in der Klasse. Anya war gekommen und zeigte mit dem Finger Richtung Ausgang.
 

Anyas Stimme ließ Filiz hochsehen. „Anya? Warum warst du nicht im Unterricht?“
 

„Ich hatte Sport, das war allerdings meine vorerst letzte Stunde.“
 

Marie, die immer noch bei Filiz stand, amüsierte sich sichtlich darüber. „Hahaha, das war ja so klar. Es wundert mich, dass es Nick so lange mit dir ausgehalten hat. Ich hätte dir sofort gezeigt, dass in den Sportmannschaften kein Platz für dich ist. Ach, das habe ich ja schon“ Dann griff sie in ihre Tasche und packte ein Schokobon aus. Es war sichtlich geschmolzen, Marie kratzte es aber dennoch aus der Verpackung. „Komm ja nicht auf die Idee, nochmal bei Basketball anzuheuern.“

Dann leckte sie die letzten Reste aus der Verpackung und ging Richtung Ausgang. Im Vorbeigehen klatschte sie Anya das Schokopapier auf die Stirn und verschwand aus der Klasse.
 

„Uargh, wie ekelhaft!“ Anya stand mit ausgestreckter Zunge und zusammengekniffenen Augen vor dem Spiegel er Mädchentoilette. „Ich kann schrubben sooft ich will, es fühlt sich immer noch furchtbar an!“
 

Sichtlich zerknirscht stand Filiz neben ihr und reichte brav ein Blatt Toilettenpapier nach dem anderen. „Danke, dass du mir geholfen hast. Tut mir leid, dass du Maries `Geschenk‘ abekommen hast.“
 

Anya bis sich auf die Lippe während sie hochkonzentriert auf ihrer Stirn herumwischte.

Filiz fuhr fort: „Sie hat es echt auf dich abgesehen seit du versucht hast, in ihr Basketballteam zu kommen.“ Anya bemerkte im Spiegel, wie Filiz nervös an dem Toilettenpapier herumzupfte.
 

„Sag mal, kann es sein, dass sie dir schon öfter auf die Nerven gegangen ist, bevor ich auf die Schule gekommen bin?“

Filiz` Atem stockte.
 

„Ich warte schon die ganze Zeit darauf, dass du wütend wirst, mir Vorwürfe machst oder fragst warum das vorhin meine letzte Sportstunde war. Aber du bist teilweise noch mehr auf Marie fixiert als ich – und immerhin hat sie ein Schokopapier auf meiner Stirn fixiert.“
 

Filiz schluckte. „Wir hatten in der Vergangenheit so unsere Probleme miteinander. Ich habe wegen meinem Kleidungsstil immer recht viel Aufmerksamkeit bekommen obwohl ich das eigentlich gar nicht wollte. Mir gefallen die Sachen einfach. Marie hasst es wenn sie nicht im Mittelpunkt steht, deswegen bin ich ihr Lieblingsopfer. Wenn ich in der Klasse bin ist es nicht schlimm aber alleine werde ich mit ihr einfach nicht fertig. Sie lässt keine Gelegenheit aus, mich als dumm und unfähig zu bezeichnen.“
 

Anya erinnerte sich an ihre erste Begegnung mit Filiz und Marie. Sie kam mit Lou in die Klasse und wurde von allen wegen ihrem guten Notendurchschnitt bewundert. Nur Marie ließ das unbeeindruck und als Filiz versuchte, Anya zu verteidigen, beschimpfte Marie sie.
 

„Hast du deswegen so heftig reagiert, als ich Delia zu uns ins Team geholt habe?“
 

Filiz nickte. „Ich hatte die Befürchtung, dass sie genauso ist wie Marie. Und, dass Marie dann vielleicht auch bei uns mitmacht weil sie mit Delia befreundet ist.“
 

Anya legte ihre Hand auf Filiz‘ Kopf und tätschelte ihn, dann lächelte sie ihre Freundin an. „Dummerchen. Ich weiß, dass wir verzweifelt waren aber eher würde ich auf die Mannschaft verzichten als Marie zu uns zu holen. Der will ich teilweise noch mehr wehtun als Leon.“
 

Auch wenn Filiz am liebsten auf Leon zu sprechen gekommen wäre, biss sie die Zähne zusammen und lächelte. Sie wollte Anya ihren Aufmunterungsversuch nicht verderben.
 

