Rote Augen
Es war Reis erster Schultag, seine erste große Pause und schon jetzt musste er sich vor einer Traube Mädchen in Sicherheit bringen. Innerlich seufzte er, als er endlich eine ruhige Ecke gefunden hatte, in der er durchatmen konnte. Es war doch immer das selbe!
Manchmal hatte er wirklich das Gefühl, dass nur diejenigen, die keine Beziehung wollten, bei Mädchen wirklich landen konnten. Echt merkwürdig und es war wirklich überall das selbe. Hier in Japan genau wie vorher in China und Amerika. Langsam sollte er sich eigentlich daran gewöhnt haben, sollte es eigentlich sogar erwarten, aber es überraschte und überrumpelte ihn immer wieder. Er war eigentlich eher der stille Typ und konnte so viel Trubel eigentlich gar nicht gebrauchen
Es war schön in eine Klassengemeinschaft aufgenommen zu werden, aber er brauchte zu seinen Mitmenschen einfach ein wenig Abstand und so viel Aufmerksamkeit wollte er auch nicht. Wahrscheinlich würden seine Eltern sowieso bald wieder umziehen. Normalerweise hatte er nicht wirklich mehr als ein Jahr Zeit um sich hier wohl zu fühlen. Enge Freundschaften oder sogar Liebschaften wollte er da gar nicht erst anfangen. Zumindest nichts, was tiefer ging.
Jetzt aber schien er erst einmal seine Ruhe zu haben, warum auch immer. Denn außer einem Baum, war hier nichts, was die anderen davon abgehalten haben könnte, ihm nicht mehr nach zu laufen. Egal. Hauptsache erst mal allein.
So ließ er sich an der Seite des Baumes herab, von der aus man ihn vom Schulhof aus nicht sehen konnte und packte sein Frühstück aus. Er machte sich sein Frühstück für gewöhnlich selbst und versuchte sich an die Gepflogenheiten in der Gegend anzupassen. Ein richtiges chinesisches Frühstück war zwar nicht zu überbieten, aber ein japanisches Bento kam dem schon nahe genug. In Amerika war es schlimm gewesen. Schulbrote... urg. Am Anfang hatte er sich wirklich daran gehalten um nicht auf zu fallen, aber nach zwei Wochen belegtem Brot und vielleicht einem Apfel, hatte er aufgegeben.
Jetzt verspeiste er erst einmal freudig sein mitgebrachtes Essen, wurde dabei aber von einem Geräusch über sich aus seinen zufriedenen Gedanken gerissen.
"Hm?"
Erstaunt hielt er in seinem tun inne und starrte nach oben. Da lag ein Kerl auf einem Ast. War das erlaubt? Wer war das überhaupt?
Wohl jemand der Ruhe genauso gerne wie er selbst genoss. Er schluckte seine Neugierde herunter. Wenn der andere auch seine Ruhe wollte, sollte er ihn nicht stören. Er würde schon ein Gespräch anfangen, wenn er eins führen wollte, schließlich war der wahrscheinlich schon länger da oben. Er selbst hätte bemerkt, wenn der andere neben ihm den Baum empor geklettert wäre.
Kurz stocherte Rei etwas in seinem Frühstück herum. Warum wohl kein Lehrer dafür sorgte, dass dieser Kerl vom Baum kam? Das war doch gefährlich und deshalb wahrscheinlich innerhalb des Schulgeländes untersagt. Kurz lugte er hinter dem Stamm hervor auf den Schulhof. Das war doch ein wenig verwunderlich... jeder schien einen großen Bogen um diesen Teil des Geländes zu machen.
Rei legte die Stirn in Falten. War das eine verbotene Zone? Aber dann würde ihn ein Lehrer doch darauf aufmerksam machen, oder? Aber selbst die Aufsichtspersonen schienen einen weiten Bogen um den Baum zu machen.
Noch einmal wanderte Reis Blick nach oben. Ob das an diesem Kerl lag? Was war das nur für ein Junge, wenn er sogar Lehrer dazu brachte ihn zu meiden? Irgendwie gruselig... aber auch interessant. Wer das wohl war?
Gerade als sich Rei wieder seinem eigentlichen Tun zuwenden wollte, nahm er eine Bewegung wahr. Der Junge über ihm schwang sich von seinem Ast und landete genau neben ihm. Mit eiskalten Augen sah er den Sitzenden an, durchbohrte ihn förmlich mit seinem Blick. Und was für Augen! Reis helle, fast gelbe Augen, waren schon sehr außergewöhnlich, aber die Augen dieses Kerls waren feuerrot! Nur brannte in ihnen nicht das erwartete Feuer. Die Farbe war stumpf, leblos und kalt.
"Verschwinde!" Die Stimme des Fremden war genauso schneidend wie sein Blick. Rei erschauerte unangenehm. Der Typ war wirklich angsteinflößend.
Er schien nicht besonders groß zu sein, aber er hatte breite Schultern und muskulöse Arme. Die Selbstbewusste Haltung vervollständigte das Bild und ließ ihn eine unglaubliche Autorität ausstrahlen.
Aber so schnell ließ Rei sich nicht einschüchtern. Warum auch? Er würde sich wohl kaum hier mit ihm prügeln... oder?
"Ist wohl kaum dein Baum." Reis sonst so sanfte Stimme hatte ebenfalls einen kühlen Unterton angenommen. Was der konnte, konnte er auch.
"Oh doch. Und jetzt hau ab, sonst werde ich ungemütlich!"
