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[24/7] Jenseits verkehrter Wahrheit

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Prolog

Hörtest du, es sei gut, den Sieg zu gewinnen?

Ich sage, auch fallen ist gut. Schlachten werden verloren im selben Geist wie gewonnen.

(Walt Whitman)

 

 

24/7

Jenseits verkehrter Wahrheit
 

Prolog

 

Wie der Blätter Geschlecht, so ist auch das der Menschen. All die linierten Seiten des Todes, besudelt mit zahllosen Namen, wurden vom Herbstwind verweht wie das Laub des heutigen Tages. Es war der fünfte Tag im November.

Die einsetzende Dämmerung sollte der Moment des Sieges sein, der Beginn einer neuen Ära auf dem Triumphzug eines Menschen, der in Kira zum Gott geworden war. Er hatte die Verderbtheit und Ödnis der Welt gesehen. Langweilig und verrottet entblößte sie ihm ihre hässlichsten Seiten. Sie war dem Untergang geweiht und nichts konnte diesen Prozess aufhalten.

Doch mit dem Notizbuch des Todes besaß der Messias der Gerechtigkeit auf einen Schlag etwas, das ihm die Augen öffnete und seine Denkweise veränderte.

Macht. Absolute, unermessliche Macht.

Fortan konnte er ihn zerquetschen, diesen parasitären Abschaum, der mit nichts anderem beschäftigt war, als seine stinkenden Exkremente auf einem Boden zu hinterlassen, der ohne dieses Ungeziefer perfekt sein konnte. Zwischen den Fugen des blanken Fundaments der Gesellschaft wucherten die niederträchtigen Individuen wie Unkraut. Individuen? Menschen? Lachhaft. Nichts weiter als Kakerlaken, die unter Kiras Schritten leise und unbedeutend zerknackten.

Mit jedem Mord, jeder unrechten Tat war Kira weiter abgestumpft und spürte von Sekunde zu Sekunde weniger von sich selbst, seinem längst verdrängten Ich, bis er irgendwann die eigenen Schreie nicht mehr hörte. Er wollte sein menschliches Dasein vernichten, um als Gott einer neuen Weltordnung aufzuerstehen. Die Hinrichtung seines Widersachers war das einzige Opfer, das er hierfür erbringen musste. Damit hielt er das ideale Instrument in der Hand, um aus seinem Inneren den letzten Rest seines schwachen Herzens herauszuschneiden.

Sein Plan war perfekt. Fehlerlos.

Trotzdem hatte Kira versagt. Denn die Todesgötter verrieten ihn und statt seiner gewann L den Kampf. Im neunten Zirkel der Hölle wurde Verrat als die schrecklichste aller Sünden bestraft, aber die Verbindung zwischen dem Besitzer eines Death Notes und seinem Shinigami bestand einzig aus Besessenheit. Woraus war jenes Band geknüpft, das Kira und L aneinander fesselte? Verraten werden konnte man nur, wenn man vertraute. Hybris war Kiras Untergang und der Verlust seines Lebens die Strafe dafür.

Als sollte er absichtlich an das vergangene Martyrium erinnert werden, fand er sich nach seiner Niederlage in einer Gefängniszelle wieder, die jenem Raum glich, in den er sich fünf Monate zuvor freiwillig hatte einsperren lassen. Dieses Mal gab es jedoch kein Entkommen. Dieses Mal sollte Kira wirklich zum Märtyrer werden. Die Menschheit würde ihn niemals vergessen. Jene Gewissheit war der Anker für seinen Verstand, damit er in Gefangenschaft nicht dem Wahnsinn verfiel.

In Japan wird die Todesstrafe durch Erhängen vollstreckt.

Kein festgelegtes Datum bestimmte darüber, wann das Urteil in die Tat umgesetzt wurde. Wochen, Monate, oft sogar über Jahre harrte der Todeskandidat in seiner engen Kammer aus und kannte den Tag seiner Hinrichtung nicht. Manche erfuhren erst Minuten vorher davon.

Kira rechnete nicht damit, jemals seine Familie oder ein anderes verwandtes Gesicht wiederzusehen. Zum Tode Verurteilte wurden all ihrer Rechte beraubt. Ihre Angehörigen wussten häufig nicht einmal, ob sie noch lebten oder bereits tot waren.

Aber Kira konnte nicht sterben. Er war ein Gott. Er war unsterblich.

Das dachte er ungebrochen, als sich die Zellentür öffnete und er einen langen, fensterlosen Gang entlanggeführt wurde. Man brachte ihn in einen kargen Raum, ihm gegenüber befand sich eine bühnenartige Öffnung, verhüllt von einem Vorhang. Ein Mann in Uniform teilte mit weiß behandschuhten Händen den Vorhang in der Mitte, zog erst die eine, dann die andere Seite auf und befestigte den Stoff mit präzisen Bewegungen links und rechts am Rahmen. Dahinter kamen zwei weitere Räume zum Vorschein, horizontal mit einer großen Glasscheibe voneinander getrennt. Durch das Sichtfenster erkannte Kira eine Art Zuschauerloge. Wenige fremde Personen saßen dort.

Nur eines der Gesichter war ihm vertraut.

L hockte in der letzten Reihe auf einem Stuhl, die knochigen Finger wie stets auf seinen angewinkelten Knien. Stechend verweilten Kiras Augen auf seinem einstigen Feind, seinem einstigen Freund.

Währenddessen kehrte der Uniformierte ihm den Rücken zu, blieb vor ihm im Durchgang stehen und verbeugte sich in gerader Haltung vor den Anwesenden. Als er anschließend beiseite trat, gab er den Blick auf ein doppelt umrahmtes Rechteck frei. Jemand forderte Kira auf, voranzuschreiten und sich in das Zentrum des roten Quadratmeters zu stellen. Dann wurde ihm mit sorgsam bemessenen Bewegungen ein Galgenstrick um den Hals gelegt.

Bei der ganzen Prozedur jagte seine Aufmerksamkeit von einer Wahrnehmung zur nächsten. Eine Tür, unweit von ihm, führte wahrscheinlich zu jenem Bereich, wo sich nebeneinander an der Wand drei Schalter befanden, von denen nur einer seine Funktion erfüllte. Doch das würde nicht passieren. L würde es rechtzeitig zu verhindern wissen, schließlich brauchte er ihn für seinen eigenen Lebenszweck. L war die letzte Person, die Kira töten wollte.

Kira konnte nicht sterben. Er war unsterblich.

Seine Augen huschten zurück zum Zuschauerraum, auf die dort kauernde Gestalt, die ihn durchdringend musterte. In den dunklen Tiefen bemerkte er die gleiche besessene Abhängigkeit, die ihn selbst mit Sinn und Allmacht und Glück anreicherte. Ihm lief es vor Aufregung kalt den Rücken hinunter. Siegesgewiss lächelte er.

Im selben Moment öffnete sich der Boden unter seinen Füßen.

Noch im Fall schossen ihm mehrere Fakten durch den Kopf. Die Exekution erfolgte durch Drosselhängung. Ein sofortiger Genickbruch war selten. In der Regel durften die Angehörigen der Hinrichtung nicht beiwohnen, damit sie den Todeskampf des Verurteilten nicht sahen.

Ruckartig hingen Kiras Beine in der Luft, das Seil rutschte mit einem zurrenden Geräusch zwischen den Schlaufen hindurch, als sich die Schlinge zuzog, enger und enger umschloss sie seine Kehle, er versuchte zu schlucken, zu atmen, zu schreien, die Adern an seinem Hals schwollen an, Blut pochte in seinen Ohren und Schläfen, erstickender Druck pulsierte in der Stirn, sein Kopf wurde heiß, sein Nacken steif, seine Glieder verkrampften sich, zappelnd traten seine Füße ins Nichts, suchten nach Halt in der Leere, aus seinen aufgerissenen Augen quollen Tränen, seine Pupillen rollten nach oben, die Decke, eine Lampe, eine Kurbel, ein Strick.

Schweißgebadet zuckte Kira zusammen und schreckte aus seinem Dämmerzustand hoch.

Er saß wieder auf dem Boden seiner Gefängniszelle, die Arme im Rücken gefesselt, um Atem ringend und panisch. Allmählich schärften sich die Konturen der Realität. Er ermahnte sich zu mehr Haltung, doch noch immer schlug sein Herz heftig, es beruhigte sich langsam, aber es hörte nicht auf zu schlagen.

Er hob den Kopf, starrte auf die Tür zu seiner Zelle und wartete darauf, dass sie sich öffnete.

 

 

Rückkehr

Rückkehr

 

„Hier ist Tanakabara Koki von NHN Golden News mit den Nachrichten. Nachdem am Donnerstag der vergangenen Woche ein Polizeigroßeinsatz für Chaos in der Innenstadt sorgte, hörten international die mysteriösen Herzattacken an Verbrechern auf. Zahlreiche Spekulationen brachten die jüngsten Ereignisse mit dem Verschwinden des sogenannten Kiras in Verbindung. Die Polizei dementierte diese Vermutungen bisher vehement. Am gestrigen Abend verstarben erneut sechzehn Straftäter aufgrund ungeklärter Ursache. Von offizieller Seite ließ der Detektiv L heute über Interpol verkünden, dies seien die letzten Opfer gewesen, Kira sei gefangen und der Fall abgeschlossen. Infolgedessen kam es in der Bevölkerung mancherorts zu Ausschreitungen und Protesten. Ist das nun wirklich das Ende von Kiras perfekter Welt?“

Der Bildschirm schwärzte sich. Kitamura Koreyoshi, stellvertretender Polizeipräsident des nationalen Sicherheitsausschusses, legte schweigsam die Fernbedienung auf den Tisch und wandte sich den anwesenden Männern zu. Die vier letzten Mitglieder der ehemaligen Sonderkommission waren in das Präsidium zurückgekehrt. Chefinspektor Yagami, der soeben im Namen aller Bericht erstattet hatte, sah erschöpft und verhärmt aus. Auch die anderen Polizisten wirkten trotz ihres Erfolges ungewohnt ernst.

Kitamura seufzte tief.

„Meine Herren.“ Er bedachte jeden seiner Untergebenen einzeln mit einem prüfenden Blick. „Halten Sie dieses Vorgehen für klug? Erst macht L publik, er habe Kira überführt, und dann will er darüber hinaus keine nähere Stellung beziehen? Die Unruhen in der Öffentlichkeit sind sein Verdienst!“

„Gäben wir die Identität von Kira preis, würden wir damit erst recht Massenaufstände provozieren“, erklärte Yagami Soichiro knapp.

„Wozu musste es überhaupt eine Bekanntmachung geben?“ Bedrohlich stützte sich Kitamura nach vorn auf seinen Schreibtisch. „Die Bürger fühlen sich von der Polizei übergangen. Hat unser Ruf in diesem Jahr, seit Kira die Welt in Atem hält, nicht schon genug gelitten?“

Die restlichen Ermittler, Aizawa, Mogi und Matsuda, schwiegen beharrlich. Nur das anhaltende Prasseln von Regentropfen, die auf kugelsicheres Fensterglas trafen, hallte im Büro des stellvertretenden Direktors wider.

Kitamura wandte sich ab. Er schaute zwischen den Sparren der Jalousie hindurch nach draußen, auf regennasse Straßen. Nach einer Weile fragte er, ohne sich umzudrehen: „Verstehe ich recht, dass Sie mir keine weiteren Informationen zukommen lassen werden?“

„L wünscht absolute Diskretion“, bestätigte Yagami tonlos. „Er schlägt die weitere Zusammenarbeit nicht aus, zum jetzigen Zeitpunkt allerdings ist die Akte Kira geschlossen.“

„Bis die nächsten Verbrecher getötet werden?“

„Das wird nicht geschehen“, mischte sich Matsuda unaufgefordert ein und verstummte sofort, als er sich seines ungebührlichen Verhaltens bewusst wurde.

„Wenn das so ist“, entgegnete Kitamura, „dann gibt es nichts mehr zu sagen. Sie dürfen sich zurückziehen.“

Hinter sich vernahm er, wie seine Mitarbeiter nach kurzem Innehalten in Bewegung gerieten, um den Raum zu verlassen.

„Yagami, bleiben Sie bitte noch einen Moment“, sagte er unvermittelt und wusste, dass ihn der Chefinspektor gehört hatte, bevor die Tür klackend ins Schloss fiel und die beiden Männer allein waren.

Kitamura war kein Mann großer Worte. Meistens hüllte er sich in Schweigen, selten gab es Gelegenheiten, in denen er sein Schweigen brechen wollte. Die Fensterreflexion zeigte dem derzeit noch im Dienst befindlichen Polizeivorstand seine eigene gedrungene Gestalt und das fehlende Haar über der glatten Stirn. Seine Frau meinte immer, er solle stolz darauf sein, weil es an den ausrasierten Scheitel eines Samurai erinnerte. Bitter dachte er daran, dass es sicher kein Zeichen von honorabler Integrität war, wie die Ermittlungszentrale unter seiner Führung vor Kira den Schwanz eingezogen hatte.

Erneut drehte er sich um, das Unwetter im Nacken, und richtete seinen geschärften Blick auf Oberinspektor Yagami, der reglos und still vor seinem Schreibtisch ausharrte.

„Herzlichen Glückwunsch zu dem Angebot auf Ihren neuen Posten.“

Überrascht schaute Yagami auf. Seine Augen erfassten flüchtig den Karton auf dem freigeräumten Arbeitsplatz, in welchem sich die wenigen persönlichen Gegenstände des stellvertretenden Direktors befanden. Heute war sein letzter Tag. Ab morgen würde Kitamura in den vorzeitigen Ruhestand gehen und seine Stelle, wie er hoffte, dem Mann überantworten, der jetzt vor ihm stand.

Doch dieser reagierte nicht. Kitamura konnte nur vermuten, dass dessen Zurückgezogenheit ein Resultat von Schuldgefühlen war.

„Yagami“, fuhr er entschieden fort, „der Vorschlag zu Ihrer Beförderung war nicht allein eine Idee von Direktor Takimura. Es geschah auch auf meinen Wunsch.“ Irritation zeichnete sich auf dem Gesicht des Chefinspektors ab. „Meine Familie ist zeitweise in den Kreis der Verdächtigen gerückt, was mir nicht entgangen ist. Jemand hat sich vor meiner Tochter sogar als L ausgegeben und der Beschreibung zufolge wissen wir beide, um wen es sich dabei handelt. All diese eigenmächtigen Taten habe ich toleriert, obwohl ich vor dem ganzen Beamtenstab die gleiche Ansprache hielt wie vor Ihnen. Ich sagte Ihnen, ich könne nicht darüber verfügen, wie Sie Ihre freie Zeit gestalten. Dennoch zwang ich Sie auf diese Weise, die Zusammenarbeit mit L einzustellen ... woraufhin Sie Ihr vorläufiges Entlassungsgesuch einreichten.“

Im Konflikt mit seinem Rechtsempfinden, der Verantwortung seiner Familie und dem Respekt seinen Vorgesetzten gegenüber hatte Kitamura ein Vermittler zwischen den Instanzen sein wollen und war am Ende lediglich zum Spielball von Einzelinteressen geworden. Er fühlte sich ausgelaugt. Wahrscheinlich wurde er wirklich, wie sein Schwager behauptete, zu alt für diesen Job.

„Bitte verzeihen Sie mir den Druck, den ich auf Sie ausübte“, schloss er seine Ausführungen.

„Sie haben nur Ihre Pflicht erfüllt“, antwortete Yagami automatisch. Kitamura musterte ihn genau und begann langsam zu begreifen, dass sich hinter der Zurückhaltung keine falsche Bescheidenheit verbarg.

„Sie zögern“, stellte er fest. „Halten Sie mich nicht zum Narren! Sie sehen nicht dem Mann ähnlich, der mich noch vor wenigen Wochen energisch angebrüllt und sich auf eigene Faust L angeschlossen hat. Ich will ehrlich sein, Yagami. Dieser Posten raubt mir mittlerweile den letzten Nerv. Ich habe mich darauf verlassen, dass Sie meine Arbeit mit der nötigen Stärke übernehmen können. Die Polizei braucht Sie! Fällen Sie keine leichtsinnige Entscheidung, falls sie überlegen, das Angebot abzulehnen.“

Betroffen erwiderte der Chefinspektor den Blickkontakt. Es war Kitamura schleierhaft, was plötzlich aus dem tatkräftigen Ermittler geworden war, doch er hoffte, Yagami würde sich bald wieder fangen. Gerade jetzt brauchte die wankende Gesellschaft mehr denn je ein paar feste Hände, die sie wieder ins Lot brachten.

„Lassen Sie sich das gut durch den Kopf gehen, nehmen Sie sich meinetwegen ein paar Tage frei. Ich bin zuversichtlich, dass Sie die richtige Wahl treffen werden.“

Mit einem mechanischen Nicken verabschiedete sich Inspektor Yagami und wollte soeben die Tür öffnen, als Kitamura noch schwermütig verlauten ließ: „Ich hoffe, Sie denken nicht schlecht von mir.“

Zu seinem Erstaunen drehte sich sein oberster Ermittler und Leiter der ehemaligen Spezialeinheit ein letztes Mal um, blieb kurzfristig unbewegt am Ausgang stehen und verneigte sich schließlich tief vor seinem Vorgesetzten.

„Es war mir eine Ehre, unter Ihnen zu arbeiten.“

„Glauben Sie mir“, widersprach Kitamura fest, „die Ehre ist ganz meinerseits.“

 

Flankiert von eingerahmten Persönlichkeiten lehnte Aizawa mit vor der Brust verschränkten Armen an der Wand und hörte nur halb dem Gespräch seiner Kollegen zu. Das gesamte Präsidium war in Aufruhr. Ständig trafen Meldungen von ungenehmigten Demonstrationen, öffentlichen Verlautbarungen oder aus Selbstjustiz begangenen Gewaltakten ein. Sogar erste Selbstmorde häuften sich, bei denen es sich mutmaßlich um Verzweiflungstaten desillusionierter Anhänger Kiras handelte. Sämtliche Einsatzkräfte waren unterwegs, während die Zurückgebliebenen mit dem pausenlosen Schrillen von Telefonen und den Klagen besorgter Bürger konfrontiert wurden. Unter dem Mantel aus Stress, Eifer und Zurückhaltung war diese Tatsache nicht auf den ersten Blick ersichtlich, doch kaum jemand wagte es bislang, die Mitglieder der Taskforce auf die jüngsten Geschehnisse anzusprechen. Einzig Ide, der L zwar niemals persönlich getroffen, seine Ermittlungen im Kira-Fall aber eigenmächtig fortgesetzt hatte, war auf sie zugekommen, um zu erfahren, was passiert war. Vorsichtig klärte Matsuda ihn über die wichtigsten Fakten auf.

Die Bürotür schwang beiseite und Chefinspektor Yagami trat heraus.

Mit dem Gesicht zur Tür kehrte er den anderen Polizisten den Rücken zu. Sofort stieß sich Aizawa von der Wand ab, wandte sich ihm zu, öffnete den Mund und suchte nach den richtigen Worten, von denen er wusste, dass es sie nicht gab. Unentschlossen wartete er ab und betrachtete den Rücken seines Vorgesetzten, die kraftlosen Schultern unter dem mittlerweile zu groß geratenen Jackett.

„Chef, sollen wir nicht ...?“, begann Matsuda an seiner statt.

„Ich würde jetzt gern allein sein“, unterbrach ihn Yagami ruhig und drehte sich um.

Aizawa versetzte es einen Stich. Seine Beine fühlten sich mit einem Mal schwach an. Er blickte dem Oberinspektor in das ausgemergelte Gesicht und sah nicht mehr jenen Menschen, den er wegen seiner Aufopferungsbereitschaft und Loyalität stets bewundert hatte. Was er sah, war ein gebrochener Mann.

Yagami entfernte sich, ging mit schweren Schritten, keine einzige der knappen Verbeugungen seiner vorbeilaufenden Kollegen beachtend, durch den Flur in Richtung Ausgang. Wortlos schaute das Ermittlerteam ihm nach.

