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Alice hinter den Spiegeln - Die tiefgründigste Fortsetzung ever

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Heyyy-hooo! :D
Ja, ähm... Es ist eine Weile her, seit ich das letzte Kapitel hochgeladen habe. Das liegt an verschiedenen Gründen, hauptsächlich aber an diversen Blockaden, die ich in der Zwischenzeit beim Schreiben hatte. Da ich zurzeit aber glücklicherweise wieder an dieser bescheuerten Geschichte weiterschreibe und ziemlich motiviert bin, dachte ich, es ist mal wieder an der Zeit für einen Upload. Vor Allem weil das dritte und vierte Kapitel eigentlich eh schon seit Ewigkeiten (fast) fertig waren, aber naja.
Außerdem habe ich mal nachträglich einen Glossar hinzugefügt, weil ich so das Gefühl hatte, das könnte den Menschen, die diese Fanfic möglicherweise noch immer verfolgen wollen, das Verständnis ein bisschen erleichtern. Ehrlich gesagt hat es MIR SELBST das Verständnis etwas erleichtert, und das... will ja dann was heißen. x'D
Naja, genug gelabert. Ich hoffe, für diejenigen, die diese Geschichte einst, vor Tausenden von Jahren, gelesen haben, stellt die sehr lange Wartezeit kein allzu großes Problem dar. Ich entschuldige mich dafür! ú_ù Und jetzt halte ich die Klappe! Komplett anzeigen

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Kapitel 3 - Raubtiere und Verrückte

Eine nur schwer zu ertragende Hitze hatte sich vollkommen unvermittelt um ihn herum ausgebreitet, weil die, passend zum Rest dieses Landes, schrecklich brutale Sonne sich offenbar von einem Moment auf den anderen dazu entschlossen hatte, knallhart mitten auf den Bereich zu scheinen, in dem er gerade planlos umherstreifte und damit beschäftigt war, seine mühevoll angefertigten Plakate an irgendwelchen Gebilden aufzuhängen, die ihm am geeignetsten dafür erschienen.
 

„Black Beauty gesucht!“, hatte er in fein säuberlichen, großen Buchstaben auf jedes der Blätter geschrieben. Darunter prangte eine ebenfalls recht ausladende Zeichnung, die zwar mehr nach einem verbeulten Tintenfleck mit Gesicht aussah als alles andere, dafür aber mit Sicherheit die Aufmerksamkeit eines jeden vorbeigehenden Passanten auf sich zog. Und am unteren Rand der Aushänge war zusätzlich eine kleine Information zu finden, die aller Wahrscheinlichkeit nach für einen Großteil der Bevölkerung Anreiz genug war, mindestens ein Auge offen zu halten. („Wer hat dieses fliegende und temperamentvolle schwarze Kriegsschwein gesehen? Demjenigen, der es findet und entweder zum Schloss oder zu seinem Besitzer, dem Schwarzen Ritter, zurückbringt, winkt eine großartige Belohnung in Form eines wertvollen Autogrammes von mir, König Alice, an einer Stelle eurer Wahl. Viel Glück bei der Suche!“)
 

Bedauerlicherweise war ihm kurz nach Fertigstellung der Plakate aufgefallen, dass er nichts bei sich hatte, womit er die Zettel hätte aufhängen können, sodass er ein weiteres Mal dazu gezwungen gewesen war, die Schutzpatronen herbeizurufen, die ihn vermutlich zuvor heimlich beobachtet und sich ins Fäustchen gelacht hatten, als er alles Erdenkliche ausprobiert hatte, um das verdammte Plakat an einem Baumstamm zu befestigen. Sogar mit einem Zauberspruch hatte er es versucht. Leider hatte es nicht den Effekt erzielt, den er sich, naiv wie er war, erhofft hatte. Das extra-stark haftende Klebeband, das er von The Catman bekommen hatte, wirkte da doch um Längen besser.
 

Inzwischen war er sicher eine halbe, wenn nicht sogar eine ganze Stunde durch das brütend heiße Nirvana geirrt und hatte gerade einmal vier von seinen zwanzig Plakaten angebracht. Es gefiel ihm nicht, doch er musste sich wohl oder übel eingestehen, dass die Aufgabe doch nicht ganz so simpel war, wie er zunächst angenommen hatte – was zu einem nicht unwesentlichen Teil daran lag, dass seine Umgebung sich alle paar Minuten nach Lust und Laune veränderte, so als besäße sie ein Eigenleben, das einzig und allein dazu diente, ihm seine Arbeit, wo es nur ging, zu erschweren. Eines war ihm in der Zeit, die er in dieser Welt bisher verbracht hatte, nun endgültig klar geworden: Die Wege des Wunderlandes waren unergründlich.
 

Vielleicht hätte ich doch in Amerika bleiben sollen, dachte Alice, während er beiläufig in den Beutel griff, den The Starchild ihm überlassen hatte, und eine Handvoll Krümel gleichmäßig auf dem Boden verstreute. Obwohl... das Wetter dort, wenn ich an das letzte Konzert denke, eigentlich nicht wesentlich besser war als hier.
 

Ein seltsamer Geruch ging von der Krümelmischung aus. Nicht unangenehm – nur ein wenig sonderbar. Angeblich sollte dieser Duftstoff irgendetwas beinhalten, das Schweine geradezu magisch anzog. Bis jetzt war davon allerdings nicht viel zu merken, wenn man bedachte, dass er seit einer gefühlten Ewigkeit schon mit dem Zeug hier herumlief und von Black Beauty noch immer jede Spur fehlte. Vielleicht war er ja zu ungeduldig. Aber hatte er als König nicht Anspruch auf wenigstens ein kleines bisschen mehr Unterstützung?
 

„Ich möchte wetten, dass die ehrenwerte Herzkönigin sich in diesem Moment um keine einzige wichtige Angelegenheit kümmert. Wahrscheinlich sitzt sie gemütlich in ihrem Schloss, bei einem Kaffeekränzchen mit ihren Wachen, oder lässt sich im Garten von ihrem neuen Hofnarren bespa-“
 

Alice hielt inne, als er glaubte, ein Geräusch hinter sich gehört zu haben, das verdächtig nach einem Grunzen geklungen hatte. Also doch. Fideldum oder Fideldei – oder wie auch immer der Sternentyp sich nochmal nannte – hatte Recht gehabt, als er die Wirksamkeit dieser Mischung angepriesen hatte!
 

