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Vergiss Mein Nicht

von

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Der Bruder

Der Nachmittag ging in den Abend über, und Paul hatte sich gut mit Fernsehen und dem Lesen von Büchern, die er bei einer Krankenschwester erfragt hatte, ablenken können. Er war gerade dabei, ein neues Kapitel anzufangen, als die Krankenschwester vom gestrigen Abend, Loran, in sein Zimmer kam. Als sie ihn lesen sah, lächelte sie leicht.
 

„Hallo, Mister Walker. Wie es scheint, geht es Ihnen schon besser?“, fragte sie, während sie sich neben sein Bett stellte.
 

Er legte das Buch, dass er soeben noch gelesen hatte, beiseite; er nickte leicht, mit einem Seufzer als Zugabe.
 

„Sie haben die Akten doch sicher schon gelesen.“, sagte er und rieb sich mit der unverletzten Hand die Schläfe.
 

„Ja, natürlich, da ich für Sie zuständig bin, muss ich das auch. Wenn Sie Glück haben, werden Sie morgen oder übermorgen auf die normale Station verlegt. Mit Gesellschaft, dann.“
 

„Hm, ich werde die Ruhe sicher vermissen. Sagen Sie, Loran...“, begann er, während er sie durchdringend musterte; seine Augen trieben ihr ein wenig Röte auf die Wangen.

„...Wer war mein Beifahrer? Kann ich den Namen wissen? Die Verwandten, die heute da waren, haben mir nichts gesagt...“
 

Sie zögerte einen Moment, bevor sie gut überlegt antwortete.
 

„Man sagte mir, es sei ein Freund von Ihnen gewesen, Mister Walker, und das tut mir sehr leid. Ich möchte Sie mit diesem Thema noch nicht belasten. Außerdem ist es mir eigentlich untersagt.“
 

„Hm, wie schade. Eventuell ein anderes Mal. Ich kann mich auf jeden Fall an nichts mehr erinnern...“
 

„Eventuell morgen ja, Sie haben einen neuen Besucher. Ihr Bruder möchte Sie sehen.“
 

Paul hob erstaunt die Augenbrauen an; einen Bruder?
 

„Warum war er heute nicht dabei, wie die anderen Verwandten?“, fragte er grob. Oder hatte er sich nie gut mit seinem Bruder verstanden?
 

„Ich glaube, ihr Bruder musste extra aus dem Ausland anreisen, er war wohl in einem Auslandssemester. Als er von dem Unfall erfuhr, hat er den ersten Flug hierhin genommen. Er wird Sie morgen früh besuchen. Eher war es ihm nicht möglich.“
 

„Wissen Sie, ob es ein kleiner... oder großer Bruder ist?“, bohrte er nach, obwohl seine Logik und sein Verstand ihm sagten, dass es fast nur ein kleiner Bruder sein konnte. Doch man wusste ja nie; es gab auch noch Leute, die mit 40 studierten. So etwas war anscheinend modern.
 

Loran lachte leise, doch sie antwortete ehrlich auf die Frage: „Es ist Ihr kleiner Bruder. Er ist um die zehn Jahre jünger als Sie, wenn nicht noch mehr.“

Ein kleiner Bruder!
 

Paul's Herz machte zum ersten Mal einen Sprung. Er wusste nicht, wieso; denn schließlich waren alle Familienmitglieder wichtig. Doch ein kleiner Bruder... In seinen Nervenenden hinten im Nacken kribbelte es. Vielleicht würde das Gesicht des kleinen Bruders helfen, die Erinnerungen wieder aufzuleben.
 

„Danke, ich werde auch nichts dem Arzt verraten“, zwinkerte er ihr zu, während sie nur lachte. Sie hatte ein schönes Lächeln. Überhaupt war sie eine attraktive, junge Frau; er fragte sich, wie alt sie wohl war. Das lange, braune Haar war zu einem Zopf gebunden, und sie trug nur leichte Spuren von dezentem Make Up. Ihr Gesicht war freundlich und hübsch geformt.
 

