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Seelenstrom

von

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Sie wussten weder woher noch wann diese Wesen gekommen waren. Sie wussten nur um ihre absolute Tödlichkeit. Tödlich für alles und jeden. Der Nebel, der sie umgab, fraß sich durch alles hindurch und zerstörte organisches wie anorganisches Material auf der Stelle. Hauswände, Zäune, Briefkästen begannen zu beben und zerbröckelten, ganz egal woraus sie bestanden. Fleisch begann zu faulen; der Gestank war bestialisch. Pflanzen wurden braun und zerfielen zu Staub. Selbst die Erde, über die sie wandelten, wurde augenblicklich pechschwarz.

Viele waren der Meinung, sie seien aus den Dementoren hervorgegangen, eine Art Evolution der Niedertracht, der Böswilligkeit und des Verfalls, aus dem sie normalerweise entstanden. Die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen: die Kapuzenmäntel, die langen sehnigen Hände, die dann und wann unter den Ärmeln hervorragten, die klamme Kälte und der Entzug jeglicher glücklicher Empfindung und Erinnerung in ihrer Nähe. Wenn Mensch oder Tier nicht sogleich durch ihren Nebel starben, lüfteten die Wesen ihre Kapuzen und näherten sich den Köpfen ihrer Beute. Der Nebel leckte dann immer noch an den ohnehin schon geschundenen Körpern der Opfer, quälende Gedanken hallten durch ihre Herzen und Köpfe und zugleich verloren sie in erschreckender Langsamkeit ihre Seelen. Für diese Wesen war es jedoch nicht nur ein Akt der Nahrungsaufnahme, sondern sie ergötzten sich zugleich an ihrem Leid. Sie genossen, ja zelebrierten es geradezu. Je langsamer und qualvoller die Prozedur, je stärker der Widerstand und kraftvoller die Seele war, desto stärker strömte das Verlangen, die Lust, die Begierde durch sie hindurch. Sie erreichten ihren Höhepunkt, wenn der Widerstand gebrochen und die Seele zu einem Strom echter Verzweiflung und größtmöglicher Qual zerfloss, den sie in sich aufnehmen konnten.

Zu was für einem Ort war die Welt verkommen, wenn sie solche Geschöpfe hervorbrachte?
 

Tonks hechtete über eine niedrige Steinmauer, kauerte sich dahinter und lauschte mit gezücktem Zauberstab in die Schwärze der Nacht. Die Schreie in ihrem Kopf hatten nachgelassen, also war sie ihnen scheinbar vorerst entkommen. Sie legte mit größtmöglicher Vorsicht das Bündel, das sie eine ganze Weile unter dem Arm getragen hatte, auf einen flachen Stein und besah sich ihr linkes Bein. Die Hose und die Haut waren weggeätzt, das Fleisch war grünlich verfärbt und roch nach Fäulnis. Als sie die angesengten Stofffetzen wegzog, wurde das Brennen so unerträglich, dass ihr ein lautes Keuchen entfuhr.

Nimm dich zusammen, ermahnte sich Tonks in Gedanken, denk dran, was es gekostet hat, so weit zu kommen.

Sie warf einen kurzen Blick über die Mauer und in die Dunkelheit dahinter, aber es war nichts Verräterisches zu hören oder zu fühlen. Sie nahm einen Ast vom Boden auf und schob ihn sich in den Mund. Mit der einen Hand umklammerte sie einen Stein, dessen Kanten sich in die Haut bohrten. Mit der anderen Hand hielt sie ihren Zauberstab auf die Wunde gerichtet. Ohne noch einmal einen Laut von sich zu geben, wirkte sie einen Zauber, um die Ränder der klaffenden Wunde zu kauterisieren. Der Geruch von Verbranntem stieg auf, aber nur so ließ sich die Ausbreitung der Fäulnis auf dem Bein verhindern. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen. Sie biss so fest auf den Ast, dass es seltsam erschien, dass er unter dem Druck nicht augenblicklich zersplitterte. Blut rann von ihrer Hand, in der sie den Stein hielt, über ihren Unterarm.

Als endlich alle grünlichen, fauligen Stellen in der Wunde entfernt und der Blutfluss gestoppt war, schloss Tonks kurz die Augen und zwang sich ruhig und gleichmäßig aus- und einzuatmen. Ihr schnell pochendes Herz verlangsamte sich, sie spürte die Anspannung der Behandlung von sich abfallen. Sie konnte sich natürlich nicht wirklich entspannen mit diesen Wesen, die unweit von ihr lauerten, aber sie konnte sich so immerhin zwingen den anhaltenden Schmerz vorübergehend abzuschütteln und ihre Beherrschtheit wiederzufinden. Das war nun überlebenswichtig.

