Zum Inhalt der Seite

Rot, rot, rot

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

You Should Never Have Opened That Door

Das Rotkäppchen öffnet eine Tür

Die Großmutter schließt eine Tür
 

Johan war schon fast über den Parkplatz, als er die hastigen Schritte hinter sich hörte. Er blieb stehen und drehte sich in aller Ruhe zu Marek um, der auf ihn zugerannt kam.

Nach Atem ringend blieb Marek vor Johan stehen und überlegte fieberhaft, was er jetzt tun sollte. Reden? Am liebsten würde er Johan seine Faust ins Gesicht rammen.

Johan atmete tief durch. Aus der Nummer kam er nicht mehr raus. Und Marek auch nicht.

"Zwei Straßen weiter ist ein Bistro", unterbrach Johan Mareks fiebrige Gedanken. "Ich lege nur schnell mein Zeug ins Auto."

Fassungslos sah Marek, wie Johan genau das tat, was er gesagt hatte. Er öffnete die Fahrertür seines Autos, warf den Rucksack, den er bei sich getragen hatte, auf den Beifahrersitz und schloss die Tür wieder. Er hätte auch einsteigen und wegfahren können und Marek hätte nichts dagegen tun können, dachte Marek. Aber er tat nichts davon.

Seelenruhig wartete Johan neben seinem Wagen auf ihn.

Marek setzte sich in Bewegung. Wie ein Schlafwandler folgte er Johan, der eine Hand in seine Hosentasche schob und ein Zigarettenpäckchen daraus hervor kramte. Er bot Marek eine Zigarette an, der sie aber ablehnte.

Das war die erste Zigarette seit zwei Tagen, fiel es Johan ein, während er es noch immer nicht fassen konnte, wer gerade neben ihm über den Bürgersteig ging. Was Tim wohl tun würde, wenn sie sich jetzt alle über den Weg liefen?

Johan lachte leise, verstummte aber sofort wieder, weil er fürchtete, Marek noch mehr zu irritieren. Er hatte keine Ahnung, seit wann Marek von ihm wusste. Dass er es tat, hatte er bestens sehen können, auch wenn er selbst am liebsten so getan hätte, als wisse er selbst nicht, wer Marek ist.
 

Marek war enttäuscht. Am meisten von sich selbst. Er starrte in das Glas Tonic Water, das vor ihm auf dem Tisch stand. Seit Johans Satz, dass er erst noch sein Zeug ins Auto stellen müsse, hatten sie kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt. Und sie waren immerhin schon bei ihren jeweils dritten Gläsern angelangt.

Alles, was er selbst am liebsten gesagt oder getan hätte, war weg. Gut, er hatte zu wenig Zeit gehabt, sich wirklich Gedanken darüber zu machen, was er zu Johan sagen sollte, wenn er ihm mal gegenüber stehen würde. Wer hätte auch ahnen können, dass das so schnell passiert. Und wer hätte ahnen können, dass es ausgerechnet dann passieren würde, wenn er Tims Oma besucht. Nie im Leben wäre er darauf gekommen, dass Tim und Johan sich ausgerechnet im Altenheim begegnet waren.

"Woher wusstest du-", nahm Johan erneut den Anfang eines Gesprächs in die Hand.

"Das T-Shirt", unterbrach Marek Johan.

Johan nickte verstehend. Ab wann waren Zufälle keine Zufälle mehr? Er trug das T-Shirt an genau dem Tag, an dem Marek, der noch nie in Haus Waldfrieden gewesen war, Esther besuchte.

Marek hob das Glas an seine Lippen und trank einen Schluck des bitteren Getränks und musste sich zusammenreißen, um sich nicht zu schütteln. Eigentlich trank er das Zeug überhaupt nicht. Über den Glasrand hinweg beobachtete er Johan, der sein Glas nachdenklich auf der Tischplatte einige Zentimeter hin und her schob und dabei eine feuchte Spur auf dem dunklen Holz hinterließ.

Das Geräusch des über das Holz schabenden Glases zerrte an Mareks Nerven. Er hielt Johans Hand fest, der bei der Berührung kurz zusammenzuckte, aber endlich aufhörte, sein Glas über den Tisch zu schieben.