„Ich werde mich dann mal um die Station kümmern, wenn Sie etwas brauchen.. Sie wissen ja, wo Sie drücken müssen.“, sagte sie und ging in Richtung Tür; Paul jedoch hielt sie mit einer letzten Frage zurück:
 

„Wie alt sind Sie, Loran?“
 

Sie drehte sich noch einmal auf der Achse um, während sie antwortete: „23, Mister Walker. Warum fragen Sie?“
 

„Einfach nur so.“
 

Sie lächelten sich noch einmal an, und die Tür schloss sich hinter Loran.
 

Dreiundzwanzig. Viel zu jung, dachte Paul, während er sich erneut in sein Kissen sinken ließ; nicht, dass er Interesse an der Frau gehabt hätte, für so etwas hatte er absolut keinen Kopf in dieser Zeit. Jedoch war es einfach nur die Interesse eines Mannes an einer Frau gewesen. Und 23 war ein Alter, mit dem er nichts anfangen konnte. Über zehn Jahre jünger, nein. Außerdem war er verheiratet – sofern er das richtig mitbekommen hatte. Ob es wohl eine glückliche Ehe gewesen war?
 

Der nächste Tag brach nach einer schmerzhaften Nacht relativ ruhig an; er wurde wieder von Loran geweckt, die er in der Nacht zweimal hatte rausklingeln müssen, wegen der heftigen Schmerzen. Erst als ein Arzt ihm beim zweiten Mal eine Spritze mit Morphium gegeben hatte, konnte er in Ruhe schlafen. Dennoch steckte ihm die kurze und albtraumhafte Nacht in den Knochen.
 

Auch in dieser Nacht hatte er von Feuer geträumt, von knirschendem Metall und von grausamen Schreien, die eindeutig von einem Menschen gekommen waren.
 

Nach dem Wecken ging es ab zu einer Untersuchung, er wurde wieder getestet und die Ärzte waren sich einer Meinung, dass er nun auf eine normale Station verlegt werden konnte.
 

Eigentlich war es für Paul keinerlei Problem; das Einzige, was er jedoch jetzt schon schmerzlich vermissen würde, war seine Ruhe, sein eigenes Bad (auch wenn er es selbst nicht gut benutzen konnte) und der Vorteil, dass Verwandte ihn nur eine Stunde pro Tag besuchen konnten. Das änderte sich jetzt.
 

Nicht, dass er seine Vergangenheit nicht aufbauen und aufleben lassen wollte, nein: Nur all diese Leute waren ihm noch fremd und konnten ihm bisher bei der Suche nicht helfen. Viel mehr waren sie wie eines der Dinge, gegen die Paul sich noch so kurz nach dem Unfall vehement wehrte.
 

Sein neues Zimmer war farbenfroher, und es war nur mit einem weiteren Patienten belegt, einem älteren Mann, der aber nicht sehr gesprächig zu sein schien. Das war Paul natürlich sehr willkommen, auch wenn er es nicht zeigte.
 

Er hatte sich gerade in sein neues Bett gelegt, als es an die Tür klopfte. Er wusste genau, wer das sein konnte; schon den ganzen Abend gestern hatte er sich im Kopf vorgestellt, wie wohl die erste Begegnung mit seinem kleinen Bruder ablaufen würde.
 

Er war angespannt und nervös, und zu allem Übel hatte er heftige Kopfschmerzen, obwohl er vor einer Stunde noch eine Tablette genommen hatte. Vielleicht doch zu viele Schmerzmittel auf einmal, dachte er sich noch, bevor er ein lautes „Herein“ verlauten ließ, um den Besucher, wer auch immer dort wartete, zu begrüßen.
 

