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Kamigami ga waku waku da yo!

One Shot Sammlung Part II
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Wir entschuldigen uns, dass du so lange auf eine neue Geschichte warten musstest. Wie immer wünsche ich dir aber viel Spaß mit dem nächsten Pair, an welchem ich mich versuchen durfte. :) Komplett anzeigen

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Glaube (Bookshipping)

Es war einer dieser Tage: gespickt mit strengem Unterricht. Draußen lockte das herrliche Wetter an diesem frühen Nachmittag. Nachvollziehbar, dass sie ihre Zeit lieber im sommerlichen Sonnenschein verbracht hätten, doch Thoth ließ sich von den müden Gesichtern seiner Götterschüler nicht erbarmen. Unbeirrt setzte er seine Lehren fort und füllte auch das letzte Stück der weiten Tafel mit weißer Kreideschrift.

„Kurzum“, schloss er seinen monologen Vortrag und setzte den Aufzeichnungen ein Ende, „Menschen und Götter unterscheiden sich. Ihre Diskrepanzen sind fundamentaler Natur. Über die Jahrtausende sind nur wenige Eigenschaften verblieben, die eine Verbindungsbrücke zwischen ihnen stemmen.“

Von allen Seiten war das kratzende Geräusch von Schreibfedern auf Papier zu hören.

Yui sah von ihrem Notizheft auf. Zum unzähligen Male, seit sie dazu gezwungen war, am Unterricht dieser Götterschule teilzunehmen, ließ sie ihren Blick durch die Bänke schweifen. Und wie immer fühlte sie sich unbehaglich dabei.

Der Unterrichtsstoff, den sie vorgesetzt bekamen, war für sie äußerst befremdlich. Anstelle von Mathematik und Sprache standen Anatomie und Denkwesen als zwei der Hauptfächer auf dem Stundenplan. Nicht selten musste sich Yui Themen stellen, die ihr als einzige menschliche Vertreterin höchst unangenehm bis peinlich waren. Doch jeder anwesende Schüler schrieb brav und gewissenhaft mit, was Thoth sie lehrte. Alles, ausnahmslos alles, was er ihnen vortrug.

Das heutige Kernthema lautete »Entstehung der menschlichen Eigenschaften«. Nun, wenn man Thoths Unterricht so verfolgte, könnte es genauso gut den Titel »Ignoranz, Hochmut und Idiotie des verblendeten Menschenpacks« tragen. Zumindest wurde Yui das unweigerliche Gefühl nicht los, dass die Ausführungen ihres Lehrers durchgängig mit einer negativen Gegenüberstellung behaftet waren. Ganz unterschwellig, selbstverständlich.

Die Götter, zumindest einige von ihnen, machten sich fleißig Notizen. Und auch die Geistschüler waren über ihre Hefte gebeugt und schrieben eifrig mit. Yui fragte sich nicht zum ersten Mal, ob die Informationen, die sie im Unterricht aufnahmen, auch nur im Ansatz nützlich für sie waren. Streng genommen zählten sie weder zu den Vertretern der Götter noch der Menschen. Ob sie überhaupt je darüber nachdachten, was sie waren und warum sie hieran teilnahmen?

„Zum Abschluss des heutigen Unterrichts werde ich Aufgaben zum besprochenen Thema verteilen. Ihr werdet sie in Gruppen lösen und zu einem Aufsatz zusammenfassen.“

Ein lautes Murren ging durch den Klassenraum. Yui registrierte einen leichten Luftzug, als ein kleiner weißer Papierflieger knapp über sie hinwegzog. Er unternahm eine Bruchlandung gegen den blonden Schopf des Schülervorsitzenden vor ihr, was Apollon erschrocken hochfahren ließ. In seiner hektischen Bewegung fegte er einmal über die rechte Hälfte seines Pults, woraufhin sich seine Schreibutensilien klappernd über den Erdboden verteilten.

„Es stehen folgende drei Themen zur Auswahl: Glaube, Nächstenliebe und Vergebung. Je eine Gruppe wird ein Thema gemeinsam ausarbeiten. Gruppe Eins: Apollon Agana Belea, Hades Aidoneus, Dionysos Thyrsos. Gruppe Zwei: Baldr Hringhorni, Loki Laevatein, Thor Megingjard. Gruppe Drei: Totsuka Tsukito, Totsuka Takeru, Kusanagi Yui.“

„Wie unfair!“, plärrte Apollon vom Boden aus. Noch immer war er dabei, seine Habseligkeiten zwischen den Stuhl- und Tischbeinen aufzusammeln. „Ich möchte auch mit Yousei-san in einer Gruppe sein. Wieso dürfen immer nur Tsuki-Tsuki und Take-Take mit ihr zusammenarbeiten? Ich finde das nicht fair, gar nicht fair!“

„Idiot“, schnaubte Takeru von der hintersten Reihe aus. Genervt ließ er sich nach vorn fallen und lehnte das Kinn in die Handinnenfläche seines aufgestützten Arms. „Ihr seid alle zu dritt hergekommen, Anii und ich sind aber nur zu zweit. Sie muss zu uns, anders geht die Rechnung für Gruppenarbeiten nicht auf.“

„Da muss ich dir entschieden widersprechen“, leistete Baldr ihm mit gleichbleibender Stimme Widerspruch. „Ihr mögt nur zu zweit sein, aber das rechtfertigt nicht, dass Yui-san immerzu den Lückenbüßer für euch spielen muss. Sie eingerechnet, entsprechen wir je drei aus drei verschiedenen Mythologien. Die Rechnung würde ebenfalls aufgehen, wenn man die Mythologien im fairen Verhältnis miteinander vermischen würde, statt sie zu trennen“, erklärte er ruhig, ohne dem Meeresgott auch nur einen Blick über die Schulter zu widmen.

„Ja, genau!“, bekräftigte Apollon diese These.

„Was macht das schon aus?“, fragte Thor wenig interessiert.

Daraufhin streckte sich Dionysos vor ihm und gähnte ungeniert. „Leute, ich will nach Hause. Stimmt doch einfach ab und lasst uns endlich gehen.“

„Ja, ganz genau! Dee-Dee hat recht, lasst uns abstimmen! Ich bin für eine neue Gruppenzusammenstellung. Ich wäre dann gern mit Yousei-san und Loki-Loki in einem Team, wäre ich sehr gern!“

„Dagegen“, widersprach Baldr.