"Danke", murmelte Marek und ließ Johans Hand wieder los. Wie seltsam, dachte er. Der Fremde, Johan, der sich fast selbstverständlich in das gewohnte Umfeld, das rote Ramones-Shirt, einfügte.

Johan biss sich auf die Unterlippe. Marek blieb ungewöhnlich still, dafür, dass er seinem eigentlichen Konkurrenten gegenüber saß. Aber waren sie das überhaupt? Wenn er ehrlich war, hatte Tim keine Anstalten gemacht, irgendetwas klären zu wollen.

"Weißt du, was du bist?" Mareks Satz schlug wie ein Blitz ein. Viel zu schnell, um wirklich zu sehen, was da auf einen zukam.

Johan hatte den Kopf leicht schiefgelegt. Was war er?

Marek sah Johan einige Zeit lang schweigend an. Er schien jedes geplante Wort genauestens abwägen zu wollen.

"Der Jäger", sagte Marek schließlich, als sein Schweigen für Johan fast unerträglich geworden war.

"Habe ich nicht gewusst", gab Johan erstaunt aber ehrlich zu.

"Frag das Rotkäppchen." Mareks Lippen wurden zu einem dünnen Strich.

"Tim?"

Marek nickte. Er trank einen Schluck Tonic Water und dachte darüber nach, sich beim nächsten Mal was anderes zu bestellen. Das Zeug war ja widerlich.
 

"Ich schätze mal, du bist dann wohl nicht die Großmutter", witzelte Johan trocken. Aber wer mit so ernster Miene ein so schreckliches Getränk wie Tonic Water trinken konnte, vertrug auch Witze.

Ein leises Lachen kroch Mareks Kehle hinauf. Es war nicht mehr als ein kaum hörbares Grollen, aber für Johan war es eine Bestätigung.

"Ich habe mir Tims Wolf – Chef, meine ich, irgendwie anders vorgestellt."

Marek hob den Blick. "So und wie?"

"Älter", sagte Johan nach einer Weile bedächtig und fügte hinzu: "Und seriöser. Eben chefmäßiger."

"Halbglatze, Nickelbrille, kariertes Hemd und im Winter eine Strickweste?"

"Ja, genau!" Johan freute sich über Mareks unglaubliche Fähigkeit, seine Gedanken lesen zu können.

"So sieht mein Onkel aus, der echte Chef – auf dem Papier jedenfalls", murmelte Marek und zog die Nase kraus.

Johans Schultern bebten. Er versuchte, das Lachen zu unterdrücken, bis ihm die Tränen in den Augen standen.

Marek hatte eine Augenbraue hochgezogen und sah abwartend sein Gegenüber an, dem wohl gleich die Tränen über die Wangen liefen.

"Und ich habe mich schon gewundert", stieß Johan schließlich aus.

"Worüber?" Marek verschränkte die Arme vor der Brust.

"Über Tims Geschmack." Jedes Wort wurde von Johans Lachen unterbrochen und Marek wurde langsam ungeduldig. Er wollte zur Abwechslung auch mal lachen.

"Ich habe mir dich genau so vorgestellt, wie du deinen Onkel beschrieben hast, und dann-" Johann musste Mareks Blicken ausweichen, sonst bekäme er für die nächste halbe Stunde kein einziges vernünftiges Wort mehr über die Lippen. "Und dann habe ich mich gefragt, was er von mir will..."

"Oh", war alles, was Marek dazu einfiel. War das ein Kompliment an ihn? "Ich hoffe, du bist jetzt beruhigt."

Johan nickte. Jetzt war es vorüber. Er musste lachen. Jedes weitere Wort von ihm oder Marek würde ihn nur noch mehr zum Lachen bringen. Aber er wusste jetzt endlich, warum es ihn gar nicht gestört hatte, dass es da noch jemanden in Tims Leben gab. Er hatte Tims Chef nie als Konkurrenz gesehen, weil er immer nur einen alten Mann vor Augen gehabt hatte.

Johan wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Seine Rippen schmerzten und Marek sah ihn immer noch so gefasst an.

Zum Glück hatte Johan die Wahrheit nicht früher gekannt. Tims Chef war nämlich durchaus attraktiv, wie er zugeben musste. Und er meinte, Tim zu verstehen. Insgeheim war er sich sicher gewesen, dass sich Tim schlussendlich für ihn entscheiden würde. Er hatte kein einziges Mal daran gezweifelt. Aber jetzt wusste er, dass Tim das nicht tun würde.
 

