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Everything In Life Is A Choice

Suō x Taichi
von

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Everything In Life Is A Choice

Die Stille war so erdrückend, dass Taichi sie beinahe hören konnte. Die Luft war warm, obwohl der Raum gut gelüftet war und der Schweiß stand ihm bereits jetzt auf der Stirn, obwohl er gerade mal seine Hände auf die Matte gelegt hatte, um seine Fingerspitzen aneinander zu führen und sich vor seinem Gegner zu verbeugen.

Seinem Gegner, seinem Meister und seinem Freund. Er hatte befürchtet, diese Mischung würde sein Inneres in Aufruhr versetzen, ihm die Konzentration nehmen, wenn sie eigentlich dem wichtigsten Spiel in seinem Leben gelten sollte, aber merkwürdigerweise hatte er in dieser Hinsicht keine Bedenken. Er war aufgeregt, ihm war schlecht und er hatte das Gefühl, jeden Augenblick in Ohnmacht zu fallen, wenn er daran dachte, dass diese Partie im Fernsehen übertragen wurde, aber um sein Herz machte er sich keine Sorgen.

Es lag vermutlich daran, dass die Person, die vor ihm saß, schon immer widersprüchliche Gefühle in ihm hervorgerufen hatte.
 

Wenn seine Liebe für Chihaya unschuldig gewesen war, dann liebte er nun wie ein Schwerverbrecher. Wenn seine Liebe für Karuta wankelmütig war, dann liebte er nun sicher und entschlossen.

Suō Hisashi hatte seine Welt auf den Kopf gestellt und die Karten neu gemischt. Er ließ Taichi keine Chance, darüber nachzudenken, sondern zwang ihn, eine nach der anderen zu nehmen, sie vom Boden zu fegen, sie zusammen mit seinen Zweifeln wegzuwerfen und gleichzeitig zu wissen, dass genau diese Karte, dieser Gedanke, dieses Gefühl ihm gehörte und nur ihm allein.
 

Naniwa-zu ni

Sakuya kono haana…
 

Das spieleröffnende Gedicht wurde vorgelesen. Die Stimme des Vorlesers war klar und deutlich, jede einzelne Silbe durchschnitt die Luft scharf wie ein Messer, erreichte Taichis Ohren, ohne störendes Echo oder Vibration. Er hatte es nicht zum ersten Mal mit professionellen Vorlesern zu tun, aber für jemanden, der sich diesen Moment mit hartem Training erarbeitet hatte, waren solche Dinge kostbar.

Er war kein Naturtalent wie Chihaya oder Arata, er war auch nicht wie Hisashi, obwohl dieser behauptete, dass Taichis Talent nur tiefer verborgen lag als sein eigenes. Ich kann es aus dir herausholen, aber du musst es wollen, hatte er damals gesagt, gleichgültig, ohne sich wirklich für Taichis Entwicklung zu interessieren.

Bis heute wusste Taichi nicht, wieso Hisashi dies für ihn getan hatte. War es Langeweile gewesen? Die Wertschätzung für seine Mühen?
 

Ich mag Karuta auch nicht.
 

Als sich eine sekundenlange Stille über den gesamten Raum legte, hallte dieser Satz in Taichis Kopf wider. Er hatte den Gedanken gehasst, hatte nicht wahrhaben wollen, wie ähnlich er dem amtierenden Meijin war, dessen Persönlichkeit in der Karutawelt verpönt wurde. Er hatte die Wahrheit gehasst, so wie Hisashi ihn gehasst hatte. All die Gleichgültigkeit war von Anfang an eine Lüge gewesen, dies wusste Taichi nun, denn Hass war auch ein Gefühl, ein brennendes, leidenschaftliches, das einen von Kopf bis Fuß einnahm.
 

Er atmete tief durch, sah seinem Gegner ein letztes Mal in die Augen, ehe er seine eigenen niederschlug und sie auf die Karten richtete. Für die nächsten Minuten, oder gar Stunden, würde er nicht daran denken, dass er gegen den Menschen spielte, der ihn aus seinem Loch geholt hatte.

Er würde daran denken, was seine eigenen Stärken und Schwächen waren.

