Was war dein Lebenszweck?
Wie lange dauert es, bis ein Mensch stirbt?
Ihm war klar, dass er das eigentlich wissen müsste, aber in diesem Moment wollte es ihm nicht einfallen. Genausowenig wie die Tatsache, ob dieselben Regeln auch für ihn galten.
Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit er in dieser Ruine saß, die einst ein Wohnhaus gewesen war. Nun war von der einstmals blühenden Zivilisation aber nichts mehr übrig.
Wann immer er den Blick hob, um sich umzusehen, entdeckte er nur Trümmerstücke, die ihn an sein eigenes Versagen erinnerten. Weil er unter dem Druck zusammengebrochen war, weil er den Menschen nicht die Hoffnung hatte schenken können, war alles hier zerstört. Er hatte bei seinem einzigen Daseinszweck versagt und die Einsamkeit des Wartens bis zu seinem Tod war nun seine Strafe. Eine verdiente, wie er fand.
Doch während er so da saß und wartete, hörte er plötzlich, wie sich ihm jemand näherte. Allerdings waren es keine zielstrebigen Schritte, eher klang es danach, als würde jemand umherlaufen, ohne dabei etwas Bestimmtes zu suchen.
Irgendwann hielten die Schritte inne, er glaubte zu spüren, wie jemand ihn anstarrte. Also hob er den Blick – und blickte die andere Person dann fassungslos an.
Vor ihm, im Licht der untergehenden Sonne, stand ein Mann, der genauso aussah wie er. Alles, an seinem Gegenüber glich ihm, bis auf die Kleidung. Er trug einen Mantel, auf dessen dunkelblauem Grund unzählige Sterne zu leuchten schienen. Sie waren nicht nur Teil des Stoffes, auch nicht aufgestickt, es sah aus, als wären es wirklich echte Sterne, die sich sogar ganz sacht auf ihrer Bahn bewegten, wenn man sie ganz genau beobachtete.
Wer immer dieser Mann war, er stammte nicht von hier, und deswegen war ihm umso unklarer, was er hier wollte.
„Bist du Setsuna?“, fragte der Fremde.
Er antwortete nicht, sah ihn einfach nur weiter von unten herauf an, worauf der andere entschuldigend lächelte. „Natürlich bist du Setsuna, verzeih. Mein Name ist Kieran.“
Kieran. Was für ein ungewöhnlicher Name. Es klang nicht danach, als käme er aus dieser Gegend.
Setsuna erhob sich rasch und stellte dabei fest, dass er sogar genauso groß wie sein Gegenüber war. War er etwa ebenfalls ein Klon? Kam er aus einer Art Parallel-Welt, in der er seinen Zweck wirklich erfüllt hatte?
„Bist du ganz allein hier?“, fragte Kieran.
Sein Blick wanderte über die Ruinen der Häuser, worauf Setsuna nickte. „Ja. Alle anderen sind bereits tot. Und es ist meine Schuld.“
Allerdings fiel es ihm schwer, diese Meinung aufrechtzuerhalten, während er die Kleidung Kierans betrachtete. Das Blau wirkte beruhigend auf ihn, als befände er sich am Meer, wo die Wellen ihn sanft in den Schlaf wogen, ihm das Gefühl gaben, dass alles vollkommen in Ordnung war.
„Warum denkst du, dass es deine Schuld ist?“
Kieran wandte ihm den Blick zu, so dass er ihn erstmals richtig in die Augen sehen konnte. Im ersten Moment dachte Setsuna, dass die Augen des anderen braun wären wie seine, aber bei genauerem Hinsehen erkannte er, dass sich glühende Lichtpunkte darin befanden, durch die es wirkte, als würden sie von innen heraus leuchten.
Verlegenheit breitete sich in ihm aus und ließ eine unangenehme Röte seinen Nacken hinaufkriechen. Deswegen wandte Setsuna den Blick ab, nur um wieder von Ruinen begrüßt zu werden, die ihm vertraut waren.
„Es ist doch logisch“, sagte er dann. „Weil ich die Hoffnungen der Menschen nicht tragen konnte, sind sie alle verzweifelt. Und wenn Menschen verzweifeln, sterben sie.“
Ein sanftes Lächeln umspielte Kierans Lippen, als würde er sich an etwas erinnern. „Manchmal bringt das auch einen neuen Lebensweg für diese Menschen hervor.“
„Hier war das nicht der Fall“, erwiderte Setsuna. „Hier brachte sie nur den Tod. Ich habe meinen Lebenszweck nicht erfüllt.“
Und dieses Wissen stach überraschend schmerzhaft. Er wünschte, er wäre gar nicht erst erschaffen worden. Er wünschte, das Leben wäre fair.
„Was war dein Lebenszweck?“, fragte Kieran neugierig.
