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Secret

Bittere Geheimnisse
von

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Am Montagmorgen krebste ich aus dem Bett und versuchte mit einem Lächeln den Morgen zu beginnen. Doch meine Mutter war mitten im Stress, da sie bereits um halb 8 in der Firma sein wollte. Also verabschiedete sich meine Mutter mit einem schnellen Küsschen auf die Wange und rannte aus der Haustür. Und schon war sie weg.

Grade aufgestanden und schon alleine in der stillen Wohnung. Ich seufzte und versuchte trotzdem den Tag gut angehen zu lassen. Langsam aß ich meine Cornflakes, die von Tag zu Tag fader wurden.

Mit wenig Elan sah ich wie jeden Morgen in den Spiegel und seufzte. Es war dieser enttäuschte, traurige Seufzer, der mir jeden Morgen rausrutschte. Wissend, dass ich selber Schuld an meiner Situation war und sie trotzdem nicht ändern konnte.

An der U-Bahnstation, zugedröhnt von meiner Musik, starrte ich zur anderen Seite und beobachtete die Menschen, die hektisch zu ihrer Arbeit rannten. Montage schienen immer extra voll zu sein. Oder man hat sich durch das Wochenende nur entwöhnt.

Und mit überhaupt keiner Überraschung folgte ich der riesigen Menschenmenge in die eingefahrene U-Bahn. Aber der Trick an der Tür zu stehen klappte auch in der zweiten Woche.

 

Da kam sie angerannt. Sie sah mich von weitem und lachte außer Atem, während sie zur U-Bahn rannte. Ich hielt vorsichtshalber schon mal die Hand vor den Sensor. Sie huschte rein und die U-Bahn fuhr los. Wieder lachte sie und hustete ein »Danke dir!«. Ich lächelte zurück. Schweigen. Sie richtete ihre Haare und tippte wieder kurz auf ihrem Handy. Im Display stand 'Julian'. Wohl ihr Freund. Der Brünette Typ.

 

»Du studierst auch hier, ich verwechsle dich jetzt nicht, oder?«, fragte sie mich freundlich und deutete auf meine große Schultertasche. Ich riss sofort einen meiner Ohrstöpsel aus dem Ohr und nickte. »Ja, im medizinischen Komplex.« Sie nickte und lächelte.

»Ich studiere BWL. Obwohl ich jetzt schon keine Lust mehr darauf habe«, lachte sie etwas schrill und strich sich eine Strähne aus ihrem Gesicht. Sie war stark geschminkt, aber ihr grade geschnittener Pony verdeckte sowieso ihre Augen. »Und was genau im medizinischen Bereich?«

Wow. Sie wollte wirklich ein Gespräch mit mir anfangen. Jetzt nur nichts vermasseln. Cool klingen. »Zahnmedizin.«

Sie war erstaunt. »Ist ja krass! Mein Freund auch! Der muss hier auch irgendwo in der U-Bahn sein. Aber Montags verpasse ich grundsätzlich meinen Bus, weswegen ich dann so hierher hecheln muss.« Sie grinste. »Kennst du ihn? Groß, kurze, braune Haare? Hat so'n Tattoo im Nacken.«

»Mal gesehen«, ich zuckte mit den Schultern, um lässig zu wirken, »aber nie miteinander gesprochen.«

»Ach so. Weil du siehst cool aus. Bisschen wie mein Freund.« Bisschen weit davon entfernt, hätte ich am liebsten hinzugefügt, aber sie wollte nur nett sein.

»Ach so, danke«, murmelt ich also.

Die U-Bahn hielt an unserer Haltestelle und wir quetschten uns raus. Sie suchte verzweifelt ihren Freund. Der schien jedoch nirgends aufzutauchen. Da vibrierte ihr Handy und sie ging ran.

