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Finera - Path of Ice

Milas Geschichte
von

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Männer und Mütter

Der nächste Morgen gestaltete sich nach der Zeit im Tempel als überraschend angenehm. Ich wachte gegen neun Uhr auf, schlüpfte in die flauschigen Pantoffeln, die das Hotel bereitgestellt hatte, und wählte noch vom Bett aus die Nummer vom Zimmerservice, um das Frühstück zu bestellen.

Eine halbe Stunde später begab ich mich – frisch geduscht – wieder zurück unter die Bettdecke und betrachtete die vielen kleinen Tellerchen, die auf dem Servierwagen standen und mit silbernen Hauben abgedeckt waren. Frühstück à la Kalos hatte es auf der Speisekarte geheißen und es stellte sich als eine Mischung aus frischen Croissants, weichem Baguette, diversen Käsesorten, vier verschiedenen Marmeladen, Schokoladencreme und Honig heraus. Lecker! Genau so, wie ich es aus Illumina City gewohnt war.

Dazu hatte ich mir Milchkaffee und frisch gepressten Beerensaft bestellt, beides kam in edlen Kannen. Auf ein paar weiteren, deutlich kleineren Tellern befanden sich noch Milchreis, Obstsalat, gebratene Würstchen, Bohnen, Speck und Spiegeleier. Wenn meine Mutter mich sehen könnte, würde sie eindeutig die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Ich hingegen nahm von allem etwas, schlemmte mich quer über den Servierwagen und war am Ende dermaßen gesättigt, dass ich in einen beinahe komatösen Schlaf fiel, aus dem ich erst drei Stunden später zur Mittagszeit wieder erwachte.

Noch immer fühlte ich mich wie ein Relaxo, gähnte herzhaft und wählte ein schickes Outfit aus meinem Koffer aus. Vor dem großen Spiegel im Badezimmer begutachtete ich das Ergebnis, legte noch ein wenig Makeup auf, drehte mich einmal um mich selbst … und bemerkte, dass ich trotz der Sättigung ein Gefühl der Leere in mir trug. Wie es Quinn wohl ging? Hatte er sich die Trainer-ID beantragt und im Pokémoncenter geschlafen? Oder hatte er in eines der günstigeren Hotels eingecheckt? Da Eisbergen ein Touristenort war, gab es Hotels zu Hauf, insbesondere jetzt zur Nebensaison konnte man ein paar Schnäppchen finden. Oder … vielleicht hatte er auch zu Hause angerufen? Nein, bestimmt nicht. Nicht Quinn. Oder doch?

Ich seufzte, ging zurück ins Schlafzimmer, zog meine Winterstiefel an und verstaute meine Habseligkeiten im Koffer. Durch den Schnee, den Matsch und die Reise hatte das goldene Metallschildchen mit der Aufschrift Louis Vuibrava Kratzer bekommen und sah stumpf aus. Genauso stumpf, wie ich mich gerade fühlte.

Ach, verdammt. Dieser Junge würde doch einknicken, sobald er seine Mutter am Telefonhörer hatte oder – noch schlimmer – ihr gegenüberstand. Ohne meine Hilfe hätte Quinn es nicht einmal heil vom Tempel bis nach Eisbergen geschafft und auf Fee konnte er sich auch nicht verlassen, weil sie einen viel zu geringen Level hatte. Ich mochte zwar keine Pokémontrainerin sein, aber ich moderierte seit drei Jahren die wöchentlichen Arena-Highlights bei Kalos TV. In diesem Moment beschloss ich, dass ich Quinn suchen und ihm helfen würde – zumindest, bis er aus Eisbergen raus war.

Dieser Entschluss füllte mich mit neuem Elan und sogleich zog ich meinen Wintermantel an, um das Hotel zu verlassen. Wenn Quinn jemals von seinen Eltern ernst genommen werden wollte, musste er ihnen beweisen, dass er in dem, was er tun wollte, wirklich gut war. Hier in Eisbergen waren die Trainer ebenso wie die wilden Pokémon viel zu stark für ihn. Er musste klein anfangen, am besten in Waldhausen, wie jeder Trainer der Finera-Region. Dort konnte er sich einen ComDex besorgen und anschließend zur ersten Arena reisen. Ja, das war ein guter Plan. Jetzt musste ich nur noch Quinn finden und ihn davon überzeugen.

