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Ein Leben in London

Fortsetzung von "Eine Nacht in Bangkok" (ABGESCHLOSSEN!)
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
So, endlich ein neues Kapitel! Meine jetzige Arbeit (geht noch bis Mitte März) ist so anstrengend, dass ich außer Arbeiten, von der Arbeit runterkommen und schlafen nichts mache. Ich freue mich darauf, wenn ich in fünf Wochen meinen letzten Tag habe. Ab dann habe ich hoffentlich auch mehr Nerven zum Schreiben übrig :)
Viel Spaß beim Lesen! Komplett anzeigen

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Amerika

Er hatte Harry betrogen.

Er hatte es nicht einmal, aber es fühlte sich trotzdem so an. Jedes mal, wenn er Harry ansah, hatte er das Gefühl, sich auf die Knie werfen und um Vergebung flehen zu müssen. Dabei hatte er das noch nie getan. Und auch noch nie so empfunden. Er war zuvor nicht einmal je in so einer Situation gewesen, wo so etwas ansatzweise nötig gewesen wäre nach sozialen Regeln. Und jetzt hatte er auch noch Gewissensbisse wegen einer Sache, die er im Endeffekt gar nicht begangen hatte. Schließlich waren Harry und er nicht zusammen. Nicht einmal auf dem Weg dahin. Er hatte kein Versprechen gegeben, weder ausgesprochen noch insgeheim.

Severus seufzte, ließ die Tastatur Tastatur sein und legte seine Hände auf sein Gesicht. Jetzt verfolgte ihn das Ganze sogar schon zur Arbeit. Wenn er vorher gewusst hätte, was diese Sache mit seiner Gefühlswelt anstellen würde, hätte er es gleich gelassen. So viel Sorge und Selbstvorwürfe war auch ein wirklich guter One-Night-Stand nicht wert.

Und Charlie war ein wirklich guter One-Night-Stand. Gutaussehend, fit, gesund und vor allem: An ihm interessiert. Der typische Stricher sah ihn einfach nicht an oder schloss die Lider. Charlie hatte ihn angesehen, hatte ihn ganz freiwillig geküsst, hatte seinen Namen gehaucht. Wollte er das von einem Stricher, kostete das fünfzig mehr und war weit weniger überzeugend.

Aber von dem guten Gefühl war nichts übrig. Nur Angst, Harry könnte es heraus finden, Schuld, es getan zu haben, Scham, dass er während der ganzen Sache nicht einmal an Harry gedacht hatte. Und doch machte das alles nicht den geringsten Sinn. Harry war nicht sein Freund. Nicht einmal sein potenzieller Freund. Er war nichts außer einem Jungen, der zeitweise bei ihm wohnte. Harry würde mit dieser Ginny zusammen kommen. Sie würden glücklich werden.

Und er sollte sich verdammt nochmal zusammen reißen und seinen Blick auf Charlie wenden. Charlie war perfekt für ihn. Er war alles, was Severus je gewünscht hatte.

Nur warum schrie sein Herz dann nach Harry?
 

Für Montag Nachmittag hatte Harry sich bereits abgemeldet, um mit Ginny etwas zu unternehmen. Dienstag würde er sie dafür sogar von der Schule abholen. Er hatte Severus schüchtern nach Geld gefragt, um sie ins Kino einladen zu können.

Nie hatten zwanzig Pfund sich so bitter angefühlt.

Am Dienstag Nachmittag sagte er Lydia, er würde sich nicht gut fühlen und bat sie, die zwei nur mit einem Hauch von Konzentration erarbeiteten Verträge gegen zu lesen. Er versuchte es noch mit dem letzten für den Tag, aber im Endeffekt gab er ihr auch den – in diesem Fall, um einen anderen Verantwortlichen zu finden – und verließ die Kanzlei. Einen Moment lang stand er vor seinem Wagen, bevor er abdrehte und wahllos eine Straße hinunter ging.

Sein Haus war der letzte Ort, an dem er jetzt sein wollte. Und das, obwohl Harry sicher nicht zuhause wäre.