„Und jetzt?“, fragte Matsuda verwirrt. „Zurück an unsere alten Arbeitsplätze? Bisher hat der Polizeipräsident keine Auskunft erteilt, Kitamura legt unerwartet seinen Posten nieder und wir haben gerade einen merkwürdigen Sonderstatus inne, als wären wir vom Bombenräumkommando. Kommt mir vor, als würde derzeit alles im Chaos versinken.“

„Vielleicht ist Ihre Einschätzung dahingehend zur Abwechslung mal richtig“, meinte Aizawa düster.

„Zur Abwechslung?“ Matsuda klang empört, aber nicht wütend. Er war es gewohnt, sich von seiner Umgebung diverse Sticheleien gefallen zu lassen. Dennoch wunderte sich Aizawa, ob Matsuda tatsächlich, sogar in solch einer Situation, noch so unbeschwert sein konnte, wie er tat. Möglicherweise war das alles bloß Show und sein Verhalten ein Stimmungsaufheller für seine Mitmenschen. Irgendwie bewundernswert. Oder bedauernswert.

Mogi hingegen war wie immer ein Fels in der Brandung und auch Ide wirkte dem Anschein nach ungerührt, nickte ihnen zum Abschied zu und ließ die drei allein.

„Ich kann nicht glauben, dass nun alles vorbei ist“, sagte Matsuda nachdenklich, als sie anschließend hinaus in den Abend traten. „Dass es normal weitergehen soll wie zuvor. Wie vor einem Jahr, als ...“ Er unterbrach sich und blieb vor dem Gebäude stehen, mitten auf dem Gehweg, zwischen Hausfassade und Bordstein.

Die Luft war kalt und frisch, wie reingewaschen vom Regen. Aizawa vernahm die Aussage, reagierte jedoch nicht darauf. Stattdessen atmete er tief ein, hob den Kopf und erfasste die aus dem Dunst ragenden Hochhäuser. Im Kontrast aus Dunkelblau und Neonfarben verwandelte sich die Großstadt in ein Schiff, das unaufhaltsam in die Nacht steuerte. In eine Finsternis, die sich hinter den grellen Lichtern ausbreitete, auf ein Ziel zu, das sich als Abgrund herausstellen konnte. Kaum zu glauben, wiederholte Aizawa den Satz in seinen Gedanken. Kaum zu glauben, dass nun alles vorbei war.

„Wollen wir nicht noch einen trinken gehen oder zum Karaoke?“, hörte er Matsuda fragen und verspürte den Drang, ihm einen Schlag auf den Hinterkopf zu verpassen. Tadelnd warf Aizawa ihm einen verständnislosen Blick zu.

„Ach, vergesst es ...“

„Einverstanden“, antwortete Mogi stoisch.

„Ernsthaft?“ Ungläubig starrte Matsuda ihn an, ein bisschen verstört, aber auch erfreut, und fuhr sogleich begeistert fort. „Letztens war ich zusammen mit Misamisa nach den Dreharbeiten in einer solchen Bar. Früher bin ich oft mit Ukita zum Karaoke gegangen. Er hat immer mit voller Inbrunst ins Mikro gekrächzt, dieser notorische Kettenraucher.“ Matsuda musste lachen, zuerst laut und übertrieben, dann unsicher und verkrampft, bis er auf einen Schlag verstummte, als wäre er an seinem eigenen Lachen erstickt.

„Was haben Sie, Matsuda-san?“, fragte Mogi, während Aizawa betreten schwieg.

Offenbar erinnerte sich Matsuda daran, dass die Person, von der er gerade sprach, schon seit Monaten tot war. Ukita Hirokazu, der wohl ungeduldigste und mutigste Polizist des Dezernats, war vom zweiten Kira getötet worden. Bereits vor einigen Wochen hatte L mit, wie er meinte, hundertprozentiger Gewissheit erklärt, wer der zweite Kira sein musste, doch bis zum heutigen Tag hatte sich Matsudas Überschwänglichkeit in keiner Weise verändert. Vermutlich wollte er es bislang einfach nicht wahrhaben. Denn Misa, sein fröhliches Popsternchen, war für Ukitas Tod verantwortlich. Sie hatte ihn getötet.

Aizawa schaute Matsuda, der ihn mit seiner kindischen Art oft genug zur Weißglut brachte, in sein vor Hilflosigkeit verzogenes Gesicht und verspürte diesmal nicht den Wunsch, ihn zurechtzuweisen.

„Ich muss zu meiner Familie“, murmelte er und floh.

Ohne Verabschiedung ließ Aizawa das alles hinter sich, seine Kollegen, das Polizeipräsidium und die Niederlage ihres Sieges. Stolpernd erreichte er seinen Wagen, er wusste selbst nicht, wie. Dann fuhr er ziellos durch die Innenstadt von Tokyo, der Berufsverkehr wälzte sich wie ein Ungetüm durch die Straßen, Rücklichter spiegelten sich auf dem nassen Asphalt und Aizawa schaute durch den Schleier vor seinen Augen hinaus in die Nacht.

Vielleicht hatte Matsuda Recht. Vielleicht brach wirklich alles zusammen.

„Shuichi“, begrüßte ihn seine Frau verwundert, als er irgendwann, nach Ewigkeiten der Rastlosigkeit, durch den Eingang in seine Wohnung trat, das einzige Refugium in dieser schwankenden Welt. „Ist es wahr, was sie in den Nachrichten erzählen?“

„Eriko“, hauchte er mit brüchiger Stimme und brachte keinen weiteren Ton heraus.

Besorgt faltete seine Frau die Hände vor ihrer Schürze, senkte rücksichtsvoll den Blick und sagte: „Das Baby schläft schon, aber Yumi ist noch nicht im Bett.“

„Papa!“ Seine Tochter kam aus dem Nebenzimmer auf ihn zu gerannt. Aizawa hob das fröhliche Mädchen hinauf, drückte sie an sich, hielt sie fest, hielt sich an ihr fest.

In der Tat, sie hatten gewonnen. Nur fühlte es sich nicht nach einem Sieg an.

Die Welt versank im Chaos. Irgendwie stimmte es wirklich. Aizawa hatte vorher nie damit gerechnet, dass er den Glauben an das Gute verlieren könnte. Aber wie sehr die Gesellschaft auch wanken mochte, er wusste, dass seine Familie an seiner Seite war. Gleichzeitig dachte er daran, dass sein Vorgesetzter, Yagami Soichiro, Oberinspektor und ebenfalls Vater einer Familie, die er liebte, dass dieser achtenswerte Mann inzwischen nicht einmal mehr das hatte. Durch die Wiederherstellung des Gleichgewichts war etwas aus den Fugen geraten, das nie mehr repariert werden konnte.

Aizawa drückte seine Tochter an sich und schwieg eine lange Zeit. Seine Schultern bebten dabei kaum merklich.

Endlich sagte er: „Ich bin zu Hause.“

 

An einem anderen Ort betrat Nori das Heim ihrer Eltern.

„Bin wieder da!“, rief sie, legte ihren Schirm ab und streifte sich im Eingangsbereich die Schuhe von den Füßen. Gut gelaunt schlenkerte sie ihre Umhängetasche herum, in der sich zwischen Portemonnaie und Schminkutensilien ihr neuer kleiner Schatz befand.

„Nori-chan, da ist Post für dich“, rief ihre Mutter aus dem Wohnzimmer. Nori bemerkte den Umschlag auf dem Sideboard und hörte im selben Moment, während sie ihn an sich nahm und noch halb im Flur stand, bereits von nebenan den Sprecher der Abendnachrichten aus dem Fernseher.

„Die haben das Programm einfach unterbrochen“, beschwerte sich ihre Mutter brüsk, als Nori sich hinter das Sofa stellte und wie in Trance auf den Bildschirm starrte. „Dabei lief eben ein Interview zu dem neuen Film mit Misamisa. Du magst sie doch auch, oder?“

Nori begriff gar nicht recht, was ihre Mutter sagte, weil die Lügen alles überschallten. Der Nachrichtensprecher verbeugte sich und lächelte und log und log und log. Die perfekte Welt konnte nicht einfach aufhören. Sie hatte doch noch gar nicht angefangen. Misa hatte ihr versichert, es würde mit jedem Tag besser werden, denn Misa war auf Kiras Seite, sie unterstützte die Schwachen und verurteilte niemanden dafür, wer er war. Misa mochte Nori, obwohl Misa so hübsch und berühmt war und Nori so unbedeutend. Misa hatte sich nie über Noris Vorliebe für Cosplay lustig gemacht, einmal hatten sie sogar ihre Kleider getauscht, damit Misa ihren Manager abhängen und auf ein Date gehen konnte. Das war alles total spannend und spaßig gewesen. Nori war glücklich.

Doch das Böse war zurückgekehrt.

Niemand konnte jetzt wieder froh sein, denn Kira war nicht mehr da.

Die Angst von damals saugte jegliche Freude aus Noris Geist. Es würde also weitergehen, das Mobbing, die Hänseleien wegen ihrer großen Vorderzähne und der leicht nach oben zeigenden Nase, die Anfeindungen, die Ausgeschlossenheit und das Gefühl, nicht dazuzugehören. In Ordnung. Es würde weitergehen.

„Ich muss noch mal los.“

„Jetzt noch?“, fragte ihre Mutter skeptisch, lenkte ihre Aufmerksamkeit hierbei nicht auf ihre Tochter, sondern vom Fernseher auf das Strickzeug zwischen ihren Händen. Nori beobachtete die dicken Plastiknadeln, die sich unermüdlich in den Schlaufen aus filziger Wolle bewegten.

„Es dauert nicht lange“, entgegnete sie monoton.

Nori fühlte sich taub und seltsam leer, als sie das Haus verließ.

Nicht mehr lange. Es sollte nicht lange dauern.

 

Enttäuschung und Selbstzweifel gehörten zu den stärksten Wirkkräften im Menschen. Sie waren in der Lage, ihn anzutreiben oder zu lähmen. Wer den Glauben an sich verlor, ergab sich schnell. Wer der eigenen Person nicht mehr vertraute, vermochte weder zu kämpfen noch zu siegen. Kein Schicksal, keine Erschütterung, keine von außen auf ihn einstürmende Gewalt konnte einen Menschen bezwingen. Die wahren Niederlagen kamen aus seinem Inneren.

Aus Liebe zur Gerechtigkeit war Yagami Soichiro einst Polizist geworden. Er hätte sich für die Justiz entscheiden und Anwalt werden können. Es gab etliche Wege, um für Recht und Ordnung zu sorgen. Doch er wollte sich nicht mit Bürokratie oder Politik herumschlagen, er wollte selbst die Initiative ergreifen und mit eigenen Händen die Gesellschaft zu einem besseren Ort machen. So hatte er es auch seinen Kindern beigebracht. Seinen Kindern.

„Willkommen daheim“, hörte er Sachiko aus der Küche rufen, begleitet vom gedämpften Klirren des Geschirrs, während er zusammengesunken auf dem Absatz vor der Eingangstür saß, die Ellbogen auf den Knien abgestützt und seine zitternden Hände im ergrauten Haar vergraben. Die Last auf seinen Schultern ließ seinen gesamten Körper erkalten. Schuld drückte gegen seine schmerzende Brust und seine Augenwinkel brannten. Er hatte versagt, vollkommen versagt. War es seine Pflicht, das Angebot abzulehnen, die Arbeit als Polizist aufzugeben? Oder lag es nicht vielmehr in seiner Verantwortung, weiterzumachen, Wiedergutmachung zu leisten?

„Bleibst du heute hier“, fragte Sachiko durch den Flur, „oder musst du bald wieder weg?“

„Der Fall ist abgeschlossen.“ Seine Antwort klang leise und mechanisch, als käme sie aus dem Mund eines Fremden. Er wusste nicht, ob seine Frau es überhaupt vernommen hatte, darum erhob er mit Mühe seine Stimme. „Sachiko, ich muss dir etwas sagen.“

„Was denn?“

Ihr gemeinsamer Sohn war tot.

Light war von Kira getötet worden. Es war eine Lüge, die man leichter ertragen konnte als die Wahrheit.

Nein, keine Lüge. Eine verkehrte Wahrheit zwar, aber noch keine Lüge.

Yagami Soichiro holte tief Luft, um diese falsche Wahrheit auszusprechen.

Willkommen und Abschied

Willkommen und Abschied

 

Sie hatten ihm gesagt, Kira habe sich auf jeden Fall strafbar gemacht. Er habe seitenweise Namen in ein Heft eingetragen und gewusst, dass es funktionierte, dass jeder einzelne Strich eines Schriftzeichens oder Buchstabens wie ein tödlicher Messerschnitt einem Menschen das Leben raubte. Sie hatten ihm gesagt, Kira würde dem internationalen Gerichtshof ausgeliefert und nach Völkerstrafrecht verurteilt werden. Nicht von seiner Heimat, sondern in Stellvertretung der gesamten Welt sollte über ihn das Urteil gefällt werden. Keine lebenslange Haft, niemals eine Haft, dem Tode vergleichbar, weggesperrt in eine enge Zelle, wie in seinem Kopf eingeschlossen für alle, alle Ewigkeit. In Wiederholung lautete das Urteil stattdessen unentwegt nur Todesstrafe. Sie hatten ihm gesagt, Kira hätte seine Taten vor Interpol zugeben müssen. Sollte er das nicht tun, würden sie ihn seinen eigenen Namen in das Death Note schreiben lassen. Wenn allerdings die Existenz des Notizbuchs nicht bekannt gegeben werden durfte, musste dessen Benutzer einfach exekutiert werden. Ohne Gerichtsverhandlung. Ohne Offenbarung seiner Identität.

Als sich die Zellentür das nächste Mal öffnete, nannte ihn niemand beim Namen, niemand kannte ihn, niemand wusste, wer er war. Er schrie sie an, er sei Kira, er sei ihr Gott und würde ihnen die Gerechtigkeit bringen, wenn sie ihn am Leben ließen. Sie durften ihn nicht töten, konnten es gar nicht. Sie aber lachten nur und glaubten ihm kein Wort. Große, stämmige Gestalten mit ausländischen Gesichtern traten an ihn heran und griffen mit groben Pranken nach seinem kraftlos gewordenen Körper. Scherzend, ihren Erretter ignorierend, brachten sie ihn in einen halbrunden Raum mit einer Reihe abgedunkelter Fenster. Darin befanden sich eine Liege mit Fixierungen, ein Waschbecken, ein elektronisches Gerät und ein sauberer Tisch. Es erinnerte an die Sterilität eines Behandlungszimmers und Kira fragte sich, ob sie ihn in eine forensische Psychiatrie eingewiesen hatten. Obwohl er wusste, dass dem nicht so war.

Ohne Formalitäten oder Zeremoniell zog man ihn auf die Bahre, er wurde festgeschnallt und zwei Kanülen rechts und links am Arm in seine Venen gestochen. Der Zugangsschlauch für die Injektion verlief bis zu dem surrenden Gerät, das mit mehreren Kolben ausgestattet war, die sich nach einer Weile mit einem sanften, unscheinbaren Geräusch nacheinander senkten und einen Strom tödlicher Stoffe durch den durchsichtigen Schlauch in seinen Blutkreislauf pumpten, eine chemische Lösung nach der anderen, beginnend mit einem Narkotikum, bevor die nachfolgenden Mittel seine Atmung lähmten, seinen Herzschlag verlangsamten, bis der Muskel zwischen seinen Rippen letztlich vollends zum Erliegen kam.

Die letale Dosis schmerzte kaum.

Kira ertrank in einem weiten Ozean. Sein Kopf wurde schwer und schwerer und sackte von Müdigkeit betäubt unkontrolliert zur Seite. Er bemühte sich, die Augen offen zu halten, denn sobald er einschlief, würde er nie wieder aufwachen. Es war zu anstrengend, zu mühsam und alles um ihn herum nur schwarze, lichtlose Nacht, die kein Mond erhellte. Er sank tiefer hinab auf den Grund des Meeres, im Vakuum schwebend, treibend in Unendlichkeit und zurück bis an die Oberfläche.

Als sein Bewusstsein unerwartet aufklarte, brannte sich die Grelle von Neonröhren in seine Netzhaut und hinterließ geisterhafte Silhouetten, die vor seinen gereizten Augen tanzten. Er glaubte, in seiner Zelle erwacht zu sein. Zwischen den Wänden eine Tür, zwischen den Gittern das Tor zur Außenwelt, zu Freiheit und Tod, immer wieder aufs Neue von Fremden geöffnet, dahinter ein Weg, ein schmaler Gang, der im Nirgendwo endete.

Rache und Vergeltung verlangten nach Gerechtigkeit, nach Gleichberechtigung. Einst hatte L zu ihm gesagt, als Wiedergutmachung für alle begangenen Morde müsse Kira einen tausendfachen Tod sterben. Genau das tat er nun. Schritt um Schritt. Name um Name. Auge um Auge.

Die Fixierungen schnitten in seine verkrampften Muskeln. Kanülen und Schläuche waren verschwunden. Er lag aufgebahrt in einer engen Kammer. Hinter den Sichtfenstern reihten sich unbekannte Zeugen auf und beobachteten ihn interessiert. Kira wurde zum Objekt, ausgestellt in einem Schaukasten. Derweil entwich feiner Dampf den Zugangslöchern der isolierten Gaskammer. Der Rauch umschmeichelte seine Beine, kroch über seinen Körper und labte sich an den letzten Partikeln Sauerstoff, bis sich die Klauen des Giftgases um seine Kehle legten. Kurz zuvor war jemand an Kira herangetreten und hatte ihm mit sanfter, ruhiger Stimme geraten, tief einzuatmen, damit das Gift sich schnell in seinem Körper ausbreiten konnte und er ohnmächtig wurde, bevor ihn die Qualen des Todeskampfes ereilten. Damit er nicht bei vollem Bewusstsein bemerkte, wie er starb.

Trotz dieses Ratschlags hielt er die Luft an. Das war weder real noch richtig. Er wollte das nicht. Er wollte nicht sterben.

Doch Sterben war nur ein Prozess ohne Grenzen, ein Übergang von einem Zustand zum anderen. Sterben konnte deshalb auch Leben heißen. Kira war bereits gestorben und er starb weiterhin, in der stillsten Stunde jedes einzelnen Tages. Denn wer über das Leben entscheiden wollte, musste erst den Tod kennen lernen.

Nach jeder Hinrichtung kehrte Kira zurück, halb getötet, halb verschont.

Bis zum nächsten Mal.

 

„Bevor ich nicht ein paar Informationen erhalten habe, ist es besser, mit euch allein zu reden.“

Der junge Mann mit dem pechschwarzen Haar hockte sich ohne Umschweife auf einen Sessel und legte die Hände auf seine an den Körper gezogenen Knie. Zwei Todesgötter bauten sich übermächtig vor ihm auf und schauten auf ihn herab. In wachem Interesse starrte er zurück, unbekümmert, aber vollkommen allein. Seine kauernde Gestalt wirkte winzig, nahezu leicht zerstörbar.

Die Auslöschung dieses Lebens sollte jedoch nicht nötig sein. Jene Person, von allen als Meisterdetektiv bezeichnet, musste nicht getötet werden, weil die Ereignisse bislang einen zufriedenstellenden Verlauf genommen hatten. Mit einem Gefühl der Entspannung, das die Menschen offenbar Erleichterung nannten, war sich Rem mittlerweile sicher, eine richtige Entscheidung getroffen zu haben. L oder Ryuzaki, wie er hier zumeist angesprochen wurde, hatte sich an ihre Abmachung gehalten.

„Ryuk“, wandte er sich nun an den dunklen Begleiter neben ihr. „Wenn du mir verrätst, wo sich das verschollene Notizbuch befindet, werde ich bestimmt etwas Spannendes damit unternehmen.“

Der Todesgott brach in amüsiertes Gelächter aus.

„Du willst mich mit einer Lüge bestechen? Ich sagte doch, ich weiß es nicht.“

„Warst du etwa nicht pausenlos in der Nähe von Amane Misa, seit sie ihr Heft zurückbekam?“, bohrte L nach und verengte skeptisch die Augen zu schmalen Schlitzen.