„Ehm, Leute …?“

„Sei nicht so ein Kindskopf! Sie gehört dir nicht!“

„Moah, ich will einfach nur nach Hause …“

„Kihihi.“

Ein lauter Knall aus dem vorderen Bereich des Klassenzimmers bereitete der ausschweifenden Diskussion ein jähes Ende. Von der eingedrückten Delle zogen sich feine Risse durch die sonst glatte Tafeloberfläche. Noch immer stemmte Thoth mit seinem ausgestreckten Arm dagegen, hielt den Kopf gesenkt und rang um Fassung.

„Die Gruppen bleiben so“, erklärte er hörbar unterkühlt, wobei seine tiefe Stimme im Kampf um die Selbstbeherrschung zitterte. „Wer damit ein Problem hat, hat Pech. Ich diskutiere nicht. Und jetzt sucht euch endlich euer Thema aus, sonst tu ich es!“

Es wurde daraufhin totenstill im Klassenzimmer. Apollon war der Einzige, der es schlussendlich wagte, ein letztes Murren auszustoßen. „Na schön. Dann nehme ich für meine Gruppe das Thema »Nächstenliebe«.“

„Eh?“, horchte Baldr auf und schob im selben Moment seinen Stuhl zurück. Der Protest blieb ihm regelrecht im Halse stecken, als ihn die negativen Schwingungen erreichten, die ohne jede Frage von Thoth ausgingen. Sie jagten einen kühlen Schauer seinen Rücken hinab.

Der nordische Lichtgott schluckte, ließ sich anstandslos auf seinen Platz zurücksinken und lächelte unbeholfen. „In dem Fall übernehmen wir das Thema »Vergebung«“, sagte er knapp.

‚Dann bleibt für unsere Gruppe wohl »Glaube« übrig‘, dachte Yui im Stillen. Zwei Reihen weiter nach rechts war Takerus leises, abfälliges „Tze“ zu hören.

 

Wenig später war der Unterricht als beendet erklärt. Keine fünf Sekunden später hatte Thoth auch schon seine Unterlagen zusammengepackt und das Klassenzimmer verlassen. Damit waren die Götter wieder unter sich.

„Können wir jetzt gehen?“, eröffnete Dionysos die Runde.

„Ich finde es wirklich nicht nett von dir, dass du dir einfach ein Thema geschnappt hast, ohne uns anderen zuvor zu fragen“, erklärte Baldr an Apollon gewandt. Wie immer klang seine Stimme ruhig dabei, doch er schenkte dem griechischen Sonnengott einen vorwurfsvollen Blick.

„Bist du deswegen jetzt böse, Baru-Baru?“, fragte er unschuldig. Binnen weniger Schritte war er zu Baldr herübergeeilt und bezog vor dessen Pult Stellung. „Sei bitte nicht böse“, bat er aufrichtig, wobei er ein betretenes Gesicht aufsetzte. „Ich hab’s nicht so gemeint, ja? Ich dachte nur, es sei okay, weil niemand etwas gesagt hat. Und wir wollten doch alle sobald es geht nach Hause. Ich habe es wirklich nicht böse gemeint, habe ich wirklich nicht.“

‚Es hat nur niemand etwas gesagt, weil Thoth-sama eine mörderische Aura durch das ganze Klassenzimmer geschickt hat‘, dachte Yui still. Ein Blick in die Runde bestätigte ihr, dass jeder ihrer Freunde exakt dasselbe dachte wie sie. 

Baldr seufzte nur schwer und winkte ab.

„Aber »Vergebung« ist doch auch ein tolles Thema“, versuchte Yui ihn zu überzeugen und lächelte aufmunternd.

Baldr drehte den Kopf in ihre Richtung. Als er ihrem Blick begegnete, lächelte er schwach. „Mag sein, aber ich hätte mich dennoch lieber mit »Nächstenliebe« befasst. Es passt sehr viel besser in unsere Gruppe als in die griechische.“

„Eeeh, was redest du denn da, Baru-Baru? Es passt sehr viel besser in unsere Gruppe! Bei uns zu Hause wird »Nächstenliebe« großgeschrieben, wird es! Wir können es von allen am allerbesten repräsentieren. Nicht wahr, Dee-Dee, Onkel Hades?“

„Vorsicht“, schnurrte Loki aus den hinteren Reihen und wickelte sich verspielt eine seiner langen roten Haarsträhnen um den Finger. „Wenn ein Grieche von Nächstenliebe spricht, könnte man das missverstehen. Ihr Griechen seid bekannt für eure »Nächstenliebe«, selbst bis zu uns. Aber unser kleiner, naiver Ahollon weiß vermutlich nicht einmal, was damit gemeint ist, hihi.“

„Loki!“, empörte sich Takeru von seinem Platz hinter Loki aus. Teils entsetzt, teils peinlich berührt stand ihm die Schamesröte im Gesicht. Im selben Moment wagte Hades aus den vorderen Sitzreihen ein leise protestierendes „Hey“.

„Was meinst du denn damit, Loki-Loki?“

Dionysos seufzte nur. Er ließ das Gesagte unkommentiert und hob die Arme unter einem teilnahmslosen Schulterzucken zur Seite.

„Hey, Anii! Schreib das nicht auf!“

„Kihihi.“ Loki genoss seinen kleinen Ruhm sichtlich und kicherte ausgelassen vor sich hin.

„Aber wisst ihr, was ich wirklich unfair finde?“ Ohne Vorwarnung schwenkte Dionysos mit seiner Frage im Thema um. Alle Augen richteten sich auf ihn und er deutete mit dem Daumen auf die übrigen, nichtgöttlichen Schüler. „Immer sind wir diejenigen, die irgendwelche zusätzlichen Aufgaben aufgehalst bekommen. Während für sie alles entspannt ist und sie sich direkt nach Unterrichtschluss vergnügen können, müssen wir uns noch mit Hausaufgaben und Lernstress abmühen. Oder bin ich der Einzige, der das so sieht?“

Daraufhin wurde es still in der Runde.