Er blieb mit einem Seufzen an der nächsten Straßenecke stehen. Das hier schien allerdings ähnlich idiotisch. Durch die Stadt laufen und hoffen, das Chaos in seinem Kopf würde dadurch angenehmer werden? Sehr witzig. Er brauchte Ablenkung. Vielleicht ein Film. Nein, der Gedanke an ein Kino machte die Sache schlimmer. Eine Ausstellung? Er wusste nicht, was es gerade gab. Theater und Opern spielten erst abends. Vielleicht sollte er doch nach Hause fahren. Er hatte noch ein paar DVDs, die er bisher nicht gesehen hatte.

Mit einem resoluten Nicken kehrte er wieder um. Er fühlte sich mit einem festen Plan für den Abend auf jeden Fall besser. Er würde sich zuhause ein Brot machen, er würde eine DVD rein legen und er würde mit Harry nicht mehr als Grüße wechseln. Einen Moment schoss ihm in den Kopf, dass er auch ein Glas Wein oder einen Whisky dazu nehmen könnte, aber er hatte lang gelernt, dass man nur trinken sollte, wenn es einem gut ging. Bei negativen Gefühlen etwas zu trinken führte in eine Teufelsspirale, die er bei seinem Vater in allen Facetten gesehen hatte und nie selbst erleben wollte.

Dass im Wohnzimmer Licht brannte, ließ ihn kurz fluchen, dass Harry heute morgen das Licht angelassen hatte. So etwas kostete Geld. Er tat es trotzdem mit einem Schnauben ab und schloss auf. Sollte das blöde Licht doch brennen bleiben, er wollte eh sofort ins Wohnzimmer. Er legte den Mantel ab, zog die Schuhe aus und trat in den hell beleuchteten Raum.

Und stockte.

Was machte Harry hier? War er nicht mit Ginny weg? Hatte der Junge ihn belogen und machte hinter seinem Rücken ganz andere Sachen als er sagte?

Und warum lag er schlafend auf Severus Sessel?

Severus spürte seine Wut schon wieder abebben, als er herein trat. Harry war zu einer Kugel zusammen gerollt, die Arme um sich selbst geschlungen. Er sah nicht glücklich eingekuschelt sondern eher ziemlich verlassen und einsam aus. Vielleicht war etwas geschehen?

Vielleicht war Ginny aus dem Rennen?

Severus zuckte ob seines eigenen Gedankens zusammen. Wie konnte er nur? Wie konnte er nur Freude bei dem Gedanken empfinden? Ginny war Harry wichtig, genau genommen war sie sogar für ihn selbst wichtig. Er konnte Harry nicht rund um die Uhr beschäftigt halten, es wäre gut, wenn … es …

Wen belog er hier eigentlich? Er wollte den Jungen für sich selbst und seine ganze Gefühlswelt war darauf bereits eingestellt. Er war eifersüchtig auf alles und jeden, der Harry zu nahe kam, er fühlte sich schuldig wegen der Sache mit Charlie und er freute sich über jede potenzielle Freundin, die vom Tisch war. Es mochte kitschig klingen, aber sein Herz gehörte Harry.

Warum wehrte er sich mit aller Kraft dagegen? Er hatte gedacht, er könnte Harry aufgeben, aber es klappte einfach nicht. Und doch war da außer seiner Moral noch diese andere Sache … dieses Gefühl namens Angst. Lydia hatte es bestens beschrieben. Es war praktisch sicher, dass Harry die Meinung ändern und ihn wieder verlassen würde. Wie sollte er dann damit leben? Wie sollte er das überleben? Wie, wenn er sich auch nur für einen Moment trauen würde zu denken, Harry könnte sein sein und bleiben?

Er kniete vor dem Sessel, eine Hand über Harrys Wange schwebend. Er könnte sie sinken lassen, könnte Harry sanft wecken und ihn fragen, was geschehen war. Er könnte ihn auch küssen. Er könnte auch aufstehen und den Jungen anschreien, was er hier machte, wo er sich doch auf einen ruhigen Abend gefreut hatte. Er könnte Harry sogar vom Sessel reißen und ihm sagen, er solle nicht auf seinem Platz rum liegen. Er könnte ihn auch sanft in seine Arme ziehen und ins Bett tragen. Obwohl er vermutete, das sein Rücken die letzte Möglichkeit nicht mitmachen würde.