„Ja, schon. Trotzdem ist mir doch egal, was sie mit dem Death Note anstellt. Ich will mir ja nicht die Überraschung verderben. Wieso sollte ich sie unentwegt beschatten, noch dazu in der kurzen Zeit?“

Zumindest hatte es gereicht, um Misa ein weiteres Mal die Hälfte ihres Lebens zu rauben, dachte Rem düster. Sie machte ihrem Artgenossen keinen Vorwurf. Wahrscheinlich hatte nicht Ryuk einen neuerlichen Handel vorgeschlagen, sondern Misa. Vorwürfe, Reue oder Rache waren generell komplizierte Gefühlsregungen, die eher menschlich und den meisten Todesgöttern fremd waren. Ein Shinigami konnte Freude und Hass empfinden, Langeweile und Neugier, ja, sogar verlieben konnte er sich, wie Rem am eigenen Leib erfahren musste. Ebenso war ihnen eine nebulöse Ahnung von Furcht vertraut, die sie davon abhielt, ihre überirdischen Gesetze zu brechen. Ab dem dritthöchsten von neun Härtegraden wurde jeder Verstoß mit dem Tod geahndet.

Verachtung jedenfalls brachte sie nicht Ryuk entgegen. Die eigentliche suggestive Schuld lag bei Yagami Light. Rem hasste ihn dafür, dass er Misa ausnutzte und sie jederzeit beseitigen würde, sobald er die Gelegenheit dazu erhielt. Für Misa hätte Rem sogar ihr Leben gegeben. Doch wer konnte schon sagen, wie viel Zeit ihr danach blieb, wie lange Yagami Light noch Verwendung für sie hatte, bevor er sich ihrer entledigte? Am vorigen Abend waren all jene in ihr schlummernden Zweifel durch L weiter bestärkt worden. Rem hatte einen Entschluss gefasst.

„Vielleicht weiß ich ja mehr, als ich zugebe“, riss Ryuks provokative Äußerung sie aus ihren Gedanken. „Die einzige Möglichkeit, mein Death Note zu finden, ist eine Rückkehr in unsere Welt. Von dort aus kann ich danach suchen.“

„Lass mich raten“, mutmaßte L trocken. „Falls du das Heft oder den Besitzer findest, könntest du es mir nicht mitteilen oder würdest es nicht, wenn du es könntest.“

Kichernd hob Ryuk die Schultern an, als wollte er sich von jeglicher Verantwortung freisprechen. L kaute verdrossen auf seinem Daumennagel und schien zu überlegen.

Schließlich wandte er sich an Rem: „Misa hat das Besitzrecht an ihrem Notizbuch aufgegeben. Also gehört es jetzt niemandem?“

„Es ist Teil der Menschenwelt“, erklärte diese, „und gehört zu Ryuk. Sollte es im Moment jemand bei sich tragen, geht das Besitzrecht auf ihn über und derjenige wird von Ryuk besessen.“

„Verstehe.“ Erneut überlegte L, bevor er seine nächste Frage stellte. „Wie kann man seine Erinnerungen zurückerlangen? Unter welchen Voraussetzungen?“

„Indem man ein Heft berührt, das man selbst verwendete.“

„Besaß Misa ihre Erinnerungen, als Kaneboshi starb?“

Ls Erkundigungen klangen unverfänglich, doch Rem beschlich eine ungute Ahnung. Sie musste mit äußerster Vorsicht agieren.

„Nein“, erwiderte sie entschieden. „Um Misa zu helfen, gab ich mich ihr zu erkennen, indem ich ein Stück aus dem Heft herausriss, ohne dass Higuchi Kyosuke davon wusste.“

„Die fehlende Ecke“, murmelte L aufmerkend. „Dadurch kam ich erst auf die Idee, dass ein entwendeter Papierfetzen weiterhin seine tödliche Wirkung entfaltet. Das würde bedeuten ...“

„Misa hat das Death Note von Yagami Light nie benutzt“, unterbrach ihn Rem, da sie die Richtung erkannte, die seine Gedanken einschlugen. „Es befand sich nicht in ihrem Besitz. Sollte sie es jetzt noch einmal berühren, wird sie ihre Erinnerungen nicht zurückerlangen.“

„Und was ist mit den aus dem anderen Heft gerissenen Seiten?“

Nun beugte sich Rem bedrohlich nach vorn, ihre aneinander reibenden Knochen verursachten ein knirschendes Geräusch und ihre Stimme verfärbte sich rau und tief. „Sei gewarnt. Versuche nicht, Misa ihre Erinnerungen zurückzugeben, um sie befragen zu können.“

„Ich bezweifle, dass ich etwas aus ihr herausbringe“, erwiderte L schlicht. „Drohen kann ich ihr nicht, weil du Yagami Light in Schutz nimmst. Niemand anderes, nicht einmal sie selbst, ist ihr sonst wichtig. Außerdem hat er ihr offensichtlich eingebläut, sich an seinen Plan zu halten. Amane Misa wird sich nicht gegen seinen Willen stellen. Sie würde das Besitzrecht sofort wieder aufgeben.“

„Und ihre Erinnerungen irgendwann gänzlich verlieren“, fügte Rem kopfnickend hinzu.

„Würde sie?“ Verblüfft schaute L auf. „Wieso?“

„Weil ein Mensch nicht beliebig oft seine Erinnerungen zurückerhalten kann. Zu oft aufgegeben, verschwinden sie irgendwann komplett.“

L starrte sie eine Weile an. Dann fragte er: „Wie oft?“

„Ich ... weiß es nicht genau. Nach dem sechsten Mal?“ Zeitgleich mit L spähte Rem zu dem anderen Todesgott hinüber. Ryuk brauchte ein paar Sekunden, um die auf ihm ruhenden Blicke richtig zu deuten.

„Was schaut ihr mich an?“

„Rem, bist du sicher, dass du in die Welt der Todesgötter zurück willst?“, erkundigte sich L sachlich. „Deine Kenntnisse erscheinen mir weitaus nützlicher als seine.“

„Hoi!“, rief Ryuk aus. „Du bist genauso unverschämt wie Light. Dabei könnte ich dich einfach so umnieten.“ Performativ unterstrich er seine Aussage mit einer wegschnippenden Geste seiner Krallenfinger, die direkt auf Ls Stirn abzielte.

„Warum tust du es nicht?“, fragte dieser interessiert und ungerührt.

In der Bewegung erstarrt blieb Ryuk mit erhobenen Klauen vor ihm stehen. Er schien eine Regung in der Mimik des Detektivs abzuwarten. Als diese ausblieb, senkte er die Arme und antwortete: „Wäre langweilig. So ist es spannender.“

„Und du, Rem?“

Große, schwarze Augen suchten abschätzend nach Blickkontakt. In Ls Mimik lagen Neugierde, Unerschütterlichkeit und eiskalte Berechnung. Einmal mehr musste Rem feststellen, wie unausstehlich ähnlich sich diese beiden Männer waren. Dennoch durfte ihr persönlicher Groll nicht von Belang sein.

„Dein Überleben erscheint mir im Moment wichtig für Misas Glück“, erwiderte sie. „Du kontrollierst Yagami Light. So kann er Misa nichts antun und bleibt dennoch am Leben.“

Nach ihrer Einschätzung wollte diese Person nicht, dass Kira starb. Solange keiner von ihnen das Besitzrecht an einem Death Note erwarb, konnte Rem sie von der Welt der Todesgötter aus jederzeit töten. Ansonsten sollte ein Bluff genügen, der ihnen mehr Macht vorgaukelte, als die Todesgöttin in Wirklichkeit besaß.

Sie hatte etwas Ähnliches schon einmal vorgetäuscht, als L ihr vorschlug, sie könne an Misas Lebenszeit eine Dezimierung ablesen, falls die Überführung der beiden Kiras eine Gefahr für sie darstellte. Rem war auf diesen Vorschlag eingegangen, obwohl sie wusste, dass eine solche Beeinflussung durch ein Death Note sich keinesfalls in der Zahl über dem Kopf eines Menschen widerspiegelte. Durch die tödlichen Notizbücher wurde immer irgendwie Einfluss auf das Umfeld ausgeübt. Es war ein Schmetterlingseffekt. Lebensspannen verlängerten oder verkürzten sich, doch niemals war man in der Lage, mit den Augen eines Shinigami diese Veränderungen wahrzunehmen. Die sichtbare Zahl entsprach immer der natürlichen, unbeeinflussten Lebensdauer. Immer.

Während ihrer Zeit auf Erden hatte Rem rasch eine wichtige Erkenntnis erlangt, dass nämlich das stärkste Band zwischen den Menschen zumeist aus zweierlei Fäden geknüpft war: aus Liebe und Lügen. Innerhalb einer Woche hatte sie von jenen ihr verhassten Männern gelernt, wie man beides hervorragend zur Manipulation verwenden konnte.

„Sobald das Besitzrecht aufgegeben wird, geht das Heft also an denjenigen über, der es in Gewahrsam hat oder es als nächstes berührt“, fasste L rückversichernd zusammen.

„Ja, das müsste stimmen.“

„Falls es danach an einen anderen geht, verliert der zwischenzeitliche Besitzer ebenfalls all seine Erinnerungen daran, obwohl er schon vorher von dem Heft wusste?“ Irritiert schwieg Rem, ohne recht zu begreifen. „Ich meine damit“, versuchte L zu erläutern, „da ich das Heft berührt habe, kann ich dich sehen, ich kenne die Regeln und weiß, dass das Notizbuch des Todes existiert und wie es funktioniert, aber dennoch gehört es mir nicht. Wenn ich nun das Besitzrecht daran erwerbe, indem es sich in meiner Obhut befindet, während der vorige Benutzer seine Ansprüche aufgibt, würde ich dann, nachdem ich das Heft weitergebe, ohne es verwendet zu haben, oder falls ich es verliere, es womöglich sogar zerstört wird, meine Erinnerungen daran einbüßen und nicht mehr wissen, dass ein solches Notizbuch überhaupt je existierte?“

„Das ... weiß ich nicht“, setzte Rem vage zu einer Entgegnung an. „Ich denke, dass ein Mensch alles, was mit den Death Notes in Verbindung steht, daraufhin vergessen müsste, sofern er es einmal benutzte. Genaueres kann ich dazu allerdings nicht sagen.“

Sollten ihre Kenntnisse sie nicht trügen, dann gingen im Umkehrschluss die Erinnerungen keineswegs verloren, solange man mit dem Death Note niemanden tötete. In den Verhören der letzten Tage hatte Rem feststellen müssen, dass sie nicht gut lügen konnte. Eine Halbwahrheit sollte daher reichen. L jedenfalls hatte das Dilemma deutlich erkannt, denn er kaute schon wieder gedankenversunken an seinen Nägeln.

„Ryuzaki“, hörte sie eine Stimme aus dem Hintergrund. Im Türrahmen stand ein alter Mann, Ls rechte Hand, der von allen Watari genannt wurde. Auf einer Handfläche balancierte er eine Schale voller Äpfel. „Ich habe es gehört“, teilte er dem Detektiv mit, während er den Raum betrat und die Schale auf dem Glastisch abstellte. Dann richtete er sich in gerader Haltung auf und verkündete beinahe feierlich: „Ich erkläre mich bereit, das Heft an mich zu nehmen.“

„Moment mal, ich wollte doch ...“, fuhr Ryuk dazwischen, doch L ließ ihn nicht aussprechen.

„Aufgrund der wenigen sicheren Informationen muss ich davon ausgehen, dass ich meine Erinnerungen verlieren könnte, falls ich das Heft erwerbe. Darum muss eine andere Person für mich einspringen. Watari ist wie mein Schatten und der einzige Mensch, dem ich diese Aufgabe anvertrauen kann. Er ist stets in meiner Nähe.“ L griff mit spitzen Fingern nach einem Apfelstiel und hielt Ryuk die rote Frucht wie ein Bestechungsmittel entgegen, wobei er hinzufügte: „Du wirst nicht abgeschoben.“

„Meinetwegen.“ Schulterzuckend langte Ryuk nach dem Apfel. „Wenn zwei meiner Death Notes in der Menschenwelt herumgeistern, habe ich ohnehin mehr Bewegungsfreiraum.“

„Würdest du ...“, begann L, aber Ryuk unterbrach ihn belustigt.

„Nein. Das heißt nicht, dass ich es dir sagen werde, wenn ich herausfinde, wer das zweite Heft besitzt.“

Missmutig akzeptierte L die Aussage. Statt zu protestieren, baute er aus den Äpfeln eine Pyramide. Es machte nicht den Anschein, als gingen ihm noch weitere ungeklärte Sachverhalte durch den Kopf. Aus unerfindlichen Gründen zweifelte oder zögerte er vielmehr, während er schweigend einen Apfel über den nächsten stapelte, bis das Gebilde seine endgültige Form erhielt und wie ein wackeliges Monument auf dem Glas thronte.

Nach einem tiefen Seufzen sagte er: „In Ordnung. Daraus ziehe ich folgenden Schluss; was auch immer ich gleich mit Yagami Light besprechen werde, es gerät für ihn in Vergessenheit, solange er das Heft nicht berührt, richtig?“

„Das ist korrekt“, bestätigte Rem.

Der Detektiv erhob sich, blieb vor dem Sessel stehen, verlagerte unruhig sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und starrte hinüber zum Tisch, wo neben einigen Akten das unscheinbare, schwarze Notizbuch lag. Seine Stimme klang ungewohnt leise und unsicher.

„Ich werde Light-kun nun auffordern, das Besitzrecht an seinem Heft aufzugeben. Rem, du wirst es daraufhin an dich nehmen und Ryuk aushändigen.“

Damit war es endgültig. Die Todesgöttin spürte, wie etwas in ihrem Inneren schwer wurde. Nachdem sie getan hatte, worum L sie bat, befand sich kein Death Note mehr auf Erden, das Teil der Menschenwelt war und ihr gehörte. Der Verlust ihres Heftes bedeutete Heimkehr. Heimkehr bedeutete Lebewohl.

„Vielleicht solltest du die Gelegenheit nutzen“, schlug L ihr tonlos vor, „um dich von Amane Misa zu verabschieden.“

„Sie kann mich weder sehen noch hören.“

Ernst und ein wenig traurig lächelte L sie an und sagte: „Ich weiß.“

Rem betrachtete einen Moment seine reglose Gestalt. Er schaute flüchtig hinüber zur Tür und anschließend wieder hinab auf den Tisch. Es war das erste Mal, dass sie Anspannung und Nervosität bei ihm bemerkte.

Die Todesgöttin nickte und drehte sich um. Sie warf keinen einzigen Blick zurück, als sie mit der Wand verschmolz. Sie sah nur noch den Weg, der vor ihr lag.

Last

Last

 

Nur einen Herzschlag entfernt wartete sein stiller Begleiter. Er lauerte hinter dem blinden Fleck im Augenwinkel und in den minimalen Pausen nach jedem Atemzug. Er lachte und tanzte und torkelte, ein fröhlicher Gesell, des Schlafes Bruder.

Es würde wieder passieren.

Light wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte.

Die Zeit verging, als würde er träumen. Ereignisse zogen gerafft an seinem geistigen Auge vorüber. Wochen vergingen in Tagen und Tage in Stunden und Stunden in Sekunden. Sein Körper fühlte sich geschwächt an, unverhältnismäßig zu der Spanne, die ihm seine Vernunft und innere Uhr vorgab. Seine Glieder schmerzten aufgrund der unbequemen Sitzhaltung auf dem Boden, den harten Abschluss einer schmalen Liege im Nacken und die Hände auf dem Rücken gefesselt. Der Raum ähnelte jener Zelle von damals und war dennoch nicht identisch. Hier befand sich Light an einem anderen Ort, unter anderen Umständen, mitten im Hauptquartier der ehemaligen Sondereinheit, nicht mehr Mitarbeiter, sondern Häftling. Wahrscheinlich hatte L dieses Gefängnis schon vor Monaten extra für ihn konstruieren lassen, um ihn von der Außenwelt abzuschotten und für immer einzusperren.

Ein Klacken erschütterte die Türangeln, verhalten zwar, aber unmissverständlich.

Nun war es so weit.

Sie kamen, um Light zu seiner nächsten, vielleicht der letzten Hinrichtung zu führen.

Seinen Puls beruhigend holte er tief Luft, atmete bedacht ein und aus. Als sich die Zellentür öffnete, hob er mit versteinerter Miene, die keine emotionale Regung offenbaren durfte, seinen Blick, nur um im folgenden Moment den Atem anzuhalten.

L war in seine Zelle getreten. Nicht irgendjemand, sondern sein innigster Feind und gefährlichster Freund. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, glitten seine blassen Hände zurück in die Taschen seiner Jeans, die nackten Zehen unter dem abgewetzten Hosensaum unruhig verkrampft, so stand L da und hielt sein Haupt gesenkt. Die zerzausten, schwarzen Haare verbargen fast vollständig sein Gesicht, als wollte er sich verstecken. Auch nach mehreren Sekunden rührte er sich nicht, sagte nichts, schaute seinen Gefangenen nicht an. Light musste lächeln.

L wirkte unsicher. Unsicher und verletzlich.

Die Torturen und Martern seines eigenen Verstandes waren Vergangenheit und nicht länger von Bedeutung. Jetzt zählte nur noch dieser Moment zwischen ihnen. Jetzt zählte nur noch L, der sich ihm angreifbar auslieferte.

„Warum hast du mich verschont?“

In sanfter Kälte begann Light zu sprechen und taxierte ihn von unten herauf mit den Augen.

„Du weißt genauso gut wie ich“, entgegnete L monoton, ohne den Kopf zu heben, „dass Rem mich töten würde, wenn ich dir etwas antue.“

Light stieß einen abfälligen Laut der Belustigung aus.

„Und wenn sie dich nicht bedrohen oder erpressen würde?“ Er senkte seine Stimme und sprach betörend einfühlsam und mild. „Das ist doch nur vorgeschoben, L. Wenn du dich für die Gerechtigkeit hältst, hättest du mich töten sollen.“

„Ich kann dir keine Erlösung gewähren, weil du Buße tun musst. Das kannst du nicht durch deinen Tod, wenngleich die Schwere deiner Taten niemals gesühnt werden kann. Ich muss dich kontrollieren.“ L fuhr sich zerstreut durch die Haare, sodass Light einen Einblick auf seine angespannten Gesichtszüge erhaschen konnte. „Seitdem ich dich kenne, kann ich nicht mehr auf dich verzichten, ich brauche deine Hilfe und ich brauche deinen Schutz, ich will dich nicht zerstören, sondern ...“

„Das ist egoistisch“, schnitt Light ihm die verworrenen Worte ab.

„Mag sein.“

L hatte sich aufrecht gegen die Tür fallen lassen und nestelte an seinen Fingern herum, nervös und unentschlossen. Er war nur wenige Schritte entfernt, so erreichbar nah.

Die Kanten der metallenen Fesseln rieben über seine zuckenden Handgelenke, als Light unwillkürlich an ihnen zerrte. Er wollte L daran hindern, an seinen verdammten Fingern herumzuspielen. Danach wollte er ihm eine verpassen, vielleicht auch zwei. Danach wollte er ihn erdrosseln, ihn mit seinen eigenen Ketten strangulieren, während L ihn mit vor Entsetzen geweiteten, tiefschwarzen Augen durchbohrte und sich mit verkrampften Händen an ihm festklammerte, bis sich Light seiner erbarmte und ihn aus seinem Griff entließ. Danach wollte er ihn an sich reißen und küssen, seine um Luft ringenden Lippen in Besitz nehmen.

Light versuchte den Schauer der Erregung zu bezwingen, der seinen Atem und Puls beschleunigte. Er hatte L besiegen und töten wollen, doch beides sollte auf ultimative Weise geschehen. Sieg bedeutete nicht, dass er L von seiner Unschuld überzeugte. Nein, L musste im Moment der Niederlage bewusst sein, dass er mit all seinen Vermutungen richtig lag und Light tatsächlich Kira war. Sieg bedeutete, dass diese Gewissheit nichts änderte, außer dem genialen Meisterdetektiv sein Scheitern vor Augen zu führen. L in seinen Armen sterben zu sehen, mit dem Erkennen auf dem bleichen Gesicht, das wäre ideal gewesen. Grausam und schmerzlich und absolut perfekt.