Am nächsten Tag trafen sich Anya, Julia, Filiz und Loo in ihrem Lieblings-Fastfood-Restaurant um die allgemeine Lage zu besprechen. Hier hatten sie als Team zusammen mit Delia die Gründung der Mannschaft geplant.

Loo war noch etwas skeptisch, immerhin hatte das „Revival“ der Mannschaft genauso schnell stattgefunden wie die Gründung damals. „Anya, ich finde deine Motivation sehr bewundernswert aber ich will nicht, dass du allen Hoffnungen machst, die dann erst wieder verpuffen.“
 

„Loo hat Recht“, bestätigte Julia. „Du bist sehr impulsiv und stehst dir damit teilweise selbst im Weg.“

Anya war sichtlich perplex, sie hatte mit mehr Zuspruch gerechnet. „Du bist doch genauso, Julia! Du lässt dich auch immer leicht von anderen aufstacheln also behandle mich nicht wie ein Kind, du Knirps!“
 

Wütend schlug Julia mit ihren Händen auf die Tischplatte. „Wegen meinem Temperament wurde die Mannschaft zumindest nicht aufgelöst!“
 

„Ach, sei still, ohne mein Temperament wäre sie erst gar nicht gegründet worden! Du würdest wahrscheinlich noch bis zu deinem Abschluss auf der Ersatzbank hocken weil du nicht den Mut hattest, etwas daran zu ändern!“
 

„Schluss jetzt!“ Eine zittrige aber doch kräftige Stimme hatte den Streit der beiden unterbrochen. Sie gehörte Filiz, die sich bis jetzt aus dem Gespräch herausgehalten hatte. Es klang, als würde ihr ein Kloß im Hals festsitzen. „Bitte, Leute, hört auf. Ich habe diese ganzen Konflikte echt satt. Es reicht doch, wenn uns andere fertig machen, da müssen wir das doch nicht auch noch gegenseitig tun.“
 

Loo saß ihr mit verschränkten Armen gegenüber und nickte zustimmend. „Filiz hat Recht. Ihr beiden reißt euch jetzt mal am Riemen. Und wenn ihr noch etwas miteinander auszutragen habt, dann können wir das ja am Fußballplatz regeln wie eine echte Mannschaft“, zwinkerte sie den anderen zu.
 

„Heißt das, du bist dabei?“Anya strahlte sie mit großen Augen an.
 

„Bin ich. Mir ist jetzt klargeworden, dass es uns allen guttut in dieser Fußballmannschaft zu sein. Die Auflösung war ein Ende aber kein Abschluss. Diesmal ziehen wir es durch!“
 

„Ok, ok“, nickte Anya eifrig.
 

Loo begann mit der Einteilung, er wen von der Truppe zurückholen sollte. „Also ich werde mit Delia reden und hoffe, dass sie neben dem Basketball noch Zeit für uns hat. Immerhin ist sie quasi unser Coach, wir brauchen sie auf jeden Fall. Ellis frage ich auch, sie hat eigentlich immer ziemlich motiviert gewirkt.
 

Filiz, du versuchst Olga und Kevin davon zu überzeugen, dass ihnen ein bisschen Sonnenlicht absolut nicht schadet. Wer die ganzen Ferien über von Mittelalterfest zu Mittelalterfest tingelt sollte auch Sport treiben um den ganzen Met wieder abzubauen.
 

Julia kümmert sich um Hannes und Alexia. Die beiden sind momentan wieder im Leichtathletik-Team. Alexia ist wegen der Sache mit Leon immer noch sauer auf Anya, was mich zum letzten Teammitglied führt. „Du“, mit diesem Wort deutete sie auf Anya, „wirst solltest langsam aufhören in der Vergangenheit zu schwelgen.“
 

„Schwelgen?“, fragte Anya empört.
 