Er würde daran denken, dass es nicht Yamashiro Kyoko war, die vorlas.

Er würde daran denken, dass Hisashis Sehschwierigkeit ihm einen Vorteil mit den außen liegenden Karten einräumte.
 

Er würde daran denken, dass er den Meijin von seinem Thron stoßen wollte. Den Menschen, den er nur schwer als seinen Meister hatte akzeptieren wollen.
 

##
 

„Ich bin nicht dein Lehrer“, sagte Suō und sein Blick lag eiskalt auf Taichi, der schwer atmend auf der Matte zusammensank und darüber sinnierte, wo er nun schon wieder einen Fehler begangen hatte. Er hatte ein weiteres Trainingsmatch verloren, um ganze fünfzehn Karten.

„Ich weiß“, erwiderte er unwirsch, denn Suō sagte dies nicht zum ersten Mal. So langsam ging es ihm ganz schön auf die Nerven. „Das heißt nicht, dass ich nicht trotzdem von dir lerne.“

Anfangs hatte er es nicht zugeben wollen, hatte sich vor Suō und den Karten verschlossen, aber mit jedem weiteren Spiel - und jeder weiteren Niederlage - hatte er merken müssen, dass sein Ehrgeiz zurückgekommen war. Etwas, von dem er geglaubt hatte, es verloren zu haben, zusammen mit seiner Liebe für Karuta.

In dem Moment, in dem Chihaya nichts auf sein Geständnis erwidert hatte, hatten auch angefangen die Karten zu schweigen. Es war beinahe ironisch, dass es Suōs flüsternde Stimme gewesen war, die dieses Schweigen gebrochen hatte.

„Tu, was du nicht lassen kannst.“

Langsam erhob sich Suō, wandte sich von Taichi ab, als wäre er es nicht wert, dass man ihn auch nur eine Sekunde länger, als das Spiel dauerte, beachtete. Auf einen Rat, einen Verbesserungsvorschlag wartete Taichi jedes Mal vergebens. Suō sammelte die Karten allerdings auch nicht ein, sondern ließ Taichi mit seinen Gedanken allein und gab ihm die Zeit, über seine eigenen Schwächen nachzudenken.

Taichis Hände ballten sich zu Fäusten, während er starr auf die Karten hinabblickte.

„Suō-sensei!“, presste er hervor, als die Tür aufglitt und Suō den Raum verlassen wollte. Taichi hörte, wie er mitten in der Bewegung erstarrte.

„Kein Wunder, dass du so oft verlierst. Du bist anscheinend schwerhörig“, murrte Suō verstimmt. „Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht–“

„Ich weiß“, wiederholte Taichi scharf. Wütend hob er den Kopf, um Suō anzusehen, doch dieser hatte sich nicht zu ihm umgedreht. „Du bist nicht mein Lehrer, ich habe es verstanden. Aber vielleicht bist du etwas anderes. So etwas wie ein Meis–“

Als sich Taichi bewusst wurde, dass er im Begriff war, das Wort, gegen welches er sich mit Händen und Füßen wehrte, auszusprechen, verstummte er abrupt. Er schluckte hart und senkte den Blick hastig, obwohl Suō noch immer mit dem Rücken zu ihm an der Tür stand.

Das Schweigen war beinahe unerträglich, aber Taichi glaubte, dass die Karten auf dem Boden ihm Mut zusprachen. Egal, wie sehr er sich von ihnen trennen wollte, sie warteten immer auf ihn – auf dieser Strohmatte oder auf einer anderen.

„Tu, was du nicht lassen kannst“, durchbrach Suōs Stimme schließlich die Stille und als Taichi verstohlen in seine Richtung schielte, war er nicht mehr da. Er hatte die Tür aufgelassen.
 

##
 

Das einleitende Gedicht war zu Ende. Die angespannte Stille, die sich anschließend über den Raum legte, war mit der Ruhe vor dem Sturm vergleichbar. Taichi verlagerte sein Gewicht nach vorne, behielt die Karten im Blick und fegte alle unnötigen Gedanken aus seinem Kopf.