Er schloss die Lider. Es ließ automatisch auch seine Hand sinken. Unter seinen Fingerkuppen spürte er weiche Haut, ein Zucken der Muskel darunter, schließlich ein panisches Aufschrecken, was seine Hand frei in der Luft schwebend neben Harry beließ, da die Wange darunter verschwunden war.

Harry atmete schnell. In seinen Augen glänzte erst Angst, dann Erkennen, dann Erleichterung. Noch bevor Severus mehr Gedanken darüber anstellen konnte, wurde aus der Erleichterung Schmerz und Tränen füllten Harry Augen. Eine Hand griff fahrig nach Severus frei schwebender und zog sie auf Harrys Oberschenkel, wo dieser sie mit beiden Händen griff.

Harry schluchzte nicht. Er weinte nicht mal. Er senkte den Kopf und versuchte, seinen Schmerz nicht sehen zu lassen. Doch er hielt Severus Hand in einem festen Griff, der kein Wegziehen erlaubte. Severus wusste, das wäre der Moment zu fragen. Das wäre der richtige Zeitpunkt, um zu hören, was Harry dazu brachte, weinend und allein hier zu sitzen.

Und doch brachte er die Worte nicht hervor. Er dachte an Ginnys Lächeln, Charlies zufriedenes Hauchen seines Namens, die Mutter des Bordells und seinen Ex, der ihn lachend festgehalten hatte, während Severus fast an seinem Schwanz erstickt war. Er dachte an so viel Pro und Contra, so viel Sehnsucht und Angst, dass er im Endeffekt nur schweigend sitzen blieb und wartete, dass Harry sich von selbst beruhigen würde.

„Ich glaube, ich bleibe besser allein“, murmelte Harry leise.

Severus schnaubte nur abfällig. Es ließ Harry zusammen zucken. Ihm schnürte es dafür die Kehle zu. Konnte er denn gar nichts richtig machen? Er versuchte, seine unwillkürliche Reaktion zu erklären: „Es ist ganz normal, dass diese Versuche immer wieder schief gehen. Dadurch lernt man. Daran wächst man.“

„Aber es tut weh“ Harry hob den Blick zu ihm, die Augen schimmernd vor Tränen, die noch nicht gefallen waren.

„Etwas zu lernen heißt immer, sich wehzutun“ Er hatte das schmerzlich genug gelernt. Jeder Versuch, andere Menschen anzusprechen, Freunde zu finden, überhaupt Leute zu finden, die ihn auch nur grüßen würden … es war eine einzige Qual gewesen. Es war, als wäre die Hässlichkeit seines Äußeren bis in sein Inneres gesunken und hätte ihn verunstaltet, sodass jedes Wort und jede Annäherung auf Ekel und Abscheu stieß.

„Warum muss ich es dann überhaupt lernen?“ Harry ließ Severus Hand los und verschränkte die Arme wie ein schmollendes Kind.

„Weil der Ist-Zustand auch wehtut. Vielleicht nicht so scharf, aber genug, um nicht aushaltbar zu sein“ Meistens. Und manchmal war die Angst vor Veränderung größer als der Schmerz, nicht genug zu sein. So wie bei ihm. Auch die Erkenntnis tat weh, aber er war nie ein Freund davon gewesen, sich selbst zu belügen.

Harry sah ihn an. Die Stirn leicht in Falten, Schluchten zwischen den Augenbrauen, die Mundwinkel nach unten verzogen. Ein Ausdruck schwankend zwischen Zorn, Trauer und der verzweifelten Hoffnung, die Worte mögen nicht wahr sein. Mit demselben Ausdruck sank Harry vom Stuhl und kniete sich dicht an Severus. Mit einem kurzen Vorbeugen lag seine Stirn auf Severus Schulter und seine Arme hoben sich langsam unter Severus her, bevor die Hände vorsichtig auf seine Schulterblätter gelegt wurden.

„Ich will doch nur berührt werden“, flüsterte er, der Ton durchzogen von einem Flehen, „Von dir berührt werden.“

„Du willst menschliche Nähe. Es ist nicht wichtig, dass ich das bin“ Wen versuchte er hier zu überzeugen? Harry oder sich selbst? Wenn er glauben könnte, was er da sagte, wer wäre er denn, sich von Harry benutzen zu lassen? War er selbst schon so verzweifelt, dass er Harry aus solchen Gründen in seine Arme lassen würde?