Mit einer flinken Handbewegung schnappte Loo ihre Hand vor Anyas Mund zu um sie davon abzuhalten wieder einen Streit anzuzetteln. „Wir alle wissen, dass du es mit Leon nicht leicht hattest. Genau deswegen wollen wir ja, dass du noch einmal versuchst mit ihm zu reden. Du solltest aufhören, dich von eurer Vorgeschichte so fertig machen zu lassen. Du musst ihn auch gar nicht in die Mannschaft einladen wenn du nicht willst aber du wirst nie normal weiterleben können wenn du diese Geschichte weiterhin dein Leben bestimmen lässt.“
 

Verlegen verzog Anya das Gesicht. „Na schön aber wenn er mir blöd kommt kann ich für nichts garantieren. Wenns sein muss schlage ich eine Entschuldigung aus ihm heraus!“
 

„Wenns sein muss“, lächelte Loo, etwas irritiert von Anyas Wortwahl. „Du wirst das schon machen.“
 

Anya stand vor Leons Haus. Alexia hatte ihr etwas widerwillig die Adresse aufgeschrieben. Ihre Knie zitterten wie damals als Kind und wieder kamen die furchtbaren Erinnerungen hoch. Wie Dämonen hatten sie Anya in den letzten zehn Jahren wieder und wieder heimgesucht. Leon hatte ihr nicht physisch wehgetan aber er hatte sie psychisch gebrochen. Und von dem Moment an als sie ihn nach all der Zeit wieder sah, ließ es sie nicht mehr los.
 

Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Sie sollte schreien aber es ging nicht. Nicht hier auf offener Straße. Am Ende glaubten sie Leute noch, einer der Passanten wollte sie entführen.
 

Langsam atmete sie ein und aus. „Beruhige dich Anya, du schaffst das. Du bist stärker als er.“
 

Mit einem pochenden Herzen klingelte sie an der Eingangstür. „Hallo??!!“, schrie ihr eine ältere Männerstimme entgegen.
 

„Ha-hallo. Ich...äh...“
 

„Wir kaufen nix!!“
 

„Nein. Ich...äh...ist Leon da?“ Als Anya seinen Namen laut aussprach verzog sie das Gesicht als ob sie gerade unabsichtlich in eine Zitrone gebissen hätte.
 

„LEEEEOOOON??!“, hörte sie die Stimme offensichtlich nach ihm rufen. „Was hat der Mistkerl jetzt wieder angestellt??!!“
 

„Mistkerl, ja“, dachte Anya bei sich. Wieder schossen ihr Bilder durch den Kopf. Dann schüttelte sie ihn um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. „Nichts, ich will nur mit ihm reden. Er...äh...hat seine Hausaufgaben vergessen.“
 

„Das gibts doch nicht! Der Junge hat ja wirklich nichts im Hirn. Ja, Moment, ich schicke ihn raus. LEEEEOOOON??!“
 

Erleichtert atmete Anya auf. Dieses „Gespräch“ hatte sie noch nervöser gemacht aber sie war froh, ihrem Gegensprecher nicht gegenübertreten zu müssen. In diesem Moment hörte sie eine Tür, die sich öffnete. Leon kam ihr entgegen, mit der rechten Hand hielt er sich die Backe. Als er erkannte wer ihn aus dem Haus geholt hatte, blieb er ruckartig stehen. Ein kurzer Augenblick der Überraschung in seinem Gesicht wandelte sich schlagartig in eine Mischung aus Gleichgültigkeit und Abneigung. „Bist du gekommen um mir nochmal einen Tritt in die Nüsse zu verpassen?“
 

„Halt die Klappe!“, fauchte Anya ihn an. Bei näherer Betrachtung fiel ihr ein kleiner blauer Ring unter Leons linkem Auge auf. „War das dein Vater?“, fragte sie direkt heraus.
 