Johans Irrtum war schon lustig, aber Marek konnte nicht richtig darüber lachen. Er hatte noch immer Angst vor Johan. Nicht vor Johan als Person, aber vor Johan als Jäger, dem es so leicht gefallen war, Tim zu bekommen. Er wusste nicht, wo er anfangen sollte. Sollte er wegrennen oder sitzen bleiben? Sein Gefühl riet ihm zu ersterem.

Mareks Blicke gingen zur Tür des Bistros hinüber, um dann wieder bei Johan zu landen, der ihn, wer wusste schon wie lange, beobachtete.

Natürlich waren ihm Mareks zögernde Blicke zur Tür nicht entgangen und Johan wartete förmlich nur darauf, dass sein Gegenüber gleich aufspringen und das Bistro verlassen würde. Weit würde Marek wahrscheinlich nicht kommen. Nicht so lange Johan noch seine Hand hielt, was diesem bisher überhaupt nicht aufgefallen war.

Marek merkte, wie sein rasender Puls wieder langsamer wurde. Was für eine dumme Idee, abhauen zu wollen. Selbst wenn er sich die Blöße gab, was kam danach? Er konnte ja wohl kaum heimgehen und so tun, als wüsste er von nichts. Nichts von Johan. Nichts von Tim und Johan...

Marek griff nach dem Glas, mit dem sicher schon warmen Tonic Water – und hielt inne.

"Zu spät", kommentierte Johan Mareks erschrockene Blicke, die zuerst auf ihren Händen verharrten, die einander hielten, und dann zu Johans Gesicht hoch fuhren.
 

Genau dieser Ausdruck in Mareks Augen war es, der Johan nach Mareks Hand hatte greifen lassen. Es war, als griff er in ein Wespennest. Er hatte jede Sekunde damit gerechnet, dass das Wilde, das in Mareks Augen wie fast erloschene Flammen in einem Stück Kohle glühten, durchschlug. Ein Windstoß würde ausreichen, um die schlummernde Glut wieder aufflammen zu lassen.

Mareks Mundwinkel zuckten, aber er blieb stumm.

Johan wartete. Es war nicht mehr die plötzliche Wut, die er noch vor zwei Stunden in Mareks Gesicht gesehen hatte, als sie sich auf dem Parkplatz des Altenheims gegenüber gestanden hatten und Marek wohl in ihm den Rivalen um Tim zu erkennen gedacht hatte. Da hätte er es nie gewagt, Mareks Hand zu ergreifen.

Jetzt war etwas viel Subtileres in Mareks Mimik, als ihm bewusst geworden war, dass Johan seine Hand hielt. Es schimmerte wie bleiche Kieselsteine am Boden eines ruhigen Flussbetts. Der Blick darauf war zwar etwas verschwommen, aber man konnte ihre Formen trotzdem gut erkennen und wusste, dass es Steine waren.

Johan konnte nicht anders. Es hatte nichts mit Triumph zu tun oder damit, wer als Sieger hier rausging. Wie die ruhige und glatte Wasseroberfläche dazu verleitete, durchbrochen und in Bewegung versetzt zu werden, reizte es Johan, das, was er in Marek zu sehen meinte, entweder weiter still aus der Ferne zu beobachten und die Steine Steine sein zu lassen, oder die Wasseroberfläche in Aufruhr zu versetzen und sich von den Strömungen mitreißen und in tausend Stücke zerreißen zu lassen.

Und in diesem Augenblick konnte er sich gerade nichts schöneres vorstellen, als in tausend Stücke zerrissen zu werden.
 

Johan sog den Atem tief ein. Seine Lungen füllten sich gierig mit Sauerstoff, als wäre er kurz vor dem Ertrinken. Mareks verschwitzter Körper unter ihm schien ihm zu entgleiten und Johan packte fester zu.

Mareks Hände in seinem Nacken zogen Johan hinunter, bis er sein eigenes Spiegelbild in Mareks dunklen Augen sah und sich ihre Münder berührten.

"Hast du immer noch Angst vor mir?" Johan spürte Mareks Lächeln auf seinen eigenen Lippen. "Dann ist ja gut."
 