»Wie? Du bist mit Mike schon vorgegangen? Du Doofkopf!«, meckerte sie in ihr Handy und legte nach kurzer Zeit wieder auf. Dann lächelte sie mich an. »Der ist schon mit seinem Kumpel vorgegangen. Tja, macht ja nichts, wir sind trotzdem pünktlich.«

Ich nickte und ging mit ihr Richtung Uni. Seltsames Mädchen, aber doch nett. Sie fragte mich, welchen Notenschnitt ich hatte, woher ich kam und was ich hier sonst so machte. Sie hieß Michelle, aber sie hasste den Namen, weswegen sie alle Micky nannten. Sie war ebenfalls 19 und Studienanfängerin, doch kannte sie die Uni schon gut, weil ihr großer Bruder an besagter Uni Chemie studierte. Sie liebte Shoppen und Pferde. Aber sie ritt nicht, weil ihre Mutter das Geld an dieser Stelle falsch investiert sah. Stattdessen ging sie regelmäßig mit ihrer Freundin Susanne ins Fitnessstudio. Ihre Lieblingsfarben waren Rosa und Pink. Als ich fragte, ob das nicht dasselbe sei, wurde ich fast gesteinigt. Das seien zwei vollkommen unterschiedliche Farben und nicht das Selbe. Sie und Julian, ihr Freund, waren seit 10 Monaten zusammen und er wäre der perfekte Mann. Lieb und zuvorkommend, höflich, witzig, intelligent und immer für einen Spaß parat. Klang wirklich nach dem perfekten Mann. Vor allen Dingen musste er ein großes Ohr für sie haben, denn der Weg von der U-Bahnhaltestelle zur Uni war im langsamen Schritt keine 10 Minuten und ich kannte ihr komplettes Leben bis dato. Gebürtige Münchnerin, Eltern noch zusammen, lebte mit ihnen gemeinsam in einer kleinen Wohnung am Stadtrand. Der großen Bruder schon in einer eigene Wohnung in Hadern.

Nachdem ich also ihre Vitae kannte, verabschiedete sie sich auf dem Campus von mir und ging in ihre Richtung zum Komplex.

Vor dem medizinischen Gebäude standen wieder die Raucher und zogen sich noch ihre nötige Dosis Nikotin rein. Darunter auch Julian und wahrscheinlich der Kumpel Mike. Julian  suchte wohl seine Freundin. Ich wollte erst auf die beiden zugehen und ihnen sagen, dass Micky bereits auf dem Weg zu ihrer Vorlesung ist, doch zog ich meinen bekannten Bogen um sie herum. Wie sollte ich sie denn ansprechen ohne zittrige Knie zu kriegen? »Hey, also deine Freundin ist schon im Gebäude, hab sie grade getroffen, nettes Mädchen.« Nee. Nee, nee, nee.

 

In der Vorlesung setzte ich mich extra in die hintersten Reihen. Mike und Julian waren so ein gefundenes Fressen für meine Aufmerksamkeit. Das chinesische Zeichen an Julians Nacken hatte ich übrigens gegoogelt und war gar nicht chinesisch, sondern japanisch und bedeutete Leben. Warum nicht, dachte ich, und kritzelte es auf meinen Block. Im Grunde waren die beiden nur am rumalbern. Weniger am Zuhören. Aber meine Ohren nahmen das Gerede des Professors auch schon lange nicht mehr so genau wahr. Wie würde das nur in ein paar Semestern aussehen?

Ich hatte fast jede Vorlesung mit den beiden Quatschtanten. Und in einem kleinen Hörsaal nervte ihr Getratsche sogar manchmal. Es gab nämlich hier und dort ein paar interessante Stellen, die ich mitschreiben wollte und durch ihr Quatschen unnötig gestört wurden.

In der Mensa war es ausnahmsweise mal nicht so überfüllt; man merkte sofort, dass bei vielen Studenten schon nach einer Woche die Luft raus war und regelmäßiges Erscheinen als nicht mehr so wichtig angesehen wurde. Trotzdem war es nicht leer.