„Ich dachte schon, das würde hier gar nichts mehr werden“, grinste er, drehte sich langsam um und merkte, wie ihm das Grinsen schlagartig wieder verging, als er sich nicht, wie erwartet, einem schwarzen sondern einem weißen Schwein gegenüber fand, das er noch nie zuvor gesehen hatte und das Ozzys geliebte Haus-Sau von dem Ausmaß seiner Statur her noch einmal um ein gutes Stück übertraf. Es war ein Eber, wenn er es richtig erkannte. Ein ziemlich hungrig aussehender Eber. „Ja, ähm... sorry für die Verwechslung. Du bist nicht Black Beauty, also... mach's mal gut!“
 

Vorsichtig trat er erst einige Schritte rückwärts, um das wahrlich respekteinflößende Tier, das ihm geräuschvoll schnaufend hinterherstarrte, bloß nicht aus den Augen zu lassen. Dann wandte er sich so zügig wie möglich um und rannte. Schnell. So schnell, wie er schon lange nicht mehr gerannt war. Nahezu im selben Moment, in dem er damit angefangen hatte zu rennen, bereute er es allerdings auch schon, da das Schwein, dem lauten Getrampel, das er hinter sich vernahm, nach zu urteilen, nicht die Absicht hatte, ihn einfach so davonkommen zu lassen. Alice bezweifelte, dass er eine wirkliche Chance hatte, es abzuhängen. Kurz kam ihm der Gedanke, sich noch einmal umzudrehen, um zu sehen, wie dicht es ihm auf den Fersen war. Jedoch kam er zu dem Schluss, dass er gar nicht so genau wissen wollte, wie ein riesiges, wildes, rennendes Schwein von Nahem aussah.
 

„Mist, Mist, Mist...!“, keuchte er, während er hoffte, dem Eber mit irgendeinem Trick vielleicht doch noch entkommen zu können – als ihm mit einem Mal der Beutel einfiel, den er noch immer in der Hand hielt. Das war es. Wenn er ihn einfach losließ, hatte das Vieh keinen Grund mehr, ihm hinterherzuhetzen, oder? „Hier, schenke ich dir!“, rief er, die Mischung ohne weitere Umschweife ins Gras sinken lassend, und beruhigte sich ein wenig, als er kurz darauf das Gefühl hatte, tatsächlich kein beängstigendes und von unkontrolliertem Schnaufen begleitetes Getrampel mehr hinter sich zu hören. Trotzdem lief er solange weiter, bis er, ohne damit gerechnet zu haben, augenscheinlich schon den nächsten Abschnitt erreicht hatte. Jedenfalls sah es ganz danach aus, denn der Anblick, der sich ihm nun bot, unterschied sich deutlich von dem, was vor der Begegnung mit dem Schwein noch um ihn herum gewesen war.
 

„... Pause“, sagte er leise zu sich selbst, als er beschloss, wenigstens für ein paar Minuten lang auszuruhen, bevor er mit seiner aussichtslosen Suche fortfuhr. Nicht einmal mehr den Beutel hatte er jetzt bei sich. War es überhaupt wirklich nötig, ein solches Theater wegen einer entlaufenen Sau zu veranstalten? Er konnte sich schlecht vorstellen, dass Black Beauty nicht früher oder später von alleine zurückkommen und sich im Ernstfall nicht auch durchaus selbst verteidigen würde, wenn jemand ihr zu nahe kam. Immerhin war sie ein ausgewachsenen Kriegsschwein!
 

Alice schloss einen Moment lang die Augen, nachdem er sich im Schatten eines Baumes auf dem erstaunlich weichen Boden niedergelassen hatte. Die Luft schien ein wenig abgekühlt zu sein, seit sich wie von Geisterhand die Kulisse verändert hatte. Es war nicht mehr so schrecklich heiß. Es war sogar eigentlich recht angenehm...
 

„Hier zu schlafen ist, ehrlich gesagt, keine sehr gute Idee!“, ertönte vollkommen unerwartet eine Stimme neben ihm, die er erst zuordnen konnte, als er in das dazugehörige Gesicht sah. Der rothaarige Typ, der so lange verschwunden gewesen war – Ziggy! Oder Major Tom... wie auch immer man es betrachten wollte. „Es kann gefährlich werden, wehrlos in dieser Gegend herumzu- Moment! Du bist doch... Ihr seid der Dunkle König, habe ich Recht?“
 

„Nenn mich Alice. Oder Darth Cooper, falls es dir lieber ist.“
 

„Ich wusste es doch!“, grinste Ziggy seltsam amüsiert. „Meine beiden Mitbewohner haben mir von der Hochzeit berichtet, nachdem sie live dabei waren, als... Nun ja, Ihr wisst ja selbst, was passiert ist.“
 

„Deine Mitbewohner?“, erwiderte Alice, die subtile Anspielung auf den nicht erwähnenswerten Unfall ignorierend. Andererseits – war nicht dieser Unfall erst daran Schuld gewesen, dass Black Beauty die Ringe verschluckt und sich danach in den unendlichen Weiten des Wunderlandes verkrochen hatte?
 

„Ich wohne im Topsy Turvy hier in der Nähe, gemeinsam mit dem Hutmacher und der Haselmaus“, sagte Ziggy und fügte auf Alice' fragenden Blick hin erklärend hinzu: „Seit der Märzhase als Narr am Hof angestellt wurde, haben sie mich als neuen Mitbewohner bei sich aufgenommen.“
 

Das klang sinnig. Wenn Märzi nun regelmäßig dafür zuständig war, die Königin bei Laune zu halten, hatte er sicher nicht mehr allzu viel Zeit, seine beiden Tee-Genossen mit seinem unvergleichlichen Flötenspiel zu bereichern. Obwohl Alice sich vorstellen konnte, dass die Zwei es sogar tatkräftig unterstützt hatten, ihn und seine Flöte loszuwerden. Er konnte sich lebhaft an das verstörende Gepfeife erinnern, das er bei seinem letzten Besuch im Haus der Tee-Gesellschaft schon von Weitem gehört und das ihn fast davon abgehalten hatte, hineinzugehen.
 

„Hey, wo wir schon dabei sind... Habt Ihr nicht Lust, auf eine Tasse Tee bei uns vorbeizuschauen?“, unterbrach Ziggy seine Gedanken mit einem erwartungsvollen Lächeln. „Wir haben Kuchen gebacken. Und Ihr seht aus, als könntet Ihr ein wenig... Entspannung gut vertragen.“
 

Alice brauchte nicht lange, um abzuwägen, ob er sich einen solchen Ausflug im Augenblick leisten konnte – es würde vermutlich nicht lange dauern, und ein kleiner Engergieschub konnte nicht schaden, um seiner Motivation wieder etwas auf die Sprünge zu helfen.
 