Es hatte lange gedauert, bis er sogar beim Training darüber hinweggekommen war, dass er gegen den stärksten Karutaspieler Japans – und somit auch der Welt, wie Chihaya zu sagen pflegte – antrat. Anfangs hatte er sich auf nichts anderes konzentrieren können, als auf Hisashis einnehmende Präsenz, die nichts als Stärke und Überheblichkeit ausstrahlte. Sein fürchterlicher Charakter, der Taichi nicht selten zur Weißglut getrieben hatte, war irgendwann nicht mehr so nervtötend gewesen, denn er hatte gelernt, Hisashi ein wenig besser zu verstehen. Auch heute hatte Taichi immer noch manchmal das Gefühl, als wäre er ein einziges Geheimnis, das er zu lüften hatte, aber er versuchte sich nicht den Kopf darüber zu zerbrechen. Er war ein Kopfmensch, wenn es um Karuta ging – aber sein Herz besaß die Kontrolle über alles andere.

Wie viel ihm Hisashi bedeutete, bewies die Tatsache, dass Taichi in seinem Fall auf sein Herz hörte.
 

Nagakaran…
 

Taichi reagierte sofort, aber Hisashi war schneller. Die Karte flog durch den Raum, während Taichi mitten in der Bewegung erstarrte.

Er hatte sie verloren. Die erste Karte im wichtigsten Match seines Lebens. Unwillkürlich sah er die enttäuschten Gesichter seiner Freunde vor sich, die ihn von zu Hause aus anfeuerten – oder, wie in Chihayas Fall, im Flur auf ihn warteten. Sie hatte keine Eintrittskarte mehr ergattert, um das Spiel hautnah mitzuerleben, was Taichi für besser hielt. Sie hätte ohnehin Konzentrationsprobleme gehabt, wenn die amtierende Queen direkt daneben ihren Titel verteidigte und es nicht Chihaya war, die gegen sie antreten durfte.
 

Das selbstgefällige Lächeln, welches sich auf Hisashis Lippen ausbreitete, verborgen vor allen Kameras im Raum, hätte Taichi ihm am liebsten aus dem Gesicht gewischt. Er knirschte mit den Zähnen und griff nach seinem Tuch, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.

Der Verlust der ersten Karte schmeckte bitter, aber es waren noch genügend andere auf dem Feld. Er zwang sich zur Ruhe und atmete tief durch.

Hisashi besaß ein unglaublich feines Gehör, aber Taichi hatte oft genug mit ihm geübt, um seine Angewohnheiten kennenzulernen. In seiner Unberechenbarkeit war Hisahi beinahe berechenbar. Und vor allem: Er war auch nur ein Mensch. Einer, der außer seinem Talent nicht viel zu bieten hatte – und nichts motivierte Taichi mehr, als die Tatsache, dass er sich ausgerechnet in diesem Moment an ihr erstes Treffen erinnerte, das nichts mit Karuta zu tun gehabt hatte.
 

##
 

„Wartest du auf deine Freundin?“

Taichi sah auf, dachte im ersten Moment, sich verhört zu haben, da es auf dem Bahnsteig laut war, aber das viele Training schien nicht umsonst zu sein. Er reagierte auf die Stimme, die als eine der wenigen in letzter Zeit noch mit ihm sprach.

Suō sah ihn an – oder zumindest ging Taichi davon aus, da er eine Sonnenbrille trug. Keiner seiner Gesichtsmuskel zeigte eine Regung.

„Ich habe keine Freundin“, erwiderte Taichi schnaufend und merkte zu spät, dass er sich schon wieder hatte provozieren lassen.

„Dann habe ich ja immer noch eine Chance bei ihr“, sinnierte Suō zufrieden.

„Auf keinen Fall“, zischte Taichi.

„Oh. Du willst also um sie kämpfen?“

„Was? Nein, ich –“

Wütend ballte Taichi die Hände zu Fäusten und sprang auf. Suō drängte sich seelenruhig auf den Platz, den er auf der Bank freigemacht hatte. Taichi kam sich veräppelt vor.