„Wie dem auch sei.“ Loki streckte sich einmal ausgiebig auf seinem Platz. Anschließend schob er seinen Stuhl zurück und erhob sich. „Zeit für die Clubaktivitäten. Thor-chin, kommst du?“

„Hey, und was ist mit unserer Ausarbeitung für den Aufsatz?“, rief Baldr den beiden Freunden nach. Er erhob sich ebenfalls, als sie drohten, durch die Tür nach draußen auf den Flur zu verschwinden.

„Oh, das hat doch noch Zeit. Aber ehrlich gestanden, habe ich gar keine Lust auf Hausaufgaben“, erklärte Loki unberührt und warf einen Blick über die Schulter auf Baldr zurück.

„Loki!“

„Ich muss ihm ausnahmsweise recht geben.“

„Takeru-san?“, stieß Yui aus. Sie traute ihren Ohren kaum.

Takeru indes tat es Loki gleich, erhob sich von seinem Platz und warf sich die Schultasche über die Schulter. „Sorry, Zassou, aber ich bin raus. Bei so ‘nem Scheiß mache ich nicht mit. Rechne nicht mit meiner Hilfe.“

„Was? Aber, Takeru-san!“ Sie stolperte beinahe, als sie an seine Seite eilte, und ergriff seine Hand flehend mit beiden Händen. „Was ist denn los? Wieso magst du denn nicht mitmachen? Es geht sehr viel schneller, wenn wir drei zusammenarbeiten, und macht auch sehr viel mehr Spa… –“

„Ich mach‘ nicht mit!“, fuhr er wütend zu ihr herum und entriss ihr seine Hand in nur einem kräftigen Ruck. „War ich nicht deutlich genug? Habt doch euren »Spaß« allein! Ich werde nicht mitmachen und dabei bleibt es!“

Nicht die Tatsache, dass die übrig verbliebenen Götter auf Takerus Aufbrausen hin an Yuis Seite eilten, sondern vielmehr ihr verletzter Ausdruck in den Augen war es, der Takeru wieder zur Besinnung brachte. Wütend über sich selbst ballte er die Hand zur Faust und biss sich auf die Unterlippe.

Schnell wandte er den Blick zur Seite ab, ehe er sich von dem Mädchen wegdrehte. „Tze. »Glaube«, was?“, zischte er mit einer Abscheu in der Stimme, die Yui einen Stich versetzte. „Soll ich etwa lügen? Ist das nicht erst der Grund, warum wir hier … Sorry, aber vergiss es!“ Damit stürmte er regelrecht aus dem Klassenraum und ignorierte den sorgenvollen Blick, den Yui ihm nachwarf.

 

„Was hat Takeru-san nur?“ Zum wiederholten Male stellte sich Yui diese Frage, aber eine Antwort bekam sie nie. Sie hatte eine vage Vermutung, doch so recht wollte sie diese nicht zulassen. Das wäre einfach zu traurig.

„Totsuka Takeru hat recht“, sprach Tsukito an ihrer Seite, was sie aufblicken ließ. Gemeinsam suchten sie in der großen Schulbibliothek nach Lektüre, die ihnen bei ihrem Thema weiterhelfen könnte. Ein paar erste Exemplare hatten sie bereits gefunden, doch wie viel sie daraus für ihren Aufsatz verwenden könnten, bliebe noch herauszufinden.

„Was meinst du, Tsukito-san?“

„Als wir an diesen Ort gekommen sind, hat uns Keraunos Zeus erklärt, dass wir entweder hier sind, weil die Menschen den Glauben an uns oder wir den Glauben an sie verloren haben. Er hat gesagt, wir sind hier, um über das menschliche Herz zu lernen, damit diese besondere Verbindung zwischen Göttern und Menschen wieder stabilisiert wird. Wir können diesen Ort erst verlassen, wenn wir uns unserer obersten Aufgabe als Götter wieder bewusst geworden sind, weswegen es notwendig ist, seine Schule zu absolvieren“, schloss er.

Nachdenklich ließ Yui den Kopf hängen. Sie erinnerte sich, dass Zeus etwas Ähnliches zu ihr gesagt hatte. Ihr war noch immer nicht ganz klar, wieso, aber er war davon überzeugt gewesen, dass sie die Götter über Menschen und Liebe lehren würde. Er hatte ihr auch gesagt, dass die Götter, mit denen sie hier an dieser Schule war, jene Vertreter ihrer Mythologie waren, die am meisten Schwierigkeiten mit ihrer Verbindung zu den Menschen hatten. Aber was genau das Problem jedes Einzelnen war, darüber wusste sie bis heute nichts.

‚Und was ist eigentlich mit mir?‘, stellte sie sich leise diese Frage, über die sie bisher kaum nachgedacht hatte. Ja, sie hatte als Tochter eines Shinto-Priesters immer eine enge Verbindung zu den Göttern gehabt und glaubte natürlich an sie. Aber wie viel wusste sie? Als sie auf Hades, Loki und Baldr getroffen war, hätte sie bei ihren Namen eigentlich sofort stutzig werden müssen. Doch dem war nicht so gewesen. Sie hatte sie nicht als Götter anderer Mythologien erkannt.

‚Und jemand wie ich soll den Göttern etwas lehren?‘ Sie stieß ein schweres Seufzen aus. Wie sollte sie unter diesen Voraussetzungen nur einen glaubhaften Vortrag zu dem Thema »Glaube« abhalten?

„Aber es gibt doch Menschen, die an euch glauben“, tat sie ihre Gedanken kund. Ihr Blick richtete sich nachdenklich an den Mondgott. „Ihr beide, sowohl Takeru-san als auch du … ich meine, Susanoo-san und Tsukiyomi-san … ihr seid beide unter den Menschen in meiner Heimat bekannt und werdet verehrt. Es gibt Schreine und Gebete. Die Menschen glauben an euch! … Oder, denkst du …?“

Tsukito hielt in seinem Tun inne. Für einen Moment glaubte Yui, dass der Mondgott tatsächlich nachzudenken schien.

„Ich weiß es nicht.“ Eine Pause kehrte ein, bevor er ergänzte: „Ob Menschen an Götter glauben oder Götter an Menschen. Ob Menschen ihren Glauben verloren haben oder Götter den ihren. Ich weiß es nicht.“

 

Sie hatten schließlich einige Bücher zusammengetragen und direkt damit begonnen, sie auf hilfreiche Informationen zu studieren. Tsukito hatte direkt mit dem ersten Buch begonnen, Aufzeichnungen zu machen, was Yui im ersten Moment erstaunt hatte. Ein kurzer Blick an seinen Arm vorbei zeigte ihr jedoch, dass er lediglich alle Passagen Wort um Wort abschrieb, die etwas mit dem Begriff »Glaube« zu tun hatten. Nicht wirklich das, wonach sie suchten, aber sie erkannte ihm immerhin an, dass er so bestrebt war.

Bis zum Abend ließ sich Takeru nicht bei ihnen blicken. Im Stillen hatte Yui noch gehofft, dass der Meeresgott es sich noch einmal anders überlegen würde, sobald sein Gemüt etwas heruntergekühlt war, doch dem war nicht so. Vom Fenster aus beobachtete sie, wie ihr Mitschüler pünktlich zu seiner abendlichen Laufrunde angetreten war. Beneidenswert, wie zielstrebig er sein konnte, wenn er etwas nur wirklich wollte. Würde er doch nur denselben Willen dazu aufbringen, sie und die anderen Götter etwas mehr zu unterstützen, um Zeus‘ Schule abzuschließen. Wie gerne wäre sie mit ihm gelaufen …

„Lass uns für heute Schluss machen“, sagte sie schließlich zu Tsukito, wobei sie das letzte Buch zuschlug, welches sie durchforstet hatte. Es hatte wenigstens ein bisschen etwas gebracht. „Ich finde, wir sind heute ganz gut vorangekommen. Wenn wir morgen nochmal alles geben, können wir unseren Aufsatz rechtzeitig bei Thoth-sama abgeben.“

„Ja“, bestätigte er, wobei er sein zuletzt abgearbeitetes Buch zu dem kleinen Stapel vorangegangener legte. Geflissentlich räumte er all seine Unterlagen zusammen, ehe auch er sich erhob und an Yuis Seite gesellte.

„Ähm, Tsukito-san?“, begann sie zögerlich. Es war ihr unangenehm, diese Bitte an ihn zu richten. „Könntest du bitte noch einmal versuchen, mit Takeru-san zu reden? Ich denke, es wäre wirklich wichtig für ihn, an diesem Aufsatz mitzuwirken. Und ich möchte nicht, dass er Ärger bekommt, wenn Thoth-sama erfährt, dass er nicht mitgeholfen hat.“

„In Ordnung.“ Er zeigte ein Nicken. „Was soll ich ihm ausrichten?“

„Ähm, also …“ Sie zögerte. „Sag ihm … ach, nicht so wichtig. Sag ihm einfach das, was ich dir eben gesagt habe, nur mit deinen eigenen Worten vielleicht“, lächelte sie vorsichtig.

„In Ordnung, werde ich machen.“

 

Für den nächsten Tag hatte sich Yui fest vorgenommen, direkt nach dem Unterricht die anderen Götter zu dem Thema »Glaube« zu befragen. Der Gedanke ließ sie einfach nicht mehr los, dass jeder von ihnen verschiedene Ansichten dazu haben könnte. Es schien ihr außerdem praktisch, denn auf die Art würde sie weniger Druck auf Takeru ausüben, von dem sie hoffte, dass er sich doch noch von seinem Bruder überreden ließ.

Doch ihr Plan ging nicht auf. So fest ihr Vorhaben auch gewesen war, sie kam einfach nicht zu einer Verwirklichung, denn wie es schien, hatten ihre Mitschüler exakt denselben Gedanken wie sie gehabt. Statt, dass sie diejenige war, die Fragen stellte, war sie nun diejenige, die Rede und Antwort stehen musste. Es gab Unmengen an Dinge, die die Götter zu den Themen »Nächstenliebe« und »Vergebung« von ihr aus Menschensicht wissen wollten. Ehe sie es sich versah, war sie Mittelpunkt einer Diskussionsrunde geworden, die alles andere als strukturiert und durchdacht war. Von Geduld und Rücksichtnahme ganz zu schweigen.

Da Takeru das laute Durcheinander dazu genutzt hatte, sich ein weiteres Mal klammheimlich aus dem Staub zu machen, blieb für Tsukito nur eine einzige Wahl: Es lag an ihm, ihre Aufgabe zu einem Ziel zu führen. Das war seine Mission, die er zu erfüllen gedachte.

Verantwortungsbewusst machte er sich also auf, in der Schulbibliothek weiteren Nachforschungen nachzugehen. Es dauerte nicht lang, bis er eine erlesene Auswahl an Büchern der verschiedensten Kategorien beisammen hatte, mit denen er sich sogleich an die Arbeit machte. Er las nicht wirklich, was in ihnen stand, und vergeudete keine Zeit, sich mit dem Inhalt näher auseinanderzusetzen. Einige Passagen, die sich mit dem Thema »Glaube« befassten, waren schnell gefunden und er machte sich sogleich daran, sie ordentlich abzuschreiben. Wort um Wort, sodass er nicht Gefahr lief, eine wichtige Botschaft oder ein entscheidendes Detail auszulassen.

Es verging Stunde um Stunde, in denen er in seiner Arbeit vertieft war. Er war so konzentriert, dass er nicht einmal bemerkte, wie Thor ihm einen kurzzeitigen Besuch abstattete. Auch er war auf der Suche nach Informationsmaterial und wo ließ sich dieses besser beschaffen, als in der großen Bibliothek ihres Lehrers? Der nordische Donnergott bemerkte Tsukitos Anwesenheit und sprach ihn wohl auch an, um sich eine Richtung für seine Lektüresuche vorgeben zu lassen. Doch er musste schnell erkennen, dass es keinen Sinn machte, den Mondgott anzusprechen, und verließ die Bibliothek wenig später genauso stillheimlich, wie er gekommen war.

Von alledem bekam Tsukito nichts mit. Buch um Buch wurde abgearbeitet, unentwegt erfüllte das kratzende Geräusch seines Stiftes die hoch reichende Halle und fütterte Seite um Seite seines Notizheftes. Er war unermüdlich und hielt in seinem Tun auch nicht inne, als sich die Tür zur Bibliothek sehr viel später ein weiteres Mal öffnete.

„Anii, hier bist du! Habe ich es mir doch gedacht“, durchschnitt Takerus Stimme die Stille, die durch die hohen Wände gleich sehr viel lauter wirkte. „Kommst du essen? Es ist schon spät.“

Zum ersten Mal, seit Tsukito hier war, blickte er von seiner Arbeit auf. Sein Gesicht war ausdruckslos wie immer, als er zu seinem Bruder hinübersah und kein einziges Wort sprach.

„Mann, ich kann nicht glauben, dass du diesen Mist tatsächlich durchziehst“, rümpfte sich Takeru, während er langsamen Schrittes in den Raum hineintrat, um sich Tsukito anzunähern. Sein Blick ging prüfend an den hohen Buchregalen vorbei, welche sich über mehrere Etagen erstreckten, was ihm nur einen weiteren abfälligen Laut entlockte. „Wo ist das Mädchen? Wollte sie dir nicht bei der Ausarbeitung helfen?“

„Kusanagi Yui wurde aufgehalten“, erklärte er ruhig, ohne die geringste Gefühlsregung in seine Worte zu bemühen.

Takeru brach aus: „Aufgehalten, hm? Tze! War sie es nicht gewesen, die am lautesten gebrüllt hat, dass wir diese Aufgabe von diesem arroganten Typ von Lehrer ernst nehmen sollen? Aufgehalten, von wegen! Du bist der Einzige hier, der sich wirklich um diesen Blödsinn bemüht, Anii.“

Tsukito erwiderte nichts darauf, doch das hielt seinen Bruder nicht davon ab, an seine Seite zu eilen. „Wollen wir auf dem Zimmer essen? Ich habe etwas wirklich ganz Leckeres vorbereitet! Du hast doch sicher Hunger?“

„Hunger? Ich weiß nicht.“

„Komm schon, gehen wir“, forderte Takeru ihn auf, wobei er ungefragt nach Tsukitos Händen griff und ihn so vom Stuhl auf seine Beine zwang. „Es ist sowieso viel zu stickig hier drin. Und du bist wirklich schon den ganzen Tag seit Schulschluss hier? Mach Schluss für heute, auf einen Tag mehr oder weniger kommt‘s auch nicht mehr an. Du überanstrengst dich noch.“

„Aber“, wollte er wohl Widerspruch erheben, kam jedoch nicht dazu, als eine weitere Person zu ihnen stieß und ihm ungeniert ins Wort fiel.

„Huh, sehen meine Augen richtig? Hat es sich da jemand etwa doch noch anders überlegt und ist zu einem netten Jungen mutiert? Ne, Takeru?“, säuselte die Stimme Lokis durch den Raum, die auch ohne seine typisch neckende Bemerkung kaum zu verkennen gewesen wäre.

„Loki! Du, was glaubst du denn?!“, ging Takeru, wie so oft, sofort auf seine kleine Stichelei ein und drehte sich nach dem Schalk um. „Wer hat dich eigentlich nach deiner Meinung gefragt?! Und überhaupt, was machst …“ Mitten im Satz stoppte er und erstarrte für den Moment. Der Schalk hielt etwas auf den Armen, das ihm äußerst bekannt vorkam. Es war klein und weiß, hatte lange Ohren und … „Usamaro?“

„Huh? Ach, der Kleine hatte offensichtlich Sehnsucht nach seiner Mami und dem Papi. Wusstest du, dass Hasen sehr gute Nasen haben?“

„Du …! Lass ihn sofort runter!“

„Oh, jetzt habe ich aber Angst.“

Lokis herablassende Art, mit der er seinen Ernst abtuend belächelte, ließ in Takeru einen Faden reißen. Er stieß ein inbrünstiges Knurren aus und wollte schon auf ihn zusprinten, als eine donnernde Stimme die Halle vereinnahmte: „Ruhe! Ihr werdet nicht auch diesen Ort mit eurem intelligenzbeschränkten und zudem überaus kindischen und schwachsinnigen Herumgeplärre entweihen!“

Die Blicke Takerus und Lokis gingen gleichermaßen in die Ecke, aus welcher die unverkennbare Stimme ihres Lehrers gekommen war. Selbst Tsukito konnte sich dazu aufraffen, zu ihm zu sehen, als Thoth bereits hervorgetreten und auf direktem Wege zu den beiden Störenfrieden war.

„Wenn ihr hier nichts Sinnvolles zu schaffen habt, dann geht wieder“, machte er seinen Standpunkt deutlich und hielt sich auch nicht an, seine Verstimmung vor den Götterschülern zu verbergen.

„Was? Aber ich habe doch gar nichts gemacht! Ich bin nur hier, um Anii –“

„Eeeh? Willst du etwa sagen, dass es meine Schuld ist?“

 „Du! Wegen dir ist es erst –“

„Mich interessieren eure kindischen Ausflüchte nicht!“, schnitt Thoth scharf zwischen die erneute Auseinandersetzung der beiden Streitköpfe. Kurzerhand packte er Takeru am Nackenkragen seiner Uniformsweste und schob ihn unmissverständlich und wenig rücksichtsvoll in Richtung Ausgang. Loki schien diese Haltung sofort zu verstehen: Er machte auf dem Absatz kehrt und ergriff aus freien Stücken die Flucht, nicht ohne noch ein gekichertes „Oh-oh, nicht gut“ zurückzulassen.

Alles Zetern und Murren nützte nichts. Takeru versuchte noch, sich loszureißen und rief nach seinem Bruder aus, doch gegen den engstirnigen Ägypter hatte er keine Chance. Unwillentlich stolperte er vor ihm her und erfuhr einen wortwörtlichen Rausschmiss, bevor sich die Tür zur Bibliothek vor seinen Augen schloss und weitere Störenfriede draußen hielt.

„Hmpf.“ Thoth schenkte dem Ganzen keine weitere Beachtung. Indem er ein abfälliges Schnauben ausstieß, drehte er weg um und heftete seine Aufmerksamkeit schlussendlich an Tsukito, den er beinahe vergessen hätte. Der ruhige Mondgott stand noch immer an seinem Fleck gleich neben dem Stuhl und sah zu ihm herüber, ohne in der gesamten Zeit nur ein einziges Wort zu verlieren.

„Und was machst du eigentlich noch hier?“, schnippte er in seine Richtung. Kurzerhand änderte er seinen Kurs, um auf den letzten Besucher zuzukommen. „Die Zeit für vorgeschriebene Schulaktivitäten und das Besuchen öffentlicher Schuleinrichtungen ist vorbei. Geh auf dein Zimmer!“

„Ich war noch mit dem Aufsatz beschäftigt. Totsuka Takeru wollte mich zum Essen abholen“, listete Tsukito die Fakten auf, ohne sich von der sichtlich schlechten Laune ihres Lehrers beirren zu lassen.

Etwas wie Interesse wurde in Thoth wach. Aufmerksam zog er eine Augenbraue in die Höhe. „So? Scheint, als hätten das Mädchen und der Fehlschlag Besseres zu tun, als dich dabei zu unterstützen, wenn sie dich diese Aufgabe allein erledigen lassen.“

„Kusanagi Yui wurde aufgehalten und Totsuka Takeru erachtet diesen Aufsatz als unnötig.“

„Tch. Lass sehen.“ Er wartete erst gar nicht auf eine Erlaubnis, sondern griff direkt an dem Schüler vorbei und nahm sich dessen Notizbüchlein zur Hand. Der flüchtige Anflug von Anerkennung wich binnen kürzester Zeit von seinem Gesicht. Nur interessenshalber griff er auch nach dem zweiten Heft, welches vor Tsukito auf dem Tisch gelegen hatte, und erkannte Yuis Handschrift darin. Seine Augen flogen kurzweilig über die ersten Zeilen, ehe er das Heft senkte und Tsukito mit einem strengen Blick bedachte. „Ist das euer Ernst?“

Vielleicht ahnte Tsukito bereits, dass er mit ihren bisherigen Bemühungen nicht zufrieden war, so genau wusste Thoth das nicht zu sagen. Es tat auch nichts zur Sache, denn schon knallte er das Heft mit der flachen Hand auf den Tisch.

„Alles, was das Mädchen zustandegebracht hat, sind nichts als verschönlichte Darstellungen und vollkommen fehlgesetzte Wunschvorstellungen einer Utopie von Idealprinzipien, die in keinster Weise unterlegt worden sind!“, wetterte er los. Ihm war egal, wie laut er dabei wurde. Er konzentrierte all seinen Frust und seine Verärgerung auf Tsukito, der in diesem Moment wohl oder übel als Ventil herhalten musste. „Und alles, was du bisher geliefert hast, sind sinnfrei herausgezogene Zitate ohne jeglichen Zusammenhang! Hast du überhaupt verstanden, worum es bei eurem Thema geht? Hast du nur eine Sekunde über das Kernthema und dessen Sinn nachgedacht und deinen eigenen Kopf bemüht?! Dummkopf! Du bist absolut unnütz, zu nichts in der Lage und absolut unfähig, selbst zu denken!“

Inmitten seiner Rage packte er Tsukito am Kragen. Er zog ihn ein Stück an sich heran und zwang ihn auf die Zehenspitzen, um mit dem Japaner auf etwa gleicher Augenhöhe zu sein. „Hast du den Ernst der Lage überhaupt verstanden? Das ist kein Sonntagsausflug, auf dem ihr euch hier befindet!“, zischte er gefährlich. Er zog ihn noch dichter an sich heran und senkte die Stimme. „Wenn du dir nicht bald mehr Mühe gibst und aus deiner kleinen Lethargie aufwachst, wirst du den Absprung nie schaffen. Ich lasse dich und den Rest eures Gesindels einfach durchfallen, wenn es sein muss, ohne mit der Wimper zu zucken. Was dann aus euch wird, soll nicht mein Problem sein!“

Ruckartig ließ er von ihm ab und wandte sich um. Tsukito hatte während seiner gesamten Predigt keine einzige Regung gezeigt. Keine Einsicht, keine Erkenntnis, nicht einmal ein müdes Augenblinzeln. Es war Thoth einerlei, er war mit diesem Holzkopf fertig.

„Sag den anderen beiden, dass eure Aufzeichnungen Mist sind. Damit werdet ihr nicht einmal mit Mittelmäßig abschneiden. Strengt gefälligst eure Köpfe an, die sind nicht nur zum Haare striegeln da! Und jetzt verschwinde!“

 

Das hat er gesagt?“ Yui stieß ein langes Stöhnen aus. Ihr Kopf sank niedergeschlagen auf die Tischplatte.

„Ja.“

Tsukito hatte ihr alles erzählt. Bis ins kleinste Detail hatte er ihr geschildert, was am gestrigen Tag in der Bibliothek alles vorgefallen war. Dabei hatte er auch kein Blatt vor den Mund genommen und Wort für Wort wiedergegeben, was Thoth zu ihm hinsichtlich ihrer Arbeit gesagt hatte. Wie sehr diese Ausführungen das Mädchen deprimieren würden, hatte er natürlich nicht bedacht und auch jetzt nahm er kaum wahr, was er in ihr ausgelöst hatte.

Aber sie war nicht die Einzige.

Thoths Worte gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er wusste nicht, warum, aber es löste ein schwer lastendes Gefühl in ihm aus, wenn er an sie zurückdachte. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass Thoth ihn einen Nichtsnutz geschimpft hatte, und doch hatte es ihn dieses Mal härter getroffen als jemals zuvor. War er wirklich zu nichts in der Lage? War er zu nichts gut? Sollte er der Grund sein, dass ihre Mission scheitern würde? Tsukito konnte nicht aufhören, sich diese Fragen zu stellen.

Wieder und wieder hatte er sich seine Aufzeichnungen angesehen. Es stimmte, er hatte sie nur Wort für Wort aus den Büchern übernommen und verstand ihren Inhalt nicht. Doch er war sich sicher gewesen, dass es das war, was Thoth gesucht und von ihnen erwartet hatte. Konnte er sich so sehr geirrt haben? Hatte er etwas nicht verstanden?

„Erkläre es mir bitte noch einmal“, bat er mit monotoner Stimme, woraufhin das Mädchen den Kopf anhob.

„Eh? Das ist aber ungewöhnlich für dich, Tsukito-san. Ich habe dir bereits alles erzählt, was ich über den Glauben weiß.“

„Erzähle es mit bitte noch einmal“, wiederholte er seine Bitte, wobei er ihr fest in die Augen sah. „Ich möchte es verstehen.“

 

Nach diesem nervenaufreibenden Tag hatte sich Thoth in seine Räumlichkeiten der Schulbibliothek zurückgezogen. Diese nichtsnutzigen Möchtegerne von Göttern würden ihm eines Tages noch den Verstand kosten. Bei einer Tasse aromatischen Kaffee wollte er den späten Nachmittag ruhig ausklingen lassen. Er war nicht wie das übliche Gesöff, das man sonst bevorzugt unter den Menschen konsumierte. Dieser hier war speziell mit schwarzem Kardamom angereichert und gab ihm ein Stück der vermissten Heimat zurück. Wenigstens eine Sache, die er an harten Tagen wie diesen nicht missen wollte.

Er hatte sich eines der vielen Bücher geschnappt, heute aus dem Bereich der Geisteswissenschaft, und ließ sich auf eine der vielen Sitzmöglichkeiten sinken, um den Rest des Abends ungestört im Lesen zu verbringen. Seine Augen verschwanden bereits zwischen den vielen Zeilen, als er ein Geräusch vernahm, das ihm verkündete, dass sein just begonnenes Vorhaben bereits gestört wurde.

„Thoth Caduceus?“

Seine unbewegte Stimme war nicht zu verkennen. Thoth stieß ein leises Zischen zwischen den Zähnen aus, ehe er das Buch zuklappte und sich aus seinem Sitz erhob. Er trat an das Geländer heran, suchte kurz die unterste Etage nach dem Eindringling ab, und tatsächlich: Er erkannte den Dummkopf, ganz ohne Geleit und Gepäck, der gerade in die Bibliothek gekommen war und ganz offensichtlich nach ihm suchte.

„Thoth Caduceus?“

„Für dich immer noch »Sensei«“, machte er sich von seiner Position aus bemerkbar, indem er den Schüler korrigierte. Er drehte sich mit dem Rücken gegen das Geländer, um seinen abweisenden Standpunkt deutlich zu machen. Indem er einen Blick über die Schulter nach unten warf, erkannte er, dass sein unerwünschter Besucher ihn inzwischen bemerkt hatte und ausdruckslos zu ihm hochsah. „Was willst du hier, Dummkopf? Hast du nicht etwas zu tun?“, gab er sich genervt.

„Thoth Caduceus, ich möchte mit dir reden.“

„Tch.“ Thoths rechter Mundwinkel zuckte. „Reden? Worüber willst du mit mir reden?“

„Ich komme zu dir hoch.“

Schweigend beobachtete Thoth, wie Tsukito seine Ankündigung in die Tat umsetzte. Es war ungewöhnlich für den Mondgott, aktiv eine Handlung vorzunehmen, so viel hatte selbst er über ihn gelernt. Doch gemessen an dem, was er bisher von ihm gesehen und erlebt hatte, brachte es selten etwas Gutes, wenn er etwas von sich aus versuchte. Eigentlich nie, korrigierte er sofort. Generell war es selten ein gutes Zeichen, wenn einer seiner Schüler ihn noch nach dem Unterricht aufsuchte, um ihn zu konsultieren. Das brachte nie etwas Sinnvolles zustande. Kurz fragte er sich, ob das Mädchen diesen Dummkopf wohl vorgeschickt hatte, um ihm einen Floh zu präsentieren, den sie ihm ins Ohr gesetzt hatte.

„Ich habe nicht viel Zeit. Fasse dich also kurz“, sagte er klipp und klar, gerade als Tsukito die letzten Stufen erklomm, um den kurzen Gang an ihn heranzutreten.

„Ich habe eine Frage.“

„Ja, das dachte ich mir schon.“

„Thoth Caduceus, »glaubst« du?“

„Wie bitte?“ Thoths Augenbrauen zogen sich zusammen. Hatte er sich da gerade verhört?

„Thoth Caduceus, »glaubst« du?“

„Ich habe deine Frage schon verstanden!“, machte er deutlich, wobei er die Stimme erhob. Er zwang sich schon im nächsten Moment unter Kontrolle, stieß sich vom Geländer weg und richtete sich vor dem Schüler in eine gerade Haltung auf. In einer distanzierten Geste verschränkte er die Arme vor dem Körper, fixierte den jungen Gott jedoch mit festem Blick. „Wozu willst du das wissen? Ich denke nicht, dass dir meine Antwort in irgendeiner Weise in deinem Aufsatz weiterhelfen wird.“

„Ich möchte nur wissen, ob du »glaubst«.“

Thoth stieß ein langes Stöhnen aus. Auf die Art würde er mit dem Dummkopf nicht weiterkommen. Er war ja nicht einmal dazu in der Lage, selbst zu verstehen, was er eigentlich von ihm wollte.

„Spezifiziere deine Frage“, sagte er daher. „Wie vielleicht sogar du inzwischen mitbekommen hast, gibt es verschiedene Definitionen von »glauben«.“

Tsukito wurde daraufhin ruhig. Wie Thoth es befürchtet hatte. Dieser Hohlkopf war nicht zum eigenen Denken in der Lage. Sicherlich würde das jetzt schon das Ende ihrer kleinen Unterhaltung bedeuten. Er würde ihm mit Sicherheit nicht noch mehr auf die Sprünge helfen. Wenn dieser hoffnungslose Fall nicht selbst wusste, was er eigentlich von ihm wollte, dann war das alles, wie weit er ihm entgegenkommen konnte.

„Gibt es etwas, an das du glaubst?“, kam dann doch endlich die Frage, auf die Thoth schon nicht mehr gehofft hatte.

Er stieß die Luft leise durch die Nase aus.

„Deine Aufgabe hat zum Ziel, dass wir uns unserer Verbindung als Götter zu den Menschen bewusst werden, habe ich recht?“, fuhr Tsukito indes fort. „Du hast uns gelehrt, dass »Glaube« eine der letztverbliebenen Verbindungsbrücken zwischen Göttern und Menschen darstellt. Meine bisherigen Informationen besagen, dass die Beziehung zwischen Menschen und Göttern auf den Glauben aufbaut. Menschen glauben an die Götter und einst glaubten auch Götter an die Menschen. Aber tun sie das immer noch?“

Thoth würde es niemals offen zugeben, doch er empfand so etwas wie Anerkennung für seinen Schüler. Es war das erste Mal, dass Tsukito von sich aus auf eine Überlegung gestoßen war, die zudem gar nicht so dumm war. Hatte er wohlmöglich einen Durchbruch bei dem japanischen Mondgott erzielt?

„An was glaubst du, Thoth Caduceus?“

„Ich bin der Gott des Wissens“, sprach er ruhig, aber gewogen. „Jegliche Form von »glauben« ist für mich nicht von Belang. Ich glaube nicht, ich weiß.“

Stille kehrte zwischen den beiden ein.

„Ich verstehe nicht“, gestand Tsukito leise.

„Es besteht kein Anlass, an etwas zu glauben, wenn man um dessen Existenz weiß“, erklärte er. „Es besteht außerdem kein Anlass, an eine Entwicklung zu glauben, wenn man sie bereits anhand von Wissen und Erfahrung vorkalkulieren kann. Zu glauben ist etwas für jene, die nicht wissen.“

Tsukito ließ sich diese Worte für einen Moment durch den Kopf gehen. Oder zwei, oder drei.

„Und Menschen glauben …“

„Weil sie nicht wissen.“

„Und Götter?“

Glauben zu wissen.“

Er ging in sich.

„Das heißt, Wissen hebt den Glauben auf?“

Thoth gab ihm darauf keine Antwort. Was immer seine Beweggründe dafür waren, er zeigte keinerlei Gefühlsregung und hüllte sich in Schweigen.

„Würden Menschen nicht mehr an Götter glauben, wenn sie von ihnen wüssten? Würden Götter mehr an die Menschen glauben, wenn sie weniger wüssten? Kann Glaube nur dort bestehen, wo kein Wissen existiert?“, stellte sich Tsukito all diese Fragen, die ihm just durch den Kopf gingen. Er war regelrecht in seinen Gedanken vertieft. „Wenn dem so ist, wieso sind wir dann an dieser Schule, um über die Menschen zu lernen, wenn das in gleicher Linie bedeutet, dass wir damit aufhören, an sie zu glauben?“

„Manchmal, in den seltensten Fällen, ist der Glaube wichtiger als das Wissen, um das Gleichgewicht der Welt zu bewahren“, sprach Thoth ruhig, um dem Schüler eine Antwort auf seine vielen Fragen zu geben. „Ihr seid hier, um zu lernen, dass die Verbindung zwischen Menschen und Göttern ein essentieller Bestandteil ist, um dieses Gleichgewicht zu halten.“

„Aber du glaubst nicht“, gelang Tsukito schlussendlich zu seiner Erkenntnis, wobei er dem Lehrer fest in die Augen sah, „weil du weißt.“

„So ist es.“

„Du glaubst nicht an die Menschen, weil du über sie weißt. Du glaubst nicht an die Welt, weil du weißt, wie sie funktioniert. Und vermutlich glaubst du auch nicht an diese Schule, weil du weißt, dass sie nichts bewirken wird.“

Thoths Augen verschmälerten sich. Er ließ sich vor dem Schüler nicht anmerken, wie sich sein Körper bei dessen Worten versteifte. Sie mussten etwas in ihm bewegen, aber was, das wusste nur er allein.

„Ich weiß nichts von alledem, aber ich bin hier, um zu lernen. Das ist meine Mission“, sagte Tsukito, unbewegt wie immer. Obwohl es dieselben Worte waren, die Thoth schon so oft von ihm gehört hatte, lag dieses Mal etwas darin, das ihm zeigte, dass er es ernst meinte. „Ich weiß nichts über dich, Thoth Caduceus. Genauso wenig, wie ich über Totsuka Takeru, Kusanagi Yui, Apollon Agana Belea und die anderen weiß. Aber ich glaube an dich. Genauso, wie ich an Totsuka Takeru, Kusanagi Yui und die anderen glaube.“

Der Gott des Wissens konnte nicht vermeiden, dass sich bei diesen Worten seine Augenbrauen in die Höhe zogen. Er überhörte geflissentlich, wie Tsukito ihn mit dem übrigen Pack gleichstellte. Allein, dass er seinen Glauben an oder in ihn verkündete, löste in ihm ein gewisses Erstaunen aus.

„Hast du damit deine Antworten, die du wolltest?“

„Ja.“

„Dann verschwinde! Du hast genug meiner wertvollen Zeit in Anspruch genommen, Dummkopf!“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Mit extra viel Vorgeplänkel, yeah! Weil ich kann! Na gut, eigentlich mehr, weil ich es gern so mag, hihi. ♥

Meinung zum Pair: Also, es ist ein schwieriges Pairing. Sehr schwierig. Aber eigentlich ist es sehr niedlich. Ich glaube, ich mag es. Mir gefällt die Vorstellung, wie beide mit einem Buch in der Hand bei Sonnenschein im Schatten eines Baumes sitzen und Tsukito an der Schulter Thoths schlummert. Vielleicht hätte ich lieber darüber etwas schreiben sollen? Haha.
Ach so, ja, Hints? Öhm, joa. Sind da. Bisschen zwischen den Zeilen lesen und so, weil I like it that way. ;) Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Erenya
2015-05-09T17:04:20+00:00 09.05.2015 19:04
Hach es ist ein herrlicher OS. Schade das wir nie erfahren werden, ob sie denn ihren Aufsatz doch noch fertig bekommen haben und ob Take-Take vielleicht doch noch die ein oder andere Gehirnwindung verdrehte.
Ebenso werden wir nie erfahren was Loki-Loki mit der Nächstenliebe meinte ;___; Traurig, sehr traurig.
Aber im groben und ganzen war der OS Kalos. Und vor allem die Hints ^_~


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