„Light-kun“, sprach L ihn kaum vernehmlich an, doch Light hatte keine Mühe, ihn zu verstehen. „Beantworte mir bitte eine Frage. Eine letzte Frage. Ich weiß, wir haben oft über all diese Dinge geredet, daher ist mir prinzipiell klar, was du darüber denkst. Aber ich möchte es direkt aus deinem Mund hören. Ohne verwirrende Spielchen. Ohne dass wir beide so tun, als würden wir über irgendetwas anderes reden.“ Endlich schaute L zu ihm auf, fing seinen Blickkontakt mit der ihm typischen Unergründlichkeit ein und fragte: „Warum das alles?“

„Das hast du doch schon längst von mir gehört, in aller Ausführlichkeit, als du mich glauben ließt, Ryuk würde mich umbringen.“

„Ich meine nicht dein Motiv. Ich will keinesfalls erfahren, warum du mit dem Morden nicht aufhören konntest, sondern warum du überhaupt damit begonnen hast.“

Da war er wieder, der nicht aus dem Konzept zu bringende, analytische Detektiv, der seine Mitmenschen begutachtete wie Buchstaben in einem Setzkasten. Und nun verlangte er eine Antwort von ihm, als Preis für seinen Sieg.

„Warum hast du es getan?“

Light starrte stumm an ihm vorbei an die Wand. Bei seiner ersten Gefangenschaft hatte er etwas gelernt, das er stets hasste. Sinnloses, unendliches Warten. Er hatte mit L in den letzten Wochen auf so vieles gewartet. Auf Gewinn oder Niederlage, auf das Ende oder den Anfang, er konnte es selbst nicht benennen. Keiner von ihnen war stehen geblieben, sie waren stets vorangeeilt, ohne Rücksicht auf Verluste. Light fragte sich, ob ihre Pfade parallel verliefen, sodass sie sich einander niemals annäherten, sich aber auch nie entfernten. Dies hier konnte seine Chance sein, um ihre Bahnen sich kreuzen zu lassen. Vielleicht wollte L seine Beweggründe in Erfahrung bringen, weil er an seinem eigenen Weg zweifelte. Konnte es gelingen, ihn auf die richtige Seite zu holen? Immerhin hatte er Kira überführt und ihn trotzdem am Leben gelassen. Unabhängig von Rems Erpressung hatte L gar nicht vor, ihn zu töten. Er wusste, wie sehr sie einander brauchten.

Dem Anschein nach war lediglich Light gefesselt, zumindest mit Ketten, die greifbare Substanz besaßen. Die Handschellen, die sie einst verbanden, waren verschwunden. Dennoch blieben ihre Schicksale, wie L es einst formuliert hatte, unwiderruflich verwoben. Sie kamen nicht voneinander los, wurden voneinander angezogen. L war von ihm abhängig. Darum hatte er Kira verschont. Darum war er jetzt zu ihm gekommen, wie die Motte zum Licht. Weil L nicht leugnen konnte, dass er Light gehörte.

Etliche Minuten verstrichen, in denen keiner von beiden das Schweigen brach. L hatte sich an der Tür hinabgleiten lassen und kauerte mit über den Knien verschränkten Armen auf selber Höhe vor ihm. Er hatte den Kopf zur Seite gelegt, die Spitzen seiner wirren Haare ruhten als gefächerter Kontrast auf seinem weißen Oberteil. Erst vor kurzem hatte Light sie zum letzten Mal berührt. Er hatte L festgehalten und war mit ihm umgegangen, als wäre er frei von Schuld.

Frei von jeglicher Schuld.

„Der erste Mensch, den ich getötet habe“, begann Light schließlich unvermittelt, in gemäßigtem Ton, „war ein Geiselnehmer. Eine Gruppe von Kindern befand sich in seiner Gewalt. Was hätte die Polizei getan? Zum Schutz der Kinder hätte man ab einem bestimmten Punkt, sobald es keine andere Möglichkeit mehr gab und man zu sehr um das Leben der Geiseln hätte fürchten müssen, diesen Mann durch einen Scharfschützen erschießen lassen. Dafür hätte man freie Schussbahn benötigt, es bestünde die Gefahr, dass etwas schiefläuft, und nicht zuletzt hätten die Kinder zusehen müssen, wie ein Mensch brutal und blutig direkt vor ihren Augen niedergestreckt wird. Ist es dann nicht besser, dass er ohne ersichtlichen Grund einfach umfiel, anstatt seinen zerschmetterten Schädel durch die Gegend fliegen zu lassen? Ich gebe zu, ich habe damals nicht erwartet, dass es funktioniert. Ich dachte, dieses Heft und die Anleitung seien ein schlechter Scherz. Dennoch habe ich diesen miesen Witz vom Schulhof aufgelesen ... und es ausprobiert. Alle Kinder konnten damals gerettet werden. Das hat nur das Death Note ermöglicht. Wer weiß, wie diese Sache sonst ausgegangen wäre.“ Sein zielloser Blick richtete sich auf einen unsichtbaren Fluchtpunkt hinter den Mauern. „Dieses Heft ist nicht das Böse. Es ist, genauso wie das Scharfschützengewehr des Sondereinsatzkommandos, nur eine Waffe.“

„Du meinst also“, fragte L tonlos, „nicht die Waffen seien bösartig, sondern die Menschen, die sie verwenden?“

„Ich bin nicht böse, ich bin gerecht!“

„Wozu rechtfertigst du dich? Habe ich eben das Gegenteil behauptet?“

Ihre Blicke trafen sich. L forschte regelrecht nach jenem Teil in ihm, den er einst zum Gegner auserkoren hatte, zumindest vermutete Light das. Die dunkel umrandeten Augen betrachteten ihn müde, ohne Spott oder Verachtung, stattdessen von einem namenlosen Schmerz gezeichnet, den Light nicht verstehen konnte und der ihn unweigerlich dazu veranlasste, sein kurzfristig aufbrausendes Temperament zu zügeln.

„Du hättest es der Polizei übergeben können“, bot L zur Lösung an, „damit sie es in solchen Fällen einsetzt.“

„Das hättest du auch tun können, als wir das Heft von Higuchi an uns brachten. Aber du hast es nicht getan. Oder würdest du es jetzt noch tun?“ Light suchte nach einer Andeutung von Betroffenheit in Ls Miene. Schnell erkannte er, dass er keine Unsicherheit finden konnte, wo nicht einmal Überzeugung herrschte. Ein Lächeln schlich sich in seine Mundwinkel. „Nein, das würdest du nicht, weil du der Polizei misstraust. Du misstraust allen Menschen, sogar denen, die eigentlich für die Gerechtigkeit eintreten. Deine Argumente sind haltlos und bloß ein Test, durch den du von mir hören willst, was du in Wirklichkeit selbst denkst. Wenn man einer Gruppe von Menschen solch eine Waffe überlässt, dann gibt es Uneinigkeit, Abstimmungsschwierigkeiten, Verzögerungen. Wahrscheinlich wäre niemand in der Lage, das Heft richtig und rechtzeitig zu gebrauchen. Noch dazu wäre die Gefahr groß, dass es in die falschen Hände gerät und missbraucht wird.“

„Aber in deinen Händen wäre es sicher? Du wärst die richtige Person dafür?“

„Natürlich.“ Light schmunzelte nachsichtig. „Es gibt niemanden, der geeigneter wäre als ich, das Death Note zu bekommen und es zum Wohle aller, für das Gute, für die Gerechtigkeit einzusetzen. Dieses Zusammentreffen ist so lachhaft perfekt, dass es gar nichts anderes als Schicksal gewesen sein kann.“

„Das Schicksal verleiht keine Waffen, Light-kun.“

„Ich habe nur die Menschen ausgelöscht, die es verdient haben“, fuhr er unbeirrt fort, „um die Welt zu reinigen, um sie zu säubern.“

„Um sie zu säubern“, wiederholte L dumpf, „denn Gott will es, nicht wahr? Und Tugend ist ohne Terror machtlos. Kira gehört wahrlich zu den ganz großen historischen Wegbereitern, zusammen mit Robespierre, Stalin, Hitler ...“

„Selbst wenn es in einem Gemetzel endete“, schaltete sich Light aufgebracht dazwischen, „würdest du die Aufklärung und Revolutionen unserer Welt als grundsätzlich schlecht verurteilen, als etwas, das besser nicht hätte geschehen dürfen?!“

L gab ein schweres Seufzen von sich und erwiderte matt: „Die bedeutenden Schrittmacher unserer Geschichte öffnen mit ihren Denkanstößen Türen, durch die sie selbst nicht gehen. Rousseau bereitete den Weg für die Französische Revolution, Marx zur Russischen, Nietzsche zur faschistischen. Sie alle würden sich aber in der extremen Verkehrung ihrer Idee nicht wiedererkannt haben. Auch Kira wird sich dereinst wundern, was seine Anhänger aus ihm machen werden ... oder was er selbst aus sich gemacht hat.“

Genau das hatte er nicht von L hören wollen. Es war lächerlich. Niemals würde so etwas passieren, solange Kira als charismatischer Führer der Elite die Massen in eine bessere Zukunft dirigierte.

„Es ist richtig, dass du abwertend über Despoten und Usurpatoren urteilst“, lenkte Light teilweise ein, „aber entspricht das der allgemeinen Ansicht? Wie viele Bürger schwelgen aus Unzufriedenheit in Erinnerungen und Lobhudeleien über vergangene Machtinhaber, wohingegen sie die Bemühungen ihrer Mediatoren und Friedensstifter herabwürdigen? Ist das nicht Hohn den Politikern gegenüber, die etwas für ihr Land und zum Wohle der internationalen Beziehungen zu unternehmen versuchten, nur um später von ihrem eigenen Volk, für das sie so viel gaben, desavouiert zu werden? Das ist das wahre Gesicht der Menschheit, diese Dummheit und Ignoranz. Du kennst doch die Berichte in der Öffentlichkeit, in der Presse oder im Internet, wo man sich pro Kira äußert. Fast ausschließlich dummes Geschwätz, mit dem man sich über L mokiert, er würde sich über diesen Fall nur etablieren wollen; er habe sich, weil er sich nie zeige, aus Angst vor Kira verkrochen; er würde die Verbrecher beschützen und die eigentlich unterdrückten Opfer vernachlässigen. Sie wollen gar nicht sehen, dass dir die Verbrecher herzlich egal sind und du vielmehr die Gesellschaft vor einer Eskalation von Kiras Handlungen bewahren willst. Dieser Abschaum ist es nicht wert, auch nur deinen Namen in den Mund zu nehmen.“

Erstaunt legte L den Kopf schief und begutachtete Light eingehend.

„Du ergreifst Partei für mich?“

„Und du? Ergreifst Partei für jene, die deine Person nicht akzeptieren würden, wenn du dich unter normalen Bedingungen in ihren Kreis einfügen wolltest. Du hast nie gelernt, dich ihnen anzupassen. Die wissen nichts von dir, L. Selbst wenn du dich nicht verstellst, würden sie dich nicht erkennen. Ich allein weiß, wer du in Wirklichkeit bist. Du bist nicht wie die. Du bist mehr wie ich.“

Soweit es ihm seine Position ermöglichte, hatte Light sich vorgebeugt und fixierte L eindringlich, der ihm zunächst mit geweiteten Augen begegnete, bevor er verunsichert auswich und sich in seine übliche embryonale Haltung zurückzog.

Diese verfluchten Ketten. Wäre er frei, würde er L packen, ihn hinter seinem Schutzwall hervor ins Licht zerren, sich seiner bemächtigen und ihm begreiflich machen, was richtig war. Doch nie wieder, nie wieder wollte er, dass sie einander berührten, solange Light nicht gewonnen hatte. Er hasste es, eine Schlacht zu verlieren und sich vorerst geschlagen zu geben. Nichtsdestotrotz war es ein fairer Kampf gewesen, eine gerechtfertigte Niederlage, das musste er eingestehen. L hatte sich als würdig erwiesen. Er war ein echter Gegner, sogar mehr als das. Der eigentliche Krieg war noch nicht entschieden. Noch lange nicht.

„Was hättest du getan, wenn dir das Heft in die Hand gefallen wäre?“, erkundigte sich Light mit Nachdruck. „Du hast mal zu mir gesagt, vielleicht hättest du dasselbe getan.“

„Wie merkwürdig“, ging L gedankenversunken darauf ein. „Damals bist du deswegen noch sauer geworden.“

„Da habe ich auch nichts gewusst, nichts gesehen, da hatte ich weder meine Erinnerungen noch meine Macht! Mir ist klar, dass du mich damals provozieren wolltest, aber ein Funken Wahrheit steckte dennoch in deiner Aussage. Die Menschheit ist ständig dabei, sich selbst auszulöschen, Kriege zu führen, das eigene oder ein fremdes Volk zu unterdrücken. Durch Kiras Macht und die Gewissheit, dass jemand gerechte Urteile fällt, werden auch die internationalen Konflikte zurückgehen. Du weißt, dass es so ist! Willst du mir weismachen, die Menschen würden auf diese Weise ihrer Freiheit beraubt werden und nur noch wie leblose Zombies durch die Gegend laufen? Laut deiner eigenen Aussage ist es so doch schon längst. Die Wahrheit ist niemals rein und selten einfach. Ich habe mich nicht aus einer Laune heraus für diesen Weg entschieden, sondern weil ich es schon vorher unerträglich fand, den Verfall der Welt mit ansehen zu müssen!“

„Man kann jeder Blume den Kopf abschlagen, wird damit aber niemals den Frühling aufhalten.“ Mehr als diese parabolischen Worte sagte L nicht dazu. Light konnte kaum fassen, dass er mit einem Orakelspruch abgefertigt werden sollte. Darin lag offenbar ein viel größeres Geheimnis, als es L selbst bewusst war. Oftmals, wenn sich der sonst so direkte Detektiv introvertiert von allem abschirmte, redete er in Rätseln, und Light meinte zu verstehen, dass es sein persönliches Privileg war, diese Seite an L zu kennen.

„Der Frühling?“, fragte er daher sacht. „Bald ist Winter, L. Auch das kann niemand verhindern. Bestimmt wird es der kälteste Winter seit Jahren. Bist du sicher, dass die dunkelste Jahreszeit ein Ende findet und es wieder hell wird, wenn Kiras Licht erlischt?“

„Welches Licht?“, murmelte L undeutlich. „Das Licht der Nacht?“

Er hatte sich also nicht getäuscht, stellte Light lächelnd fest. Nach der Art, wie sich sein Freund ihm gegenüber verhielt, war er gerade tatsächlich verwundbar.

„Befreie mich, L“, umgarnte er ihn mit warmer, weicher Stimme. „Du willst das hier doch gar nicht. Selbst unter all den Befürwortern gab es keinen, der Kira so präzise analysieren konnte wie du. Keiner hat mich je so gut verstanden. Komm auf meine Seite. Ahnst du nicht, was wir gemeinsam bewirken könnten?“

„Doch“, gab L offen zu. „Eben das jagt mir Angst ein.“

Er lockerte seine zusammengekrümmte Körperhaltung, löste die verschränkten Arme, seine schlanken Finger glitten über eines seiner angewinkelten Beine und knaupelten an der Seitennaht seiner Jeans herum, während er nach einer kurzen Pause weitersprach.

„An sich habe ich nichts gegen deine Idee. Hätte ich sie nicht verstanden, wäre mein Verdacht auf dich nicht von Beginn an unumstößlich gewesen. Aber du kannst sie niemals verwirklichen, selbst wenn ich dir nicht den Weg versperre. Sofern der Staat nicht einstimmig entschieden hat, dass eine Instanz wie Kira nötig ist, um über das Böse zu urteilen, ist die Tötung von Verbrechern nichts weiter als Mord. Nur ein diktatorischer Staat würde zudem anfangen, Personen zu beseitigen, bloß weil sie sich gegen das System stellen. Rechtschaffene Menschen wurden von dir kaltblütig ermordet. Die FBI-Agenten ...“

„Du hast sie mir selbst vor die Füße geworfen!“

„Was vielleicht ein Fehler war.“

„Ein kalkulierter Fehler, der dich trotzdem weitergebracht hat, oder etwa nicht?“ Light grinste gehässig, da er wusste, wie sehr er L mit diesem Fakt verletzte.

„Du hättest auch künftig Leute umgebracht, sobald sie sich dir widersetzen. Ein Staat, der keine Diktatur ist, würde solche, die sich nicht anpassen wollen, unter Aufsicht stellen, wegsperren, vielleicht zu läutern versuchen. Er würde sie nicht einfach umbringen.“

„Jeder kann gern eine Meinung vertreten, die sich gegen Kira richtet, niemand müsste deswegen bestraft werden. Glaubst du, ich hätte meine Aufmerksamkeit jemals auch nur einem dieser Dummköpfe gewidmet und sie wegen ihres hilflosen Geplärres getötet?“

„Du hast Lind L. Taylor ermordet.“

„Von dem ich glaubte, das seist du! Das war etwas anderes. Du warst etwas anderes. Genau genommen war das nicht einmal mein, sondern dein Opfer. Ein hervorragender Beweis, dass du nicht besser bist als Kira. Jemand gerät erst ins Fadenkreuz, sobald er zu einer Bedrohung für die neue Ära wird. In erster Linie geht es nicht um diejenigen, die sich Kira in den Weg stellen, sondern um Verbrecher! In Staaten, in denen die Todesstrafe praktiziert wird, würden sie ebenfalls hingerichtet werden. Justiz und die Arbeit der Polizei sind unabdingbar, damit der Plan zur Vervollkommnung der Welt gelingt. Kira spielt nicht Judikative und Exekutive gleichzeitig. Er bestraft niemanden, der seine Taten bereits gesühnt hat. Stattdessen tötet er zumeist Straftäter, die sich schon im Gefängnis befinden, die teils sogar zum Tode verurteilt wurden. Er ändert nichts an ihrem Schicksal, sondern nutzt sie als Abschreckung vor allen weiteren Schandtaten. Außerdem sorgt Kira dafür, jene zu bestrafen, die dem fehlbaren Netz des Gesetzes entwischen, obwohl ihre Schuldigkeit erwiesen ist. Manche Menschen lassen sich nicht reintegrieren, falls man diese Parasiten überhaupt als solche bewerten kann. Indem wir den ganzen Dreck ausradieren, vollzieht sich ein grundlegender Wandel im Denken. Die Ungerechten werden sich hüten, weiterhin Hand an die Unschuldigen und Hilflosen zu legen. Sie korrigieren ihre Haltung, handeln gutmütiger, rücksichtsvoller ... sie ...!“

Urplötzlich stockte Light. Etwas raubte ihm die Atemluft. Die Gedanken wollten seine Schädeldecke durchbrechen. Chaos, Verständnislosigkeit, Ohnmacht fochten gegen seinen Geist und ließen ihn erblinden. Er konnte nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Worte erstickten in seiner Kehle.

„Und dann?“, fragte eine monotone Stimme besänftigend und ruhig.

Aufschauend erkannte Light die Gestalt seines Freundes, doch alles wirkte seltsam taub und farblos, beinahe unecht.

„Wenn du die schweren Verbrecher ausgelöscht hast, was willst du danach machen? Wie lange würde das gutgehen? Ein paar Jahre vielleicht?“

L beugte sich nach vorn. In der Hocke verlagerte er sein Gewicht auf die Fußballen. Mit den Händen auf dem Boden zwischen seinen Füßen sah er aus wie eine Raubkatze auf der Pirsch, als er sich ihm näherte.