„Du hast keine Ahnung!“, presste er schließlich hervor. Er hatte nicht vor, mit Suō über Chihaya zu sprechen. Er wollte mit niemandem über Chihaya sprechen.

Suō zeigte sich unberührt.

„Hast du ihre Telefonnummer?“

Taichi war nah dran, ihm einen Schlag ins Gesicht zu verpassen und wandte sich deshalb zähneknirschend ab.

„Gib mir dein Telefon“, forderte Suō und ehe Taichi reagieren konnte, hatte er es bereits aus seiner Hosentasche gefischt.

„Hey! Hey, lass –“

Suō tat so, als würde er ihn überhaupt nicht hören und drückte blitzschnell ein paar Tasten auf Taichis Mobiltelefon. Dann hielt er es in die Höhe und von sich weg, damit dieser nicht an es herankam, den Daumen gefährlich nah über dem ‚OK‘-Knopf haltend.

„Ich kann ihre Nummer löschen, oder sie anrufen. Was ist dir lieber?“, fragte er und die Worte fühlten sich wie flüssiges Eis in Taichis Magen an.

„Bist du völlig verrückt geworden?!“, empörte er sich, wagte es aber nicht, heftiger an Suōs Arm zu rütteln, wenn dieser immer noch sein Handy festhielt.

„Du bist fürchterlich unentschlossen“, kommentierte Suō Taichis Verhalten herablassend. „Entscheide dich endlich.“

Taichis Herz drohte ihm aus der Brust zu springen und er hasste Suō dafür, dass er ihr vor eine solche Wahl stellte. Er hasste aber auch sich selbst, weil er sie nicht treffen konnte. Oder wollte.

Wenn Suō Chihayas Nummer löschte, konnte er sie immer noch von Nishida oder Komano zurückbekommen. Aber darum ging es hier nicht. Taichi wollte nicht, dass ihre Nummer verschwand. Er wollte nicht, dass sie aus seinem Leben verschwand, egal wie sehr sie ihn verletzt hatte.

Er hatte sie auch verletzt, dessen war er sich sicher.

„Anrufen“, hörte er sich sagen. „Ruf sie an, es kann mir doch egal sein.“

Er wandte sich ab und überließ Suō sein Telefon. Es war ihm egal, ob er mit Chihaya sprach. Es war ihm alles egal.

Zitternd eilte er den Bahnsteig entlang, ohne ein wirkliches Ziel zu haben. Er drängte sich zwischen den Menschen hindurch, entschuldigte sich immer wieder, wenn er jemanden anrempelte doch die Person, bei der er sich eigentlich entschuldigen sollte, hörte es nicht. Mit dieser Person sprach Suō und Taichi wollte nicht wissen, worüber.

Es war ihm egal.

„Mashima-kun.“

Taichi blieb wie erstarrt stehen, als Suō plötzlich vor ihm auftauchte. Er hielt ihm das aufgeklappte Handy entgegen. Das leuchtende Display signalisierte ihm, dass…

Mit weit aufgerissenen Augen schüttelte Taichi den Kopf. Suō ignorierte ihn erneut und presste das Telefon einfach gegen sein Ohr.

„… Taichi?“

Sein Magen zog sich unangenehm zusammen und ihm wurde augenblicklich schlecht.

„Chihaya“, murmelte er und räusperte sich. Sein Mund war trocken und es war ihm furchtbar unangenehm, dass Suō ihn beobachtete. Aus diesem Grund ergriff er nun endlich den Hörer und drehte sich um.

„Taichi! Es tut mir so leid!“, sprudelte es regelrecht aus Chihaya heraus und er konnte die Emotionen in ihrer Stimme vibrieren hören.

Darauf konnte er nichts erwidern, weshalb er eisern schwieg, obwohl dies der perfekte Moment gewesen wäre, um ihr zu sagen, dass er sie vermisste. Dass er Mizusawa vermisste.

„Suō-san hat mein Telefon an sich gerissen. Verzeih bitte die Umstände“, sagte er stattdessen überhöflich und so kühl, wie er nur konnte. Es fiel ihm schwer, sich vor der Stimme, die voller Leben war, zu verschließen, aber wenn er es nicht tat, würde alles, was er in den letzten Wochen erreicht hatte, verschwinden. Er war noch nicht stark genug, um sich Chihaya zu stellen.