Wenige Minuten später stapfte ich entschlossen durch den Schnee in den Straßen von Eisbergen. Immer wieder kamen mir gut gelaunte Touristen und Trainer mit entschlossenem Blick entgegen. Viele ließen sich außerhalb der Liga-Saison hier nieder, wenn sie schon alle acht Orden erkämpft hatten und sich vorbereiten wollten. Bei manchen brachte es etwas, bei anderen nicht. Im Laufe der letzten Jahre hatte ich so viele Trainer bei Arenakämpfen gesehen und interviewt, dass ich den Überblick verloren hatte. Lediglich Jonah, der aktuelle Champion der Finera-Region, war mir schon von der zweiten Arena an durch seinen lockeren Kampfstil aufgefallen. Bei ihm hatte es immer wie ein Spiel ausgesehen, so mühelos und voller Leichtigkeit. Ob Quinn es wohl jemals soweit bringen würde? Ich zweifelte daran, wollte ihm aber dennoch helfen, weil er mir leid tat.

Gegen Mittag hatte ich die Stadt zweimal komplett umrundet und gelaufen. Eisbergen mochte zwar der Ort der Pokémonliga und des Festivals für Koordinatoren sein, aber abgesehen davon hatte die Stadt nicht viel zu bieten und war relativ unspektakulär und klein.

Ich saß in einem der vielen kleinen Bistros, die während der Liga aus allen Nähten platzten und meistens nur eine Hand voll an Gerichten und Snacks zur Auswahl hatten. Viele Bistros schlossen auch in der Nebensaison und glichen mehr externen Wohnzimmern, in denen sich die Besitzer angeregt über die Favoriten und Trainer mit den Gästen austauchten.

Heute war es leer. Mir gegenüber saß ein älterer Herr und las Zeitung, vor mir stand eine dampfende Schale mit Zwiebelsuppe und Käsebrötchen.

„Wirst du dieses Jahr die Liga moderieren?“ Carola, die Besitzerin des Bistros, lächelte mich an. Auch sie löffelte gerade Zwiebelsuppe.

„Nein, ich denke nicht.“ Ich pustete auf den Löffel, nahm ihn in den Mund und schluckte. Wenn man jedes Jahr hier war und sich weder unter die Touristen noch unter die Trainer mischte, fiel man auf – man kannte sich irgendwann schon vom Sehen. „Ich bin privat hier, nicht, um mich auf die Liga vorzubereiten.“

„Wäre auch noch reichlich früh.“ Carola legte nachdenklich die Stirn in Falten. „Sonst kommt ihr Fernsehleute immer erst kurz vor knapp.“ Sie begann zu lächeln. „Immer viel zu tun und unterwegs, nicht wahr?“

Ich erwiderte ihr freundliches Lächeln. „Kann man so sagen.“

Schweigend aßen wir beide unsere Suppe, dann bezahlte ich und ging wieder nach draußen. Vielleicht war Quinn gar nicht mehr hier. Vielleicht hatte er genug Mut gehabt, um alleine abzureisen. Vielleicht …

Eine Frau rannte mich beinahe um. Sie trug ihre langen, braunen Haare zu einem strengen Dutt gebunden und das halbe Gesicht war von einem lilafarbenen, flauschigen Schal bedeckt. Als sie mich sah, zuckte sie nicht einmal zusammen, sondern begann mich so intensiv anzustarren, dass mir ein kalter Schauer über den Rücken lief. „Entschuldigung.“ Es klang beinahe wie eine Anklage, dabei hatte doch sie mich angerempelt. Sie zögerte, dann schnaubte sie. Ihre Hand wanderte in die tiefe Manteltasche, dann hielte sie mir ein Bild vor die Nase. „Haben Sie diesen Jungen gesehen? Ich muss ihn finden. Er ist mein Sohn.“ Als ich nicht reagierte, schob sie hinterher: „Er benötigt dringend ärztliche Hilfe.“

Quinn.

Das Foto konnte nicht sehr alt sein. Er guckte genervt und unglücklich in die Kamera, im Hintergrund lag Fee zusammengerollt auf einer Tagesdecke. Quinns Mutter. Hier. In Eisbergen. Verdammt, war sie schnell!