„Warum nicht?“, entgegnete er zufrieden, ehe er sich gemächlich von seinem Platz unter dem Baum erhob. Ziggy machte eine Geste in Richtung des Waldes, der kahl und düster vor ihnen lag.
 

„Hier entlang!“, sagte er fröhlich und lief bereits ein paar Schritte voraus. „Es ist nicht mehr weit. Die anderen werden sich bestimmt freuen, Euch erneut bei uns begrüßen zu dürfen!“
 


 

Tropf. Tropf.
 

Nur vage nahm er die Stimmen ringsherum wahr, die sich über irgendetwas unterhielten, das mit verschiedenen Sorten von Tee zu tun hatte. Grüner Tee. Roter Tee. Sie redeten die ganze Zeit, doch verstehen konnte er nicht viel.
 

Das Plätschern der Getränke war laut, wenn es von der Kanne in die Tassen floss. Durchdringend. Eigentlich mochte er keinen Tee, aber in Kombination mit dem fabelhaften Kuchen schmeckte er gar nicht einmal so übel.
 

„Die Butter ist beinahe aufgebraucht. Wir brauchen dringend eine neue Butter.“
 

„Die Butter?“
 

„Ja, die Butter. Und der Zucker ist auch schon fast leer.“
 

Tropf. Tropf.
 

Wasser. Das Plätschern kam nicht von dem Tee. Es war Wasser. Ein Teich... oder ein See?
 

„Mein Napf muss aufgefüllt werden. Ich habe nichts mehr zu Trinken.“
 

„Frag dein Herrchen, wenn es zurückkommt. Ich habe keine Ahnung, wo dein Zeug steht.“
 

Wasser; es war definitiv Wasser. Und etwas war dort hineingefallen. Ein Mensch.
 

„Mein Herrchen...?“, wiederholte die Stimme von eben, im einen Moment noch ruhig und gelassen, im Nächsten plötzlich auf eine groteske Weise verzerrt. „Unser Meister... Unsere Herrin – wo ist sie? Sie kommt nicht zurück...“
 

Das Plätschern wurde lauter; noch lauter und durchdringender, und er sah eine Person am Ufer entlanghinken – einen Mann. Er beugte sich über das Wasser, aus dem im selben Augenblick ein Mädchen auftauchte. Ihre Erscheinung war... unwirklich.
 

„Sie wird nicht mehr zurückkommen! Sie darf nicht mehr zurückkommen! Ihr solltet ihr nicht trauen...!“
 

Das Mädchen griff nach der Hand ihres Retters, blickte ihn an... und dann-
 

„Majestät!“ Jemand rief nach ihm. Nach... ihm? „Könnt Ihr mich hören? Seid Ihr noch wach, hochverehrter Gast?“
 

„... Was?“
 

Der Hutmacher. Er stand direkt vor ihm, in einer Hand die quietschbunte Teekanne haltend, die andere, wie um ihn zur Besinnung zu bringen, vor seinem Sichtfeld hin- und herschwenkend. Alice setzte sich rasch in seinem Stuhl auf. Seit wann... Wie lange war er schon hier?
 

„Ah, Ihr seid also noch ansprechbar!“, stellte der Hutmacher freudig fest, hörte damit auf, vor seinem Gesicht herumzuwedeln und wandte sich halb in Richtung Piepwuff, der ausgestreckt in seinem originell designten Körbchen lag. „Wenn Ihr das nächste Mal bei einer unserer Tee-Parties abdriftet, werde ich meinen persönlichen Bello schicken, Euch zu wecken!“
 

„Das kannst du vergessen“, murrte Piepwuff, neutralen Blickes die Wand fixierend. Ziggy setzte sich neben ihn und tätschelte Bello hingebungsvoll den Kopf.
 

„Wie... Wie spät ist es?“, fragte Alice mit einer schlagartig aufgekommenen Nervosität. Dass er die Bewegungen seiner Gastgeber um sich herum beinahe wie in Zeitlupe wahrnahm, trug nicht gerade dazu bei, sich in deren Obhut sonderlich wohl zu fühlen. Der Hutmacher lehnte sich ein Stück vor, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Bisher war Alice nicht einmal aufgefallen, dass dieses Haus so etwas wie Fenster besaß. Vielleicht lag es daran, dass diese wie sechszinkige Sterne geformt und somit – zumindest für ihn – nicht gleich als solche erkennbar waren.
 

„Eine genaue Uhrzeit kann ich Euch nicht nennen, fürchte ich. Aber der Farbe des Himmels nach zu urteilen...“, sagte der Hutmacher und spähte erneut prüfend nach draußen, „... dürften wir uns irgendwo zwischen Morgen und Vormittag befinden, Eure dunkle Majestät. In diesem Gebiet, jedenfalls.“
 

„In diesem Gebiet?“ Wie es in einer Welt wie dieser möglich war, sich an Verabredungen oder sonstige Zeitpläne zu halten, wollte er sich im Moment lieber nicht genauer überlegen. „Wenn es hier bei euch also gerade irgendwas zwischen neun und zehn Uhr ist, so wie ich das verstanden habe... wie spät ist es dann ungefähr am Hof?“
 

„Oh, gute Frage!“, kicherte sein Gegenüber, so als gäbe es daran irgendetwas Lustiges. „Zehn oder elf Stunden später, würde ich sagen... Was sagst du dazu, meine werte Haselmaus?“
 

Piepwuff, der sich in seinem Körbchen inzwischen auf die Seite gerollt hatte – anscheinend, damit Ziggy besser zum Kraulen an ihn herankam –, gab einen gleichgültigen Laut von sich.
 

„Mir egal. Hauptsache, die Zeit läuft weiter.“
 

„Waren es nicht sogar zwölf Stunden?“, äußerte Ziggy, was den Hutmacher aus völlig unerfindlichen Gründen bloß noch schriller zum Kichern brachte. Er hörte gar nicht mehr auf.
 