„Oh, das macht nichts! Er hat mir Shinobu-chans Telefonnummer geben, kannst du das glauben?!“, hörte er Chihaya aufgeregt quietschen.

Ein dunkler Schatten huschte über Taichis Gesicht. Wie konnte sie nur so fröhlich sein, wenn sich in seinem Inneren alles zusammenzog?

„Taichi?“, wiederholte sie seinen Namen, als er zu lange nichts sagte.

„Mh?“, brummte er.

„Du kannst nicht zurückkommen, nicht wahr?“, fragte sie flüsternd.

„Nein.“

Nun war es Chihaya, die eine Weile lang nicht antwortete.

„Du fehlst uns. Meinst du, du wirst irgendwann in der Lage sein, zu uns zurückzukommen?“

Taichi hatte Suōs Anwesenheit völlig vergessen und fuhr sich aufgewühlt durch die Haare. Irgendwo in der Ferne wurde sein Zug angekündigt, aber er rührte sich nicht von der Stelle.

„Ich weiß es nicht, Chihaya“, presste er schließlich hervor.

„Wir werden warten, versprochen! Und wir werden unser Bestes geben.“

Taichis Finger massierten sein Nasenbein. In seinem Kopf herrschte ein solches Chaos, dass er glaubte, er würde gleich platzen.

„Chihaya –“, setzte er an, doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Sag mal, Taichi, seit wann triffst du dich mit Suō-san?!“, platzte es aus ihr heraus.

Er erstarrte ertappt. Auf einmal konnte er auch wieder Suōs Blick im Nacken spüren, weshalb er einen flüchtigen Blick über die Schulter warf. Er stand immer noch da und lauschte dem Gespräch.

Als Taichi ihn vorwurfsvoll ansah, zuckte er nur mit den Schultern. Ich habe nichts Besseres zu tun, schien diese Geste ihm sagen zu sollen.

„Du spielst Karuta?!“, japste Chihaya als nächstes. Sie mochte hin und wieder eine lange Leitung haben, aber wenn es um Karuta ging, konnte man ihr nichts vormachen.

Taichi knirschte mit den Zähnen.

„Ich muss auflegen, mein Zug kommt“, wich er ihrer Frage aus. Das Gespräch dauerte ohnehin schon viel zu lange.

„Taichi, du spielst wirklich Karuta! Du hast es nicht aufgegeben!“, schniefte sie glücklich.

„Mach’s gut, Chihaya“, verabschiedete er sich mit Nachdruck.

„Taichi, warte –“

Er legte auf.

Sein Atem holperte, als wäre er gerannt. Schweiß lief seinen Nacken hinab, als hätte er ein langes Karutaspiel hinter sich. Seine Hände bebten, als wäre ihm furchtbar kalt. Und doch…

Er fühlte sich leichter. Er hatte mit Chihaya gesprochen, auch wenn es kein klärendes Gespräch gewesen war. Er war immer noch verletzt, aber er wusste nun, dass sie ihn vermisste. Es verschaffte ihm Genugtuung, die sich nicht gänzlich anfühlte, als wäre sie reinen Herzens und dies ließ ihn schuldbewusst den Kopf senken.

„Dein Zug fährt ab“, sprach Suō ihn plötzlich an und Taichi zuckte zusammen. Als er herumwirbelte, sah er gerade noch, wie sich die Türen schlossen.

„Verdammt!“ Der nächste kam erst in einer Stunde.

„Lass uns in die Stadt fahren und Sake trinken“, schlug Suō vor und im ersten Moment glaubte Taichi, dass er sich verhört hatte.

„Wie bitte?“

„Immer noch schwerhörig, Mashima-kun?“

„Wieso sollte ich –?“

Suōs Lippen bewegten sich kaum merklich und wäre Taichi in den letzten Wochen nicht so darauf fixiert gewesen, sich an den ständigen Flüsterton zu gewöhnen, hätte er die Worte ganz sicher nicht gehört.

Waga sode wa.