„Vielleicht nicht sofort, aber früher oder später wirst du zu den weniger schweren Verbrechen übergehen und womöglich irgendwann anfangen, die Unlauteren und Faulen auszumerzen. Die Welt würde unter deinem Tun aufschreien, weil du nur ein Mensch bist und dich in deinem blindwütigen Treiben verlieren würdest. Das ist Irrsinn, Light. Du bist kein Gott. Du würdest dich und die Welt in deinem Wahn zerstören.“

„Das würde ich nicht“, hauchte Light voller Bitterkeit und Abwehr, obwohl er fest und sicher klingen wollte. „Du weißt nicht, ob das passieren wird.“

„Du weißt es aber auch nicht. Und die Gefahr ist vorhanden, nicht wahr? Die Versuchung, alles auszulöschen. Alles.“

Light schüttelte den Kopf, öffnete den Mund und gierte in seiner zugeschnürten Kehle nach Sauerstoff statt nach Gegenargumenten.

„Dein Ideal ist nicht das Problem, allein die Umsetzung würde dir niemals gelingen. Und jetzt teile ich dir noch etwas mit ...“

„Fass mich nicht an!“, fauchte Light hitzig, bevor er überhaupt wirklich registrierte, dass L ihn erreicht hatte und zaghaft durch sein Haar strich, behutsam, aber unnachgiebig seinen Kopf zwischen die Hände nahm.

„Light-kun, warum ist da so viel Zorn in dir?“

„Du sollst mich nicht anfassen!“

Jemand presste ihm eine Hand auf den Mund, die andere auf den Brustkorb, welcher sich schwer und schmerzhaft unter seiner Atmung und seinem vor unzügelbarer Wut pochendem Herzen hob und senkte. Er bekam keine Luft. Mit jedem seiner Atemzüge fühlte sich seine Lunge wie ein Monstrum an, das bald in seiner Brust explodierte.

Besorgnis zeichnete sich auf dem blassen Gesicht vor ihm ab, als würde die Person, die ihn beschützend umfing, in aller Deutlichkeit erkennen, dass Light kurz davorstand, wegen seiner Handlungsunfähigkeit, aus unterdrückter Raserei zu hyperventilieren. Aus nächster Nähe waren jene schwarzen Augen leer und voller Mitleid, angereichert mit diesem abscheulichen, erniedrigenden Bedauern, das Kira im Antlitz seines Richters zu sehen glaubte.

„Shh... Light, bleib ruhig. Konzentrier dich auf meine Stimme und hör mir zu.“ Die Worte durchdrangen den Schleier, klangen lindernd und still hinter dem tosenden Sturm in seinen Ohren. „Du sagtest mal, ich wäre ein Perfektionist, und vielleicht bin ich das tatsächlich. Damals hätte ich noch angenommen, das Gleiche würde für dich gelten. Aber du bist anders, du bist ein Idealist. Ein Ideal kann man nicht erreichen. Ich akzeptiere, dass die Welt nie perfekt sein kann, du hingegen willst das einfach nicht begreifen oder billigen. Noch dazu bist du viel zu sehr von dir selbst überzeugt. Du denkst, du seist besser als die anderen, du seist auserwählt und könntest es schaffen, die Gesellschaft zu verändern.“

„Hast du jemals anders gedacht?! Deine Vorsicht und Zurückgezogenheit bezeugen, dass du dir über die Wichtigkeit deiner eigenen Person im Klaren bist.“ Light hatte sich losgerissen. Er spürte den harten Boden im Rücken, den Schmerz in seinen Schultern, sah enge Räume, kahle Wände und über sich eine Decke, die auf ihn niederstürzen wollte. Zugleich fühlte er Ls Hände, die ihn nicht fallen oder fortließen. Unmöglich, sich von ihm zu befreien. „Du weißt, wie viel du für die Gesellschaft tun kannst, aber das interessiert dich gar nicht! Du willst überhaupt nichts besser machen, du willst einfach nur gewinnen!“

„Das stimmt“, gab L unverblümt zu. „Aber durch meinen Sieg entscheide ich, was gerecht ist. Das ist kein Gerechtigkeitssinn, wie ihn die Menschheit normalerweise versteht. Schwierige Fälle aufzuklären ist mein Hobby. Wenn man gute und böse Taten anhand des Gesetzes bestimmt, wäre ich für viele Verbrechen verantwortlich. Ich mag Rätsel und Geheimnisse, darum suche ich mir meine Fälle nicht nach ihrer Schwere oder Gewichtung aus, sondern danach, wie interessant sie sind, mögen ihre Themen auch noch so banal sein. Falls ich dadurch einen Fall lösen kann, spiele ich nicht ehrlich. Ich bin wie du, verlogen, betrügerisch, kindisch und ich hasse es, zu verlieren. Vielleicht bin ich, weil es mir an Idealismus mangelt, sogar ein schlechterer Mensch als du. Dennoch habe ich gewonnen. Somit ist das, was ich tat, richtig.“

Es war die Wahrheit. Obgleich verdreht, da er manches verschwieg, so sagte L trotzdem die Wahrheit. Reglos blieb Light liegen, von widerstreitenden Emotionen geplagt. Gegen seine eigene Person oder gegen seinen Kontrahenten; er konnte selbst nicht entschlüsseln, was er glauben oder empfinden sollte. Sein Denken verschwamm zu einer grotesken Ansammlung von Bruchstücken, die weder einzeln noch gemeinsam Sinn ergaben. Er ließ es zu, die Enttäuschung, den Widerwillen und die Machtlosigkeit. Einen anderen Weg gab es nicht.

„Kein Mensch ist stark genug“, meinte L, „um wie Atlas das Gewicht der ganzen Welt auf den Schultern zu tragen. Es ist schon zu viel Last, dass ich diese Verantwortung jemandem aufbürden muss, der mir wichtig ist. Deshalb gibt es einen ganz plausiblen, egoistischen Grund, warum ich mich nicht auf deine Seite stelle und dich von deinem Vorhaben abhalten muss.“ Er machte eine Pause, entfernte sich unterdessen von Light und stand auf. „Bevor du die Welt zerstörst, würdest du dich selbst kaputt machen. Das ist dir sogar fast gelungen, aber eben nur fast. Ich will dich nicht an deinen Größenwahn verlieren.“

„Man kann nicht verlieren, was man niemals besessen hat“, erwiderte Light kalt.

„Du bist nun mein Eigentum und ich erlaube keine Beschädigung meines Besitzes“, argumentierte L halbherzig. „Glaub, was du willst, wenn du der Meinung bist, du wärst der Einzige, der die Welt retten kann. Dann bin ich wohl der Einzige, der dich retten kann.“

Lights Antwort war ein gebrochenes, zerrüttetes Lachen. Er krümmte sich auf dem Boden und lachte, weil L nicht begreifen wollte, was er tatsächlich mit dieser Einstellung in Trümmer schlug und dass seine Anmaßung lediglich ein weiterer Nagel in Kiras Sarg war.

„Das kannst du nicht, du kannst niemanden retten! Die Welt ist stumpfsinnig, verrottet, dem Untergang geweiht. Du bist so blind, L. Wenn du wirklich etwas Gutes tun willst, dann gib mir meine Waffe zurück.“

Sein Todfeind verweilte am Ausgang und beobachtete ihn, mit hängenden Schultern, gebeugtem Nacken, als habe er sich seiner halben Niederlage gefügt. Light konnte ihm an der Nasenspitze ansehen, dass L gehen, sich irgendwo verkriechen und Süßigkeiten essen wollte. Ein bisschen falsches Glück, weil er nicht alles bekam, was er sich wünschte. Der Gedanke erfüllte Light mit Genugtuung.

„Das war vorerst unser letztes Gespräch als L und Kira“, schloss der geschlagene Meisterdetektiv ausweichend, anstatt sich zu dem Appell zu äußern.

Stumm und atemlos blickte Light nicht länger zu ihm hinauf, sondern hinab in das steinerne Grau des Untergrunds und kühlte daran seine Stirn, bis er die allerletzten Worte und damit seinen Urteilsspruch vernahm.

„Die Zeit ist gekommen, deinen nutzlosen Stolz wegzuwerfen.“

Im Tau aus Lethes Flut

Im Tau aus Lethes Flut

 

Alle waren fort, das Gebäude fast leer. Ein Hochhaus mitten in Tokyo, in welchem nur eine Handvoll Leute residierte. Eigentlich dekadent, angesichts des chronischen Platzmangels in dieser Stadt. Aber L machte keine halben Sachen. Fernab von klaustrophobischer Enge und lästigen Menschenmassen besaß er hier genügend Raum für seine Gedanken. Er sperrte sich ein, um frei zu sein.

Das Notizbuch des Todes wurde gleichermaßen unter Verschluss aufbewahrt. Watari hatte, auch wenn L ein gewisses Unbehagen dabei empfand, das Besitzrecht daran erworben und war fortan von Ryuk, dem schwarzen Shinigami, besessen. Trotz dieser neuen Bindung konnte sich der Todesgott laut eigener Aussage relativ uneingeschränkt bewegen, solange sich sein anderes, bislang unentdecktes Notizbuch noch irgendwo auf Erden befand. Rem wiederum hatte die Menschenwelt verlassen. Auch die Polizisten der Taskforce waren gegangen, Aiber und Wedy zurzeit in Ls Auftrag unterwegs. In den Nachrichten lief die angeordnete Meldung über Kiras Niederlage. Während der ganzen Ereignisse waren nur wenige Stunden verstrichen. L kam es vor wie Jahre.

Nun war er zurückgekehrt, ebenso wie Light.

Jene Zelle, in der sich beide aufhielten, gehörte zu den Vorsichtsmaßnahmen, die L beim Bau des Gebäudes hatte integrieren lassen, ursprünglich in der Erwartung, Kira darin festzusetzen, sollte er erneut in Light erwachen. Kurzfristig hatte L sogar erwogen, den Strohmann von Yotsuba dort unterzubringen. Dummerweise bekam er keine Gelegenheit, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, bevor Higuchi Kyosuke starb. Was er jetzt im goldenen Käfig beherbergte, war wesentlich besser, wesentlich gefährlicher und wesentlich bedrückender in seinen Konsequenzen.

„Ich gebe auf“, hatte Kira gesagt und damit einen Weg zertrümmert, von dem L nicht wusste, ob es der falsche war. „Ich gebe das Besitzrecht auf. Ich werfe meinen Stolz weg.“ Sogar der Nachhall dieser Worte war nun verklungen. L hatte ein Monster seine Hände in Unschuld waschen lassen.

Auf dem Zellenboden kniend, die Arme von Handschellen im Rücken gehalten, durchdrang ihn Light mit einem Blick, der von Entschlossenheit und Furcht gezeichnet war. Ein offener, kein gespielter Blick. Frei von jeglicher Schuld. Dem Gesichtsausdruck ähnlich, als er zum ersten Mal das Gedächtnis verloren hatte. Es war eine seltsame Erfahrung für L, diese Verwandlung bewusst zu verfolgen. Allerdings fehlte mittlerweile ein entscheidendes Detail: die Hoffnung auf einen Ausweg.

Damals hatte es keine Überführung gegeben, kein Geständnis. In der hiesigen Situation jedoch konnte Light kaum Einspruch erheben, nicht einmal Abbitte leisten. Vermutlich kämpfte er deshalb stumm mit seiner Lage und den Worten, die er zu seiner Verteidigung vorbringen, aber nicht finden konnte, obwohl er verzweifelt danach suchte.

„Wie geht es dir?“, erkundigte sich L unverfänglich, möglichst neutral. Er wusste, dass er den ersten Schritt machen musste und dabei dünnes Eis betrat.

Light reagierte perplex. Er schien die alltägliche Frage nicht ernst zu nehmen und antwortete, verzerrt lächelnd, mit einer Gegenfrage.

„Was glaubst du denn, wie es mir geht?“

L überlegte einen Moment, bevor er erwiderte: „Äußerst unbehaglich, schätze ich.“ Eine von Lights Augenbrauen zuckte. Wahrscheinlich hatte er nur rhetorisch gesprochen. „Aber immerhin“, fuhr L ungerührt fort, „bist du noch am Leben.“

„Wofür? Um meiner Hinrichtung zu entgehen? Um für ein Verbrechen zu büßen, das ich nicht begangen habe? Oder willst du mir die Chance geben, meine Unschuld zu beweisen?“

„Das wird nicht nötig sein.“

„Erwartest du etwa, ich ertrage es, dass jeder mich für schuldig hält, während Kira da draußen weiter sein Unwesen treibt?!“

„An diesem Punkt waren wir bereits. Eigenständig wirst du absolut nichts an deiner Situation ändern können, solange ich dir keine Option dafür gestatte. Doch ich brauche keine Entlastungen mehr.“

„Ich wurde reingelegt!“

„Das überzeugt mich nicht.“

„Verdammt, ich ...!“ Heftig schüttelte Light den Kopf und rutschte auf Knien näher, nacktes Grauen in den Augen. „Ich bin nicht Kira!“

„Das hast du schon einmal behauptet.“

L blieb reglos stehen, schaute von oben auf ihn herab. Ganz gleich, was Light in ihm zu erkennen vermeinte, es veranlasste ihn nach ein paar Sekunden dazu, resignierend in sich zusammenzusacken. Als würde er aufgeben.

Alles wahrhaft Böse wurde aus Unschuld geboren. Das kam L nun in den Sinn, da er Lights entmutigte Gestalt vor sich sah. Die Veranlagung zu Kira schimmerte durch die transparente Amnesie seiner Persönlichkeit hindurch wie die Pentimenti eines Gemäldes, die Reuezüge aus den Untermalungen, die ein Künstler am Ende mit einer Schicht aus Farbe und Leim übertünchte. Die reale Erscheinung war makellos, das Abbild darunter vergiftet, dem Portrait eines Dorian Gray vergleichbar. Wie hatte aus diesem Jungen ein solches Ungeheuer werden können? Etwas Reines konnte ungleich schneller besudelt werden, auf einer weißen Weste fiel der winzigste Schmutzfleck auf. Aber Light war nicht vollkommen rein. Niemand konnte das sein.

Sein guter Wille hatte ihn mit dem Todesnotizbuch etwas anfangen lassen, das keinen egoistischen Menschen zu einem grausameren Plan hätte anstacheln oder reizen können. Jemand, der wirklich ohne Mitgefühl war, der keinerlei Empathie besaß, würde unter seinen Taten nicht leiden, sie nicht als Opfer bezeichnen und niemals würde er den Verstand verlieren. Denn der Mord ist des Mörders und fällt auf ihn zurück. Unter dem Einfluss seiner Erinnerungen wurde Light von seinen Idealen und Verbrechen verfolgt wie von einer Bestie. Ein wahrlich böses Individuum hingegen besaß keinen düsteren Begleiter. Es wurde selbst zum Monstrum.

Light war weder ein Gott noch ein Teufel. Er war einfach nur ein Mensch. Ein intelligenter, naiver und zutiefst traumatisierter junger Mann. Weder Psychopath noch Soziopath, denn dafür besaß er ursprünglich zu viel Einfühlungsvermögen und Interesse für die Belange der Menschheit. So etwas konnte man nicht verlernen, es war ein Charakterzug. Allerdings konnte man gegen Mitleid abstumpfen, wie in der Mitte eines Kriegsschauplatzes. Kira hatte genügend Menschen auf dem Gewissen, um sich wie ein überlebender Feldherr zu fühlen. Was seinen Gefährten für L umso faszinierender machte, war die Gewissheit, dass er diesen Widerspruch niemals aufklären würde. Es musste ein unlösbares Rätsel bleiben.

Trotzdem konnte er Light nicht ewig an der Nase herumführen. Irgendwann würde er von allein auf seine Identität als Kira stoßen. Und sobald er es erfuhr, konnte ihn diese Erkenntnis zerbrechen.

„Ryuzaki“, sprach Light ihn betont vorsichtig an und holte ihn zurück in die Realität eines vergitterten Beichtstuhls. „Ich weiß, dass es unglaubwürdig klingen muss, aber das ist alles ein großes Missverständnis, ein abgekartetes Spiel, das uns beide außer Gefecht setzen soll. Wir müssen gemeinsam dagegen vorgehen! Darum bitte ich dich inständig, lass mich frei. Nicht aus der Gefangenschaft oder deiner Kontrolle. Ich verlange nicht, dass du mir bedingungslos vertraust. Ich möchte lediglich, dass du die Möglichkeit eines Täuschungsmanövers von Kira in Betracht ziehst und mich behandelst, als wäre ich unschuldig. Bis zum Beweis meiner Schuld.“

Er hatte wohl doch noch nicht aufgegeben. Kaum merklich lächelte L.

„Ich habe dich überführt“, erinnerte er Light dem Anschein nach unbeeindruckt. „Meine Beweiskette war lückenlos. Siehst du das anders?“

„Ich ... ich verstehe selbst nicht, wie das passieren konnte. Man hat mich benutzt, ganz sicher. Du musst mir glauben. Ich bin nicht Kira. Ich bin es nicht!“

Als Light ihn mit schreckensgeweiteten Augen bedrängte und von seiner Sache zu überzeugen versuchte, wahrte L Gelassenheit. In gleichmütigem Schweigen, die Hände in den Taschen seiner Jeanshose, versperrte er den Ausgang hinter sich und verzichtete dennoch auf weitere Provokationen. Er musterte seinen Gefangenen nunmehr wohlmeinend, was dieser nicht sah oder als Überheblichkeit missdeutete, denn Light senkte den Kopf, das Haar fiel ihm über das angespannte Gesicht, seine Schultern bebten und Verzweiflung ließ seine Stimme zittern.

„Bitte glaub mir, Ryuzaki. Ich bin es nicht, ich bin es nicht“, wiederholte er seine Worte unablässig und L erwiderte endlich:

„Ich weiß.“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Light erneut den Kopf hob und ihn misstrauisch fixierte.

„Du glaubst mir?“

„Das habe ich nicht gesagt. Wir glauben, wo wir nicht wissen, und im Augenblick weiß ich nur, dass das hier der beste Weg ist.“ L brachte ein eindeutiges Lächeln zustande, das Light zusätzlich verunsicherte. Perfekter Nährboden für die nächste, unumgängliche Finte. „Meine Schlussfolgerungen beruhen momentan auf zwei separaten Annahmen. Solltest du Kira sein, habe ich dich zum Vorteil aller in der Hand. Bist du es nicht, war deine Positionierung als Hauptverdächtiger von ihm beabsichtigt, somit dient uns deine angebliche Festnahme, um den echten Kira zu schnappen.“

„Wolltest du deshalb das gesamte Team aussondern“, fragte Light zögerlich, „weil du denkst, dass es ein Leck gibt?“

„Nein, dieses Problem habe ich hoffentlich extern gelöst, aber dazu komme ich später.“ Dozierend streckte L den Zeigefinger in die Luft und bat damit um Aufmerksamkeit. „Kira wird nicht einfach aufgeben. Selbst wenn die Morde demnächst aufhören und es um ihn still werden sollte, wovon ich ausgehe, verfolgt er bestimmt einen Plan, der in naher oder ferner Zukunft in seiner Rückkehr resultiert. Daher“, sagte er und machte eine bedeutungsschwere Pause, bevor er diesen notwendigen Vorstoß wagte, „ist es unser erstes Anliegen, das Heft zu finden.“

„Das Heft?“ Wie erwartet spiegelte Lights Gesicht Konfusion wider.

„Erinnerst du dich nicht?“, fragte L einstudiert. „Wir haben bei Higuchis Festnahme ein Notizbuch gefunden, ein sogenanntes Death Note. Die Person, deren Name in dieses Buch geschrieben wird, stirbt.“

„Death Note“, murmelte Light mehr zu sich selbst als zu seinem Gesprächspartner, wobei er die Bezeichnung im Mund herumwendete, als hielte er sie für eine Erfindung. „Ja, genau“, pflichtete er L bei, obwohl seine Mimik das Gegenteil ausdrückte.