„Also... Ich weiß wirklich nicht, was daran so witzig ist!“, warf Alice ärgerlich ein, während er versuchte, von seinem Stuhl aufzustehen, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren. Dieser verdammte Scherzkeks... Was hatte er schon wieder in den Teig geschüttet, als er diesen Kuchen gebacken hatte?! „Wenn es stimmt, was ihr da sagt... Großer Mist! Ich muss dringend von hier verschwinden...! Die Königin wartet auf mich, und ich bin nicht einmal damit fertig geworden, die Plakate zu verteilen!“
 

„Plakate? Ihr meint diese Zettel mit dem schwarzen Esel in der Mitte, die Ihr vor Beginn unserer Tee-Party auf dem Regal dort abgelegt habt?“, erkundigte sich Ziggy, ohne ihn anzusehen, weil er vermutlich zu sehr von Piepwuffs bizarrem Anblick eingenommen war. Alice ignorierte seine Frage und zog es vor, die Plakate schleunigst wieder einzusammeln, um wenigstens noch einigermaßen zeitig von hier wegzukommen. „War doch nur Spaß“, grinste Ziggy irgendwann, als er scheinbar nicht mehr ignoriert werden wollte, wandte sich von seinem Schoßhündchen ab und stand von seinem Platz neben dem Körbchen auf. „Warum ist es denn so wichtig, diese Dinger zu verteilen? Bleibt doch lieber noch ein bisschen bei uns und genießt eine Tasse Tee! Es ist auch noch eine Menge Zitronenkuchen übrig.“
 

„Danke, aber nein danke. Ich finde meine Aufgabe selbst bescheuert, aber ich werde jetzt sicher nicht einfach aufgeben. Außerdem... will ich keinen Kuchen mehr“, sagte Alice – hoffentlich unmissverständlich genug –, ehe er, den Papierstapel fest im Griff, wieder Richtung Ausgang schritt. Ziggy schaute ihm enttäuscht hinterher.
 

„Darf ich wenigstens anbieten, Euch zu begleiten? Nur zur Sicherheit, damit Ihr Euch auf dem Weg zum Schloss nicht verlauft!“
 

Der Vorschlag war tatsächlich eine Überlegung wert. Wenn es bereits so spät war, konnte er gut darauf verzichten, wieder stundenlang durch das Wunderland zu irren, bis er den richtigen Weg endlich gefunden hatte. Andererseits – gehörte nicht gerade das irgendwie zu seiner Prüfung dazu?
 

„Also... Danke für das Angebot, aber ich lehne ab“, gab Alice letztlich zur Antwort. „Als König muss ich es alleine hinbekommen, mich in meinem, ähm... Reich zurechtzufinden. Die Königin stellt mich auf die Probe. Wenn ich mich von einem von euch führen lassen würde, wäre das, als würde ich... schummeln.“
 

Ziggy nickte anerkennend. Piepwuff war mittlerweile scheinbar eingeschlafen.
 

„Eine kluge Entscheidung“, sagte der Hutmacher, noch immer leise kichernd, und nippte beiläufig an seinem Tee – Alice hatte keine Ahnung, wie die Tasse plötzlich in dessen Hand gelangt war. „Eine wirklich sehr kluge Entscheidung. Ihr denkt schon jetzt wie ein wahrer König, Majestät...!“
 

Ja, dachte Alice. Vielleicht tat er das wirklich. Trotz allem hatte er das unbestimmte Gefühl, dass etwas nicht mit rechten Dingen zuging und er schon sehr bald vor einem großen Problem stehen könnte, das sich nicht so leicht ohne jegliche Hilfe würde lösen lassen. Er hätte nicht benennen können, woran es lag. Aber ihm war, als würde sich der Schrecken, der sich vor einem Jahr hier abgespielt hatte, in irgendeiner Weise wiederholen, ohne dass die Königin und ihre Bediensteten etwas davon ahnten. Konnte es sein, dass...?
 

„Blödsinn“, unterbrach er seine eigenen Gedanken schnell. Wahrscheinlich war er bloß noch immer paranoid von seinem letzten Aufenthalt in dieser Welt und all den gruseligen Begegnungen, die er damals gemacht hatte. Sicher war es besser, sich nicht so viele Sorgen zu machen. Ja. Bestimmt. „Tja, dann... Verzeiht mir meine Unhöflichkeit, aber ich muss gehen. Die Pflicht ruft!“
 

„Kein Grund, sich zu entschuldigen“, lächelte der Hutmacher, ehe er ihm ein letztes Mal mit seiner freien Hand zuwinkte. „Kommt gut nach Hause... und passt bloß auf Euch auf!“
 

„Das werde ich“, gab er zurück, drehte sich um und öffnete die nach Zuckerguss duftende Tür. Kurz darauf hatte er das Topsy Turvy binnen weniger Sekunden wieder verlassen.
 


 

Nur nicht verunsichern lassen, sagte Alice sich immer wieder, als er durch das Heckenlabyrinth 'nach Hause' zurückzukehren versuchte, wie der Hutmacher es formuliert hatte. Es war inzwischen stockdunkel in diesem Bereich, und trotzdem hatte er es geschafft, bis hierher zu gelangen. Das Gröbste hatte er längst hinter sich gebracht, und er war wirklich froh über die Aussicht, in wenigen Minuten vermutlich wieder im Schloss zu sein, wo er sich ausruhen konnte, ohne von drei zwielichtigen Tee-Fanatikern umzingelt zu sein, die jeden Moment irgendetwas dubioses Unvorhergesehenes anstellen konnten. Ob Ziggy Stardust ihm mehr oder weniger geheuer war als der Märzhase, war fraglich.
 

Zwei Plakate hatte er noch anbringen können – eines an einem weiteren Baumstamm, das andere an einem steinartigen, länglichen Etwas, das in der Nähe des Waldes mitten aus der Erde wuchs –, bevor die Müdigkeit ihn derart unaufhaltsam überkommen hatte, dass es höchstwahrscheinlich zu riskant gewesen wäre, ohne Begleitung weiter dort herumzulaufen. Jetzt wo es so viele weibliche Fremde hier gab, konnte er schließlich nie sicher wissen, wer oder was möglicherweise hinter dem nächsten Busch lauerte.
 