Suō lief an ihm vorbei und Taichi starrte ihm hinterher. Er kannte dieses Gedicht natürlich, aber wieso hatte Suō es angesprochen? Die Antwort darauf würde er erst viel später finden, aber in diesem Moment setzten sich seine Beine wie von selbst in Bewegung.

Er folgte Suō.
 

Waga sode wa

Shiohi ni mienu

Oki no ishi no

Hito koso shirane

Kawaku ma mo nashi

--

Like a rock at sea,

At ebb-tide hidden from view,

Is my tear-drenched sleeve:

Never for a moment dry,

And no one knows it is there.
 

##
 

Das war das letzte Mal gewesen, dass Hisashi mit ihm über Chihaya gesprochen hatte. Wenn man es genau nahm, dann hatten sie nicht einmal über Chihaya gesprochen, sondern Hisashi hatte Taichi gezwungen, mit ihr zu sprechen. Die schwere Last war von seinen Schultern genommen worden und obwohl es noch lange Zeit gedauert hatte, bis Taichi bereit gewesen war, Chihaya in die Augen zu sehen, geschweige denn ihre Freundschaft wiederaufzubauen, war dies ein Schritt in die richtige Richtung gewesen. Oder wohl eher ein brutales Schubsen.

Er konnte sich darauf verlassen, dass Hisashi ihn nicht schonte. Er konnte sich darauf verlassen, dass Hisashi wusste, was er brauchte, sogar wenn Taichi es selbst nicht wusste.

Er hinkte hinterher. Hisashi hatte einen Vorsprung von acht Karten. Kein Grund zur Panik, aber Taichi spürte den mentalen Druck trotzdem.

„Nervös, Mashima-kun?“, flüsterte Hisahi, während er eine Hand in die Höhe hielt und Taichi eine seiner Karten zuschob.

„Bildest du dir ein, Suō-sensei”, wisperte er zurück, atmete tief durch und konzentrierte sich. Dekonzentrierung führte zu heiklen Situationen. Er durfte es sich nun nicht erlauben, seinen Gefühlen die Oberhand zu überlassen – er wusste nämlich, wie leicht Hisashi das innere Chaos, das in ihm herrschte, ausnutzen konnte.
 

##
 

„Du willst heute also nicht mitkommen?“, fragte Suō und hob skeptisch eine Augenbraue.

Die gemeinsamen Abende waren zum Ritual geworden und Taichi hatte keine Ahnung, wie das passiert war. Er begleitete Suō in seine favorisierten Lokale, saß mit ihm am Tisch und sah dabei zu, wie er Sake trank. Einen Großteil der Zeit verbrachten sie schweigend und wenn sie sich unterhielten, dann über belanglose Dinge oder Karuta. Suō erkundigte sich kein einziges Mal nach Chihaya und Taichi fragte auch nicht, ob er ihr Nachrichten schickte. Unsensibel, wie Suō war, führte Taichi dies nicht auf seine Freundlichkeit zurück, sondern sah darin eine weitere Lektion, deren Sinn sich ihm noch nicht erschloss.

„Ich habe bessere Dinge zu tun, als dir beim Trinken zuzusehen!“, beschwerte er sich und warf einen Blick auf die Uhr. Er hoffte, dass sein Zug pünktlich kommen würde. Suō hatte noch genau drei Minuten, um auf ihn einzureden und Taichi wusste nicht, wie lange er standhaft bleiben konnte.

Die Wahrheit war nämlich, dass er die gemeinsamen Abende genoss. Suō, so heimtückisch und merkwürdig er auch war, brachte mehr Ruhe in sein Leben, als er jemals vermutet hätte. Taichi hatte, wenn er mit ihm zusammen war, endlich Zeit, um in sich hineinzuhorchen. Etwas, das mit Chihayas aufgeweckter Stimme, die stets seinen Kopf ausgefüllt hatte, nicht möglich gewesen war.

„Du kannst mittrinken“, bot Suō an, als würde er das Problem nicht sehen. Taichi war sich zwar selbst nicht sicher, worin dieses bestand, aber er schüttelte entschieden den Kopf.