Johan fiel rückwärts auf sein Bett und verharrte einen Moment so, ohne etwas zu tun, außer an die Decke zu starren.

Das Schlafzimmerfenster stand offen und draußen rauschte der Regen vom Himmel. Kurz bevor Marek gegangen war, hatte der Regen eingesetzt. Die Luft, die durch das Fenster wehte, war kühl und Johan dachte kurz darüber nach, die Decke über sich zu ziehen.

Das erste Mal störte ihn die Stille in seiner Wohnung. Sie drückte in seinen Ohren wie nach einem zu langen Tauchgang.

Johan sah zu den Blumen hinüber, von denen nur die Schemen zu erkennen waren. Es waren Calla, wie er jetzt wusste. Marek hatte ihm das gesagt, während er sie an einen anderen Platz gestellt hatte.

Ohne hinzuschauen, tastete Johan im lichter werdenden Halbdunkel nach seinen Zigaretten auf dem Nachtschrank. Ein kalter Luftzug verwirbelte den aufsteigenden Rauch aus dem glimmenden Tabakröllchen und Johan bekam eine Gänsehaut. Mit jedem Zug erhellte das orange Glimmen der Zigarettenspitze seine Hand.

Eigentlich hatte er nicht erwartet, mit jemand anderem als Tim hier in seinem Bett zu landen. Marek war überhaupt nicht vorgesehen gewesen. Und er war auch nicht in tausend Stücke zerrissen worden, obwohl die letzten Tage voller Bruchstücke gewesen waren. Tim und er. Tim und Marek. Er und Marek. Auf jedes einzelne Puzzleteil war ein neues gefolgt. Und trotzdem fühlte es sich an, als wäre endlich alles an seinen richtigen Platz gerückt.

Johan drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. Er faltete die Hände auf dem Bauch und sah dem Tag zu, wie er vor dem Fenster langsam anbrach.
 

Er wusste nicht, wie lange er schon auf dem Hof stand und nahezu bewegungslos aus der Frontscheibe des Leichenwagens starrte. Es war immer heller geworden und irgendwann hatten die ersten Vögel zu zwitschern angefangen. Die Luft war kalt und feucht vom Regen, der auf das Autodach trommelte. In zwei Stunden würde seine Tante den Laden öffnen. Ein normaler Tag für sie - für Marek, Tim und Johan nicht.

Gestern Abend noch hatte er sich davor gefürchtet, nach Hause in eine leere Wohnung zu kommen. Dann war Johan aufgetaucht und hatte ihm, ohne es direkt auszusprechen, die Wahl gelassen, nach dem Besuch im Bistro mit zu ihm zu fahren, oder nach Hause in die leere Wohnung. Natürlich war Marek mit Johan mitgefahren.

Und jetzt saß er hier, schaute dem Tag zu, der den Regen zu durchbrechen versuchte, und dachte über Rotkäppchen, den Jäger und den Wolf nach. Das war wohl das erste Mal, seit Erzählen der Geschichte, dass der Wolf mit dem Leben davon gekommen war, obwohl er den Jäger getroffen hatte.

Marek lachte leise.

Tim und sein verdammtes Rotkäppchen.

Und die verdammten Schnüre, die sich gerade am Verheddern waren.

Müde strich sich Marek über die Augen.

Esther hatte gesagt, dass Tim sich vor dem Tod fürchtete. Bei Marek war er ständig damit konfrontiert gewesen. Und bei Johan auch. Und er war geblieben. Bei Marek und bei Johan.

Tim war wohl der einzige, der – vermutlich unbewusst – den Zusammenhang gesehen hatte. Bis jetzt. Marek hatte eine erste Ahnung davon bekommen, als er vor dem Kleiderschrank gestanden hatte. Es hatte nichts darin gefehlt. Und mit Johan hatte er jetzt die Bestätigung, dass Tim nicht nach etwas gesucht hatte, das besser war, als das, was er bereits hatte. Er wollte nichts austauschen, er hatte nur ergänzt.

Marek drehte den Zündschlüssel im Schloss um.
 

"Guten Morgen", begrüßte ihn Tims Mutter fröhlich an der Haustür.

"Ist Tim da?" Marek musste jedes der drei Wörter aus sich heraus zwingen, zu groß war die Angst, dass Tims Mutter ihm sagen könnte, er wolle nicht mehr mit ihm reden oder ihn sehen.