Die Unterhaltung mit den Todesgöttern war in der Tat unerlässlich gewesen, damit L erahnen konnte, wie viel Light vergaß, sobald er das Besitzrecht abgab. Den Erklärungen zufolge wurden sämtliche Erinnerungen gelöscht, die etwas mit dem Notizbuch des Todes zu tun hatten. Es war kein richtiger Gedächtnisverlust, sondern vielmehr eine Überschreibung, so stellte sich L die ganze Angelegenheit zumindest vor. Was keinen Sinn ergab, würde die Vernunft mit passenden Inhalten füllen. Light musste daher zum Teil wissen, worüber sie gesprochen hatten, doch seine eigene, durch Kira geänderte Denkweise war ihm inzwischen unzugänglich.

Vor einem Gespräch mit seinem Delinquenten wollte L all das in Erfahrung bringen, um zu verhindern, dass sie über etwas redeten, das später Lights Erinnerungen verfälschte oder ihn zu schnell auf die richtige Fährte brachte. Es gab nur eine einzige Chance, um so zu tun, als drehten sie die Zeit zurück. Nur eine geringe Frist, die mit einem ungewissen Ultimatum endete. L hatte lange nachgedacht, bevor er sich für diesen Weg entschied.

„Wo ist es jetzt?“, erkundigte sich Light abwesend, nach wie vor irritiert.

„An einem sicheren Ort“, antwortete L. Er kniete sich neben ihn, beugte sich an Lights Seite hinab und öffnete umsichtig die Fesseln. Dabei bemerkte er, dass die Haut an dessen Handgelenken leicht gerötet, ein wenig aufgeschürft war. Ernst und mit einem lastenden Schmerz auf der Brust brauchte L länger als nötig für das Lösen der zweiten Handschelle, während er ausführte: „Kira konnte Amane Misa bereits seit mehreren Monaten kontrollieren, ohne sie dafür töten zu müssen; anders lässt sich ihr Mitwirken beim Verschicken der Videobänder an Sakura TV nicht erklären. Wahrscheinlich birgt das Notizbuch uns unbekannte, in den Regeln ausgesparte Kräfte in sich, die nutzbar gemacht werden können, indem man das Heft direkt an jemanden weitergibt. Als Entleiher kann der echte Kira demnach eine Suggestion wie einen Bann oder Fluch ausüben, auf diese Weise muss er sowohl Amane als auch dich kontrolliert haben. Erpressung wäre ebenfalls eine logische Option. Wegen der unberechenbaren Gefahr bewahren wir das Heft zurzeit ohne freien Zugang auf, damit so etwas nicht noch einmal passiert.“ Aus dem Stegreif eine Lügengeschichte zu entwerfen und sie glaubhaft erscheinen zu lassen, fiel L nicht sonderlich schwer, darin war er trainiert.

Mit einem Seitenblick überprüfte er Lights Gesichtsausdruck. Trotz aller Logik haderte dieser offenbar mit der Erklärung, weil die Fakten nicht deduziert, sondern lediglich mit einer erdichteten Theorie in Einklang gebracht wurden. Mühsam ordnete Light noch die Glieder seiner Gedankenkette, als L die Hand nach ihm ausstreckte und in dessen Augen beobachten konnte, wie das fragile Konstrukt zerbrach, gehemmt durch die Wirksamkeit des tödlichen Notizbuchs.

Verwirrt blickte Light zu ihm auf. Nachdem er die Geste verstanden hatte, griff er an der ihm dargebotenen Hand vorbei nach Ls Unterarm, sodass dieser reflexartig dasselbe tat und statt der Hand das Gelenk umfasste, um ihm auf die Beine zu helfen. Aufrecht stehend, ihre brüderlich verschränkte Haltung nicht unterbrechend, sah Light ihm geradewegs und fest in die Augen.

Es war L, der dem Blick auswich und sich zuerst befreite.

„Wir gehen also davon aus“, schloss er ablenkend, „dass Kira eine Einzelperson ist und die Taten des vermeintlich zweiten Kiras an Amanes Persönlichkeitsprofil angeglichen hat, wie er es an deines anglich, damit der Verdacht auf euch beide fällt.“ Vor wenigen Tagen wollte Light ihm dasselbe Lügengespinst auftischen, dessen sich L nun bediente; die Idee, Kira habe den Verdacht im frühesten Stadium absichtlich auf Light gelenkt, weil dieser Ls Idealbild von einem Täter entsprach.

„Das würde bedeuten“, ging Light nachdenklich auf das Märchen ein, „Kira hat den Moment abgepasst, als ich Misa kennen lernte, und genau diese Situation genutzt, um unser Aufeinandertreffen suspekt erscheinen zu lassen. Folglich besaß er bereits damals beide Notizbücher und ließ Misa eines davon zukommen, mit dem er sie manipulierte, ohne sie zu töten. Verstehe ich das richtig?“

„Möglich“, stimmte L halb zu und öffnete die Zellentür. Er ging voraus auf den Flur, drehte sich nicht um, vergewisserte sich nicht, ob Light ihm folgte. Der Regen hatte aufgehört. An den Fensterscheiben reflektierten die letzten Wassertropfen das künstliche Licht und die Schatten der Nacht.

„Es ist trotzdem keine Garantie für Misas Überleben“, gab Light zu bedenken. „Er könnte sie nachträglich noch immer aus dem Weg räumen.“

„Eventuell bringt er sie nicht um, weil er denkt, sie könnte später noch von Nutzen sein“, riet L ins Blaue hinein. „Nachdem wir ihr alles erzählt haben, wird Amane weiter als Idol arbeiten. Sie ist unsere einzige Verbindung zu Kira. Sollte sie etwas unternehmen oder ihr etwas zustoßen, haben wir damit wenigstens einen Anhaltspunkt.“

„Ryuzaki!“

„Fällt dir etwas Besseres ein? Wenn Kira sie töten will, wird er es tun. Wir können das nicht verhindern.“

„Und was ist mit mir?“

L blieb stehen. Er starrte auf den Boden, Lights Präsenz in knapper Entfernung hinter sich. In seiner Kehle wühlte ein trockener Schmerz, den er hinunterzuschlucken versuchte, als er sich umdrehte.

„Du wirst mir helfen und nebenbei dein Studium fortsetzen“, antwortete L so unbekümmert wie möglich. „Unter meiner Leitung hast du die freie Auswahl, um an den renommiertesten Universitäten der Welt zu studieren. Inkognito, versteht sich.“ Lights Mimik gab Aufschluss darüber, dass er die Frage so nicht gemeint hatte. Grimmig entschlossen, obwohl man das seiner Stimme kaum anmerkte, stieß L deshalb hervor: „Ich werde dafür sorgen, dass dir nichts geschieht.“

„Was ist mit meinem Namen?“ Light klang beherrscht, seine Haltung war ruhig, sein Blick unverwandt, aber unaufdringlich. L ließ sich Zeit und überdachte seine folgenden Worte.

Heute hätte der Tag sein sollen, an dem der Meisterdetektiv starb. Indem er Kira besiegte, das Leben und die Identität von Yagami Light auslöschte, wie dieser es wahrscheinlich mit ihm getan hätte, stellte er sie einander gleich. Sie befanden sich nun auf Augenhöhe. Zwei Totgeweihte. Zwei Namenlose.

„Du kannst meinen Namen haben“, schlug L vor, die Mundwinkel zu einem schwachen Grinsen verzerrt. „Wir können ihn uns teilen.“

„Dein Name ist nicht mal lang genug für eine Person“, erwiderte Light sanft.

„Dann also Asahi. Falls es nötig sein sollte, deinen vollständigen Namen zu verwenden, belassen wir es in Zukunft bei Asahi.“

L wollte sich eben abwenden, als Light mit rauer Stimme fragte: „Nie wieder Yagami?“

„Nie wieder Yagami-kun“, bestätigte L umgehend, ohne zu wissen, ob seine Sanktion für Light ein Verbot oder Zugeständnis war. Zu seiner Überraschung setzte dieser ein schmerzliches Lächeln auf. Und dankte ihm.

Glaubte Light, er sei es nicht wert, weiterhin den Namen seines Vaters zu tragen? Oder war er froh, von dieser Last befreit worden zu sein? Wie sehr es auch schmerzte, L konnte es nicht begreifen. Bevor er seinen Weg mit schweren Schritten erneut aufnahm, sagte er nur: „Gern geschehen, Light-kun.“

Was der großartige L diesmal erreicht hatte, resümierte er zynisch, war das bestmögliche Ergebnis, das er sich unter den gegebenen Umständen ausmalen konnte. Dennoch fühlte es sich an wie ein Pyrrhussieg. Noch nie hatte er so viel gelogen, noch nie so viel verloren wie jetzt.

Jede Geburt wurde mit dem Tod bezahlt, jedes Glück mit Unglück. Menschen oder Götter mochten versuchen, in ihrer Frist die Lose nach anderen Maßen zu verteilen als der blinde Gang des Schicksals, doch am Ende triumphierte das Dasein über sie. Wir alle wollen in manchen Momenten, dass das Leben einen tieferen Sinn hat, zumindest glauben das die meisten. Je älter wir werden, desto verzweifelter suchen wir danach und desto schwerer ist er zu finden. Gerade diese Erkenntnis hatte Light zu Langeweile und Tatenlosigkeit, zur automatisierten Erfüllung seiner Pflichten getrieben und später zur zweifelhaften Optimierung einer Welt, die niemals perfekt sein konnte.

Die Welt vor Light zu retten, war vielleicht nicht so schwer. Von jetzt an Light vor Kira zu retten, dieser Kampf war weitaus schwerer.

Dabei wusste L nicht einmal, ob er das überhaupt wollte. Er tauschte den Idealisten gegen den Mörder, wenngleich er sicher war, dass es zwischen ihnen keinen Unterschied gab. Bis er sich dieser Aufgabe gewachsen sah, wollte er Light seine Erinnerungen so lange wie möglich ersparen.

Vielleicht hätte L keine egoistischere Entscheidung treffen können. Vielleicht war es aber auch das Selbstloseste, das er im Augenblick tun konnte.

Von Märchen und Monstern

Von Märchen und Monstern

 

„Kiras Zeitalter wird anbrechen!“ Eine Faust knallte auf den blanken Tisch der Diskussionsrunde im Studio, sodass die Wassergläser klirrten. „Ohne einen Beweis werden wir von Sakura TV nicht glauben, dass das profane Wort eines Menschen seiner göttlichen Existenz ein Ende bereiten könnte!“

„Genau, richtig so!“, riefen ein paar Stimmen aus dem Publikum. „Gut gesprochen, Demegawa!“

„Was Sie ein profanes Wort nennen, ist eine offizielle Bekanntgabe von L persönlich“, mischte sich Otemachi Mao, Professor an der Universität von Chiyoda, mit abfälliger Stimme ein. Er ließ sich hierbei nicht von der aufbrausenden Art seines Gegenübers oder der allgemein angeheizten Stimmung anstecken und schien stattdessen bemüht um ein souveränes Auftreten. „L wird wohl kaum die Lösung des Falles proklamieren, wenn es nicht der Wahrheit entspräche, sonst würden ihn die nächsten Morde sofort überführen. Ihre Argumentation entbehrt jeglicher Logik.“

„Sollte es wirklich stimmen, dass Kira festgenommen wurde, warum kann L uns dann nicht seine Identität offenbaren?“

„Machen Sie sich überhaupt eine Vorstellung davon, um was für einen Ausnahmefall es sich hier handelt; diese ganzen übernatürlich erscheinenden Morde an Verbrechern, die von einer einzelnen Person begangen worden sein sollen? Wer würde denjenigen, der sich hinter Kira versteckt, zum Märtyrer machen wollen? Haben Sie eine Ahnung, was die Bekanntgabe seiner Identität für dessen Umfeld bedeutet? Kira ist ein weltweites Problem, darum kann seine Person ...“

„Seine Identität kann gar nicht gelüftet werden“, unterbrach ihn Demegawa und wandte sich energisch ans Publikum, „weil Kira kein normaler Mensch ist!“

Weitere Rufe vermischten sich zu einem Gewirr unterschiedlicher Meinungen, Zustimmungen und Widerreden. Die Gesichter der Menge verzerrten sich zu emotionalen Grimassen.

Professor Otemachi schüttelte in einer Geste der Verständnislosigkeit den Kopf. „Die Offenlegung von Kiras Identität ist doch unerheblich für den Fakt, dass er anscheinend aufgehalten und festgenommen wurde“, erklärte er langsam und mit Nachdruck, als spräche er zu einer Horde Kinder. „Wenn die Morde aufhören, werden Sie Ihre These nicht halten können.“

Mit erhobener Faust überging Demegawa den Einwurf und fuhr voller Inbrunst fort: „Wir von Sakura TV wurden von Beginn an von Kira auserwählt! Er hat uns erkannt. Er hat erkannt, dass unser Horizont weit genug ist, um seine Herrlichkeit zu begreifen!“

„Dieser geweitete Horizont, von dem Demegawa da spricht, ist doch in Wahrheit nur ausgeleiert“, kommentierte der Todesgott Ryuk amüsiert die Diskussionsrunde, die gerade im Fernsehen lief. „Nicht wahr, Light?“

Das schwarz gewandete Geschöpf hing seitlich in der Luft. Den Kopf auf einen angewinkelten Arm gestützt, als läge er auf einem Diwan, so schaute der Todesgott zu Light hinüber. Jener reagierte jedoch nicht und verfolgte weiterhin mit ernster Miene die Sendung auf dem Bildschirm.

„Ach, stimmt ja“, meinte Ryuk deprimiert, „du kannst mich ja nicht hören.“

Diese ganze Szenerie hatte L schweigend beobachtet und dabei hin und wieder an seinem stark gezuckerten Kaffee genippt, bevor er die letzte Packung KitKat mit Kürbisgeschmack aus der orangefarbenen Tüte fischte und entblätterte. Noch immer drang die Auseinandersetzung aus dem Fernseher an sein Ohr, eine Sondersendung, die an diesem Abend nach der Bekanntgabe von Kiras Niederlage in aller Eile anberaumt worden war. L folgte diesen belanglosen Diskussionen nur mit halber Aufmerksamkeit, zumal sie übertönt wurden von Ryuks Versuchen, sich Light bemerkbar zu machen. Der Todesgott fuchtelte mit einer Hand vor dessen Gesicht herum, obwohl er vorhin längst darüber aufgeklärt wurde, dass Light gemeinsam mit seiner Erinnerung auch die Fähigkeit verloren hatte, ihn überhaupt wahrzunehmen.

„Hey, Light, ignorierst du mich etwa? Ich schreib dich auf, wenn du das tust!“ Drohend zückte der Todesgott einen Stift, doch als von seinem ehemaligen Schützling noch immer keine Reaktion erfolgte, kauerte er sich in der Luft zusammen und wirkte tatsächlich niedergeschlagen. „Wie öde. Du hast gelogen und ihm seine Erinnerungen echt nicht zurückgegeben?“ Die Frage war nun eindeutig an L gerichtet, doch dieser starrte bloß hinab auf seine leere Schokoladenpackung, auf der ein lachender Vampir mit überdimensionalem Löffel in der Hand nach Fledermäusen jagte. Dass er nicht antworten konnte, musste selbst dem Todesgott klar sein.

„Argumente interessieren die überhaupt nicht“, meinte Light plötzlich unvermittelt, nachdem er eine Weile wortlos bei der Sendung zugeschaut hatte. „Das Publikum denkt wohl, derjenige sei im Recht, der am lautesten brüllt. Die Meldung von Kiras Niederlage ging heute erst an die Medien raus, aber Demegawa hat sich erstaunlich schnell zu einer Art Sektenführer gemausert. Vorher hat er so eine Anhängerschaft gar nicht vertreten.“

„Wahrscheinlich glaubt er“, antwortete L unbeteiligt, „das würde sich derzeit am besten verkaufen.“

„Bei der momentanen Unsicherheit unter der Bevölkerung hat er damit wohl auch Recht und generiert wirklich die meisten Einschaltquoten.“ Light stieß ein tiefes Seufzen aus, während L knisternd die geleerte Packung zwischen den Fingern wendete und nicht weiter darauf einging.

„Als Kira mühte sich Light monatelang ab, die Welt in Ordnung zu bringen“, fügte Ryuk an den Detektiv gewandt hinzu, „und du stürzt sie an einem einzigen Tag ins Chaos. Wer ist jetzt der Bösewicht?“ Amüsiert krümmte sich das Geschöpf unter seinem eigenen Kichern. Es war schwer, sich bei dem permanenten Geschwätz zu konzentrieren und keine verräterische Reaktion zu zeigen.

„Watari“, sagte L mit schneidender Stimme.

„Verstanden.“ Sein Mentor war wie immer zur Stelle und begriff sofort. „Ich werde ein paar Äpfel bereitstellen.“

„Ich möchte sie als Hasen geschnitten haben“, rief ihm Ryuk hinterher.

Griesgrämig beobachtete L den Todesgott bei seinen Hampeleien. Rem war noch nicht lange weg und trotzdem vermisste L sie bereits. Ihre wortkarge Art war irgendwie angenehmer.

Dennoch war angesichts der chaotischen Situation, die durch die Kundgebung von Kiras Niederlage hervorgerufen wurde, Ryuks Einwurf nicht von der Hand zu weisen. Seit wann ging es nicht mehr um Gerechtigkeit? Wann hatte sich der Kira-Fall in dieses Monstrum verwandelt? Wann waren die Menschen zu dem mutiert, was sie heute von sich zeigten?

L schob seine konzeptlosen Gedanken zusammen mit den leeren Süßigkeitenpackungen beiseite. Derweil hatte sich Light auf einen Stuhl fallen lassen und starrte schweigend vor sich auf den Boden. Er schwieg auch noch, als Watari bereits zurückgekehrt war und aus den Schalen der Apfelstücken falsche Hasenohren schnitzte. Nur flüchtig sah Light hin, wirkte kaum irritiert. Eine Sekunde lang schienen seine Lippen von einem resignierten Lächeln gezeichnet.

„Was ist mit dir, Light-kun?“, fragte L vorsichtig, um ihn abzulenken, obwohl er sich denken konnte, was seinen Partner im Grunde beschäftigte.

Aus seiner Versunkenheit auftauchend begegnete Light ihm direkt und ohne Argwohn. Sein aufrichtiger Blick hatte etwas Befremdliches. „Die Öffentlichkeit glaubt, Kira sei gefangen. Mein Vater denkt, ich würde verurteilt und hingerichtet werden. Sayu und meiner Mutter wird er erzählen, Kira habe mich getötet. Sie werden außer sich sein. Das alles ...“ Schwach schüttelte Light den Kopf und fixierte die wütenden Grimassen auf dem Fernsehbildschirm, diese Fratzen aus Überheblichkeit und Wahn. „Das alles ist eine riesengroße Lüge.“

Eine noch größere, als Light vermutete. L wich den klaren, braunen Augen aus und sagte zurückhaltend: „Ich habe keine Wahl.“

„Ist das so?“ Eine Reaktion wie eine Floskel, doch hinter den simplen Worten hörte L den Zweifel und die nachsichtige Akzeptanz seines Freundes. „Mal ehrlich, Ryuzaki, warum hast du diese Falschmeldung in Umlauf gebracht?“

„Weil ich glaube, dass Kiras weiteres Vorgehen auf dem Gelingen seines Plans fußt“, gab L seine einstudierte Antwort und langte nach einem Becher Kürbispudding, der ebenfalls bedruckt war mit Gespenstern und Ungeheuern. „Er wollte, dass ich dich für Kira halte. Diese Nachrichten müssen ihm vorgaukeln, er habe sein Ziel erreicht. Das führt ihn zur nächsten Phase. Und ich frage mich ...“ Nachdenklich legte L die Spitze seines Puddinglöffels an die Lippen. „Ob es bei McDonalds wohl noch die Pommes frites mit Schokoladen- und Heidelbeersoße gibt?“

Light schnaubte kapitulierend und meinte: „Halloween ist vorbei. Die gibt es jetzt nicht mehr.“

„Ah, das stimmt wohl“, murmelte L und versenkte seinen Löffel im Pudding.