„Ich sollte Gott werden. Den jetzigen Gott mittels Wissenschaft überflügeln und damit alle Menschen hier in eine neue Zeit führen.“
„Das muss hart gewesen sein.“ Kieran stellte sich auf eine niedrige Mauer, die allein noch Zeuge des Gebäudes war, das einst hier gestanden hatte. „Die Menschen haben so sehr an dich geglaubt, dass sie es nicht ertragen konnten, dass du sie fallenlässt. So etwas Ähnliches habe ich auch schon erlebt.“
Seine Worte führten Setsuna nur vor Augen, was ihn stören musste: Der Glaube. Es war der Glaube an einen Gott gewesen, der so tief gewesen war, dass ohne diesen alles zusammengebrochen war. War der Glaube damit etwas Schlechtes?
Warum, wusste er nicht, aber dennoch fragte er Kieran danach. Dieser hob den Blick vom Boden, mit dem er versucht hatte, das Gleichgewicht zu halten, und lächelte ein wenig. „Das ist er nicht. Der Glaube kann etwas sehr Starkes sein – sofern er richtig gelebt wird und nicht auf diese Weise. Der Glaube darf nicht die einzige Säule sein, denn dann führt es nur zur Verzweiflung, wenn sie einbricht. Und das Ergebnis siehst du dann hier.“
Demonstrativ warf er einen Blick über die Umgebung. „Aber jeder glaubt an etwas. Jeder muss an etwas glauben – und wenn es nur der Glaube an sich selbst ist.“
Er legte die Faust auf seine Brust und wirkte dabei, als ob er innerlich gerade beten würde. Aber Setsuna verwarf diesen Gedanken, da er nicht glauben wollte, dass Kieran gerade zu sich selbst betete.
„Aber der blinde Glaube an einen von Menschen geschaffene Gott“, fuhr er dann fort, „muss einfach im Unglück enden.“
Also war sein Daseinszweck von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Er wollte sich wieder setzen und weiter darauf warten, endlich zu sterben, wie es sein sollte.
Aber Kieran machte nicht den Eindruck, als würde er so bald wieder gehen wollen. Stattdessen stellte er sich wieder auf den Boden. „Weißt du, ich war auch einmal an dem Punkt, an dem ich einfach nur sterben wollte. Meine ganze Welt lag in Scherben, ich war überzeugt, alles nur noch mehr kaputtzumachen …“
Verträumt blickte er in Richtung des Sonnenuntergangs, von dem kaum noch etwas zu sehen war. Sein Mantel wechselte dabei die Farbe von Blau zu Zartrosa, wie es auch gerade am Horizont zu sehen war. Aber nur eine Sekunde später war Setsuna sich bereits nicht mehr sicher, ob das gerade eben wirklich geschehen war oder ob der Mantel schon immer so ausgesehen hatte.
„Aber dann habe ich beschlossen, alles zu tun, um Ungerechtigkeit zu bekämpfen“, fuhr Kieran fort. „Das wurde mein neuer Lebenszweck.“
Es klang wie ein nobles Ziel. Aber warum war er nun hier? Gab es hier eine Ungerechtigkeit, die er bekämpfen wollte? Setsuna verstand es einfach nicht.
„Ist es immer noch dein Zweck?“ Diese Frage stellte er hauptsächlich in der Hoffnung, dass er das bejahen und ihm dann endlich sagen würde, weswegen er hier war, aber stattdessen schüttelte er mit dem Kopf.
„Inzwischen nicht mehr“, sagte Kieran. „Ich habe erkannt, dass ich nicht dafür gemacht bin, Veränderungen zu bewirken. Aber ich erkannte, dass ich gut darin bin, auf Dinge aufzupassen. Und es war immer mein Wunsch gewesen, das Gleichgewicht meiner Welt zu bewahren, deswegen kämpfte ich einst. Inzwischen bewahre ich nur noch. Das ist mein Raison d'être.“
Also hatte er einen neuen Zweck gefunden. Setsuna beneidete ihn darum. Er schloss die Augen, um sich das durch den Kopf gehen zu lassen, sich zu überlegen, ob und wie es weitergehen sollte.
War ihm dasselbe wie Kieran möglich? Konnte jemand wie er überhaupt noch einen Zweck, einen Raison d'être, finden?
„Ich bin sicher, du kannst das“, sagte Kieran.
Erst da wurde ihm bewusst, dass er gerade wohl laut gedacht hatte. Als Setsuna die Augen wieder öffnete, stellte er fest, dass die Sonne bereits vollkommen hinter dem Horizont versunken war. Dennoch sah es aus, als würde Kieran in einem eigentümlichen Licht glühen. Sein nun nachtblau gewordener Mantel sah wirklich wie ein Teil des Sternenhimmels aus.
„Aber dafür musst du erst einmal aufwachen – und zwar am besten jetzt.“
Setsuna wollte einwerfen, dass er doch bereits wach war, aber da hörte er wie aus weiter Ferne die Stimme eines Mädchens. Im nächsten Moment wurde alles vor ihm bereits in Dunkelheit gehüllt, wobei Kierans Silhouette das war, was er am längsten sehen konnte.
Sein Raison d'être … wenn er diesen finden könnte, würde sein Leben noch etwas wert sein. Solange ihm das nicht gelungen war, konnte er nicht einfach sterben.
Als er die Augen wieder öffnete, sah er sich zwei Mädchen gegenüber, die er noch nie zuvor gesehen hatte – aber er wusste, dass sie ihm helfen würden, seinen neuen Lebenszweck zu finden.