Sie verstand mein geschocktes Schweigen als Verneinung, murmelte etwas und eilte dann im Stechschritt weiter.

Oh Arceus, ich musste ihn vor ihr finden!

So schnell ich konnte, joggte ich in die entgegengesetzte Richtung, bis ich mir sicher war, dass ich außer Hörweite war. Dann begann ich nach ihm zu rufen. Erst nur an jeder Straßenecke, dann auch zwischendurch. Eisbergen war ein Nest, wenn man es mit Städten wie Saffronia City oder Dukatia City verglich, wo konnte er nur sein!

Wo würde ich hin, wenn ich nicht im Pokémoncenter war? Dort hatte seine Mutter bestimmt zuerst nachgefragt. Fee war zu schwach, um sich den wilden Pokémon rund um Eisbergen zu stellen, also blieb ihm nur der Busbahnhof.

Natürlich, der Busbahnhof! Sofort hetzte ich wieder zurück, bog ab, lief an meinem Hotel vorbei und weiter zum Stadtzentrum, wo zur Liga die Touristen aus den Bussen strömten wie aus einem ausgebluteten Kadaver. Und da stand er, Fee an seiner Seite, vor Wind geschützt in einem gläsernen Unterstand.

„Quinn!“

Er zuckte zusammen, als er seinen Namen hörte. Auch Fee grollte, sprang auf, entspannte sich aber, als sie mich sah. „Mila? Was tust du denn hier?“

„Deine Mutter ist hier und sucht dich.“

Er riss seine Augen auf. „Was?“ Sofort stieg ihm die Panik ins Gesicht. „Bist du dir sicher?“

Völlig außer Atem nickte ich und lehnte mich gegen die Glaswand. „Ganz sicher. Sie hat mir ein Foto von dir gezeigt und fragt sich überall durch. Sie ist hier und wenn sie nicht auf den Kopf gefallen ist, wird sie wahrscheinlich ebenfalls jeden Moment hier auftauchen.“

„Ich …“ Er schaute gehetzt umher. „Ich habe mich gestern Abend im Pokémoncenter als Trainer registrieren lassen. Sie muss schon unterwegs gewesen sein, sonst wäre sie nicht so schnell hier. Was soll ich denn jetzt tun?“ Quinn schaute mich aus großen, braunen Augen hilflos an.

Oh weh.

„Das habe ich dir schon einmal gesagt und ich kann es nur wiederholen. Wenn du ein Trainer sein willst, musst du von deiner Kontrollfreak-Mutter weg und deinen eigenen Weg gehen. Auf welchen Bus wartest du?“

„Auf den nach Niburg“

„Wie lange noch?“

„Eine halbe Stunde.“

Ich stieß pfeifend die Luft aus. „Das ist zu lange. Wohin fährt der nächste Bus?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte ich mich zu der Infotafel um und überflog die Linien. Jetzt in der Nebensaison war nicht viel los, dementsprechend wenig Busse fuhren, aber ich fand einen Fernbus, der über Niburg und Bad Puvicia direkt nach Waldhausen fuhr. Das war nicht nur gut, das war schlichtweg perfekt. Ich tippte auf den Ort und erhaschte damit Quinns Aufmerksamkeit. „Hier starten alle neuen Trainer der Region. Hier bekommt man einen ComDex und dort sind die Pokémon recht schwach. Du könntest Fee viel besser trainieren und dann die Orden der Reihe nach erkämpfen. Aber du musst dich jetzt entscheiden, Quinn.“ Im Hintergrund bog der Bus in die Straße ein. „Jetzt.

Er schluckte. „Ich weiß nicht, ob ich das schaffen kann. Ich …“

„Quinn!“ Die Stimme seiner Mutter hallte über den ganzen Platz. Mit wehendem Kaschmirmantel stand sie einer Furie gleich am gegenüberliegenden Ende des Busbahnhofs. Zwischen ihr und uns lagen eine freie Fläche und eine vereinzelte Straßenlaterne. „Quinn Ikarus, was erlaubst du dir! Das wird ein Nachspiel haben, hörst du? Ein Nachspiel!“

Der Bus bremste ab, wurde langsamer und rollte in die Parkbucht.

Judith Ikarus stapfte durch den Schnee direkt auf uns zu.

Und Quinn war wie gelähmt.