Mehr Salat für mich. Der war ausnahmsweise mal wirklich lecker, oder zumindest das Dressing. In Gedanken an eine neue Tätowierung versunken, schlurfte ich zu 'meinem' Tisch und setzte mich. Langsam aß ich meinen Salat und tippte auf meinem Smartphone. Feli postete einen erneuten Streit mit ihrem Macker, eine ältere Bekannte ist jetzt schwanger, die Mutter von der Mutter einer aus meiner Klasse ist gestorben, die Schwester eines Bekannten ausgezogen und ein Freund im Knast. Da zieht man aus seiner Heimat aus und ist auf einmal froh, nicht mehr da zu sein. Facebook sei Dank.

Gar nicht auf meine Umgebung achtend, stand ich auf und brachte das Tablett weg. Im Augenwinkel sah ich Micky lächeln. Ich blickte zu ihr und sie winkte mir fröhlich zu. Erst zögerlich, aber dann doch sicher über die Zuwendung ihrerseits, winkte ich zurück und lächelte, während ich zum Ausgang ging. Julian sah mich dabei ebenfalls an und Mike drehte sich zu mir um. Ich lächelte noch, bis ich dann wieder meiner Wege ging. Ich war doch gut, oder? Das war super. Ich war so gut. Ich bin nicht in Zittern ausgebrochen. Und ich glaubte, dass das Winken mir galt. Oder doch jemand anderem? ... Ohje...

 

Noch vor der Vorlesung bemerkte ich, dass mein Wasser bereits leer war. Schnell drehte ich wieder um und suchte im Gang nach einem Automaten.

Seufzend lehnte ich an einer Wand und wartete, bis der Typ vor mir sich etwas zu Trinken aus dem Automaten geholt hatte. Das dauerte ewig, weil er immer eine falsche Nummer eingegeben hatte. Dann zu wenig Geld. Wieso Menschen eigentlich manchmal so unfähig sein mussten, war mir unbegreiflich.

Dinge, die ich hasste: Unfähige Menschen. Langsame Menschen.

Als der Typ endlich weg war und ich voller Zynismus mich fragte, wie der es auf eine Uni geschafft hatte, warf ich ein paar Münzen ein und drückte die Zahlen des gewünschten Wassers. Auf einmal lehnte sich jemand an den Automaten.

 

Ich blickte in hellblaue Augen, die mich neugierig ansahen. Er reichte mir die Hand. »Julian. Mickys Freund. Du kennst sie aus der U-Bahn?«

Wohl sichtlich erstaunt über seine Gestik, mich anzusprechen und dann auch noch so freundlich mit einem Lächeln auf den Lippen, das mit den leichten Ansätzen von Grübchen quasi perfekt wirkte, stutzte ich.

Ich reichte ihm ebenfalls zögerlich meine Hand und lächelte zurück. »Constantin. Ja, genau, ich halte ihr öfter mal die Tür auf, wenn sie zu spät ist.« Da lachte er kurz auf und nickte verständnisvoll.

»Klingt nach ihr. Die hat eine Montagsschwäche. Aber eine ganz stark ausgeprägte.«

Ich grinste einfach und nahm mein Wasser aus dem Automaten.

»Du studierst auch hier Zahnmedizin?«, fragte er mit dem rhetorischen Unterton. Micky hatte ihm wahrscheinlich von mir erzählt. Ich nickte und starrte auf den Boden, während wir zum Hörsaal gingen. »Viele meiner Freunde haben mich damals ausgelacht. Frei nach dem Motto: Wie kann man nur sein Leben lang in andere Münder schauen wollen.« Dabei lachte Julian etwas und strich sich kurz durch sein gewachstes Haar. Ich grinste einfach. Dann redete er über die Einführungsveranstaltungen, die anderen Leute, noch einmal über Micky und wie sehr es ihn ankotzt, dass wir manchmal so weit raus fahren mussten. Ich nickte immer nur und starrte nervös auf den Boden. Ich wusste überhaupt nicht, was ich sagen sollte. Er bemerkte schließlich meine verkrampfte Haltung und blieb kurz stehen.

»Wenn ich dir irgendwie unangenehm bin, sag das bitte sofort.«

Erschrocken blieb auch ich stehen und schüttelte schnell den Kopf. Seine blauen Knopfaugen sahen mich durchdringend an. Er erwartete wohl dann eine andere Erklärung meines Verhaltens. Ich zögerte und knibbelte angespannt am Deckel der Flasche. Jetzt sprach mich mal jemand an und ich mache alles mit meinem Verhalten kaputt! Wie kann mich jemand so nervös machen? Jemanden, den ich überhaupt nicht kannte. Aber er sah wirklich so cool aus! Allein seine Körpergröße lag sicherlich auf knapp 1,90 m. Die athletische Körperfigur unterstrich das noch mal. Seine großen Hände umfassten locker den quer liegenden Bund seiner Schultertasche. Und seine Augen … bohrten weiter. Dann lächelte er mich wieder an. »Micky sagte, du seiest schüchtern, aber so schüchtern hätte ich nicht gedacht.«

Mein Kopf, gefühlt heiß wie nach der Sauna, wurde schlagartig rot und ich suchte verzweifelt eine Antwort. Alles was ich raus bekam war ein Stammeln von Wörtern zwischen »Ich ...« und »Tut mir Leid ...«. Julian stattdessen kam mit einem Grinsen auf mich zu und legte seinen Arm um meine Schulter. Oh Gott, Körperkontakt.

»Schon okay! Glaube mir, ich werde dir dafür ganz schnell auf den Wecker gehen.« Ich sah kurz zu ihm auf und er zwinkerte mir zu. War wohl als halber Spaß gemeint, weil er so extrovertiert daherkam und das krasse Gegenteil zu mir war.

»Ich glaube nicht«, murmelte ich, »ich bewundere das eher.«

Er stoppte kurz und nahm die Hand von meiner Schulter. Dafür klopfte er mir einmal kurz auf den Oberarm.

»Wir werden sehen.« Er hörte überhaupt nicht mehr auf zu Grinsen. Wahrscheinlich habe ich mich bereits blamiert. So wie immer. Er ging in den Hörsaal und schlurfte zu Mike in die Reihe. Ich war mir nicht sicher, ob ich nun folgen sollte oder nicht und setzte mich deswegen standardgemäß eine Reihe hinter die beiden. Da drehte Julian sich um und entriss mir meine grade auf den Tisch abgelegte Tasche.

»Was machst du? Komm her!«

Mike lachte nur, drehte sich um und reichte mir über den Tisch die Hand. »Mike. Der Kumpel von dem Trottel hier.« Ich lächelte zurück und schüttelte zitternd seine Hand. Julian hatte inzwischen meinen Platz vorbereitet und hielt mir den klappbaren Stuhl runter, damit ich mich setzen konnte. Ein »Danke« kam grade noch so aus mir raus. Mir schwirrten nur wirre Gedanken im Kopf rum, dass ich die Situation nicht noch schlimmer machen sollte.

Julian unterhielt sich kurz mit Mike über irgendwas am Wochenende und dass es hoffentlich mal nicht regnen würde. Als der Professor langsam an seinen Platz nach vorne ging und seine Sachen ausbreitete, widmete sich Julian wieder mir. Und ich freute mich schon fast wie ein Wahnsinniger, dass ich es wohl nicht vermasselt hatte. Jetzt nur nichts kaputt machen!

»Und? Wie findest du es bis jetzt hier?«

Ich überlegte kurz und wollte etwas nettes sagen. »Ich glaube, jetzt wird’s gut. Davor fand ich es nicht so toll.«

Julian lächelte mich kurz an und packte seinen Collegeblock aus. »Ich find's jetzt schon kotzlangweilig, ist eben wie Schule.«

Ich nickte kurz. »Aber wesentlich entspannter als in der Schule mit dem ganzen Melden und den Hausaufgaben.«

»Ja, ich kann mir vorstellen, dass das immer ein Problem für dich war, oder? Ständiges Mitmachen im Unterricht?«

Mein Puls stieg aus Peinlichkeit weitere 10 Einheiten. Seine direkte Art war gewöhnungsbedürftig.

»Ja, schon ...«

Julian knuffte mich etwas in die Seite. »War nur Spaß. Ich hab mich auch nie gemeldet, aber nur weil ich geschlafen hab.«

Mike stupste ihn kurz an und lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich. Ohne irgendwie nachzudenken, schlug ich die zuletzt benutzte Seite meines Blocks auf und fing an die erste Folie abzumalen. Julian erhaschte einen Blick und tippte auf die Ecke des Blattes. »Genau das Zeichen hab ich im Nacken! Heißt Leben.«

Ich wollte schon »Ich weiß« antworten, als mir auffiel, dass es doch etwas seltsam kommen würde, wenn ich ihm jetzt erzählen würde, dass ich ihn ständig von weiter hinten beobachtet habe.

»Äh, ja, ich hab's auch bei dir gesehen und fand's sehr schön, deswegen hab ich's abgemalt.«

»Echt? Wow! Du kannst echt gut Zeichnen, sieht aus wie gedruckt!« Er lehnte sich etwas weiter vor, um der mit Bleistift angefertigten Zeichnung Echtheit zu erhaschen.

Übertreib mal nicht, wollte ich sagen, aber ich nahm das Lob einfach mal an. »Danke. Ist aber nur ein Hobby.«

»Zeichnen? Was zeichnest du denn so?«

»Ach, eigentlich alles...« Mehr bekam ich nicht raus.

Julian nickte interessiert und schob mir prompt seinen Block hin.

»Mal mir mal was. Was einfaches, 'ne Blume oder so.«

Ich lächelte und nahm meinen Bleistift aus dem Mäppchen. »Was denn für eine Blume?«

»Da gibt’s Unterschiede?«, lachte Julian und wollte nur einen Scherz machen. »Ich weiß nicht. Meine Lieblingsblumen sind eigentlich Lilien, aber die sind was schwer, oder?«

Ich schüttelte den Kopf und begann den Umriss einer Lilie zu zeichnen. Er mag Lilien. Ich auch, dachte ich. Trotzdem wirkte es bei ihm wesentlich cooler, wenn er so was sagte, als wenn ich einem anderen Mann 'gestehen' müsste, dass ich Lilien mochte. Da würde die Runde erst mal lachen. Erfahrung hatte ich in so was schon gemacht.

Nach einer guten Minute war die Lilie in Centgröße fertig. Julian war begeistert. »Krass! Und so schnell! Sieht richtig toll aus! Und mit dem Talent willst du nichts machen?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Was denn? Freier Maler werden ist nicht so mein Ding.«

Julian nickte verständnisvoll. »Nee, da würdest du untergehen.« Auf diesen Satz hatte ich nur ein müdes Lächeln übrig. Ja, ich würde untergehen. So wie hier. So wie überall.

»Aber«, fing er an, »wie wär's denn mit Grafikdesigner?«

»Hm ...« Nicht so mein Ding. Verstand er wohl auch. Ich strich mir meine Haare kurz zur Seite.

»Tätowierer!« Und deutete auf meine Tätowierung hinter meinem Ohr. »Das wär' doch was.« Er lächelte mich an und sah sich das Tattoo genauer an. »Ist das nicht die Fleur-de-Lis?«

Ich nickte. »Ja, genau.« Peinlich, peinlich. Wenn er mich jetzt noch, wie so viele andere, fragt, ob ich es mir wegen der Weiblichkeit hab stechen lassen, wäre er zwar lustig, aber genauso gemein.

»Hast du noch mehr?«

Ich sah ihn erstaunt an. Er fragte es tatsächlich nicht … Es schient gar kein Thema zu sein.

»So gut wie überall.« Ich merkte, wie ich etwas ruhiger wurde.

Seine Knopfaugen öffneten sich um das doppelte. »Im Ernst?«

»So gut wie. Also ich bin nicht durch und durch tätowiert.«

»Geil! Ich hab auch einige. Micky hasst sie allesamt und wünscht sich keine weiteren mehr. Dabei hätte ich noch tausend Ideen!«

»Hab ich auch andauernd«, und lachte etwas. Noch so'n Verrückter. »Aber meine Familie findet das auch nicht so toll.«

»Ach, die haben da schon lange nicht mehr mitzureden.« Julian lachte und deutete auf meinen Oberkörper. »Will ich irgendwann mal alle sehen. Die sind bestimmt interessant.«

Ich nickte. »Gerne. Aber dann will ich deine auch sehen.« Er lachte, ich lachte und irgendwie … hatte ich das Gefühl jemanden gefunden zu haben mit dem ich sehr gut klar kommen würde. Er war unglaublich nett und freundlich. Und nach jedem weiteren Satz sank meine Unsicherheit.

Er deutete kurz auf Mike.

»Der traut sich nicht. Er hätte auch gerne eins, aber irgendwie hat er zu viel Angst vor den Schmerzen.«

Ich zuckte mit den Achseln. »Muss jeder für sich selbst entscheiden.«

Julian nickte und sprach Mike an, der die Folien feinsäuberlich abschrieb. »Hast gehört? Jedem das Seine. Du hast endlich jemanden gefunden, der dich nicht dazu nötigt.« Dabei wandte er sich wieder zu mir. »Das tu' ich nämlich gerne.« Und grinste mich hämisch an. Mike verdrehte die Augen und schüttelte grinsend den Kopf.

 

Die Vorlesung war stink langweilig, aber die Gespräche mit Julian umso interessanter. Er war gebürtiger Münchner und lebte bei seiner Mutter und seiner jüngeren Schwester Jenny. Der Vater verstarb vor circa sieben Jahren an Krebs. Aber er kam damit ganz gut zurecht, denn sein Vater war ein netter und liebenswürdiger Mann, der sein Leben geschätzt hat und nicht in Leid gestorben ist. Seine Mutter würde ihn und seine Schwester seitdem nur irgendwie 'übermuttern'. Er fuhr mal Skateboard, hat's aber aufgegeben, weil er Angst hatte sich schwere Verletzungen zuzuziehen, weil ein Kumpel seit dem Querschnittsgelähmt war. Dumm aufgekommen, meinte Julian. So einfach mit dem Kopf abgeknickt und da wurden ein paar Wirbel durchtrennt. So genau wusste er es auch nicht, aber seitdem spielte er nur noch Basketball oder Fußball. Aber nichts im Verein, das fand er nicht so toll. Er ging gerne feiern. Und trinken tat er auch gerne, so wie ich das aus seinen Erzählungen seiner Exzesse heraus hören konnte. Ein oder zwei Joints waren auch schon dabei gewesen. Dabei erzählte er mir wieder von einem Bekannten, der jetzt in der Entzugsklinik lag und seitdem seine eigene Haut essen würde. Bei dem Gedanken ekelte es mich schon etwas …

 

Julian kannte die halbe Welt, so hatte ich das Gefühl. Er war beliebt, welch Überraschung. Seitdem ich mit den beiden in Kontakt getreten war, eröffneten sich so viele neue Wege zu anderen Menschen. Julian hatte Bekanntschaften überall in der Uni. Die lustigsten Leute, aber auch die Seltsamsten.

Am Dienstag lernte ich noch Andreas und Lucy kennen. Die beiden waren ein Paar, schon seit knapp einem Jahr. Er studierte Rechtswissenschaften und sie Psychologie. Lucy war übrigens mit einer Susanne befreundet, die die beste Freundin von Micky war. Wie klein die Welt ist.

»Die Fitnessstudiofreundin?«, fragte ich Julian. Der lachte nur und nickte.

»Ja, die beiden sind eigentlich so überhaupt nicht sportlich. Aber wenn sie denn mal dahin gehen, versuchen sie wenigstens so zu wirken.«

Andreas war so groß wie Julian und hatte kurze, blonde Haare. Er sah etwas schlägermäßig aus, aber war richtig nett. Dass er wie ein Schläger aussah, hatte mit seinem Hobby zu tun: Boxer. Und obwohl er Rechtswissenschaften studierte, hoffte er irgendwann entdeckt zu werden, um Profiboxer werden zu können. Ich drückte ihm die Daumen.

Lucy war sehr schmal, ganz anders als die etwas rundlichere Micky. Sie sah wie eine Elfe aus, so ganz blass mit glatten, schwarzen Haaren, die ihr fast bis zur Hüfte gingen. Sie wirkte sehr zurückgezogen und mystisch. Mir gefiel das Getue nicht so, denn wie es schien, galt sie auch als Seherin. Oder so was.

Sie sah mich sehr lange, sehr durchdringend an und meinte schließlich zu mir, ich sei ein sehr interessanter Fall und würde noch ziemlich in meiner Studienzeit leiden. Besonders bei meiner neuen Bekanntschaft mit Julian. Ich lachte nur müde, während Julian abwinkte und ihr Gelaber für Schwachsinn erklärte. Wenn's stimmen sollte, dann waren das ja goldige Aussichten. Aber wer bitte sagt so etwas im ersten Gespräch mit einer fremden Person? Julian kannte wirklich komische Leute ...

 

In der Mittagszeit setzte ich mich das erste Mal zu Micky, Mike und Julian. Und obwohl Lucy und Andreas mit ihnen befreundet waren, saßen sie woanders.

»Warum setzen die sich nicht zu euch?«, hakte ich nach.

»Lucy und Andreas sind nett, aber ...«, antwortete Micky und kratzte sich an der Nase, »... die sind eher für sich alleine. Lucy alleine ist so ganz nett und so, aber ich habe nichts mit ihr zu tun. Nicht direkt.«

»Die beiden sind immer dabei, wenn wir feiern gehen oder an der Isar chillen, aber sonst nix«, fügte Mike hinzu. Ich nickte. Also Bekannte, keine Freunde.

»Und du kennst hier niemanden?«, warf Julian in die Runde.

Ich schwieg kurz.

»Nur eine alte Bekannte. Sie wohnt hier in der Innenstadt, aber studiert nicht hier.«

»Ach so, das ist aber schade.« Micky klaute sich ein Hühnchenstück von Julians Teller. »Du bist ja gar nicht von hier, stimmt's?«

»Ja, genau. Ich komme aus Frankfurt.«

Julian lachte auf. »Aus dem Norden? Hart!«

Ich stutzte. »Also Hessen liegt eigentlich relativ südlich-mittig Deutschlands ...«

»Quatsch, alles was über Franken ist, ist Norden«, wank Julian mit einem Zwinkern ab. Ich grinste. Die Bayer und Geografie.

»Und warum München? Gibt doch auch andere schön Städte«, fragte Mike und deutete gleich mit an, dass er Hamburg viel schöner findet.

»Hör nicht auf den. Der mag München nicht. Klingt komisch, ist aber so.« Wir lachten über Julians Einwurf, während Mike Julian unter dem Tisch trat.

Die drei unterhielten sich nach meiner kurzen Antwort über die verschiedensten Sachen, während ich still zuhörte. Da waren Konzerte, Geburtstage, Beziehungen, Bekannte, Familien. Querbeet schnitten sie die Themen an und ich hatte keine Ahnung, worum es ging. Aber trotzdem war es so interessant, die drei beim Gespräch zu beobachten.

Mike war eher der Stille, aber nicht annähernd so still wie ich. Micky die schnell aufbrausende Freundin, ständig unter Strom, immer unternehmungslustig. Julian der Komiker mit ständig witzigen Erzählungen, aber auch unter Starkstrom gesetzt. Micky und Julian sahen wirklich glücklich aus. Vor allen Dingen passten sie zusammen. Obwohl es gegen Ende der Mittagszeit immer mehr nach einer kleinen Meinungsverschiedenheit aussah. Denn Micky wollte am Wochenende in eine Disco, während Julian lieber an die Isar wollte, denn es sollte am Wochenende noch einmal warm werden. Doch Micky wollte partout nicht an die Isar, denn da würde sich Julian nur wieder betrinken. Der gab das ohne jegliche Rechtfertigung grinsend zu.

 

Zurück im Hörsaal, tratsche Julian mit Mike weiter über irgendwelche Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte. Eine leichte Enttäuschung machte sich breit, dass ich wohl jetzt schon wieder uninteressant geworden bin. Aber dann drehte er sich auch mal zu mir und fragte mich Kleinigkeiten, wie zum Beispiel: »Sag mal, magst du lieber Süßes oder Herzhaftes zum essen?« oder »Micky sagt immer, ich sollte kein schwarz tragen, das würde mich eintönig wirken lassen. Findest du das auch?«

Es waren keine großen Sachen, aber unglaublich nett und bemüht war er alle Male.

 

Am Mittwoch lernte ich Susanne kennen. In der Mittagspause saß sie nämlich schon mit Micky am Tisch und war sich rege am unterhalten. Als Mike, Julian und ich dazustießen, führte mich Micky sofort ein.

»Das ist Constantin, von dem ich dir erzählt habe. Constantin, das ist Susa, meine beste Freundin.«

Die lächelte freundlich und reichte mir die Hand. So viele Hände, wie ich sie in den drei Tagen geschüttelt habe, habe ich noch nie angefasst.

»Freut mich, Susa«, entgegnete ich und fragte mich gleichzeitig, wo sie die letzten Tage war.

Als wir saßen erzählte Susa wieso: Sie studierte schon zwei Semestern Allgemeinmedizin und hatte erst an dem Mittwoch ihre ersten Vorlesungen, die wirklich wichtig waren. Sie sah aber nicht wesentlich älter aus. Eher jünger. Ihre hellroten Haare ähnelten meinen sehr, obwohl ihre echt waren. Ein paar Sommersprossen auf ihrem Gesicht verrieten es. Auch ihre Augenbrauen und Körperhaare waren hellrot. Und obwohl sie ihre Wimpern stark geschminkt hatte, wirkte sie natürlicher als Mickey mit ihren hellblondierten Haaren und stark geschminkten Augenpartien. Susa war hellauf und lachte manchmal etwas laut; und war genauso aktiv wie die anderen um mich herum. Im Grunde fühlte ich mich wieder ganz klein, weil ich absolut nicht in die Gruppe reinpasste. Trotzdem waren alle sehr bemüht mich einzubeziehen. Ich hatte wirklich unfassbares Glück so nette Menschen gefunden zu haben, die mich nicht gleich abstempeln.


Nachwort zu diesem Kapitel:
... Ich hoffe, es waren nicht zu viele Namen auf einmal. Ich muss zugeben, manche Passagen sind etwas verwirrend oder plumb geschrieben. Eventuelle gehe ich solche Passagen in Zukunft vorher durch und ändere sie, so gut ich kann! Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  lilac
2015-08-28T11:00:42+00:00 28.08.2015 13:00
Dein schreibstill gefällt mir total gut. Man kann jeden Charakter gut einschätzen.
Julian find ich svhon mal sehr intressant und liebenswert.
Fast schon rührend wieviel mühe er sich gibt constantin in gespräche zuverwickeln.

Lg lilac
Von:  Himi-sama
2015-08-01T20:54:35+00:00 01.08.2015 22:54
Also ich hatte beim Lesen kein Problem. War aber schon sehr viel Input. Wer zu wem gehört und wer wie heißt, muss ich vielleicht doch nochmal nachlesen. ... Mein Namensgedächtnis kann dadurch nur geschult werden. XD

Freue mich schon auf das nächste Kapitel. :D
Antwort von:  ellenchain
01.08.2015 23:06
Oh, da freue ich mich aber! Danke dir für die lieben Kommis ♥
... Es kommen soweit auch keine neuen Namen mehr dazu... ₍₍ (ง Ŏ౪Ŏ)ว ⁾⁾


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