„Wenn das mal nicht seine dunkle Majestät ist!“, wurde Alice ungewohnterweise von der orange-rot-gekleideten Wächterin begrüßt, als er schneller als gedacht den Weg aus dem Labyrinth gefunden und das Schlosstor erreicht hatte. Offenbar teilte sie sich ihre Nachtschicht mit Wache Nummer Eins. „Falls Ihr die Königin sucht: Sie ist gerade nicht anwesend. Aber sie ließ ausrichten, dass Ihr gerne durch den Spiegel in ihrem Gemach schreiten dürft und die Kehrseite Euch zum Schlafen zur Verfügung steht.“
 

„Aha? Ihr könnt ihr auch etwas ausrichten, wenn Ihr sie das nächste Mal seht“, entgegnete Alice ein wenig erschöpft und ließ seinen Blick flüchtig durch den Garten schweifen, um sich zu vergewissern, dass außer ihm und den beiden Wachen auch wirklich niemand anderes hier war. „Die Aufgabe, die sie mir... aufgegeben hat... konnte ich bedauerlicherweise nicht vollständig erfüllen. Richtet Ihr aus, dass ich morgen damit weitermachen werde, wenn ich wieder in einer... besseren Verfassung bin. Oh, und richtet Ihr auch aus, dass ich es unzumutbar finde, einen armen, hilflosen Auserwählten, der insgesamt nicht einmal drei volle Tage in dieser unzumutbaren Welt verbracht hat, ganz sich selbst zu überlassen... zwischen Raubtieren und Verrückten. Das ist... unzumutbar.“
 

„Zu Befehl, Majestät. Ich werde es ihr mitteilen!“, antwortete Wächterin Lennox, während Wache Nummer Eins, wie immer, schweigend und mit ausdrucksloser Miene danebenstand. Allmählich fragte sich Alice ernsthaft, ob der Kerl überhaupt echt war oder nicht doch eher ein Roboter. „Habt Ihr sonst noch einen Wunsch? Ihr wirkt etwas angeschlagen.“
 

„Ich, angeschlagen? Pfff... Nein, ich bin nur müde, weiter nichts“, versicherte er der Wache so überzeugend er konnte und bedeutete ihr dann mit einer Handbewegung, das Tor für ihn zu öffnen, durch das er sogleich in die Empfangshalle wankte. Er hörte noch, wie sie ihm von draußen aus eine erholsame Nacht wünschte, bevor das Tor sich wieder schloss und er einen Moment lang unschlüssig im Saal stehenblieb. Hoffentlich war sein beeinträchtigter Zustand wirklich nur der schweren Müdigkeit geschuldet und keine Nachwirkung des ominösen Zitronenkuchens.

Alice trat auf die große Treppe zu und entdeckte dabei Wache Nummer Vier, die auf der Couch nahe der Standuhr schlief. Der Gedanke, ob Wache Nummer Zwei wohl noch immer mit Ritter Schwarz zusammen in der Gegend umherstreifte, kam ihm in den Sinn, und kurz darauf fiel ihm auf, wie chaotisch es zurzeit hier zugehen musste, wenn manche von Marilyns Leuten offenbar nicht einmal ein eigenes Zimmer besaßen, in dem sie nächtigen konnten. Er fragte sich, wie lange die momentanen Umstände wohl noch bestehen würden. Und ob er selbst es war, der dieses Chaos in Charlies Welt gebracht hatte. Oder war es schlicht und einfach die Wiederkehr der Frauen vor einem Jahr gewesen, durch die das Land ein wenig durcheinandergeraten war...?
 

Komisch, dachte er, als er die Tür, die er geistig Marilyns Gemach zuordnete, geöffnet hatte und auf den Spiegel zuschritt. Kaum hatte er Zeit mit der Teegesellschaft verbracht, schweiften seine Gedanken gleich wieder wer-weiß-wohin. Beim ersten Mal war es auch so gewesen, nach seinem eigentümlichen Besuch bei den Dreien. Dabei wusste er doch eigentlich, dass die Süßigkeiten des Hutmachers niemals nur das beinhalteten, was für gewöhnlich dort hineingehörte.
 

„Der Tag war eindeutig zu anstrengend...“
 

Alice trat durch das unstete Glas, so als sei es absolut nichts Besonderes – er war sich ohnehin nicht ganz sicher, ob er im Augenblick wach war oder womöglich doch träumte –, und steuerte geradewegs auf das dunkle Bett zu, das sich so minimal von dem auch sonst sehr dunklen Zimmer hinter dem Spiegel abhob, dass er es beinahe übersehen hätte. Vielleicht war es aber auch das lange Oberteil, das, wie es aussah, auf der Matratze ausgebreitet war und in das ein paar rote Verzierungen eingenäht waren, welches ihm in der Dunkelheit ins Auge gestochen war. Marilyn schien eine nicht von der Hand zu weisende Leidenschaft dafür zu hegen, ihm sorgfältig ausgesuchte Klamotten herauszulegen. Fast so, als sei er seine Mutter. Wobei Alice sich nur schwerlich vorstellen konnte, dass eine Mutter ihrem Sohn freiwillig derartige Outfits würde verpassen wollen.
 

Neben dem Bett konnte er ein weiteres Möbelstück ausmachen – ein Nachtschränkchen, wie sich herausstellte – auf dem anscheinend so etwas wie eine Taschenlampe lag. Wer auch immer hier renoviert hatte, hatte zumindest an das Nötigste gedacht.
 

„Alles klar“, sagte er leise zu sich selbst, als er sich die Sachen, die er seit der Mittagszeit getragen hatte, abstreifte, stattdessen in das offensichtlich für die Nacht gedachte Kleidungsstück schlüpfte, die Plakate und das Klebeband improvisorisch neben der Taschenlampe ablegte und sich, ohne noch mehr unnötige Zeit zu verlieren, in das gar nicht einmal so unbequeme Bett fallen ließ. Die Sachen wegräumen und sich genauer umsehen konnte er schließlich auch später noch. Das einzige, was jetzt wichtig war, war Schlaf. Nichts weiter.
 

Nur ein kleines bisschen Schlaf...
 

„Zeig dich, Schurke! Los!“
 

... War da ein Flüstern gewesen? Nein. Bestimmt nicht. Wer sollte schon um diese Zeit auf der Kehrseite herumschleichen und mit ihm reden? Unsinn. Er musste wirklich ganz schön übermüdet sein, wenn er schon wieder anfing zu halluzinieren. Einfach nicht drum kümmern, das war das Beste. Nicht beachten. Schlafen. Einfach schlafen.
 

Ein plötzlicher scharfer Luftzug, begleitet von einem schneidenden Geräusch und einem vollkommen irren Kampfschrei, der sich in etwa wie „HYAAARGH!!“ anhörte, ließ Alice aufschrecken und reflexartig an das Kopfende des Bettes weichen – das hieß: an das Kopfende des zerfledderten Objektes, das vor ein paar Sekunden noch ein Bett gewesen war. So wie es sich eben angehört hatte, konnte von der Matratze nicht mehr viel übrig geblieben sein.
 

„Was... zum hässlichen Henker sollte das denn bitte gerade?!“, entwich es ihm, als er den Schock halbwegs überwunden hatte, bevor er nach der Taschenlampe griff und dorthin leuchtete, wo er den Umriss des Wahnsinnigen erkennen konnte, der eben offenbar versucht hatte, ihn umzubringen, und einzig und allein durch seine Unfähigkeit, richtig zu zielen, daran gescheitert war. Natürlich. Warum nur wunderte es ihn kein bisschen, niemand Geringeren als Lizzy vor sich zu sehen? „Du... Kannst du mir vielleicht freundlicherweise erklären, was du hier machst? Und was mich noch mehr interessiert: Wo zum Teufel hast du das verdammte Samuraischwert her?!“
 

Lizzy geriet ins Straucheln, so als wolle er ihm antworten, ohne aber zu wissen, wo er anfangen sollte. Er wirkte etwas benommen; fast, als habe ihm irgendetwas die Sinne vernebelt.
 

„Naja, das Schwert...“, fing er an, führte den Satz dann jedoch anders fort. „Ich wollte dich nicht ermorden, falls du das jetzt denkst. Echt nicht!“
 

„Oh, das finde ich aber nett, dass du mich nicht ermorden wolltest! Und du meinst wirklich, das glaube ich dir jetzt? Du hast doch nur darauf gewartet, dass ich schlafe, damit du mich aus dem Weg räumen und meinen Platz einnehmen kannst, du verrückter, kleiner-“
 

„Nö, das stimmt nicht!“, platzte Lizzy bestimmt dazwischen, während er auf eine äußerst bedenkliche Weise mit dem Samuraischwert herumfeixte. Alice war sich nicht sicher, wer von ihnen beiden als Erstes aufgespießt sein würde, wenn der Kerl so weitermachte. „Eigentlich habe ich mir nur einen relaxten Abend mit der Raupe gemacht und wollte dann schlafen, auf der Couch unten... Die Königin sagte, es sei okay, wenn ich hinter ihrem verzauberten Spiegel übernachte... Aber dann habe ich Geräusche gehört und dachte, hier wäre ein Einbrecher oder so. Ich wusste ja nicht, dass du auch hier schläfst.“
 

Einerseits fassungslos und andererseits zu müde, um sich noch weiter aufzuregen, starrte Alice sein jüngeres Ebenbild an, das so aussah, als könne es kein Wässerchen trüben. Glücklicherweise wusste er, dass Eindrücke manchmal täuschen konnten.
 

„Du hast mir immer noch nicht gesagt, wo du dieses Schwert her hast“, erinnerte er Lizzy ein wenig beunruhigt.
 

„Das...? Das war hier schon, als ich reingekommen bin!“, gab der Spinner mit einem verdächtigen Unterton zur Antwort und vollführte eine hektische Verrenkung, weil der Griff des Schwertes ihm wohl versehentlich aus der Hand geglitten war. Alice hielt sich selbst mühsam davon ab, das ganze Spektakel übersarkastisch zu kommentieren, schnappte sich seine Sachen, die er vorübergehend auf dem Nachtschränkchen und dem Boden verteilt hatte, und stand auf. „Hä...? Wohin gehst du?“
 

„Mir reicht's“, erwiderte er eine Spur gereizter als zuvor, während er langsam in Richtung des Spiegels schritt. „Du hast soeben mein Bett zerstört, also kann ich hier wohl schlecht bleiben. Ich gehe und suche mir einen anderen Schlafplatz. Wehe, du rennst mir hinterher!“
 

„Aber-“
 

„Nichts 'aber'! Bleib, wo du bist!“, wiederholte er nachdrücklich an seinen Doppelgänger gewandt, ehe er sich wieder umdrehte, durch das magische Glas auf die andere Seite zurückkehrte... und beinahe vor Schreck einen Satz nach hinten machte, als er ohne jegliche Vorwarnung der Königin gegenüberstand – die in diesem Augenblick mit hundertprozentiger Sicherheit nicht einmal mehr Ozzy für eine Königin gehalten hätte.
 

„... Alice!“, grinste 'sie', nachdem sie ihn einen Moment lang bloß überrascht angesehen hatte. „Na, sowas! Ich habe nicht damit gerechnet, dich jetzt hier zu treffen.“
 

„Oh Mann... Das sieht man“, war alles, was er vorerst herausbrachte. So sehr er sich auch bemühte – ihm wollte nichts anderes einfallen. Das war zu viel. So viel konnte an einem einzigen Tag doch gar nicht schiefgehen, oder? Wie es aussah, wohl doch.
 

„Möchtest du vielleicht, dass ich mir etwas anziehe?“, trällerte ihre schamlose Majestät offenbar gut gelaunt. Alice richtete seinen Blick starr auf die rot-gestrichene Wand neben sich.
 

„Das wäre sehr zuvorkommend, ja.“ Warum hatte er bloß nicht in Erwägung gezogen, dass er eventuell Marilyn begegnen könnte, wenn er schon durch dessen Gemach lief? Er hätte gründlicher darüber nachdenken sollen, ganz definitiv. Er und seine vorschnellen Handlungen! „Warum, wenn ich fragen darf, muss das Portal zur dunklen Seite eigentlich ausgerechnet in diesem Zimmer sein...? Das kann doch nicht gutgehen auf Dauer! Habt Ihr nie darüber nachgedacht, den Spiegel... naja, in einem anderen Raum unterzubringen?“
 

„Das habe ich in der Tat vor langer Zeit“, antwortete Marilyn, während er anscheinend in seinem Kleiderschrank wühlte. „Wie du dir sicher denken kannst, war es auch damals, als Alicia noch lebte und beide Hälften des Wunderlandes bewohnt waren, nicht immer leicht, sich zu arrangieren. Jedes Mal, wenn jemand von der dunklen auf die helle Seite wollte oder umgekehrt, musste er dafür erst durch dieses Zimmer gehen. Selbstverständlich ist mir da schon der Gedanke gekommen, den Spiegel in der Empfangshalle zu platzieren anstatt in meinem Gemach.“
 

„Und? Wieso habt Ihr diesen Gedanken nicht umgesetzt?“
 

Marilyn lachte angedeutet – oder machte zumindest ein Geräusch, das sich so ähnlich anhörte.
 

„Ich habe ihn umgesetzt“, erwiderte er. „Allerdings war es unmöglich, es dabei zu belassen. Von Anfang an hat der Spiegel hier in meinem Gemach gestanden. Die Kehrseite hat sich gebildet, während er hier gestanden hat. Daher ist der Zutritt zur Kehrseite leider blockiert, wenn der Spiegel an einer anderen Stelle steht als genau dort, wo er sich jetzt befindet. Niemand hätte auf diese Weise je wieder die jeweils andere Seite betreten können. Übrigens... Du kannst dich wieder umdrehen, ich bin fertig.“
 

Nur zögerlich wagte Alice, sich selbst von dieser Aussage zu überzeugen, stellte jedoch erleichtert fest, dass Marilyn ihn nicht angelogen hatte. Das majestätische Gewand, das er nun trug, ähnelte seinem Eigenen – roter Stoff, der hier und da von ein paar schwarzen Schnörkeln verziert wurde. Es hatte durchaus etwas Edles an sich.
 

„Schön. So lässt es sich wesentlich besser mit Euch reden“, sagte er, was Marilyn offenbar wieder einmal als belustigend empfand.
 

„Stell dich nicht so an“, gab er bloß, noch immer breit grinsend, zurück und setzte sich dann mit übereinandergeschlagenen Beinen und erwartungsvoller Miene auf die Bettkante. „Was führt dich eigentlich hierher? Ist dir eingefallen, dass du deine Hochzeitsnacht lieber mit deinem Gatten anstatt alleine in einem erst zur Hälfte eingerichteten, dunklen Raum verbringen willst?“
 

„Nicht ganz“, entgegnete Alice – hoffentlich nicht allzu zynisch. „Ich hätte im Prinzip überhaupt kein Problem damit gehabt, in dem 'erst zur Hälfte eingerichteten, dunklen Raum' zu schlafen. Das Problem ist nur, dass der liebenswürdige andere Alice, der ohne mein Wissen anscheinend auch von jetzt an da drüben wohnt, wohl irgendeine Art von Anfall bekommen und einfach mal mir nichts dir nichts mein Bett zerdeppert hat. Und deshalb dachte ich, es wäre sinnvoll, mich nach einem anderen freien Platz umzusehen.“
 

„Moment mal“, sagte Marilyn skeptischen Blickes. „Lizzy hat dein Bett... zerdeppert? Womit denn?“
 

Mist, dachte Alice augenblicklich. Wäre es wirklich schlau, der Königin von dem seltsamen Samuraischwert zu erzählen, das Lizzy aus unerfindlichen Gründen bei sich hatte? Dessen Erklärung, es sei schon dort gewesen, als er hergekommen war, erschien ihm doch mehr als unglaubwürdig. Vielleicht war es besser, dieses Detail zunächst für sich zu behalten und der Sache später auf den Grund zu gehen...
 

„Naja, ich weiß nicht genau“, versuchte er, sich noch rechtzeitig aus der Situation herauszuwinden. „Ich glaube, das Bett war von vornherein nicht ganz in Ordnung. Hat schon so komisch geknarzt, als ich mich da reingelegt habe... Und Lizzy war sowas von high, der wusste gar nicht mehr, was er tat! Bei dem, was er da abgezogen hat, hätte es mich gewundert, wenn nichts zu Bruch gegangen wäre!“
 

„Tatsächlich?“ Marilyn machte noch immer einen viel zu amüsierten Eindruck für seinen Geschmack. „Tja, Alice... Die Sache ist die: Es gibt im Schloss keinen freien Schlafplatz mehr. Sämtliche Möbel, die sich zu so etwas wie einem Bett haben umfunktionieren lassen, sind bereits besetzt. Das Wunderland ist nicht wie deine Welt. Es bleibt nicht gleich sondern passt sich automatisch an – nur geschieht das manchmal, bei großen Veränderungen, ein wenig zu langsam. Als die Frauen verschwunden waren, war auch das Wunderland geschrumpft, musst du wissen. Seit sie alle auf einen Schlag wieder zurückgekehrt sind, haben wir... nun, ein kleines Platzproblem.“
 

„Ein Platzproblem? Und das sagt Ihr mir erst jetzt?“, brachte Alice leicht entsetzt hervor. „Na, klasse. Wenn hier also alles schon voll ist... wo schlafe ich dann? Auf dem Boden oder was?“ Noch bevor er eine richtige Antwort bekam, war er sich plötzlich fast sicher zu wissen, welche Art Lösung Marilyn für das Problem im Sinn hatte, wenn er dessen Gesichtsausdruck und die Weise, wie er neben sich auf das Laken klopfte, korrekt deutete. „Nein... Das ist nicht Euer Ernst, oder? Gibt es denn wirklich keine andere Möglichkeit als... das?“
 

„Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber... nein, gibt es nicht. Jedenfalls heute nicht“, antwortete Marilyn entschuldigend, obwohl Alice ihm eindeutig ansehen konnte, dass es ihm kein bisschen leidtat. „Entweder du kommst in mein Bett, das für zwei Personen groß genug ist, oder du schläfst eben auf dem Boden. Ich weiß eigentlich ohnehin gar nicht, wo dein Problem liegt. Hast du nicht damals, als du mit Fishs Hilfe aus dem Kerker entkommen bist, auch neben dem Schwarzen Ritter übernachtet?“
 

„Das ist doch etwas vollkommen anderes!“, wandte er ein, unsicher, ob Marilyn diese Naivität nur spielte oder ob er den Unterschied wirklich nicht erkannte. Jedoch kam er fatalerweise zu dem Schluss, dass ihm tatsächlich keine andere Wahl blieb, wenn er es nicht gerade darauf anlegte, am nächsten Morgen nur noch aus Verspannungen zu bestehen, weil er die komplette Nacht auf den Fliesen verbracht hatte. In Anbetracht der Tatsache, dass er vermutlich auch am morgigen Tag wieder viel unterwegs sein würde, war es besser, sich zwei Mal zu überlegen, ob er das riskieren wollte. „Himmel... Okay, ich denke... solange Ihr genug Abstand haltet, bin ich damit einverstanden. Aber kommt bloß nicht auf irgendwelche Ideen!“
 

„Für wen hältst du mich denn?“, kicherte Marilyn, was ihm in diesem Moment bereits unheimlich genug erschien. Allerdings kam ein Rückzieher jetzt nicht mehr in Frage. Für den Fall, dass die Mörderpuppe – dieser Name war auch jetzt noch absolut passend – irgendetwas anstellte, konnte er schließlich ganz einfach nach den Wachen rufen, nicht wahr?
 

Bleibt nur zu hoffen, dass sie mich nicht im Schlaf mit dem Klebeband knebelt, dachte er, als er sich zum zweiten Mal in dieser Nacht nach einer Stelle umschaute, an der er seine Sachen vorübergehend unterbringen konnte. Marilyn schien sich wider Erwarten nicht einmal daran zu stören, als er sie spontan auf seinem Teppich ablegte und seinem sonst so perfekt reinen Zimmer damit einen Hauch von Unordnung verlieh. Irgendwie wirkte es heimisch – die durcheinander herumliegenden Papiere und Klamotten auf dem Boden. Jetzt noch ein paar Instrumente und den einen oder anderen fremden BH dazwischen, und es hätte ihn stark an seine Anfangszeit erinnert.
 

„Wann müssen wir eigentlich morgen aufstehen?“, fragte Alice und bemühte sich, dabei möglichst sachlich zu klingen. Erstaunlicherweise war Marilyns Antwort ebenso sachlich und frei von obszönen Andeutungen.
 

„Früh“, erwiderte er knapp und fügte erklärend hinzu: „Wir haben keine Zeit, uns lange auszuruhen. Wir haben Arbeit vor uns. Ich fürchte, als König wirst du dich daran gewöhnen müssen, dich quasi ständig um nervige Angelegenheiten zu kümmern.“
 

„Ach, wirklich?“, gab Alice latent ironisch zurück, während er sich gezwungenermaßen auf dem königlichen Bett niederließ und dabei versuchte, sich so weit am Rand zu positionieren, dass Marilyn ihn nicht zerquetschen konnte, falls er sich im Schlaf hin- und herrollte. Immerhin war das nicht auszuschließen; er kannte dessen Gewohnheiten ja nicht – natürlich abgesehen von der, nachts unbekleidet in seinen Gemächern herumzulaufen, wie es schien. „Wie dem auch sei... Ich bin froh, wenn ich überhaupt ein paar Stunden Ruhe abbekomme. Ist schließlich nicht selbstverständlich.“
 

„Da hast du Recht“, pflichtete Marilyn bei, ehe er sich, den Geräuschen nach zu urteilen, ebenfalls auf seiner Seite des Bettes einrichtete. Alice konnte es nicht sehen – seine Augen waren bereits geschlossen und er lag außerdem der anderen Richtung zugewandt. „Bei all der Hektik ist es wie ein Geschenk, zwischendurch die Ruhe genießen zu können. Schätzt du die Stille auch so sehr wie ich? Den ganzen Tag ist man von dem wirren Chaos irgendwelcher Bediensteten umgeben. Jeder will irgendwas von mir. Da sind mir Momente wie dieser, in denen es ruhig ist und keiner stört, doch wesentlich lieber!“
 

Machte er das mit Absicht? Alice hätte sich selbst dafür verfluchen können, offenbar so zerstreut gewesen zu sein, dass er vergessen hatte, nach dem Schalter zu suchen und das Licht zu löschen. Vielleicht hätte das ihrer Majestät schon gereicht, um zu verstehen, dass er schlafen und keine schnulzigen Konversationen führen wollte.
 

„Weißt du...“, schwafelte Marilyn unbeirrt weiter, „... noch ist auf der Kehrseite zwar nicht sonderlich viel los, aber wir werden sie wieder aufblühen lassen, ganz genauso wie früher. Du wirst es hier gut haben als König, das verspreche ich dir! Auch wenn es viel zu erledigen gibt, es gibt ebenso viele Vorteile. Hm... Wenn du nichts dagegen hast, würde ich dir gern etwas zeigen?“
 

„Bitte nicht... Ich habe für heute echt genug gesehen“, entgegnete Alice und merkte selbst, dass es mehr nach einem Nuscheln klang als alles andere. Er hörte, wie Marilyn irgendetwas darauf antwortete und kurz darauf einen Laut verursachte – ein Schnippen oder ein Klatschen –, und dann war es vollkommen dunkel im Raum. Vage vernahm er, wie die Königin leise etwas sagte. „Es ist übrigens okay, dass du deine Aufgabe heute nicht geschafft hast“, oder irgendetwas Ähnliches. Wenige Sekunden später hatte die Dunkelheit ihn ganz eingeholt und er bekam nichts mehr um sich herum mit.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Sky-
2018-01-07T18:50:32+00:00 07.01.2018 19:50
Und wieder folgt Alice das Unglück auf dem Fuße. Erst lockt er das falsche Schwein an und dann begeht er dieselbe Dummheit noch mal und dröhnt sich mit dem Teegebäck des Hutmachers zu. Dabei sollte er echt mal die Finger von den Haschkeksen (oder Haschkuchen?) lassen.

Schade nur dass Black Beauty noch nicht wieder aufgetaucht ist. Ich hoffe der armen Sau ist nichts passiert. Wir wollen Ritterchen Schwarz doch nicht das Herz brechen. Ich hoffe mal sie taucht bald wieder auf.

Holy Shit, jemand sollte Lizzy nachts eine Zwangsjacke anlegen (daran sollte Alice ja eh gewöhnt sein XD). Wo zum Teufel hat er das Schwert her und was muss man denn geraucht haben, um so eine abgedrehte Kill Bill Nummer abzuziehen? Also dir Unschuldsnummer kaufe ich ihm nicht so wirklich ab. Na wenigstens kann Alice bei Marylin pennen aber ich habe meine Zweifel, dass er dort wesentlich sicherer ist (beachte nicht das perverse Grinsen, während ich meinen Fantasien nachgehe). Aber mal ernsthaft Alice, sei mal nicht so paranoid. Ein bisschen bi schadet nie und it's okay to be gay XD
Antwort von:  Drachenprinz
07.01.2018 23:48
Naja, im Grunde sind die Haschkekse/kuchen vom Hutmacher ja wiederum nützlich - ohne sie hätte Alice weniger von diesen tollen prophetischen Halluzinationen, und das wär ja echt ein Verlust! xD

(Spoiler) Black Beauty geht es gut, keine Sorge. :D (Spoiler Ende)

X'DD Das hätte ich gerne gesehen, wie Uma Thurman in 'Kill Bill' einen wilden Anfall kriegt und irgendjemandes Bett zerstört! xD
Ich musste auch ziemlich grinsen, als ich die Szene geschrieben hab, das kannst du mir glauben. *lol* Als ich mir damals anfänglich den Vorgänger-Teil dieser FF ausgedacht hab, hätte ich auch nicht gedacht, dass Alice Marilyn mal irgendwann nackt sehen und sich das Bett mit ihm teilen würde, aber hey, Dinge kommen anders, als man erwartet! xD


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