„Was?“
 

„Ich will nicht hinzeigen müssen, du weißt was ich meine.“
 

Leon verschränkte die Arme und sah Anya herablassend an. „Jetzt tu nicht so, als ob dich das interessieren würde. Das gefällt dir doch, nicht wahr?“
 

Anya merkte wie sich die Wut in ihr immer weiter ausbreitete. Sie schnaubte: „Das ist genau der Grund warum ich mit dir nicht klarkomme! Jedes Mal wenn ich versuche dir irgendwie entgegenzukommen blockst du ab!“
 

„Ach ja? Das einzige Mal bei dem du mir entgegengekommen bist war als dein Fuß in meinem Schritt gelandet ist. Und ich WÜNSCHTE, ich hätte das abblocken können!“
 

Bei diesen Worten begann Anya zu kichern. Ihr Kichern wurde immer lauter, sie warf den Kopf nach hinten und verfiel in schallendes Gelächter. „Die ist echt irre“, dachte Leon bei sich. Anya begann ihm Angst zu machen. Er ging zu ihr packte sie an den Schultern und versuchte sie wieder zur Vernunft zu bringen. In diesem Moment sah ihr ihr tränenüberströmtes Gesicht und wich einen Schritt zurück.
 

„Einmal...“, flüsterte sie. „...einmal wollte ich von dir hören, dass es dir leid tut was du damals getan hast. Aber du hast es nie gesagt. Nicht einmal als die Mannschaft auf dem Spiel stand! Du hast nur irgendwas Blödes herumgedruckst, dass du jetzt nachempfinden kannst wie es mir ging weil du jetzt eine kleine Schwester hast. Einen Scheiß kannst du!“ Anyas Hand hatte sich wieder zu einer Faust geballt und zitterte vor Wut. Leon nahm ihr Hand und führte sie zu seiner rechten Backe. Sie war noch etwas rot. Als Anya spürte wie sie glühte zuckte sie zurück doch Leon hielt sie fest. „Machen wir einen Deal: Du schlägst mich einmal so fest du kannst. Du steckst deine ganze Wut auf mich in diesen einen Schlag. Aber danach ist die Sache gegessen und wir können beide unser Leben weiterleben, am besten so weit weg voneinander wie möglich!“
 

Anya war von seinem Vorschlag sichtlich überfordert. Trotzdem nickte sie und holte weit mit der Hand aus. Leon schloss die Augen. So eine Backpfeife hatte er schon öfter erlebt, wenn es Anya und damit auch ihm Seelenfrieden verschaffte würde er das überstehen. Er gab einen lauten Knall, der ihn zusammenzucken ließ. Erst im nächsten Moment realisierte er, dass er eigentlich gar nichts gespürt hatte. Als er die Augen wieder öffnete stand Anya vor ihm, die sich Backe hielt. „Aua. Wenn ich gewusst hätte, dass das so weh tut, hätte ich das nicht gemacht.“
 

Leon verstand überhaupt nichts mehr. „Hast du dich gerade selbst georfeigt? Also du hast ja schon einige impulsive Aktionen geschoben aber das...“
 

Sichtlich verlegen kratzte sich Anya hinter dem Ohr. „Ja, ich weiß, das war eine Spontaneingebung. Ich wollte sich schlagen aber ich glaube eine Ohrfeige am Tag reicht und mit der anderen Hand auf die andere Backe hätte ich nie die erforderliche Kraft aufgebracht um...“
 

„ES TUT MIR LEID!“, hörte sie Leon plötzlich rufen. Er stand vor ihr wie ein Zinnsoldat, komplett aufrecht mit mit den Armen an seinem Körper angelegt. „Bei mir zuhause gings schon immer ziemlich beschissen zu. Ich habe das an dir ausgelassen weil du dich als Opfer angeboten hast. Und ich habe mich dadurch besser gefühlt, zumindest dachte ich das. Aber wir wären ja beide nicht hier wenn das gestimmt hätte.“
 