"Er ist nicht da", war dann auch prompt die Antwort, die Marek kurz zusammenzucken ließ. "Er ist schon vor einer Stunde mit Feli spazieren gegangen."

"Wirklich?" Marek kratzte sich am Hinterkopf.

"Kaum zu glauben, was?" Tims Mutter lachte. "Er wollte zum Ostpark."

Es war wirklich kaum zu glauben. Tim ging normalerweise nie freiwillig mit der Ratte spazieren, wie er den winzigen Hund ständig nannte.

"Danke, ich schau mal, ob ich ihn treffe." Marek nickte Tims Mutter schnell zu und hastete wieder zu seinem Auto.
 

Der Hund war der erste, der Marek schon von Weitem sah, als er auf sie zugerannt kam.

"Komm schon!" Tim zerrte an Felis Leine, die stehengeblieben war und kläffte. Ohne weiter auf den Hund zu achten ging Tim weiter. Das Display seines Handys war voller Regen. Unter den Wasserperlen war der Text kaum noch zu lesen, aber Tim kannte ihn mittlerweile auswendig. Johan hatte ihm irgendwann gestern Abend geschrieben und ihr Treffen abgesagt. Und eben schrieb er, dass er gestern Tims rotes T-Shirt getragen hatte.

Er dachte jetzt schon eine Weile über den Sinn der Nachricht nach, aber er kam einfach nicht dahinter, was Johan damit meinte.

Marek musste mit gesenktem Kopf gegen den Regen rennen, der ihm dennoch heftig ins Gesicht prasselte. Er trug nur ein T-Shirt, das mittlerweile völlig durchnässt war. Ebenso wie seine Schuhe, in denen das Regenwasser stand, das mit jedem Schritt hochspritzte. Seine nassen Hosenbeine klebten kalt an ihm und Marek war sich sicher, morgen krank im Bett zu liegen.

Feli, die sich schon zum zwanzigsten Mal zu ihm umgedreht hatte, kläffte ohne Unterlass.

Nur Tim schien das wenig zu stören. Er hatte sich noch kein einziges Mal umgedreht, um zu sehen, weshalb der Hund so außer sich war. Er hatte die Kapuze über den Kopf gezogen und ging mit gesenktem Blick, ohne auf seine Umgebung zu achten.

Marek fiel fast über Feli, die versuchte, an ihm hochzuspringen. Er bekam gerade noch Tims Arm zu fassen, sonst hätte es ihn mitten im Park in die Regenpfützen gehauen.

Tim erschrak, als er unvermittelt nach hinten gerissen wurde. Ehe er realisieren konnte, was vorging, wurde er geküsst. Und dann erkannte er Marek, dem das Regenwasser aus den Haaren lief. Er schmeckte Mareks regennasse Lippen auf seinen und dann schmeckte er noch etwas anderes als nur den Regen. Er schmeckte Salz.

Er hatte Marek noch nie weinen gesehen. Tat er jetzt genau genommen auch nicht, weil Mareks Gesicht regenüberströmt war und man nicht unterscheiden konnte, was Regen und was Tränen waren.

Augenblicklich fühlte sich Tim schlecht.

"Hey", sagte Marek leise und lächelte zögerlich.

Tim schüttelte den Kopf. Er hob seine freie Hand und strich Marek die tropfenden Haarsträhnen aus der Stirn. "Du bist nass", war alles, was ihm einfiel.
 

Mareks Herz schlug ihm bis zum Hals. Die ganze Fahrt über, bis sie schließlich vor Tims Elternhaus standen, hatte er kein einziges Wort herausgebracht.

Tim saß neben ihm und hielt Felis Leine in den Händen, während der Hund im Heck des Leichenwagens umher raste, als befände er sich auf einer Rennbahn.

Regenbäche verschleierten den Blick nach draußen und langsam kondensierte ihr Atem auf den Scheiben.

Er wollte Tim fragen, ob er wieder mit zu ihm komme, aber er erinnerte sich noch zu gut an die Antwort, die er beim letzten Mal bekommen hatte.

"Ich bringe noch schnell den Hund rein", kam ihm Tim zuvor und Marek hätte ihn am liebsten in die Arme genommen und die nächsten paar Tage nicht mehr losgelassen.
 