Tonks wandte sich dem Bündel zu. Sie schob die Stoffschichten mit dem weiß-goldenen Rautenmuster zur Seite. Das Tier darunter lebte noch, aber seine Atmung war unregelmäßig und flach. Sie tat alles, was in ihrer Macht stand, um ihm Kraft zu spenden und seine Wunden zu heilen. Währenddessen zog sie vorsichtig einen der Flügel zurück, um ihn auf Verletzungen zu untersuchen. Dabei rutschten kleine Wurfmesser zwischen den Federn hervor. Zu ihrer Überraschung fand sie noch mehr versteckte Waffen, ein ganzes Arsenal kam zum Vorschein: Messer, kleine Bomben, Pfeile, Eisenbälle, Enterhaken. Tonks fragte sich, wie so viel Platz im Gefieder gewesen sein konnte, um all diese Dinge zu verhüllen.

Plötzlich regte sich das Federvieh, schnatterte leise. Im nächsten Augenblick lag ein junger Mann vor ihr. Zum Glück hatte sie die Verwandlung des Animagus zuvor bereits gesehen, sonst hätte sie sich nun ziemlich erschrocken. Er hatte versucht, die Wesen zu bekämpfen. Ein Narr, wer dies versuchte. Keine Waffe, kein Zauberspruch konnte ihnen etwas anhaben. Selbst die stärksten, bestausgebildeten Zauberer waren den Wesen erlegen. Kingsley, Mad-Eye, McGonagall, Dumbledore… Sie alle hatte Tonks sterben sehen. Und noch jemanden, an den sie sich jedoch nicht erinnern durfte. Sie verbot sich jeglichen Gedanken an ihn. Wenn sie auch nur eine Sekunde zögerte, eine Sekunde Trauer zuließe, wäre alles verloren. Dann wäre sein Opfer umsonst gewesen. Er hatte gewollt, dass sie lebte, also musste sie leben. Erlösung war nicht möglich, so sehr sie sie auch ersehnte.

Mousse schlug die Augen auf, konnte jedoch nicht das Geringste erkennen. Es war stockfinster. Unsicher tastete er umher, als er plötzlich eine warme Hand auf seinem Arm spürte. Er stolperte panisch zurück, aber er erkannte schon im nächsten Moment die leise murmelnde Stimme der Frau, die ihn zuvor vor diesem schrecklichen Geist gerettet hatte. Er verstand nichts von dem was sie sagte, noch verstand sie ein Wort von ihm, aber den einen gedämpften Laut von ihr konnte er begreifen: sie bedeutete ihm leise zu sein. Sie schob ihm vorsichtig die Brille auf die Nase. Kurz danach konnte er im Licht ihres kleinen Stabes ihr zerschrammtes Gesicht erkennen. Sie reichte ihm seine Kleidung, die er sich rasch überzog. In einer schnellen flüssigen Bewegung sammelte er seine Waffen wieder ein und verstaute sie in seinen Ärmeln. Verblüfft spürte er, dass viele seiner Wunden verheilt waren. Schrammen, Blutergüsse, Schnitte waren verschwunden. Er untersuchte seinen rechten Unterarm, an dem vor seiner Ohnmacht ein besonders tiefer, stark blutender Riss gewesen war. Nun war dort nur noch eine weiße Narbe zu sehen. Mousse sah hinüber zu der Frau und deutete erst auf seinen Arm, dann auf sie und ihren Stab.

Tonks nickte. Sie hatte ihn geheilt. Sie versteckte ihre Magie nicht, schließlich war er ein Animagus und außerdem konnte er sowohl die Dementoren als auch ihre schrecklichen Ableger sehen, daher musste er magisches Potential haben. Obwohl er keinen Zauberstab bei sich hatte und im Angesicht ihrer Magie einen erstaunten Ausdruck hatte. Wie war das möglich?

Letztendlich spielte es keine Rolle. Er war kein Schwächling und zu zweit würden sie vielleicht eher überleben als getrennt. Sie sahen einander an und bemerkten den Trost, die die Gegendwart des jeweils anderen spendete. Dann spürten sie etwas anderes. Die Kälte, die durch ihre Glieder zu kriechen begann und ihre Klauen fest um ihre Herzen legte. Tonks murmelte „Nox.“ und das Licht an ihrem Zauberstab erlosch. Im Mondlicht, das sich knapp über die Baumwipfel stahl, konnte sie gerade noch die Silhouette ihres Begleiters erkennen. Die Wesen glitten von Norden auf sie zu, also schlugen sie gleichzeitig den Weg gen Süden ein, der sie, wie Tonks wusste, nach Hogsmeade führen würde. Sie rannten mit größtmöglicher Geschwindigkeit zwischen den Bäumen entlang. Tonks hatte dabei größere Schwierigkeiten ihnen auszuweichen, stolperte mehrfach über Wurzeln und wurde von tief hängendem Geäst am Kopf getroffen.