Es war vielleicht Selbstbetrug, zu hoffen, dass er den Zustand nach Lights letzter Inhaftierung wiederherstellen konnte. Die Aufdeckung von Yotsuba war nicht Ls Verdienst gewesen, denn zum damaligen Zeitpunkt hatte ihm schlichtweg das Interesse daran gefehlt. Sein Elan war verloren gegangen, weil er nur auf den Moment hatte warten wollen, bis Kira erneut durch Light in Aktion trat. Dass er hierfür den Stellvertreter finden musste, konnte möglicherweise auch dieses Mal dem Plan entsprechen. Wenn das Lights Plan war, dann wollte L mitspielen. Immerhin hatte ihn das schon einmal zu Kira zurückgeführt. Sicher konnte er zwar nicht sein, doch so merkwürdig es klang: In dieser Hinsicht wollte er Kira vertrauen.

„Light!“ Die überschwängliche Stimme gehörte dem zweiten Adressaten seiner Lügengeschichte. Misa kam herbeigeeilt, gekleidet in Lederjacke und Tüllrock und dazu, leidlich unpassend, die im Eingangsbereich der Wohnräume ausgelegten Pantoffeln, von denen sie einen unterwegs verlor. Sie warf ihrem vermeintlichen Liebsten die Arme um den Hals, der es über sich ergehen ließ. „Auftrag ausgeführt. Endlich wieder zurück!“

„Und die Früchte deiner Arbeit, Misa-san?“ Teilnahmslos streckte L ihr die Hand entgegen.

„Jaja, Sklaventreiber.“ Sie kramte in ihrer totenkopfförmigen Umhängetasche und förderte zutage, worum er sie gebeten hatte. „Hier ist mein Terminplan und eine Übersicht meiner Kontakte, die Mochimochi als mein Manager verwaltet hat.“

„Gut.“ Mit spitzen Fingern nahm L alles an sich und legte es auf dem Tisch ab, wo er es nicht weiter beachtete. „Im Wesentlichen benötigen wir das zwar nicht, weil ich dich ohnehin in der letzten Woche beschatten ließ, aber ein Abgleich kann nicht schaden.“

Im Hintergrund klappte Misa der Mund auf und sie verzog empört das Gesicht, was L geflissentlich ignorierte. Nachdem er ihr vorhin sein Märchen aufgetischt hatte, wollte er sie sowieso bloß dem Anschein nach unbeaufsichtigt mit einer Aufgabe zu ihrer Wohnung schicken, damit er sie von Wedy verfolgen lassen konnte. Die professionelle Einbrecherin hatte jedoch nicht gemeldet, dass Misa vom Weg abgekommen wäre.

Das Mädchen schmiegte sich nun wieder an Lights Arm, der sich halbherzig aus der Umklammerung zu lösen versuchte, während sein abwesender Blick über die dezimierten Apfelhasen glitt.

„Für das weitere Vorgehen brauchen wir mehr Licht“, erklärte L rasch mit erhobenem Zeigefinger. „Tageslicht. Wedy war gestern mit Misa-sans Überwachung ausgelastet; die Polizei konnte ich dafür leider nicht einspannen, denn um jemanden zu beschatten, der eigentlich vom Verdacht befreit wurde, sind die Beamten nicht moralisch flexibel genug. Jedenfalls ist eine Suche bei Tageslicht einfacher. Warten wir ab, ob sich morgen etwas anderes ergibt. Wir müssen aufpassen, wie wir in Zukunft die Aufgaben delegieren. Wir haben kaum noch Leute. Also dann, auf gute Zusammenarbeit.“ Damit erhob sich L.

„Was ... machen wir nun?“, wollte Light verblüfft wissen.

„Feiern“, antwortete L ohne Umschweife und wandte sich Richtung Fahrstuhl. „Wie wäre es mit einem Feuerwerk?“

„Zu dieser Jahreszeit? Feuerwerk ist was für den Sommer.“

„Aber vom Sommer hattest du nicht viel, oder, Light-kun?“ L ging an seinem Partner vorbei und fügte leise hinzu: „Vielleicht kann ich dir etwas vom Sommer zurückgeben.“

 

Sie standen auf dem Dach der Zentrale, umgeben vom Lichtermeer der Millionenstadt. Light schloss für einen Moment die Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Es war, als würde er diese Luft zum ersten Mal atmen. Sobald man seine Position änderte, sah die Welt völlig anders aus. Hier oben gewahrte man die Größe der Metropole und Vielzahl ihrer Bewohner, doch hinter den Fassaden aus Beton und Neonlicht war der einzelne Mensch nicht mehr erkennbar.

Ein abschwellendes Heulen jagte über ihren Köpfen gen Himmel, danach ein gedämpfter Knall, bevor ein Flitterregen auf sie herabrieselte. Erstaunt hielt Light den Blick erhoben, auf die unechten Sterne des Feuerwerks am sonst dunklen Firmament. Er stellte sich vor, wie diese Blumen aus Licht und Feuer auch seine Zweifel, all die vergangenen Ereignisse und mit ihnen sein altes Leben in der Nacht versprengten. Seinen Namen, seine Identität, seine gesamte Existenz, von alldem hatte L ihn befreit und es wie Sand im Wind verstreut. Konnte er auf diese Weise jemals zurückkehren, wenn er doch eigentlich tot war?

Eine Sekunde später wurde sich Light der Situation bewusst.

„Bist du wahnsinnig, Ryuzaki?! Was ist, wenn die leere Raketenhülle vom Dach fällt und jemanden verletzt?“

Verdutzt hielt L in seinem Tun inne. Er hockte vor der nächsten Feuerwerksrakete, ein Streichholz zwischen Daumen und Zeigefinger, und entgegnete schlicht: „Ich habe das alles vorher berechnet.“

„Erzähl nicht so einen Stuss. Von Höhenfeuerwerk war nicht die Rede. Nimm eine von denen hier und achte auf die Sicherheitsvorschriften.“ Light reichte ihm ein Bündel Wunderkerzen. Neben ihnen hatte Watari einen Eimer abgestellt, der das notwendige Wasser zum Löschen der Glut enthielt.

L blickte vom Wassereimer auf die Wunderkerzen und starrte sie eine Weile an, bevor er aufschaute und meinte: „Das ist kein Feuerwerk, Light-kun.“

„Warum machen wir das eigentlich?“, mischte sich Misa unbekümmert ein. Sie hatte eine der Wunderkerzen angezündet und kauerte sich vor den Eimer, um die Reflexion der sprühenden Funken auf der Wasseroberfläche zu betrachten. „Gibt es etwas zu feiern? Ich dachte, wir hätten Kira gar nicht erwischt und würden bloß wieder die Medien veralbern.“

„Heute ist Bonfire Night“, erklärte L. „Wir feiern das Überleben des Königs.“

„Wieso nur kommst du mir gerade ein bisschen egomanisch vor, Ryuzaki?“, spottete Light.

„Aber er spricht doch von dir, Light!“ Misa blickte aus der Hocke zu ihnen auf, das verdrehte Ende der Wunderkerze niedergestreckt über dem spiegelnden Wasser. „Du bist doch ...“ Sie brach ab, verlor den Faden. Light sah in ihr verwirrtes Gesicht und suchte gleichfalls den zerronnenen Sinn ihrer Worte. Der König ist tot, lang lebe der König. Was hatte er eben noch gesagt? Mit knisterndem Geräusch sprühte die Wunderkerze bunte Funken ins Dunkel, schwächer und schwächer werdend, bis sie gänzlich erlosch.

„... Suche nach dem Ende.“ Eine Stimme durchschnitt das Gewirr seiner Gedanken. L musterte seine selbsternannten Freunde und wiederholte: „Nach dem bisherigen Ende müssen wir uns erneut auf die Suche begeben.“ Er war zu einem Klapptisch hinübergetrottet, den vermutlich ebenfalls Watari irgendwann dort aufgestellt hatte. Darauf lagen mehrere Bögen geheftetes Papier und, wie es schien, der Terminplan von Misa, dem der Detektiv nun seine Aufmerksamkeit widmete. „Am gestrigen Morgen bist du sehr früh aufgebrochen, Misa-san, erinnerst du dich? Wie genau war dein Tagesablauf?“

Light horchte auf. Er beobachtete, wie Misa die ausgebrannte Wunderkerze in den Eimer gleiten ließ und aufstand. Ihr Blick wurde glasig, als müsste sie sich an etwas erinnern können. In dieser lockeren Atmosphäre, mit ein paar unverfänglichen Worten, begann also die Befragung von Kiras absichtslosem Gehilfen. Wenn es stimmte, was L ihm gesagt hatte, dann befand sich Misa unter dem Bann eines ominösen tödlichen Notizbuchs, von denen mindestens zwei auf Erden existierten. Das eine hielt der Meisterdetektiv unter Verschluss, das andere musste Misa im Laufe der vergangenen Woche irgendwo versteckt oder weitergereicht haben. Genau darauf zielte L nun ab. Indem sie gemeinsam nach dem zweiten Heft fahndeten, sollten sie sich gleichzeitig auf die Suche nach dem echten Kira begeben.

Mit weit aufgerissenen Augen näherte sich L dem Objekt seiner Befragung und starrte Misa aus nur wenigen Zentimetern Entfernung an.

Das Mädchen hob abwehrend die Hände. „Schon mal was von Sicherheitsabstand gehört?“

„Distanzzone nennt man das“, entgegnete L trocken.

„Wie auch immer. Ich weiß nicht mehr genau.“ Sie zählte an der geöffneten Hand einzeln ihre Finger ab, während sie herunterleierte: „Ich war in einem Konbini, habe ein paar Äpfel gekauft, danach ...“ In Lights Innerem schlug eine Saite an. Jede kindische Provokation beherbergte oft ein bisschen Wahrheit. Sein Blick haftete auf dem Papiermantel der Wunderkerze, die im Wasser kreiste wie der Zeiger auf dem Ziffernblatt einer Uhr. „... wie sonst meine beantwortete Fanpost eingeworfen, dann bin ich hierhergekommen, um Light zu sehen, und musste anschließend zur Arbeit am Set, bevor ...“

„Hier steht“, unterbrach L sie und studierte ein Dokument, das er an einer oberen Ecke mit den Fingerspitzen festhielt.

„Du kannst das im Dunkeln doch gar nicht lesen“, nuschelte Misa beleidigt.

„... du seist in der Drehpause lange auf Toilette gewesen“, beendete L unbeeindruckt und unverblümt seinen Satz. „Was hast du da gemacht? Hattest du Verdauungsbeschwerden oder warst du mit etwas anderem beschäftigt?“

„Du perverser Idiot!“, rief Misa empört, griff in seine schwarze Mähne und brachte seine Haare durcheinander, sodass L versteift die Schultern hochzog. „Du hast null Anstand!“

Light musste lachen, befreit und unbeschwert. Die Anspannung, die er seither auf den Schultern lasten spürte, war für einen kurzen Moment verflogen. Seither? Nein, eine Manipulation allein konnte sie nicht schuldig machen und es änderte offenbar auch nichts an Ls Einstellung, selbst wenn sich hinter ihren Masken ein Monster verbarg.

„Wenn das hier eine Feier sein soll, wo bleibt dann der Alkohol?“, protestierte Misa mit hochgestrecktem Arm. „Ich mag keine Fragen mehr beantworten!“

„Minderjährigen ist der Alkoholkonsum nicht gestattet“, wies Light sie zurecht.

„Nächsten Monat werde ich zwanzig! Was macht das für einen Unterschied?“

„Wenn du es vor dir selbst rechtfertigen kannst, dann tu dir keinen Zwang an, doch irgendwann könnte es zur Gewohnheit werden.“

„Du bist ja ein richtiger Spießer, Light. Oder machst du dir etwa Sorgen um mich?“ Misa wollte sich erneut an seine Seite schmiegen, doch Light drückte sie umständlich von sich.

„Darum geht es nicht“, erwiderte er ausweichend. Worum es eigentlich ging, wusste er selbst nicht. Auf seine Reaktion hin brachte Misa nur ein Grinsen zustande, die Karikatur einer frohgestimmten Geste. Light konnte nichts weiter dazu sagen. Wahrscheinlich wäre jedes ehrliche Wort zu viel gewesen.

Wind umwehte den Helikopterlandeplatz, zwar nicht kalt, aber unstet. Über Tokyo breitete sich die späte Nacht aus. Misa zündete bündelweise Wunderkerzen und bengalische Feuer an. Zwischenzeitlich musste ihr Watari eine Flasche Wein gebracht haben, denn sie wirkte bald ziemlich angeheitert.

An die Brüstung gelehnt verfolgte Light das Treiben und bemühte sich, seine Gedanken zur Ruhe kommen zu lassen. Seine Psyche fühlte sich an wie eine doppelt belichtete Fotografie, unscharf übereinandergelegte Konturen. Er schüttelte den Kopf und schaute hinauf zur grauvioletten Wolkendecke über den Lichtern der Stadt. Heute wollte er nicht mehr darüber nachsinnen müssen.

„Fragst du dich, warum ich das tue?“, sprach ihn Guy Fawkes von der Seite an. Er trug ein breites Grinsen unter schwarzen Augenhöhlen, die nichts reflektierten, ein unbewegliches Antlitz, das nichts preisgab. Dahinter jedoch lugte L hervor. Sein wahres Gesicht wirkte beinahe entschuldigend.

Er legte die Maske ab, um sie seinem Partner zu reichen, der sie ohne Verwunderung entgegennahm. Mit einer kurzen Neigung seines Kopfes deutete L zu Misa hinüber, die inzwischen mit den Wunderkerzen über das Dach tanzte.

„Ich nahm an, das würde uns aufmuntern“, erklärte er, „da schon vor ein paar Tagen Halloween ausfallen musste. Ich war ohnehin nicht in Stimmung dazu, obwohl es mein Lieblingsfeiertag ist. Das ist kein Scherz, Light-kun.“ Aus der Mimik seines Freundes hatte L anscheinend dessen Irritation abgelesen.

„Ich weiß.“ Light schmunzelte, wenngleich er insgeheim gehofft wie gefürchtet hatte, L könnte seine Frage anders meinen. Er wendete das überzeichnete Antlitz aus Plastik in seiner Hand, das den Terroristen oder Revolutionär darstellte. Was sollte ihm dieses Grinsen mitteilen? „Verkleidet mit komischen Masken durch die Stadt laufen, an fremden Haustüren klingeln und Süßigkeiten sammeln, das klingt genau nach dir. Nur an einem Tag im Jahr darfst du das ungestraft machen.“

„Woher willst du wissen, dass ich so etwas mache?“ L setzte ein sanftes Lächeln auf. „Ich bin kein Kind mehr.“

„Ja, du bist ein gestandener Erwachsener, der an den Nägeln kaut und keine Socken trägt. Ich muss dich ohnehin enttäuschen; so etwas machen wir in Japan normalerweise nicht.“ Während er seinen Blick über die Hausfassaden wandern ließ, behielt Light zunächst das eigene Lächeln bei, spürte es dann jedoch allmählich auf den Lippen schwinden. „Schon seltsam. Menschen, die so tun, als seien sie Monster.“

Im Augenwinkel bemerkte er, wie L ihm einen kurzen Blick zuwarf, bevor er antwortete: „Andererseits gibt es Monster, die so tun, als wären sie Menschen. Beide geben vor etwas zu sein, wovor sie eigentlich Angst haben.“

„Ist das so?“, sprach Light abwesend, ohne fragenden Unterton. „Wovor wir Angst haben ... Um sich stärker zu fühlen? Menschen kleiden sich in ihre Angst, weil sie glauben, damit an der Gewalt teilzuhaben, die sie fürchten. Die Kostümierung ist Schutz und Stärke zugleich, eine Möglichkeit, das eigene Ich hinter einer Fassade zu verbergen und sich in etwas zu verwandeln, das man nicht ist.“

„Es könnte sein ...“ L schien zu stocken, seine Stimme klang fast, als würde darin ein leichtes Zittern mitschwingen, das er sofort wieder unter Kontrolle brachte. „Es könnte sein, dass ich letztens gelogen habe, Light-kun. Was meine Angst betrifft. Wovor ich mich wirklich fürchte, ist vielleicht genau das. Es sind die Monster in unserer Welt. Es gibt viele Arten von Monstern. Solche, die sich nicht zeigen und eine unsichtbare Last ausüben. Solche Monster, die Kinder fangen oder ihnen den letzten Funken Kindheit und Unschuld rauben. Monster, die Träume fressen. Monster, die Menschen bis aufs Blut aussaugen. Und zum Schluss noch ... Monster, die Lügen erzählen. Die sind ein echtes Ärgernis. Sie sind viel raffinierter als andere Monster. Sie tun, als wären sie menschlich, obwohl sie kein menschliches Herz haben. Sie essen, obwohl sie niemals Hunger verspüren. Sie studieren und lernen fleißig, obwohl sie sich für nichts interessieren. Sie suchen nach Freundschaft, pflegen Beziehungen wie eine Pflicht, obwohl sie nie einen Freund geliebt oder jemandem vertraut haben. Mir war schon immer bewusst, sollte mir eines Tages ein derartiges Monster begegnen, dann würde es mich verschlingen.“ L machte eine kurze Pause und fügte hinzu: „Weil ich selbst ein solches Monster bin.“

Light klammerte sich mit einer Hand an die Brüstung und fühlte Gänsehaut auf seinen Oberarmen. Nicht zum ersten Mal wünschte er sich, so monströs und ungeheuerlich zu sein wie Kira, damit er genügend Macht und Gewalt besaß, um L in seinen Bann zu ziehen. Um Anziehungskraft auf ihn auszuüben. Er blickte hinab auf die Maske des Anonymous in seiner anderen Hand und hielt sie sich nach kurzem Zögern vors Gesicht, jedoch nur zur Hälfte.

„Was meinst du, wer ich werde, wenn ich die hier aufsetze?“ Vielleicht ein Monster, das seiner würdig war, wollte er hinzusetzen, doch er wagte nicht, es auszusprechen.

„Ein Racheengel?“

„Vendetta“, murmelte Light, „das stimmt schon. Aber diese Maske macht das Volk einander gleich. Sie können als Einheit hinter ihrer Idee stehen. Wenn das Rache bedeutet, dann ist es die Rache der Gerechtigkeit. Wir haben momentan einen sehr gefährlichen Zustand; sollte Kira wirklich untergetaucht sein, wird seine Idee nun von der Masse getragen. Wir müssen aufpassen, wie sich das entwickelt. Alle seine Anhänger könnten nun seine Maske tragen.“ Light seufzte und versuchte, seinen Worten einen heiteren Anstrich zu verleihen. „Davon mal abgesehen steht Halloween doch nicht nur für Angst. Für Kinder ist es ein Riesenspaß, sich so etwas aufzusetzen. Nicht nur dann täuschen sie gern vor, jemand anderes zu sein. Vielleicht weil sie ihre Identität noch nicht entdeckt haben.“

„Bis sie irgendwann erkennen, dass alle Menschen nur Masken tragen. Das ist der Moment, in dem ihre Kindheit endet.“

„Und erwachsen sind sie, sobald sie selbst eine haben“, bestätigte Light leise. „Jeder muss das irgendwann.“

„Was muss jeder irgendwann, Light-kun?“ Erwachsen werden oder eine Maske tragen? Das war die Frage, die er im Gesicht seines Freundes lesen konnte.

Light wandte den Blick ab, hinaus in die erleuchtete Finsternis. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und biss grüblerisch die Zähne aufeinander. Dann drehte er den Kopf erneut in Ls Richtung, um ihn, ohne eine Antwort, anzulächeln.

Zumindest hoffte Light, dass es nach einem Lächeln aussah, denn auf seinen Lippen fühlte es sich merkwürdig falsch an.

Bauernopfer

Bauernopfer
 

Demegawa Hitoshi war kein Glückspilz. Nein, er war Schmied seines eigenen Glücks.

Es war kein Zufall gewesen, dass ihm damals diese Videokassetten geliefert wurden, auf denen Kira, oder wer auch immer sich dafür ausgab, seine erste Ankündigung gemacht hatte. Praktischerweise hatte der vermeintliche Absender dieser dilettantischen Aufnahmen zum Beweis sogar noch ein paar Leute über den Jordan geschickt. Bessere Publicity konnte man sich nicht wünschen. Doch die günstige Gelegenheit hätte sich garantiert nicht geboten, wenn Demegawa nicht vorher wochenlang Kira zum Volkshelden hochstilisiert hätte. Beharrlichkeit zahlte sich eben aus. Alternative Fakten ebenso.