Mit einem Seufzen legte er die Hände auf Harrys Oberarme und versuchte diesen von sich zu drücken. Die Reaktion darauf war blitzschnell, instinktiv und in ihrem Ausmaß schon fast gewalttätig. Severus musste husten, als er mit der vollen Muskelkraft eines Sechzehnjährigen an diesen gedrückt wurde.

„Es ist wichtig!“, widersprach dieser und lockerte seine Arme nur so weit, dass Severus wieder atmen konnte.

Severus, der noch immer auf dem Teppich vor seinem Sessel kniete und dessen Arme schlaff über der fast brutalen Umarmung an seinen Seiten lagen, seufzte. Was sollte er schon sonst tun? Harry brauchte Zuwendung und Aufmerksamkeit. Anscheinend sehr viel mehr als Severus geben konnte. Und auch sehr viel mehr als andere bereit waren zu geben. Nur würde das auf Dauer dazu führen, dass Harry mehr und mehr einfordern und damit die Menschen um sich herum vertreiben würde. Er würde mit dem Bedürfnis nach Nähe in einen Teufelskreis fallen.

„Ich kann dir keine Familie geben, Harry. Ich kann dir weder Vater noch Mutter noch Geschwister ersetzen. Ich kann nicht dein … Geliebter sein. Denn eine Liebesbeziehung beruht auf Geben und Nehmen und da bist du mir zu jung. Ich kann nicht einmal dein Freund sein. Dafür bist du zu abhängig von mir. Ich kann für dich sorgen, damit du nicht hungerst oder frierst und damit du eine Ausbildung erhältst. Aber viel mehr kann ich dir nicht bieten.“

Einige Momente herrschte Stille zwischen ihnen. Harrys leichtes Zittern hatte sich beruhigt und der Griff war lockerer geworden. Severus hätte sich lösen können, wenn er wollte. Falls er wollen würde.

„Bitte schick mich nicht weg“, murmelte Harry gegen seine Schulter.

Hätte Severus nicht ungefähr diese Worte erwartet, er hätte nie verstanden, was der Junge unter Tränen in den Stoff seines Jacketts murmelte. Ein Jackett, was hier nach in die Reinigung müsste wie sein analytischer Kopf bemerkte.

„Ich schicke dich nicht weg. Ich verlasse dich auch nicht. Ich setze dich nicht aus und ich werde nicht verschwinden“ So wie seine Eltern es mit ihm gemacht hatten. Der Alkohol hatte seinen Vater getötet und seine Mutter hatte ihn fortgeschickt. In ihren Augen hatte ein Kind mit Beenden der Schule das Haus zu verlassen. Egal, ob er oder sie dann auf der Straße saß.

Harry verließ ein langes, langes Ausatmen, mit dem auch die Spannung langsam aus ihm wich. Sein Griff lockerte sich weiter, bis er nur noch aus einem leichten Berühren von Severus Schulterblättern bestand.

Severus nahm es als das Zeichen, aufstehen zu können. Das Knien wurde auf Dauer schmerzhaft. Er griff jedoch nach Harrys Unterarm, half diesem auf und zog ihn schließlich mit sich auf die Couch. Neben sich natürlich. Harry lehnte sich sofort gegen ihn.

„Erzählst du mir, was heute passiert ist?“, fragte Severus vorsichtig. Mittlerweile hatte ihn jede Freude über die Situation verlassen und es blieb nur der schmerzliche Anblick eines Jungen, der mit den Tränen in seinen Augen kämpfte.

„Nichts Wichtiges“, murmelte dieser automatisch, bevor er tief durchatmete, „Ich habe Ginny gesagt, dass ich sie mag und sie gefragt, ob sie meine Freundin sein würde. Ich habe das extra vorher im Englischkurs geübt.“

„Und sie hat nein gesagt?“ Hoffte er. Nicht für sich selbst sondern für Harry. Eine weitere Aktion wie die dieser Cho hatte der Junge nicht verdient.