Ich schaute zwischen den beiden hin und her, riss ihn am Arm, Fee bearbeitete gleichzeitig sein Bein, bis er sich aus seiner Starre löste. In seinem Blick lag ein stummes Flehen. Mila, bitte hilf mir, tu etwas.

„Quinn!“ Seine Mutter hatte bereits die halbe Strecke hinter sich gebracht.

„Quinn.“ Ich zupfte an seinem Ärmel. „Quinn, schau mich an.“

Er suchte meinen Blick.

„Das ist die letzte Chance. Ein Trainer muss Risiken eingehen und sich blitzschnell entscheiden können. Es gibt kein richtig und kein falsch, also mach das, was für dich das Beste ist. Jetzt.“

Eine Sekunde verging.

Noch eine.

Dann straffte er seine Schultern und veränderte kaum merklich die Körperhaltung. „Entschuldige, Mama, aber du weißt, dass ich ein Trainer sein will. Und ich schaffe das. Ich kann das.“

Sie blieb stehen und musterte ihn wie ein Kind, das Unsinn brabbelte. „Sei nicht albern, Junge. Du bist krank. Du gehörst nach Hause.“

Ich atmete ein.

Die letzten Passagiere stiegen aus. Der Bus setzte hinter uns wieder seinen Blinker.

„Nein, Mama.“ Quinn erwiderte ihren starren Blick. „Ich bin siebzehn Jahre alt. Ich werde ein Pokémontrainer sein und du kannst mich nicht länger davon abhalten.“

Seine Mutter bekam rote Flecken auf den Wangen.

Quinn packte meinen Arm.

Ich atmete aus.

Quinn riss mich herum, noch ehe seine Mutter reagieren konnte. Im letzten Moment schob er Fee und mich in den Bus, ehe sich die Türen hinter ihm schlossen.

Wir fuhren. Seine Mutter starrte uns wortlos hinterher, krallte sich in das Foto von ihrem einzigen Kind. Sie wurde kleiner, verschwand hinter einer Straßenbiegung.

Quinn keuchte, zitterte, tastete sich vor bis zum Fahrer und zog von seinem Ersparten zwei Fahrkarten bis nach Waldhausen, bis zur Endstation.

Ich schaute noch eine Weile aus dem Fenster, stand einfach nur da und wunderte mich über mich selbst. Warum hatte ich mich von ihm in den Bus ziehen lassen? Warum war ich überhaupt eingestiegen? Mein Koffer, mein Rucksack, alles lag noch im Hotelzimmer. Ich hatte nichts weiter bei mir als mein Portemonnaie und die Klamotten am Körper.

Und es fühlte sich gut an. Auf eine seltsam beschwingende Art fühlte es sich gut. Ich war frei.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  yazumi-chan
2016-05-27T23:14:09+00:00 28.05.2016 01:14
Ohhh, ich mag dieses Kapitel! Die Art, wie du Milas Leben im Hotel beschreibst, dann die Schlussszene mit Quinn und dass sie überstürzt und ohne Koffer, ohne alles mitfährt... Ich hype das gerade so sehr xDD Freue mich schon darauf, was jetzt kommt. Und ob/wann Mila ein Pokémon bekommt.
Antwort von:  Kalliope
28.05.2016 09:15
Das freut mich :D Ich liebe es, solche Essszenen zu schreiben *hust* Diese FF wird eher langsam laufen, ist aber schon fertig durchgeplant und bleibt hoffentlich spannend :)
Antwort von:  yazumi-chan
28.05.2016 14:51
Ich musste erst nochmal nachgucken, was davor passiert ist, aber ich bin auf jeden Fall weiter dabei! :D
Antwort von:  Kalliope
29.05.2016 09:38
Das ist schön zu hören/lesen :) Ich denke, dass es ab Juli wieder neue Kapitel bei den FFs gibt, vorher habe ich mit der Uni viel zu tun. Aber am liebsten hätte ich Finera DotD fertig, bis die neuen Spiele erscheinen xD
Antwort von:  yazumi-chan
29.05.2016 12:20
Sehr löblich :D
Antwort von:  Kalliope
29.05.2016 23:08
Mal abwarten, ob ich den Plan auch so umgesetzt bekomme. Bis nächstes Jahr im Sommer möchte ich gerne alle drei FFs und die Oneshots fertig haben :O


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