Marek und Tim saßen sich am Küchentisch in Mareks Wohnung gegenüber, als wären sie bei ihrem ersten Date.

Marek hatte kurzerhand etwas zu Essen kommen lassen, damit sie nicht erst noch einkaufen mussten. Er hatte Tim etwas zu sagen und der ihm vermutlich auch.

"Schönen Gruß von deiner Oma soll ich dir ausrichten."

Tim horchte perplex auf. "Du hast sie besucht?"

Marek nickte mit aufeinander gepressten Lippen. Nervös drehte er die Gabel in seiner Hand, so dass die Spaghetti, die er gerade erst um die Zinken gewickelt hatte, wieder in den See aus Sahnesoße auf seinem Teller plumpsten.

Tim war schon fertig mit Essen, obwohl er kaum etwas heruntergebracht hatte.

"Mir ist gestern dein rotes Ramones-Shirt über den Weg gelaufen." Marek machte eine kurze Pause, damit das Gesagte einen Moment auf Tim wirken konnte, der Marek mit offenstehendem Mund ansah. "Mit Johan darin", beendete Marek seine Neuigkeit.

Tim wurde schwindelig. Jetzt machte Johans letzte Nachricht Sinn.

"Wir waren was trinken", setzte Marek fort und überlegte, ob er Tim, dem alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war, ein Glas Wasser holen sollte.

Hinter Tims Stirn arbeitete es auf Hochtouren. Marek besuchte seine Oma, traf Johan und zusammen gingen sie was trinken? War er in einem Paralleluniversum?

Tim zuliebe schwieg sich Marek über den Rest der Nacht aus.

"Und jetzt?", krächzte Tim heiser. "Soll ich mein Zeug packen?"

"Wie kommst du denn darauf?" Marek war sichtlich schockiert.

"Na ja, nur so - wegen Johan?"

Marek dachte nach. "Dann müsste ich wohl auch mein Zeug packen", sagte er mit belegter Stimme und hoffte, dass Tim verstand, worauf er hinaus wollte.

Tim verstand sofort. Er hätte auch etwas dazu gesagt, wenn nicht in diesem Moment sein Handy geklingelt hätte. Johan zeigte das Display an.

Tim biss sich auf die Lippe. Er wusste nicht, was für ein Spiel das werden sollte, und er wusste erst recht nicht, ob er der einzige von ihnen war, der keine Ahnung hatte. Sein Finger wischte über das Display und gleich darauf hörte er Johans Stimme.

"Bist du unterwegs?"

Tim versetzte es einen Schlag in den Magen, wie normal Johan mit ihm plauderte. Als wäre nichts geschehen.

"Nein", sagte Tim schließlich. "Ich bin bei Marek." Er erwartete fast, dass Johan enttäuscht war, aber der sagte nur leise Gut.

"Ich bin in fünf Minuten bei euch."

Schneller, als Tim nachfragen konnte, warum, hatte Johan aufgelegt. Als ob es nicht hätte schlimmer kommen können, dachte er. Jetzt musste er Johans Besuch nur noch Marek klarmachen.

Marek sah von seinem eigenen Handy auf, als Tim zu reden anfing.

"Johan kommt vorbei", sagte Tim so leise, dass Marek, der einen halben Meter vor ihm saß, es kaum verstand.

Ich weiß, wäre es Marek beinahe rausgerutscht. Er sah auf sein Handy hinab, auf dem noch Johans Nachricht angezeigt wurde, die in der Sekunde bei ihm angekommen war, als Johan Tim angerufen hatte.

Tim sprang fast von seinem Sitzplatz auf. Wie konnte Marek nur so ruhig bleiben, wenn Johan seinen Besuch ankündigte? Als wäre es das normalste auf der Welt!

Mit zitternden Händen räumte Tim den Tisch ab. Er sah zur Uhr am Backofen und versuchte sich daran zu erinnern, wann die fünf Minuten vorbei sein mussten, die Johan ihnen gegeben hatte. Sein Hals war ausgedörrt wie nach einem Tagesmarsch durch die Sahara.

Endlich klingelte es an der Haustür. Tim war erleichtert und aufgeregt zugleich.

Marek öffnete und dann hörte er auch schon Johans Schritte auf der Treppe.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Vielen Dank fürs Lesen, Kommentieren und Favorisieren. :D Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück