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Kreaturen wie wir

von

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„Guten Abend, Doktor.“
 

Das Licht im Zimmer ist schummerig. Schwarze Tücher über kunstvoll verschlungenen Öllampen, so dass ich mich für einen Moment an eine jene verrauchten Opiumhöhlen in London erinnert fühle. Es ist warm. Stickig. Die Luft riecht nach Tabak, verschwitzter Haut und irgendeinem Geruch nach Flieder, der sich sanft, wie streichend mit hauchzarten Fingerspitzen, darüber gelegt hat. Ich schaue mich um, doch mehr als ein großes, zerwühltes Bett und eine Flasche aus dunklen Glas auf dem Nachtschrank daneben, entdecke ich nicht.
 

Ich fühle mich unwohl.

Die Gegenwart von Menschen ist weniger ein Trost als eine ständige Hetzjagd von einer Maske zu anderen.
 

„Guten Abend, Mister Gray.“
 

Meine Stimme klingt heiser, viel heiserer als ich es eigentlich möchte und ich ärger mich darüber. Souveränität ist sonst etwas, das ich wie einen Mantel überstreife, doch dieses Mal hat man mir jenen bereits beim Betreten des Anwesens abgenommen. Sie hat mich gewarnt. Ich schätze Vanessa als mindestens so geistvoll wie auch gefährlich ein, doch nachdem was Ethan wiederfahren ist, wurde mein Drang diesen Mann zu treffen und kennenzulernen immer größer. Die Wunde auf meiner Schläfe pocht. Ich habe Kopfschmerzen. Doch ob es an der Wunde oder an dem Geruch nach Flieder liegt, vermag ich nicht zu sagen.
 

„Es freut mich, dass wir einander endlich begegnen. Es war längst überfällig. Ich habe viel von Ihnen gehört.“
 

Das sagt mir im Prinzip alles.

Wenn er von mir gehört hat, dann weiß ich bereits, wie eine Einschätzung meiner Person verlaufen wird. Der verrückte. Der Irre. Der Seltsame. Der Freak. Der in seinem Keller Leichen zersägt und sich daran aufgeilt. Wenn sie wüssten. Wenn sie alle die Wahrheit hinter der Lüge kennen würden, würde mich ganz London brennen sehen wollen. Es pocht an meiner Schläfe. Hinter mir sind Schritte. Langsame, weiche Bewegungen und ich meine, Sekundenlang ein blasses Gesicht neben meiner Schulter erkennen zu können, ehe ich nichts weiter sehe, als einen schmalen, nackten Körper in seiner Rückansicht. Ethan hat mich gewarnt. Vanessa ebenfalls.
 

Ich mag nur keine Ratschläge.

Aber ich mag Kreaturen wie mich.
 

„Scotch, Doktor? Mit einem Hauch von Zimt und Ingwer. Anregend. Erregend.“
 

Ich schnaube und beginne, meine Fliege zu lösen. Mein Blick ruht auf dem Spiel von Muskeln und Sehnen, ein Spiel von Feuer und Schatten. Tief haben sie sich über die blasse Haut gelegt, fahren darüber, spreizen Finger, spreizen Zehen, spreizen Beine. Eine Sinfonie aus Sünde und Erlösung. Ich muss mich zusammen reißen. Wahrscheinlich war diese antiseptische Salbe nicht mehr gut. Ich muss meine Lagerbestände besser kontrollieren.
 

„Erregend? Mister Gray, machen Sie sich keine falschen Hoffnungen. Ich habe nicht vor, Teil Ihrer…illustreren Sammlung von Betthäschen zu werden.“
 

Ein leises, amüsiertes Lachen.
 

„Sammlung, also. Nun ja, wenn sich Mister Chandler und Miss Ives als „Sammelfiguren“ bezeichnen – ihr Problem, nicht meines, nicht wahr? Bitte, Doktor. Es ist ein guter Jahrgang. Er wird ihnen schmecken.“
 

Wieso nur habe ich das Gefühl, dass er damit ganz andere Dinge meint? Dorian Gray ist gewiss kein unbeschriebenes Blatt. Der Schönling. Der Engel. Die Sünde auf Erden. Die Versuchung aus dem Paradies. Mein Gott, ich frage mich wie oft er all diesen Frauen und Männern das Gehirn heraus gevögelt haben muss, ehe sie diesen Schwachsinn von sich gaben. Ich frage mich, wie oft er mir das Gehirn heraus vögeln muss, bis ich es ebenfalls sage. Der Geruch nach Flieder ruht wie eine Decke über meinen Augen, so dass ich ein paar Mal blinzeln muss, ehe ich rüber zum Bett schaue und sehen kann, wie man sich nackt und in einer überaus obszönen Pose in den zerwühlten Laken zurecht gelegt hat. Er lächelt. Ebenmäßige weiße Zähne und glatte, nussbraune Strähnen über seiner Stirn.
 