Anya hielt ihre Hände vor ihre Brust weil sie befürchtete, dass er sonst ihren Herzschlag hören würde, da es so heftig pochte. Er hatte es gesagt, endlich. 10 Jahre hatte sie auf diese Worte gewartet und zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass er völlig ehrlich zu ihr war. „Mir auch“, antwortete sie und streckte ihm ihre Hand entgegen. „Willst du wieder Teil unserer Manschaft sein?“
 

Erleichtert sah Leon sie an. Zum ersten Mal sah er in ihren Augen keine Verachtung mehr sondern Vergebung. „Muss ich ja wohl“, grinste er während er ihre Hand schüttelte. „Immerhin habe ich das einzige Tor in der Mannschaftsgeschichte geschossen.“
 

„Tsss, bis jetzt“, entgegnete ihm Anya. „Warts nur ab!“
 

Leon griff sich anerkennend an den Kopf: „Stimmt, du hast einen ziemlich harten Tritt drauf. Nur zielen musst du noch lernen.“
 

Am nächsten Tag schlenderte Filiz nachdenklich durch die Gänge der Schule. Sie hatte bisher nichts von den anderen gehört und Anya war seit ihrem Gespräch mit Leon unerreichbar gewesen. Zumindest hatte sie Olga und Kevin überzeugen können, wieder bei ihnen mitzumachen.
 

„Grufti-Tussi!“, schimpften plötzlich zwei Schüler. Einer davon entriss ihr den Sonnenschirm und flötete: „Den brauchst du hier drin aber wirklich nicht, Kleine.“ Filiz war starr vor Angst. Die beiden würden ihr zwar körperlich nichts tun, ließen sie aber anhand ihrer Handbewegungen durchaus wissen, dass sie es könnten.
 

„Das reicht jetzt!“, hörte Filiz eine vertraute Stimme. Leon stellte sich vor sie und nahm ihren Peinigern den Schirm wieder ab. „Den braucht ihr zwei nun wirklich nicht.“
 

„Filiz, bist du ok?“ Auch Alexia und Hannes kamen ihr zu Hilfe. „Äh, danke, ja“, antwortete sie überrascht.

„Super, dann beeil dich, die anderen warten schon.“
 

Filiz wurde skeptisch. „Und worauf?“
 

„Aufs Training“, antwortete Delia, die ebenfalls vorbeikam.
 

„Training?“ In diesem Moment fiel Filiz auf, dass alle ihre Mannschaftsdressen trugen. „Heißt das…?“
 

Delia nickte. „Ja, das heißt die Schule hat ab sofort wieder zwei Mannschaften. Und ich freue mich schon, dem Team von Nick in den Hintern zu treten“, zwinkerte sie. Dann wandte sie sich den beiden Mobbern zu. „Und ihr zwei lasst Filiz in Zukunft in Ruhe, sonst habt ihr gleich Ärger mit einer ganzen Fußballmannschaft. Ich beobachte euch. Und meine lieben Mannschaftsmitglieder bequemen sich jetzt endlich zum Training, die anderen warten schon!“
 

Abends saß Filiz wieder auf dem Dachboden, dort wo alles angefangen hatte. Hier hatte sie mit Anya Stoffe für die Trikots ausgesucht und sie genäht. Ein paar Ersatztrikots sollte sie auf jeden Fall noch nähen, nachdem gerade die Jungs eine gewisse Zerstörungskraft an den Tag legten. Bei dem Gedanken daran musste sie lächeln.
 

Dann setzte sie sich vor Loos Kleid und betrachtete es ehrfürchtig. „Gut, dass ich das nicht weggeschmissen habe“, dachte sie sich. „Wenn Loo das bekommt, sind wir endlich eine richtige Mannschaft.“ Die Vorfreude ließ Filiz am ganzen Körper zittern.
 

„Das Spiel ist noch nicht vorbei, die zweite Halbzeit hat gerade erst begonnen.“



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