„Sie war ganz überrascht. Und dann hat sie gesagt, dass ich für sie wie ein kleiner Bruder bin. Und dass sie nie daran gedacht hat, mit mir … dass das unpassend wäre.“

Das war wirklich erstaunlich freundlich. Er wünschte, auch nur ein Nein bei ihm wäre so freundlich formuliert gewesen. Aber für einen Jungen mit Hoffnungen und Träumen war jedes Nein, egal wie freundlich, ein tiefer Schlag. Severus konnte sich nur noch vage an die phantasievollen Hoffnungen seiner Jugend erinnern, aber er wusste, dass seine Vorstellung weit ab jeder Realität gewesen waren.

„Meinst du, ihr bleibt Freunde?“

Harry schien einen Moment zu überlegen, bevor er langsam nickte. Er hatte wahrscheinlich keinerlei Erfahrungen mit Freundschaften und Liebesbeziehungen in Kombination. Kein Wunder, dass die Welt gerade kompliziert auf ihn wirkte.

„Ich hoffe es auch für dich“ Severus stellte überrascht fest, dass er nicht einmal log. „Die Weasleys sind eine nette Familie und es wird dir sicher gut tun, etwas über das Familienleben von ihnen zu lernen.“

Und sei es nur, um ein bisschen dessen zu ersetzen, was Harry gerade vermisste und verzweifelt bei Severus suchte. Auch wenn Ginny nicht die Freundin werden würde, sie schien jetzt schon eine wichtige Freundin zu sein.

„Warum ist das so schwer?“, flüsterte Harry, „Das … Leben. Das mit den Menschen.“

„Es ist für alle schwer. Jeder von uns muss Sozialverhalten erst lernen. Du hattest keine Eltern, die dir das erklären konnten“ Ebenso wie seine völlig unfähig gewesen waren. Weder sein ewig alkoholisierter Vater noch seine verängstigte, isoliert lebende Mutter hatten wohl viel von Sozialkompetenz verstanden. Er atmete tief durch, bevor er einen Sprung ins kalte Wasser wagte. „Ich muss das auch noch lernen. Ich bin auch nicht gut da drin.“

„Echt?“ Harry sah lächelnd zu ihm auf.

„Das lerne ich bei diesen Kursen mittwochs“, gestand er vorsichtig, „Dass ich … nicht aus Unsicherheit gewalttätig werde.“

„Das ist Unsicherheit?“ Harrys Augen wirkten groß vor Erstaunen. „Mein Onkel wirkte nie … unsicher.“

„Er wusste nicht, wie er dich anders behandeln sollte“, vermutete Severus. Auch wenn er nicht wirklich wusste, ob das auf Missbrauch von Kindern auch zutraf.

„Aber seinen Sohn hat er gut behandelt.“

Autsch. Das tat doppelt weh. Zuzusehen, was man haben könnte und nicht bekam. Das war hart.

„Manchmal ist das Leben unfair“ Er musste sich davon abhalten, mit der Nasenspitze durch Harrys Haar zu fahren. Dass der Junge sechzehn war, war auch unfair. „Jetzt hast du erstmal ein bisschen Glück. Übermorgen fliegen wir nach Amerika.“

„Übermorgen schon?“ Harry sah mit einem Grinsen auf. „Ich muss packen! Wie warm ist Amerika?“

„Da, wo wir hin fliegen, ist es so wie hier“ Severus musste ob des Enthusiasmus lächeln. „Ich müsste im Keller noch eine Reisetasche haben. Komm, wir gehen die mal holen.“

Harry folgte ihm fröhlich.
 

Charlies Blick blieb bei der Begrüßung einen Moment an ihm hängen, doch zum Beginn des Kurses fing er sich wieder. Sie übten einen weiteren Satz Situationen und wenn Severus seinen Pessimismus für einen Moment beiseite schob, so hatte er das Gefühl nach der Kritik der letzten Woche schon einiges besser zu machen. Selbst Draco war neben ihm nicht auf Hochspannung, als würde er langsam spüren, dass von Severus zumindest nicht die Gefahr körperlicher Verletzung ausging.