Die Tür ging langsam, langsam auf, fast in Zeitlupe. Paul versuchte, nicht zu angespannt zu sein, auch wenn es ihm wirklich sehr schwer fiel.
 

Er erkannte seinen kleinen Bruder sofort, und das lag daran, dass sie sich wie aus dem Gesicht geschnitten ähnelten; Paul's kleiner Bruder war etwas dünner, nicht ganz so groß wie er und hatte ein weicheres, viel lieberes Gesicht als Paul; auch war das Gesicht etwas rundlicher, was ihm ein junges, unbekümmertes Aussehen verlieh. Doch das tat nichts zur Sache; vor ihm stand eindeutig sein Bruder.
 

Als sein Bruder Paul erblickte, brach er in Tränen aus; er war so schnell auf Paul's Bett zugerannt, das dieser ihn nicht davon abhalten konnte, ihm in die Arme zu springen; und diesmal fühlte es sich nicht falsch an. Es fühlte sich richtig an. Trotz seiner Schmerzen und dem Gefühl, erdrückt zu werden, erwiderte er die Umarmung fest. Sein Gedächtnis sprang zwar noch nicht an, doch sein Gefühl und sein Herz sagten ihm, dass dies seine Familie war.
 

„Oh mein Gott, Paul... Ich hatte solche Angst... Verdammt.. Mach das nie, NIE wieder!“, schluchzte sein Bruder in seine Schulter, während Paul ihm etwas unbeholfen den Kopf streichelte.
 

„Es tut mir leid, ich kann mich selbst an nichts erinnern, sonst würde ich dir natürlich sagen, wo mein Fehler...“
 

„Nein, es war nicht dein Fehler, Paul...nicht deiner...“, die Stimme seines Bruders ging fast unter. Paul wusste nicht so recht, wie er seine Gefühle ausdrücken konnte. Dies war sein Bruder, und er weinte so bitterlich, dass Paul sich fast schuldig fühlte.
 

„Ist doch alles okay wieder....“, flüsterte Paul ihm zu, während er seinen Bruder nicht losließ.
 

„Der Arzt sagte mir, du hast keinerlei Erinnerung an den Unfall und an dein... an dein ganzes Leben... stimmt das? Ich wollte es nicht wahr haben, als ich die Nachricht erhalten habe... Mom und Dad haben gesagt, du hast sie nicht erkannt...“
 

Paul zögerte, dann jedoch sagte er leise: „Es stimmt, leider, ja. Ich weiß nicht einmal mehr, wer meine Familie ist.“
 

Sein kleiner Bruder ließ von ihm ab und wischte sich einige Tränen weg, die ihm die Wange hinunter gelaufen waren. Anhand der geröteten Augen und der dunklen Ringe darunter konnte Paul sehen, dass er wohl die letzten Nächte nicht geschlafen hatte.
 

„Ich bin Cody, dein kleiner Bruder. Aber das hat man dir sicher schon gesagt.“
 

Paul lächelte. Cody hieß er also, sein kleiner Bruder. Ein schöner Name, wie Paul fand, während er sich wieder etwas gerader hinsetzte. Die Wucht des Wiedersehens mit Cody hatte ihn etwas tiefer sinken lassen.
 

„Ja, das hat man mir gesagt. Aber irgendwie.. Ich weiß nicht. Ich erinnere mich jetzt noch nicht an dich, aber mein Herz sagt mir irgendwie, dass du wirklich meine Familie bist.“, antwortete Paul, während er Cody dabei zusah, wie er sich auf den Stuhl neben das Bett setzte.
 