„Ich bin minderjährig!“

„Dann lass uns etwas anderes machen“, war Suōs nächster Vorschlag, der Taichi stutzen ließ.

„Wieso willst du unbedingt etwas mit mir unternehmen, huh? Hast du keine Freundin, mit der du ausgehen könntest?“

„Nein“, seufzte Suō theatralisch, allerdings wirkte er nicht so, als würde er diese Tatsache großartig bedauern.

„Du hast meine erste Frage nicht beantwortet“, wich Taichi weiterhin aus.

„Du hast mir eine Menge Fragen nicht beantwortet, Mashima-kun“, sprach Suō und Taichi hasste es, wenn er sich wie jemand aufführte, der die Weisheit mit Löffeln gefressen hatte.

„Fein“, schnaufte er. „Eine Frage kann ich dir beantworten, bevor mein Zug kommt.“

„Wieso willst du wirklich nicht mitkommen?“

Alle Farbe wich aus Taichis Gesicht. Hatte Suō ihn schon wieder durchschaut? Er wusste doch selbst nicht, wieso ihm die regulären Treffen plötzlich nicht mehr zusagten.

„Es ist unangenehm“, antwortete er zögerlich und runzelte die Stirn. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund hatte sein Herz beschlossen, schneller und unregelmäßiger zu schlagen.

„Was ist unangenehm?“

„Dass... Dass es angenehm ist.“

„Das waren zwei Fragen, die du mir beantwortet hast“, stellte Suō trocken fest und erntete einen verwirrten Blick seitens Taichi, der gerade zu sehr in seine eigenen Gedanken verstrickt war. „Ich sehe, dass du nicht an deiner Inkonsequenz arbeitest.“

„Was zur Hölle willst du von mir?!“, platzte es wütend aus Taichi heraus und er spürte, wie der Wind, der aus dem Tunnel kam, seinen Zug ankündigte.

„Einen netten Abend mit dir verbringen“, präzisierte Suō direkt und zuckte mit den Schultern. „Einen Abend, der unangenehm ist, weil er angenehm ist. Genau so einen.“

Perplex starrte Taichi seinen Karutameister an. Er versuchte in dem ausdruckslosen Gesicht zu lesen, aber er konnte es nicht. Deshalb musste er auf das vertrauen, was er gehört hatte. Und das war eindeutig gewesen.

„Du willst ein Da-?“

Das Wort wurde vom einfahrenden Schnellzug geschluckt. Dem Zug, in den Taichi auch an diesem Abend nicht einstieg.
 

##
 

Er war erschöpft. Jede weitere Minute, die das Spiel dauerte, zerrte an seinem Körper und Geist. Hisashi war immer noch in Führung, aber Taichi hatte es geschafft, diese um drei Karten zu verringern. Kurz fragte er sich, ob Hisashi sich abermals dem Spielstand des Queen-Matches anpasste. Wenn es um diese Dinge ging, hatte er ebenfalls eine sadistische Ader und konnte Sudo die Hand reichen.

Es spielte jedoch keine Rolle, ob Hisashi ihm in diesem Moment Respekt entgegenbrachte oder nicht. Taichi musste sich ihn einfach erarbeiten.

Gedanklich ging er die Karten durch, die noch auf dem Spielfeld sein konnten. Er wusste, auf welche Silben er achten musste, aber dies wusste Hisashi auch. Unwillkürlich wurde sein Blick von der Chihaya-Karte angezogen, obwohl er sich geschworen hatte, sie wie jede andere auch zu behandeln. Er konnte es nicht. Sie zog ihn magisch an, weil sie für alles stand, was er durchgemacht hatte. Chihaya war nun wieder in seinem Leben, aber nicht so, wie er es sich einst gewünscht hatte – und das war in Ordnung. Taichi wusste, weshalb sie seine Gefühle nicht erwidert hatte und fand, dass es an der Zeit war, um sie darüber aufzuklären (ja, er war sich absolut sicher, dass sie selbst keine Ahnung hatte).

Doch zuerst hatte er ein Spiel zu gewinnen.
 