Entgegen seiner Erwartung hatte Sirius seine Kritik erstaunlich gut angenommen und setzte diese ebenfalls mit Bravour um. Auch wenn es bisher immer gewirkt hatte als hätte James seinen unwilligen Freund mit zum Kurs geschleppt, schien es jetzt Sirius, der den anderen mitzog. Draco und Barty wirkten beide als hätten sie in der vorherigen Woche nichts gelernt, aber zumindest arbeiteten beide mit. Severus rechnete es beiden hoch an – er wäre mit knapp achtzehn wahrscheinlich nicht bereit gewesen, so an sich zu arbeiten. Wahrscheinlich hätte ihn keine einzige Androhung von Strafe her bringen können. Mit achtzehn war er … im Endeffekt war er diesem Draco nicht unähnlich gewesen. Der Junge war in einem durch angespannt als würde er jeden Moment erwarten, geschlagen oder beschimpft zu werden. Severus konnte sich gut vorstellen, dass er ähnlich gewesen war. Allerdings wäre er nicht mutig genug gewesen, etwas gegen seine damals höchst evidente Gewalttätigkeit zu tun.

Er war oft genug fast von der Schule und danach fast von der Uni geschmissen worden. Es waren stets gute Noten gewesen, die ihn gerettet hatten. Denn wie konnte ein guter Schüler wirklich böse sein? Dass man lernen und trotzdem ein aggressiver Klotz sein konnte, das schien in den Köpfen seiner Lehrer nie zusammen passen zu können. Wer unsozial war, der schrieb schließlich auch nur schlechte Noten, nicht wahr? Wer gute Noten schrieb, musste demnach auch nett sein. Er hatte den Zusammenhang nie verstanden, aber anscheinend gab es ihn.

„Wie versprochen, das war die letzte Szene“ Ein kollektives erleichtertes Seufzen ging durch die Reihe. Anscheinend waren sie sich alle einig darin, dass Höflichkeit verdammt schwer war. Dicht gefolgt von diesem unscheinbaren, jedoch zutiefst gruseligen Thema namens Small-Talk. „Ihr habt euch gut geschlagen. Nächste Woche gibt es ein Thema, was normalerweise sehr beliebt ist: Wir reden über Frauen.“

Sirius pfiff anerkennend und James grinste. Selbst Dracos Mundwinkel zuckten kurz.

Charlie ließ ihnen den Moment, bevor er fortfuhr: „Respektvollen Umgang mit Frauen.“

Severus hörte nicht nur einen resigniert seufzen – es ließ ihn lächeln.
 

„Flughäfen sind gigantisch“ Harry drehte sich beim Gehen um seine eigene Achse. Wie er das tat und gleichzeitig in ein und dieselbe Richtung ging, erschien Severus ein einziges Wunder. Nur dass er andauernd aufpassen musste, dass Harry nicht versehentlich in andere Menschen hinein lief, störte ihn ein wenig.

„Bangkok und London haben sehr große Flughäfen. Es gibt auch kleinere“, informierte Severus den Jungen.

„Verläuft man sich da nicht?“

„Meist ist alles sehr gut ausgeschildert“ Severus sah sich nach ihrem Gate um. „Wir müssen da hinten lang.“

„Kann ich mich nicht erst umschauen?“ In Harrys Stimme lag etwas jammerndes. Natürlich befanden sie sich auch mitten zwischen vier großen, offenen Shops mit glitzernd leuchtender Auslegeware.

„Nein, wir müssen uns beeilen.“

„Aber wir sind doch so früh hier gewesen!“, maulte Harry, auch wenn er ihm dabei hinterher joggte.

„Wir haben nur noch eine halbe Stunde, um zum Gate zu kommen“ Und Severus wusste aus Erfahrung, dass das nicht viel Zeit war. Die transatlantischen Flüge gingen nicht gerade von einem eingangsnahem Gate.

„Nur noch?“ Harry blinzelte verwirrt.

„Wir wurden erst befragt, dann haben wir eingecheckt, dann wurden wir durchsucht, dann wurden wir wieder befragt und ich kann dir garantieren, dass wir am Gate nochmal befragt werden.“

„Warum?“ Das hatte Harry auch schon die letzten zwei male gefragt. Severus wusste auch keine gute Antwort darauf. Also beschleunigte er, damit Harry zu sehr außer Atem war, um weitere Fragen zu stellen. Da der andere ein gutes Stück kleiner war, funktionierte die Technik zum Glück gut.