Mousse hingegen glitt geschmeidig zwischen den Bäumen entlang. Das Kampftraining hatte seine Bewegungsabläufe präzisiert und beschleunigt. Auch seine Ausdauer hatte er trainiert; er hätte noch stundenlang so durch den Wald laufen können. Als er jedoch merkte, dass seine Begleitung immer weiter zurückfiel, machte er kehrt. Sie hatte sein Leben zuvor gerettet, er zweifelte nicht daran, dass die Geister ihn ohne ihr Zutun verschlungen hätten. Nun packte er sie am Arm und zog sie mit sich, schützte ihren Kopf vor den Ästen und schob sie beiseite, wenn sie über eine Wurzel zu stolpern drohte. So kam er zwar langsamer voran, sie dafür jedoch bedeutend schneller.

Als sie zum Dorfkern vordrangen, erkannte Tonks das ganze Ausmaß der Zerstörung: die Häuser waren nur noch Ruinen, alle Pflanzen und Bäume waren verdorrt und schwarz. Es kam ihnen ein schrecklicher Gestank entgegen. Tonks hielt sich den Ärmel ihres Mantels vor Mund und Nase und folgte der Spur. Sie führte sie zum Drei Besen, das nur noch aus Schutt und Asche bestand. Sie keuchte erneut, als sie den Grund für den Geruch fand: zwischen dem Gestein lagen verdörrte, verbrannte, verfaulte Leiber. Hunderte. Von den meisten war nur noch der Torso übrig. Dazwischen lagen einzelne Gliedmaßen und Tierkadaver, die fast bis zur Unkenntlichkeit geschunden waren. Tonks sank schluchzend nieder. Die Vorstellung, dass diese Wesen hier ein Festmahl mit ihren Freunden und Bekannten veranstaltet hatten, sich an deren Leid gütlich getan und dann erneut auf Jagd gegangen waren, überstieg Tonks Fassungsvermögen. Und dann war plötzlich sein Gesicht vor ihrem geistigen Auge, sein gütiger Ausdruck, seine Sanftheit, wenn er sie angesehen hatte.

Mousse beobachtete die Frau, wie sie hemmungslos schluchzte und zitterte. Ihre Tränen schienen endlos zu fließen. Ihr Schmerz wurde auch zu seinem Schmerz, als er erkannte, dass sie nicht nur um diese große Zahl von Menschen trauerte, sondern vor allem um einen ganz bestimmten. Er kannte diesen Ausdruck nur zu gut. Es war sein eigener Gesichtsausdruck. Jeden Tag, seitdem das Mädchen, das er liebte, verschlungen worden war. Seither hatte er sich nur noch nach Rache gesehnt. Er suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit diese Geister auszumerzen, aber nichts hatte auch nur die geringste Wirkung gezeigt. Seine Forschungsreise hatte ihn bis hierher auf diese kalte, feuchte Insel getrieben, aber gerade hier, so schien es ihm, gab es mehr von diesen Wesen als sonst wo auf der Welt.

Gerade als Mousse zu der Frau hinübergehen und ihr zeigen wollte, dass er ihren Schmerz teilte, hörte er Shampoos Schreie in seinem Kopf, ihre angstvollen Laute, spürte den kalten Hauch und den gefräßigen Nebel, der an seinem Rücken nagte. Bevor er loslaufen konnte, war sein Körper bereits soweit in Mitleidenschaft genommen, dass er auf die Knie ging und sich nur noch mühsam aufrecht halten konnte.

So laut er konnte, rief er: „Vorsicht!“. Es was nicht vielmehr als ein Flüstern.

Die Frau rührte sich nicht. Er stützte sich auf dem Boden ab, konnte sich jedoch nicht lange halten und brach zusammen. Seine Brille barst, er konnte nichts mehr sehen. Aber er spürte es. Er spürte alles sehr deutlich, den Kummer und die Pein, als hätte sein Leben aus nichts anderem bestanden. Bevor die sich nähernden Geister jedoch seine Seele rauben konnten, entkam diese zusammen mit seinem Geist und ging hinüber in andere Gefilde. Der schnelle Tod war seine Rettung.

Verzeih mir bitte, flehte Tonks Remus an. Er hörte es jedoch nicht.

Sie wollte sich zusammennehmen, wollte seines Opfers gedenken und weiterleben, aber ihr Körper war bleiern, ihr Geist träge und die grauenvollen Schreie und Bilder nisteten bereits in ihrer Brust. Dann – sie vermochte es auch um Remus Willen nicht mehr aufzuhalten – brach auch der letzte Rest ihrer Beherrschung zusammen und der Mensch, der einst Nymphadora Tonks gewesen war, zerrann in den kalten, sehnigen Armen des Wesens zu einem Strom purer Verzweiflung und einer ewig andauernden Seelenqual.



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