Vanessa und Ethan hatten Recht.
 

„Ich denke, ich habe ganz klar mein Desinteresse bekundet.“
 

„Desinteresse? Nun, wie „desinteressiert“ sehen Sie aber nicht gerade aus. Oder schauen Sie gerne einem nackten Mann zwischen die Beine?
 

Eine Stimme wie Honig, getränkt mit Scotch, der mit Zimt und Ingwer versetzt ist.
 

„Sie räkeln sich, Mister. Gray. Was soll ich Ihrer Meinung nach machen? Ihnen eine Decke überwerfen? Wenn Sie meinen, Ihr….postpubertär gestörtes Machogehabe würde bei mir Früchte tragen, liegen Sie falsch. Ich bin ein Doktor und habe schon mehr nackte Menschen aufschlitzt, zersägt, zersprengt, gevierteilt, zerhackt, verstümmelt, verbrannt und verwest gesehen, als Sie es sich nur vorstellen können. Wollen Sie mein Urteil nach meinem Studium hören? Der menschliche Körper ist eine stinkende Ansammlung von Wasser, Gasen und verschwendeten Potenzial. Gott hat versagt.“
 

Einen Moment ist es still im Zimmer.

Ich atme durch und widerstehe dem Drang, mir über die Augen zu reiben. Alles riecht nach Flieder.
 

„Gott ist tot. Wir leben in einem Zeitalter der Aufklärung. Niemand glaubt mehr an den alten, angeblich achso gütigen Mann, dessen Zehen von Engeln geküsst werden. Sie doch auch nicht, Doktor.“
 

Meine Hand zieht sich langsam vom Stoff seiner Fliege zurück, nachdem mir wieder eingefallen ist, wie sie überhaupt dahin gekommen ist. Ruhig schwenkt eine blasse Hand ein Glas, das gefüllt ist mit Bernsteinfarbener Flüssigkeit. Er lächelt immer noch. Und ich weiß nicht mehr, wie lange mein Blick nun schon auf seinem Gesicht ruht.
 

„Ich glaube an viele Dinge, aber nicht an Gott.“
 

„An was glauben Sie dann, Doktor?“
 

Die Frage trifft mich für einen Moment unerwartet und es ärgert mich. Dorian Gray liegt nackt, mit gespreizten Beinen auf der Seite, trinkt Scotch und lächelt – eine billige, willige Hure und trotzdem halten seine Augen ungebrochen meinem Blick stand. Er sieht aus wie ein Raubtier. Ich kann feine, weiche Haare sehen, die von seinem Schoss bis hinauf zum Bauchnabel wachsen.
 

„An den Verstand. An den Menschen, der erschaffen kann. Der besser erschaffen kann. Schneller. Präziser. Effizienter. Der Leben und Tod bezwingen wird. Wir können ihn jetzt schon hinaus zögern. Eines Tages wird niemand mehr altern, niemand wird mehr erkranken, niemand mehr sterben. Wir werden Gott sein.“
 

Er lacht.

Dorian Gray lacht und ich kann sehen, wie sein flacher Bauch dabei sachte vibriert. Die Kopfschmerzen werden schlimmer. Ich fühle mich wie betäubt. Der einzige Halt sind Dorian Grays Augen und die scheinen dunkle, tiefe Seen zu sein. Ich hab das Gefühl, dass ich darin ertrinken werde, lasse ich mich dort hinein fallen.
 

„Sie sind eher ein Poet, als ein Doktor. Schreiben Sie? Ich würde gerne etwas von Ihnen lesen. Schreiben Sie es mir auf die Haut. Ein Gedicht von Victor Frankenstein! Oh, das ist fast so gut wie ein Orgasmus.“
 

„Ich schreibe Ihnen nichts auf die Haut. Mister Gray. Wenn Sie bleibende Schriftzüge wollen, lassen Sie sich doch einfach nochmal von Vanessa kratzen.“
 

„Wie langweilig. Sie ist eine amüsante Gespielin von Zeit zu Zeit, weil sie sich stark und tapfer fühlt, doch sie weint. Sie weint, Doktor. Sie ist langweilig. Ich hasse langweilige Menschen. Doch ich mag Kreaturen, wie Sie eine sind. Sprechend im Wahn, eines Tages Gott zu sein. Was meinen Sie, wie hoch der Preis wohl für Hochmut ist?“
 

Ich schließe meine Augen und denke an Proteus.