Wie nicht anders zu erwarten stand vor dem Gate erneut ein Kontrolleur, um ihnen dieselben Fragen zu stellen, die sie bereits mehrfach beantwortet hatten. Hatten sie zwischendurch angehalten? Hatten sie ihr Gepäck irgendwo stehen lassen? Hatten sie seit der letzten Kontrolle mit jemandem geredet? Waren sie in einer Menschenansammlung wie einer Schlange gewesen? Severus kannte diese Prozeduren nur zu gut, aber es half ihm nicht gerade, dem Mann vor seiner Nase nicht den Hals umdrehen zu wollen. Harrys erwartungsfreudige Augen an seiner Seite halfen mehr. Er war eine gute Erinnerung, dass Aggression nicht der richtige Weg war. An manchen Dingen im Leben konnte man nichts ändern, man musste sie einfach akzeptieren. Wie zum Beispiel amerikanische Paranoia.

Severus war heilfroh, als sie endlich das Flugzeug besteigen konnten. Auch wenn er wusste, dass es sowohl im Flugzeug als auch mehrfach in Amerika noch Befragungen geben würde. Und diesmal müsste er sie auch noch für zwei beantworten. Ein Seufzen fiel von seinen Lippen.
 

Während des Fluges war Harry erstaunlich zahm gewesen. Severus hatte ihm Kinderfilme angestellt und während des zweiten war er in seine Decke gekuschelt eingeschlafen. Er hatte ihm die Kopfhörer ausgezogen und einfach still gehalten, als Harry irgendwann gegen ihn gesackt war und es sich auf seiner Schulter gemütlich gemacht hatte. Er selbst hatte natürlich kein Auge zugetan. Er traute den Menschen um sich herum nicht genug als dass er es wagen würde, in einem Flugzeug zu schlafen. Zum Glück hatte er ja ein Buch mitgenommen.

Als sie landeten, schlief Harry immer noch. Severus hatte kurz versucht, ihn zu wecken, aber das wurde nur von einem unleidigen Grummeln kommentiert. Also hatte er Harry aufgesetzt, ihm den Gurt umgelegt und ihn mit einem Arm gestützt, als sie landeten. Der Junge wurde erst langsam wach, als alle um sie herum bereits anfingen, in den Gepäckfächern zu wühlen.

„Wasch is?“, murmelte er verwaschen.

„Wir sind da. Du musst langsam aufwachen.“

„Schon?“ Harry sah auf und sah sich um, bevor er aus dem Fenster blickte. „Wie spät ist es?“

„Es ist hier nun neun Uhr morgens“ Er öffnete die Sichtluke neben Harry. „Schau, es ist sonnig. Elf Grad haben sie gerade durchgesagt.“

„Ist das kalt?“ Nun, zumindest hatte er ja schon gelernt, dass Grad etwas mit der Temperatur zu tun hatte.

„Das ist Wetter für eine dicke Jacke, ja“ Severus sah sich um. Ein Großteil der Menschen war ausgestiegen. „Komm, wir machen uns fertig.“

Sie nahmen ihre Sachen und folgten der Beschilderung bis zur Gepäckausgabe. Da sie relativ spät ausgestiegen waren, rollten die ersten Koffer auch bereits auf dem Band. Severus nahm sich die Freiheit, Harry vorzuschicken, um ihre Koffer vom Band zu holen. Er hatte wenig Lust, sich zwischen die Menschenmassen zu stellen.

In der nächsten Halle war es so voll, dass Harry andauernd wieder zurück blieb und Severus auf ihn warten musste. Die Grenzkontrolle war einfach heillos überfüllt. Er sah sich noch nach der kürzesten Schlange um, als Harry seine Hand griff. Sein Blick fiel sofort hinab. Da hatte sich eine kleinere Hand in seine gelegt und umklammerte die seinige fest. Er hob den Blick zu Harrys Gesicht.

Dieser lächelte schüchtern und meinte: „So gehe ich nicht verloren, oder?“

Severus nickte nur, die Kehle zu trocken für irgendeine Art von Antwort. Mit einem tiefen Atemzug nickte er und wandte sich wieder zur Grenzkontrolle. Die kürzeste Schlange befand sich am Ende des Raumes, sodass er diese ansteuerte. Das könnte ja heiter werden. Er hasste diesen Teil. Aber er spürte Harrys warme Hand in seiner.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Omama63
2015-09-11T07:46:27+00:00 11.09.2015 09:46
Severus hat immer noch Schuldgefühle und ist eiversüchtig. Hat er sich verliebt?
Ginny war Gott sei Dank, auch nicht die Richtige. Severus wird froh sein.
Harry in Amerika, das wird lustig werden.
Bin schon gespannt, ob sie ein Doppelzimmer haben.