Chihayaburu…
 

Er reagierte blitzschnell. Er war sich sicher, dass er noch nie in seinem Leben so entschlossen nach einer Karte gegriffen hatte. Messerscharf flog sie durch die Luft, schlug gegen eine Wand und fiel zu Boden.

Taichi blinzelte überrascht. Sein Körper hatte automatisch reagiert. Hastig stand er auf, um die Karte, die er soeben gewonnen hatte, aufzuheben und zurück zum Spielfeld zu bringen.

Als er sich wieder hinkniete, erhaschte er den Anflug eines Lächelns auf Hisashis Lippen, der jedoch so schnell verschwand, wie er gekommen war. Sorgfältig legte Taichi die Chihaya-Karte auf seinen Stapel. Sie war bei ihm – auch wenn seine Augen auf Hisashi gerichtet waren. Auch wenn er von nun an nach vorne blickte. Sie war an seiner Seite.

Und Hisashis Lächeln war dasselbe wie damals.
 

##
 

„Wie lange hast du vor, Meijin zu bleiben?“, fragte Taichi eines Abends und lehnte sich gelangweilt auf dem Sofa zurück. Suō und er hatten einen kleinen Karaoke-Raum gebucht und Suō suchte schon seit fünf Minuten nach einem Lied, das er singen wollte.

„Ich hätte nichts dagegen, wenn mich ein würdiger Gegner schlagen würde“, erwiderte Suō, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen, auf dem er mit Knopfdruck ein Lied nach dem anderen übersprang.

„Wirklich?“, fragte Taichi interessiert.

„Dieser muss aber erst noch geboren werden.“

Taichi schnaufte verächtlich.

„Arrogant wie immer. Ich werde dich eines Tages schlagen“, beschloss er und sah rein zufällig auf den Bildschirm, in dem sich Suōs Gesicht vage widerspiegelte. Er lächelte.
 

##
 

Ein Saal im Omi Jingu. Zwei Spiele. Vier Spieler, die ihr Bestes gaben. Taichi würde diese Atmosphäre niemals vergessen.

„Vielen Dank für das Spiel“, erklangen zwei Stimmen gleichzeitig. Taichis lauter, Hisashis leiser. Schwer atmend stützte er sich mit den Händen auf der Matte ab und schloss die Augen. Es war vorbei.

Taichi stand auf und sprach mit keiner einzigen Person, nicht einmal mit Hisashi. Es gab nichts zu sagen, sie hatten die letzte Stunde über auf andere Weise miteinander kommuniziert. Personal und Reporter scharten sich um jeden einzelnen der Spieler, doch Taichi ignorierte sie. Langsamen Schrittes verließ er den Saal, trat hinaus in den kühlen Flur.

Er musste sich nicht einmal nach ihr umsehen. Sie stand dort, wartete mit wässrig schimmernden Augen auf ihn, hatte die Hände vor der Brust gefaltet und ihre Lippen formten stumme Worte.

„Taichi!“, rief sie, als sie endlich ihre Stimme wiederfand und stürzte auf ihn zu. Chihayas Arme schlangen sich fest um seinen Körper.

„Chihaya, du tust mir weh“, presste er hervor, doch sie schien ihn nicht zu hören.

„Taichi… Taichi“, schluchzte sie und er musste sich fest auf die Unterlippe beißen, um die Emotionen, die in seiner Brust saßen, nicht hinauszulassen.

„Chihaya“, murmelte er und packte sie bei den Schultern, um sie sachte, aber entschieden von sich zu drücken. Er blickte ihr direkt ins Gesicht.

„Lass uns wieder zusammen Karuta spielen.“

Ihr Gesicht hellte sich auf.

„Wirklich?“, hakte sie hoffnungsvoll nach, doch schon im nächsten Augenblick schien etwas sie abzulenken. Er bemerkte ihren Blick, der über seine Schulter hinweg jemanden anvisierte. Er konnte sich denken, wer es war und ein wissendes Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln.

„Du solltest ihr gratulieren. Und es ihr endlich sagen, Chihaya“, flüsterte er und legte ihr für einen Moment die Hand auf die Schulter. „Es gibt hier nämlich keine Verlierer. Nur Gewinner.“



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