„Ich hab es gehofft, und es ist mir so ein Stein vom Herzen gefallen, als hörte, dass du lebst... Die Erinnerung kommt wohl wieder. Oder auch nicht, und wir fangen neu an.“
 

Cody's Worte waren die ersten, die ihm wirklich Mut machten und die ihm zum ersten Mal eine große Sorge vom Herzen nahmen; hier war jemand, der akzeptierte, dass das alte Leben eventuell nie wiederkehren würde. Er betrachtete Cody lange, bevor er fragte:
 

„Wie alt bist du, Cody? Meine Krankenschwester meinte, du studierst... im Ausland?“
 

„Ja“, antwortete Cody immer noch etwas zittrig; „... ich studiere angewandte Physik und müsste eigentlich jetzt in Schweden sein. Aber ich konnte nicht weiter machen, als ich gehört habe, dass du... naja. Und ich bin 24.“
 

Fast wie Paul es erwartet hatte: Cody war genau 13 Jahre jünger als er. Da hatten seine Eltern wohl lange mit dem zweiten Kind gewartet, dachte er. Da waren sie wohl schon ziemlich alt gewesen.
 

„Wow, ganz schöner Altersunterschied...“
 

„Ja, aber das hat nie gestört. Du warst immer mein Vorbild, Paul.“, murmelte Cody, während er auf seine Finger schaute.
 

Paul lächelte und wuschelte seinem Bruder mit einer leichten Bewegung durch das Haar. Cody's Augen füllten sich erneut mit Tränen.
 

„Ich hätte nicht gewusst, was ich getan hätte, wenn du nicht überlebt hättest. Ich glaube, ich hätte mich umgebracht.“
 

„Cody!“ Paul's Stimme wurde strenger und lauter; mit einem festen Blick fixierte er Cody. „Sag so etwas nie wieder, hast du gehört? Darüber macht man nicht solche... Naja, keine Scherze, aber... du weißt doch.“
 

Cody nickte, bevor er sich wieder vor lauter Gefühlsüberschwall auf seinen Bruder warf, was Paul diesmal ein Stöhnen entlockte, da Cody genau auf einer seiner gebrochenen Rippen landete.

„Ganz ruhig, Kleiner“, keuchte Paul, während Cody verschreckt zurückzuckte und sich sofort entschuldigte.
 

„Aber, du erinnerst dich anscheinend wieder an meinen Kosenamen! Kleiner hast du mich immer genannt... Oder zumindest tut dein Unterbewusstsein es.“, grinste Cody, während Paul versuchte, ihm einen Klaps gegen den Hinterkopf zu geben, doch Cody wich lachend aus.
 

Sie hatten ein paar schöne Stunden zusammen, bevor Cody wieder gehen musste; er verabschiedete sich mit den Worten, dass er noch eine ganze Weile bleiben würde und ihn fast jeden Tag besuchen wollte. Paul hatte nichts dagegen einzuwenden. Cody hatte ihm viel aus der Vergangenheit erzählt und ihm viele Bilder auf seinem Handy gezeigt; Bilder, die eine ganz andere Realität als die zeigten, die er jetzt kannte. Er erkannte sich auf allen Bildern wieder, doch die dazugehörigen Erinnerungen blieben trotz der liebevollen Fürsorge seines Bruders wie verschwunden.
 

Der Tag verlief ansonsten ereignislos, nur ein Besuch von Penelope war noch dabei gewesen; doch Paul hatte vorgegeben zu schlafen, weswegen sie nur eine Weile an seinem Bett geblieben war, bevor sie wieder gegangen war. Sie hatte bitter geweint. Doch so leid Paul es auch tat, er konnte sich ihr noch nicht öffnen. Irgendetwas blockierte da bei ihm.
 

Erst als es schon sehr spät war, kam Paul langsam zur Ruhe und er legte sich schlafen. Er machte es sich gemütlich, starrte noch einen Moment auf das Foto von ihm und Cody, das Cody ihm mitgebracht hatte, bevor er die Augen endgültig schloss.
 

Nichts ahnend, dass die nächsten Stunden im Traum für ihn der absolute Horror auf Erden werden würden, nichts ahnend, dass eine gewaltige, schmerzliche Erfahrung auf ihn einprasseln würde wie ein harter Hagelschauer.



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