Lg
Omama63
Von:  brandzess
2015-03-04T20:14:11+00:00 04.03.2015 21:14
Ich kann mir vorstellen, dass Flughafenkontrolle für einen mittelalten Mann mit einem kleinen Asiaten an der Hand nicht gerade leicht ist xD
Harry hat einen weiteren Korb bekommen und so schnell hintereinander, ist echt blöd. Er hat ja noch Seerus zum trösten^^
Freu mich auf mehr.
Lg brandzess
Von:  SakuraxChazz
2015-03-03T19:43:30+00:00 03.03.2015 20:43
Halli hallo^^

Ich wünsch viel Erfolg bei der Arbeit und das die letzten Wochen nicht allzu hart werden. Es freut mich das du dennoch die Zeit gefunden hast für dieses wundervolle Kapitel *.*
Ich kann Severus Schuldgefühle gut nachvollziehen, obwohl ja mit Harry eigentlich nichts läuft. Aber es ist halt trotzdem ein komisches Gefühl. Immerhin lebt er auch mit ihm zusammen und ist für ihn verantwortlich. Und Charlie gegenüber ist es eben auch nicht ganz fair, weil auf seiner Seite eben doch Gefühle im Spiel sind. Das ist schn echt kompliziert. Da kann ich verstehen warum er sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren kann und das Lydia ausnahmsweise mal machen lässt.
Das mit der DVD wurde ja nun nichts... Harry tut mir echt Leid. Da konnte ich auch wieder gut nachvollziehen warum sich Snape freut und warum er dann auch wieder sich darüber ärgert, das er sich freut. Schließlich sollte man sich nicht über das Leid eines anderen Freuen. Harry hatte schon genug Leid in seinem Leben.
Der arme Harry hat von Ginny eine sehr diplomatische Abfuhr bekommen. Es war aber gut, das sie es so schnell geklärt hat und ihn nicht erst noch hat Zappeln lassen. Zumindest können sie Freunde bleiben.
Severus macht für mich seine Sache in dieser Situation ganz gut. Er hat mit solch einer Art Situation eben noch nie zu tun gehabt. Zumindest nicht auf der Tröstenden Seite. Er arbeitet an sich und hat das Harry ja nun auch gestanden. Das wird dem Kleinen auch nochmal ein wenig geholfen haben. So kann er wenigstens verstehen warum Severus schonmal so aus der Haut fährt. Bei seinem Onkel bin ich mir nicht so sicher ob das wirklich nur Unsicherheit war. Das wird auch Ärger gewesen sein, darüber das er noch ein Maul mehr zu stopfen hatte.
Der Kurs mittwochs läuft immer besser. Es mussten sich eben alle erstmal auf die anderen einschießen und für sich erkennen, warum sie diesen Kurs wirklich machen möchten. Die nächste Lerneinheit mit den Frauen wird Sirius bestimmt eine Menge abverlangen xD So wie ich sein Verhalten da einschätze XD Aber ich glaube schon, das aus ihm ein Gentleman werden kann. Ein draufgängerischer, aber ein Gentleman.
Die Reise nach Amerika wurde super beschrieben. Diese ganzen Befragungen sind echt nervig... Ich hab es selbst nie erlebt, aber ein Teil meiner Familie macht da gerne Urlaub und erlebt das dann. Was da teilweise für dumme Fragen gestellt werden. Gut das Severus für Harry mitantwortet. Nicht das der Junge dann doch zurückbleiben muss, weil er eine Frage falsch verstanden hatte oder so.
Die Schlussszene ist so Zucker. *.* Wie Harry Severus Hand nimmt um nicht verloren zu gehen. Das ist ein wirklich legitimer Grund um Händchen zu halten. Wenn Harry das später nicht mal für sich nutzt und nur deswegen gerne überfüllte Orte aufsucht. Wobei er das wohl aus Rücksicht auf Severus Migräne es doch nicht tun würde oder nur sehr stark beschränkt. Hmmm...
Ich freu mich sehr auf das nächste Kapitel^^

LG Saku^^


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