Wale, die Wasser in die Luft stoßen und untertauchen, im Klaren, tiefen Blau.

Feenlichter am Abendhimmel.

Ein Lächeln, glücklich, Augen, die im Sonnenlicht leuchten.

Er wird mich nie mehr so ansehen.

Und wenn, dann wird er nicht mehr derselbe wie vorher sein, weil ich ihm neue Augen gebe.
 

„Der Tod.“
 

Ich spreche das Wort ruhig aus, wenn auch heiser. Die Luft in diesem Zimmer ist verbraucht. Schritte auf Holzdielen, weich und federnd und eine Hand, deren Fingerkuppen gegen meine Schläfe tippen. Die Wunde brennt, als man sie mit Fingernägeln behutsam wieder aufzukratzen beginnt. Blut rinnt hinab, über mein Auge, taucht die Welt in schimmerndes Rot, wie es schon immer der Fall war. Dorian Gray wischt hauchzart über meine Augenbraue, verteilt das Blut darüber, wischt es über mein Augenlid und Wimpern, bis hinab zur Wange.
 

„Ja, der Tod, Doktor. Der Verfall. Wir alle kamen aus dem Schoss unserer Mutter mit Blut gekrochen und wir zahlen Blut, wenn wir sterben. Blut ist die Währung des Lebens. Wissen Sie, Doktor….es interessiert mich nicht. Wieviel Jemand blutet oder wann. Aber er tut es. Er zahlt. Und ich will den Grund wissen, immer. Immer und überall. Menschen sind schmutzige, kleine Ratten, die einander fressen, wenn nichts anderes mehr zum fressen übrig bleibt. Abstruse Geschöpfe in einer sündigen Schöpfungsgeschichte. Gott erschuf zuerst Adam, obwohl er ein Mann ist? Keiner kann mir sagen, dass ein „gesunder“ Mann sich doch nicht zuerst eine Frau erschafft, oder? „Und er formte ihn nach seinem Ebenbild“ – was für ein eifersüchtiger Bastard, nicht wahr? Verjagt Eva, weil sie ihm seinen Adam wegnimmt. Ich verstehe Sie, Doktor. Ich verstehe Sie vollkommen. Kreaturen wie wir lecken einander das Blut von den Lippen, ehe wir beginnen sie zärtlich aufzuessen.“
 

Seine Lippen auf meinem Mund sind warm und schmecken nach Scotch. Der erste Kuss ist nicht süß, sondern bitter und bitter ist der Geschmack nach Eisen, als er mir die Zähne in die Unterlippe schlägt. Er beißt zu. Blut beginnt zu fließen, der Geschmack nach Rost breitet sich in meinem Mund aus. Verfall zwischen meinen Zähnen und an meiner Zunge. Als ich ihm die Hände auf dem Gesäß ablege, reckt er sich zu mir empor und schlingt die Arme um meinen Hals. Ich kann kaum atmen. Der Geruch von Flieder ist überall.
 

„Oh Doktor…mein Spiel ist es für gewöhnlich, Leute zum Fallen zu bringen. Es macht Spaß, wissen Sie? Ich bin das kleine, perfide Kind, das sich einen darauf runterholt, wie sehr Leute weinen. Warum? Weil ich es kann. Und weil sie zu dumm sind, um zu denken. Sie wollen Liebe, sie wollen Sex, sie wollen Geld, Macht und Ruhm, doch in Wahrheit steckt der Drang dahinter, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, um ewig zu leben. Doch Sie nicht, Doktor. Sie sind bereits gefallen. Ihre Augen sind die eines Tieres. Und Sie haben Hunger.“
 

Ich finde ihn abstoßend.

Die Art wie er seinen nackten Unterkörper gegen meinen presst, jagt mir die Galle in der Kehle empor, doch gleichzeitig spüre ich, dass ich einen Gefährten entdeckt habe. Eine Kreatur meins Schlages und ich schlucke trocken, als ich erkenne, dass sein Blick ebenso starr ist wie meiner. Er lächelt, als ich es bin, der ihn dieses Mal küsst. Stolpernd fallen wir das zerwühlte Bett zurück, indem er Vanessa geliebt und Ethan genommen hat, doch es kümmert mich nicht, in dieser Nacht ist er meine Kreatur, erschaffen für mich und ich nehme ihn mir, mit allem, was ich habe.
 