Belustigt konterte Rei sofort:
"Und dann? Dann fliegst du von der Schule, weil du 'deinen Baum' beschützen wolltest. Sehr erstrebenswert."
Aber die erhoffte Aufgabe seitens des anderen blieb aus. Stattdessen verzogen sich dessen Lippen zu einem übermütigen, kalten Lächeln:
"Lehrer interessieren sich für keine Straßenköter."
Zuerst wollte Rei aufbegehren wegen dieser Beleidigung, doch er hielt inne. Das hatte der andere nicht auf ihn, sondern auf sich selbst bezogen, oder? Die Lehrer gingen ihm ja tatsächlich aus dem Weg und die Schüler wohl auch, aber warum bezeichnete er sich selbst als 'Straßenköter'? Warum setzte er sich selbst so herab?
"Lebst du etwa auf der Straße?", rutschte es dem Chinesen versehentlich raus.
Im nächsten Moment fühlte er sich am Kragen gepackt und grob hoch gehoben. Der andere presste ihn so fest gegen den Baumstamm, dass er kaum noch Luft bekam. Verdammt, der sah nicht nur so aus als hätte er mehr Kraft als ihm gut tat.
Rei ächzte kurz, erwiderte den lodernden Blick seines Peinigers aber weiterhin.
Eigentlich wollte er sich an seinem ersten Schultag nicht gleich mit irgendwem anlegen, aber wenn der Idiot weiter so fest zudrückte, blieb ihm keine Wahl.
"Hör zu, Schlitzauge!"
Erst jetzt fiel Rei auf, dass der andere ganz und gar nicht asiatisch aussah. Sein sonst so auffälliges Aussehen hatte irgendwie von seinem Gesicht abgelenkt. Er sah eher europäisch aus.
"Du kannst von Glück sagen, dass du neu hier bist. Aber noch so ein scheiß Spruch und es setzt was! Und jetzt verschwinde endlich!"
Er zog Rei leicht an sich nur um ihn dann unsanft von sich und in Richtung Schulhof zu stoßen.
"Mann Rei, da hast du aber echt Glück gehabt."
Ein Mädchen war sofort zur Stelle gewesen und hatte den etwas verdutzten Neuzugang wieder eingesammelt und führte ihn jetzt von dem Baum weg.
"Glück?", fragte Angesprochener etwas dümmlich, noch immer verwirrt über seine Schultern sehend. Der Fremde Junge sprang mit einer fließenden Bewegung wieder auf den Ast und verschwand somit aus Reis Blickfeld.
"Ja! Das war Kai. Er ist ein ganz übler Schläger. Hat dich denn niemand gewarnt?"
Offensichtlich nicht, dachte Rei nur bei sich und seufzte.
"Ich wär' im Notfall schon mit ihm fertig geworden.", versuchte er das Mädchen zu beruhigen. Das war's dann wohl mit dem Abstand.
"Er soll mal einen Sportlehrer Krankenhausreif geschlagen haben.", whisperte das Mädchen jetzt verschwörerisch, was Rei nur dazu veranlasste eine Augenbraue zu heben.
"Aha.", machte er ungläubig. "Und warum soll er das gemacht haben?"
Das Mädchen zuckte nur mit den Schultern und sagte in einem viel zu desinteressierten Tonfall:
"Angeblich soll der Lehrer ihn unter der Dusche angefasst haben nach dem Sportunterricht."
Rei wusste nicht, was er dazu sagen sollte, warf aber noch einmal kurz einen Blick zurück zu dem Baum.
Das waren interessante Neuigkeiten, wenn auch nicht minder bedrückend. Dennoch sagte es, dass Kai wirklich Kraft haben musste, wenn er sich mit einem Lehrer anlegen konnte. Vielleicht sollte er sich doch von ihm fern halten, auch wenn er zu gerne wüsste, ob die Gerüchte stimmten.
Er war von Natur aus neugierig. Wie eine Katze, sagte man ihm oft nach. Aber Neugierde war hier eher zweitrangig. Er hatte das Gefühl, dass mehr dahinter steckte und wenn die Geschichte stimmte, dann hatte sich Kai nur gewehrt, sonst nichts. Dann war er kein Schläger sondern nur ein missverstandener Junge dem übel mitgespielt wurde.
"Schau nicht so Kon, der ist eh schwul. Selbst wenn der Lehrer das gemacht hat, war das sicherlich freiwillig."
... Was war das denn für eine Begründung bitte? Und Rei hatte immer geglaubt, dass er selbst mit beschränkten Vorstellungen aufgewachsen war und deshalb heute noch vieles als komisch erachtete.
Seine Eltern waren beide, auch wenn sie fast nie da waren, sehr streng in ihrer Erziehung. Zudem waren sie recht.. wie nannte man das?... konservativ. Sie würden niemals erfahren, dass Rei bisexuell veranlagt war, lieber würde er sterben. Dennoch.. er wusste genau, dass solche dummen Aussagen nur dazu führten, dass Missverständnisse aufkamen und Gerüchte wie eben dieses eben.
Es gab nur eine handvoll Fälle in denen sich Schüler wirklich freiwillig auf Lehrer einließen und unter diesen Beziehungen gab es einen noch viel geringeren Prozentsatz, die gleichberechtigt abliefen. In Amerika hatte er viel darüber gelernt.
Rei wusste noch immer nicht was er sagen sollte und schwieg lieber. Bei Gelegenheit würde er sich diesen Kai mal näher ansehen.
Jetzt aber läutete die Schulglocke und sie mussten zum Unterricht.