„Passen Sie nur auf, welchen Tier sie in die Augen schauen, Gray.“
 

Er lächelt, ich spüre Lippen, ich spüre Zähne, ich spüre nackte, verschwitzte Haut, an der meine Finger abrutschen und in die ich Klauen hinein schlagen muss, um halt zu finden. Stöhnend wirft er den Kopf in den Nacken, als ich ihn mit einem Ruck auf meinen Schoss und Erregung ziehe. Meine Finger glänzen nass, dort wo er sie abgeleckt hat. Ich greife ihm in den Nacken und zerre ihn wieder zurück, noch während er beginnt sich schnaufend auf mir zu bewegen und das vorher so sorgsam gekämmte Haar fällt ihm wirr in die Stirn. Ich stoße ihn vor und zurück und auf seinem Gesicht liegt ein solch genießerischer Ausdruck, dass ich fühlen kann, wie wir beide fallen. Ich bin hart und er liebt mich dafür.
 

„Victor...?“
 

Sein Mund an meinem Ohr ist warm und weich, seine Arme um meinem Hals ebenso, und immer wieder zerre ihn erst hinauf und dann wieder hinab, will mehr hören von diesen köstlichen Geräuschen, die mich vergessen lassen, wer ich bin.
 

„Ich will Sie behalten. Seien Sie meine Kreatur. Lassen Sie mich ihr Schöpfer sein. Lassen Sie mich Sie neu erfinden. Sie neu zusammen bauen. Und danach – danach reißen sie mich in Stücke, vergehen sich an mir und bauen mich neu zusammen. Oh, wir würden ein herrliches Gruselkabinett abgeben, wir zwei.“
 

Ich ziehe die Oberlippe ein Stück über meinen rechten Eckzahn, als er seine Nägel über meine Brust wandern lässt und Zentimeter für Zentimeter Haut aufwirft. Blut beginnt zu fließen, taucht die Welt in Rot, diese Farbe, die mir nun schon seit so langer über die Hände rinnt und ich nicht mehr weiß, ob sie jemals eine andere Farbe hatten. Ich weiß dass er mich spürt und ich weiß, dass er sich spürt. Solche Leute wie er, leben durch Andere, leben durch so Jemanden wie mich. Der Tod macht mir keine Angst. Ich habe Angst vor dem Leben. Er keucht ungeniert, sein Hals nass, voller Flecke und voller Blut, wie auch das Laken, auf der die ich Abdrücke unserer Hände sehen kann. Seine Knie zittern, bleich und verfärbt, doch als ich ihm ein Stück Fleisch aus der Ohr Kante beiße und mich mit blutverschmierten Mund wieder nach vorne beuge, sehe ich zum ersten Mal, dass auch seine Augen lächeln. Ein wenig wie Kind, irgendwann verschlungen von zu viel Dunkelheit, bis es begann dafür die Beine zu spreizen und den giftigen Dolch über dem Haupt des Peinigers ragen zu lassen.
 

„Das Leben ist gruselig genug, Dorian. Man altert, man erkrankt, man vergisst, man gibt auf - aber trotzdem sind wir so verbissen, uns an das Leben zu hängen, das wir alles dafür tun...Vergänglichkeit im Glanz von Atem und Worten. Wenn Gott uns dafür geschaffen hat, dann hat er wirklich versagt.“
 

Er lacht und klammert sich an mir fest und ich muss ebenfalls lachen und noch während wir lachen, spüre ich wie er kommt, wie sich milchiges weiß mit rot vermischt auf unserer Haut und uns zusammen schmiedet. Vielleicht sterben wir in dieser Nacht, vielleicht sterbe auch nur ich, vielleicht stirbt aber auch er, aber für diesen einen Moment lacht er. Ausgelassen wie ein Kind und seine Umarmung ist stürmisch und jubelnd und großartig energisch, dass ich spüre, wie mein Blick starr auf seinem Gesicht ruht, dass verschwitzt, Blut verschmiert und verzerrt ist. Er ist hässlich und er ist wunderschön und ich kriege davon nicht genug in dieser Nacht, also zerre ich ihn wieder an mich und unser Tanz aus Blut beginnt von neuen.
 

Wie lieben Kreaturen, wie wir es sind?

Vielleicht so?

Vielleicht so...



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