Nicht umsonst hatte er sich, obwohl er Druckbuchstaben verabscheute, am Anfang seiner Karriere durch einen Ratgeber gequält, der ihm zeigte, wie man mit Zahlen am besten log. Er glaubte nur der Statistik, die er selbst gefälscht hatte. Die Leute kauften ihm alles ab, solange sie bekamen, was sie ohnehin hören wollten. Konnte er die Berichte mit sogenannten Fakten belegen, umso besser. Auf die Art hatte sich Demegawa schon damals seine Position als Intendant von Sakura TV erarbeitet. Er hatte etwas aus sich gemacht. Im Gegensatz zu jenen Kollegen, die glaubten, es ginge bei öffentlichen Medien um Aufrichtigkeit. Die vierte Gewalt lebte von Einschaltquoten und Absatzzahlen.

Eines stand jedenfalls fest: Kira war eine Gelddruckmaschine. Einmal angeworfen, lief alles wie geschmiert. Oder besser, es war gelaufen. Bis dieser großspurige Meisterdetektiv mit der Bekanntgabe von Kiras Niederlage einen Stock ins Getriebe warf. L hatte Demegawas Goldesel geschlachtet. Was blieb ihm jetzt anderes übrig, als eine spirituelle Richtung einzuschlagen, die gegen jeden Zweifel erhaben war?

„Wir brauchen mehr, viel mehr!“ Ein letztes Mal inhalierte Demegawa den Rauch seiner Zigarette und drückte sie anschließend auf einer geleerten Getränkedose aus. Die Luft im Besprechungsraum war stickig und schwer vom nikotingeschwängerten Qualm. Seine Mitarbeiter saßen betreten auf ihren Klappstühlen und glotzten ihn an wie verschreckte Schleimfische. „Na los, bringt mir Ideen! Wofür habe ich euch überhaupt angestellt? Gibt es irgendetwas, das wir berichten können?“

„Nun ja“, begann sein Texter zögerlich, „seit wir verbreitet haben, die wahren Anhänger Kiras müssten Opferbereitschaft zeigen, sind die Selbstmordzahlen angestiegen.“

„Hervorragend!“ Demegawa klatschte in die Hände, dann beugte er sich vor und zeigte mit wippendem Zeigefinger reihum auf seine Mitarbeiter. „Daraus lässt sich was machen. Also, hört zu: Heute bin ich wieder zu einer Diskussionsrunde eingeladen, aber das allein bringt uns nicht weiter. Wir müssen selbst etwas auf die Beine stellen.“

„Ich kapiere nicht, warum wir sogar vom Öffentlich-Rechtlichen eingeladen werden“, warf sein Bildredakteur ein, während er wie immer gelangweilt einen Kugelschreiber zwischen den Fingern drehte und Kringel auf seinen Notizblock malte. „Bislang wiederholen wir nur die immer gleichen Heilsversprechen.“

„Trottel! Weil die Einschaltquote stimmt! Wenn du gute Einschaltquoten bringst, berichten sie über dich, selbst wenn du nichts zu sagen hast. Wir müssen bloß das zeigen, was die Leute ohnehin schon zu wissen glauben. Wenn wir ihre Ansichten bestätigen, werden sie uns aus der Hand fressen.“ Mit verschränkten Armen lehnte sich Demegawa zurück.

Seine Mitarbeiter wichen seinem Blick aus, taten so, als überlegten sie, oder nippten an ihren Gerstentees, um beschäftigt zu wirken. Allesamt nutzlos.

„Spätestens für Montag brauchen wir ein neues Sendeformat“, verkündete Demegawa entschieden und breitete die Arme zu einem imaginären Schriftzug aus. „Kiras Königreich! Irgendetwas in der Richtung.“

„So ein Schwachsinn.“

„Die Leute lieben Schwachsinn! Wir tragen ein bisschen dick auf, das wird ihnen gefallen. Wenn man schon denken muss, kann man auch gleich groß denken.“

„Aber wir wissen doch gar nicht, wohin das führen könnte.“

„Wohin das führen könnte“, äffte Demegawa seinen Untergebenen nach. „Habe ich einen Haufen Luschen herangezogen? Niemand weiß, wohin das führt! Alles, was ich weiß, ist, was im Internet steht. Und das Internet vergöttert Kira. Die Menschen verlangen nach ihrem Gott! Darum werden wir ihnen genau diesen Gott geben.“
 

In den Plan war er erst später eingeweiht worden, nachdem schon alles vorbei war. Jedenfalls konnte sich Light nicht entsinnen, dass er während seiner vermeintlichen Überführung am vorigen Abend von allein darauf gestoßen wäre und mitgespielt hatte. Wie hätte er auch ahnen sollen, dass L eine Art Reboot durchführen wollte? Ein Neustart, der das System zurücksetzte, um den Arbeitsspeicher zu leeren. Oder eher ein harter Reset?

Irritiert schüttelte Light den Kopf. Was war das für ein Gedankengang? Er versuchte ihn zurückzuverfolgen, doch verschwand dessen Anfang, das lose Ende des Fadens, im Riss zwischen seinen Erinnerungen. Vielleicht war er einfach nur überlastet. In der letzten Nacht hatte er trotz Müdigkeit kaum Schlaf gefunden, allein in seinem Zimmer, eingesperrt mit der Stille, die wie Watte seine Ohren verstopfte, ähnlich der Taubheit nach einem Knalltrauma, wenn die Trümmer nurmehr flüsterten und der Staub sich legte. Der Krieg war vorbei, doch die Asche glühte noch.

Der abgeschottete Hauptüberwachungsraum gab keinerlei Aufschluss über die Tageszeit, lediglich die Uhren hielten seine Insassen im Rhythmus. Es war Vormittag. Auf einigen Bildschirmen liefen Nachrichtensendungen, andere zeigten Koordinaten auf Stadtausschnitten von Tokyo und wieder andere führten Personenlisten sowie Diagramme über Bewegungsprofile der vergangenen Woche. Noch einmal streckte Light im Stehen sein Rückgrat durch und ließ anschließend das Knöchelgelenk mit der elektronischen Fußfessel kreisen, um sich an das Gewicht zu gewöhnen.

Stunden zuvor hatte er den Raum vollkommen ohne Begleitung verlassen. Er hatte seinen Partner, auf dessen eigene Aufforderung hin, sich selbst überantwortet. Seitdem schien sich nichts verändert zu haben. Nur die Süßigkeiten, die neben L auf dem Tisch lagen, waren mittlerweile ausgetauscht. Eine Hand glitt über die Tischplatte, schlanke Finger erreichten die Öffnung einer Tüte voller Fruchtgummis von Haribo. Schräg hinter ihm stehend beobachtete Light, wie sich sein Partner eine rosa Himbeere zwischen die Lippen schob.

„Higuchi hatte das Heft bei sich, als wir ihn festnahmen“, antwortete L endlich auf die Frage, deren Wortlaut Light zwischenzeitlich entfallen war. „Wie es funktioniert, wissen wir durch die Regeln, die auf der Innenseite stehen. Allerdings wissen wir nicht, woher er es hatte. Fest steht nur, dass es echt ist und dass es zwei Hefte geben muss.“

Light meinte sich zu erinnern; an die grellen Scheinwerfer der Polizeiwagen, schemenhafte Silhouetten, die sich davor bewegten, Frontstrahler, die blendeten und eine freie Sicht behinderten, lange Schatten auf dem nächtlichen Asphalt. Der Schrei seines Vaters und dann – das Heft in seiner Hand. Light hatte die unzähligen Namen zwischen den Zeilen mit den Todesopfern verglichen. Es war am Abend vor neun Tagen gewesen, zwei Minuten nach halb elf Uhr.

„Die jüngsten Ereignisse bestätigen meine Schlussfolgerung“, hörte er L weiterreden. „Wir wussten bereits, dass Amane Misa der zweite Kira war. Jedoch ist unklar, wie der erste Kira sie kontrollierte. Es könnte die lenkende Kraft sein, von der wir ausgehen, oder Erpressung. Es muss mit dem Heft in Zusammenhang stehen, darum weiß Misa-san nichts, solange sie es nicht besitzt, und verrät uns nichts, sobald sie es zurückerhält.“

Was sie wussten, was sie wissen mussten, was er wissen sollte. Nur Worte und eine ungewisse, unbewusste Wahrheit. Light kam es vor, als hätte er all diese Erklärungen schon einmal gehört, doch sicher war er sich nicht. Es fühlte sich an wie ein Déjà-vu.

Mit Daumen und Zeigefinger drückte L auf einer Fruchtgummibeere herum, während seine andere Hand weitere elastische Bonbons unterschiedlicher Form und Farbe aneinander schichtete; wie Puzzleteile setzte er eines neben das nächste, Früchte, Frösche, Fledermäuse, bis nach und nach ein unzusammenhängendes Konstrukt entstand.

„Was wäre“, begann Light langsam, wobei sein Blick weiterhin auf Ls geschäftigen Händen weilte, „wenn ich versuchen würde, auf Misa einzureden, nachdem sie das Papier von dem Heft berührt hat? Um sie zur Kooperation zu bewegen.“

L durchbohrte ihn mit seinen dunklen Augen. Light wich nicht aus, hielt ihm stand.

„Sie würde ... es sofort wieder aufgeben“, murmelte L undeutlich. Er wandte sich erneut seinem Gebilde aus Gummibonbons zu und stapelte davor eine Mauer aus Lakritzkonfekt, angeordnet im Läuferverband, wie Light mit spöttischer Belustigung über sein unnützes Wissen dachte. Sämtliche Lakritze war für die Mauer von L aussortiert worden. Wahrscheinlich mochte er sie nicht. „Kira würde sich ihrer vielleicht entledigen, wenn wir das versuchen“, setzte L seine Spekulation über Misa fort, „aber seine Kontrolle müsste es ohnehin verhindern. Sie würde sich nicht gegen ihn stellen.“

Kurzentschlossen griff Light nach dem Stuhl neben seinem Partner und setze sich rasch an dessen Seite. Er stützte einen Ellbogen auf die Tischplatte und wandte sich ihm halb zu, um L besser ins Gesicht schauen zu können. „Ryuzaki, diese Ankündigung gestern war ein erster taktischer Schritt, nicht wahr? Dass ich als vermeintlicher Kira festgenommen wurde, weiß nur das Ermittlerteam. Mein Vater wird seinen Vorgesetzten die Situation so schildern, wie du es ihm aufgetragen hast. Die japanische Polizei hat keinerlei Befugnis, um zu überprüfen, was nach der fingierten Überführung geschah. Auch Interpol bist du Rechenschaft schuldig. Ausliefern kannst du mich nicht, darum hast du ihnen wahrscheinlich erzählt, Kira sei gestorben.“

„Das stimmt“, gestand L und ignorierte Lights eindringlichen Blick, indem er seine Aufmerksamkeit weiterhin auf das chaotische Konstrukt richtete, von dem er sich ab und zu ein Gummibonbon einverleibte. Die Mauer blieb unangetastet.

Light ließ sich davon nicht beirren. Er wandte sich dem Computer zu und rief mit raschen Tastenanschlägen die Daten der ICPO auf, während er fortfuhr: „Aus diesem Grund ist die Red Notice zu Kira verschwunden; sie wurde nicht bloß aus der offiziellen Liste gestrichen, sondern gilt tatsächlich als geklärt. Wahrscheinlich mussten sie das tun, um deiner Meldung zu entsprechen. Weder Interpol noch die japanische Polizei erhielten einen Beweis, dass Kira überführt wurde. Mit der öffentlichen Ankündigung zwingst du sie, diese bittere Pille einfach zu schlucken. Interpol war sowieso kaum involviert und die NPA hat nur noch fürs Protokoll mitgemischt. Somit hast du auf Kosten der öffentlichen Sicherheit einen Kompetenzkonflikt geschaffen. Beide Instanzen sind jetzt zum Schweigen verurteilt, wenn sie ihr Gesicht nicht verlieren wollen. Du hast sie gegeneinander ausgespielt. Man könnte auch sagen, du hast jede Menge Staub aufgewirbelt, um mich dahinter zu verstecken.“

L verschluckte sich und unterdrückte ein Husten.

„Was ist los?“, fragte Light besorgt.

„Ich habe einen Frosch im Hals“, erklärte L mit erstickter Stimme und hielt ihm, wie zum Beweis, ein grünes Gummitier in Froschform entgegen.

Light schloss für einen Moment die Augen. Er presste die Lippen aufeinander und atmete geräuschvoll aus. Als er die Augen wieder öffnete, ließ er seinen Blick auf dem Monitor ruhen, auf der nun fehlenden internationalen Ausschreibung jener einzigen gesuchten Person, von der niemals ein Name, Foto oder sonstige Informationen existierten. All das sagte ihm, er sollte die Waffen besser fallen lassen.

Nach einer Weile eröffnete L versöhnlich: „Wir gehen gleich in Konferenzschaltung mit Aiber und Wedy.“

„Wissen sie Bescheid?“

„Nein. Vorerst soll das auch so bleiben, obwohl ich es nicht ausschließe, sie irgendwann einzuweihen. Ihre Mithilfe ist für uns sehr wichtig, dafür brauchen sie Informationen, die ich ihnen in ausreichender Menge zukommen ließ. Mehr haben sie nicht verlangt. Beide kennen mein Gesicht, ich vertraue ihnen und sie stellen keine Fragen. Außerdem ist Wedy ein Profi im Einbruchsgewerbe, sie könnte hier problemlos unangemeldet aufkreuzen und von allein darauf stoßen, dass du noch am Leben bist und wir zusammenarbeiten. Aber nein, noch wissen sie nicht Bescheid.“

„Und das ist keine Blindheit?“ Light benutzte absichtlich jenes Wort, das der Meisterdetektiv gern mit Vertrauen gleichsetzte.

„Mit beiden bin ich durch ehemalige Fälle verbunden, die mir ihre Loyalität zusichern“, erklärte L. „Sie sind mir, sozusagen, zu Dank verpflichtet. Außerdem besitze ich gewisse Informationen über ihre außerrechtlichen Tätigkeiten.“

„Das heißt, du erpresst sie.“

„Watari, ist die Verbindung hergestellt?“ Ls Finger, der bis eben noch gegen die Mauer aus Lakritzkonfekt getippt hatte, verharrte nun auf dem Schalter der Sprechanlage. Offenbar verzichtete er darauf, seiner Konstruktion den untersten Baustein zu rauben.

Light seufzte. „Du scheust dich nicht, das Geschirr zu zerschlagen, um eine Ratte zu fangen, Ryuzaki“, formulierte er einen Seitenhieb, von dem er wusste, dass er seine Wirkung verfehlen würde. Wenn es überhaupt eine Wirkung hätte haben sollen. Dieses chinesische Sprichwort, das ursprünglich bedeutete, man solle Vorsicht walten lassen, um nicht einen späteren Schaden zu bereuen, konnte umgekehrt genauso heißen, dass man bloß zum Schutz des Geschirrs die Ratten verschonte, die eine Plage und Überträger von Krankheiten waren. Die von ihnen ausgehende Gefahr war schlimmer als der Verlust des edlen Porzellans. Nicht zuletzt war der Wert des Geschirrs ohnehin von der Anwesenheit der Ratten gemindert worden; sie hatten es beschmutzt, verunreinigt, verdorben. Darum konnte jenes geflügelte Wort eine Kritik an Menschen sein, die vor jeglichen Aktionen zurückschreckten. Es konnte heißen, dass man, um Unschuldige nicht zu verletzen, das Böse gewähren ließ. Aber wer war, wie im Fall von Ls kriminellen Gehilfen, schon unschuldig?

Wenige Minuten später hatten sie Kontakt zu den beiden Verbrechern aufgenommen. Light hielt sich schweigend im Hintergrund. Zuerst fasste Aiber, im Glauben, er spräche allein zu L, die Aktivitäten der letzten Stunden zusammen. Er hatte gemeinsam mit einem zugewiesenen Team an Arbeitern sofort bei Tagesanbruch das Waldstück untersucht, in dem Misa während ihrer Überwachung gesichtet worden war. Sie mussten davon ausgehen, dass das tödliche Notizbuch zumindest zeitweilig dort versteckt gewesen war, und nur Aiber wusste vor Ort, wonach sie suchten.

„Wir haben alles in diesem Areal abgegrast“, schloss er mit erschöpfter Stimme. „An einer Stelle ist die Erde aufgelockert, dort war es wahrscheinlich vergraben. Wenn das stimmt, dann ist es jetzt jedenfalls nicht mehr hier.“

„Verstanden“, sagte L, „etwas anderes habe ich sowieso nicht erwartet. Wie ich Ihnen bereits mitteilte, lag die Wahrscheinlichkeit, etwas zu finden, bloß bei 0,73 Prozent.“

„Die Angabe war ernst gemeint? Ich dachte, das wäre nur Ihrem bizarren Humor zuzuschreiben.“

„Die Wahrscheinlichkeit, dass meine Wahrscheinlichkeiten nur ein Scherz sind, beträgt gerade mal 3 Prozent.“

Aiber murmelte etwas, das klang, als würde er eine baldige Kündigung in Erwägung ziehen. Ohne einen weiteren seiner lockeren Sprüche verabschiedete er sich.

Auch Wedy wirkte müde, als sie kurz darauf von Misas Beschattung erzählte. „Ich konnte ihr nicht rund um die Uhr folgen; in die Umkleidekabine oder auf die Toilette. Irgendwann wollte ich auch mal schlafen. Abgesehen davon, dass ich Diebin und Einbrecherin bin, kein professioneller Stalker.“

„Was ist mit der Post?“, überging L den sarkastischen Einwurf. „Misa soll einiges versendet haben.“

„Ja, sie hat ein paar Briefe verschickt, was für sie nichts Ungewöhnliches ist. Nach meiner Einschätzung dürfte das alles Fanpost gewesen sein. Sie könnte das Heft praktisch überall versteckt oder weitergegeben haben, bei den Dreharbeiten in ihrer Kabine zum Beispiel. Sie ging mehrmals mit Freundinnen shoppen, einmal war sie im Kino, einmal beim Karaoke.“

„Ist jemandem davon bisher etwas zugestoßen?“

„Was denn, ein Hörsturz beim Karaoke?“

„Todesfälle.“

„Unter den Leuten, mit denen sie Kontakt hatte? Bislang gibt es zumindest keine Nachrichten dieser Art.“

Ruckartig betätigte Light den Schalter für die Übertragung, sodass für einen Moment lediglich die Stimme der Diebin zu hören war, ohne dass diese etwas aus der Zentrale vernehmen konnte. „Du glaubst doch wohl nicht“, ging Light auf die versteckte Mutmaßung ein, „Misa würde eine Freundin umbringen, nur um sie kontrollieren zu können?“

„Was denkst du denn?“, stellte L ungerührt eine Gegenfrage.

Light hielt inne, überlegte einen Augenblick. Dann meinte er: „Kira würde es tun. Er könnte Misa gezwungen haben, das Heft einer Freundin zu geben, und dieser per Death Note den Befehl erteilen, es auf irgendeinem Weg an ihn weiterzureichen.“

„... besitze ja keine Schar an Doppelgängern, um jeden zu beschatten, der mit Amane mal ein Wort gewechselt hat“, redete Wedy indessen weiter. „Es ist ohnehin kaum zu glauben, wie viele Fans sie hat. Unmöglich, die alle ausfindig zu machen. Selbst wenn einem von denen etwas passiert, vermutlich würden wir es nicht mal mitbekommen. Ich habe mich auf Amane konzentriert und kenne daher nicht von all ihren Kontakten die Identität. Aber ich habe Fotos geschossen.“

„Gute Arbeit“, klinkte sich L endlich in ihren Monolog ein, nachdem er den Übertragungsschalter erneut betätigt hatte.

„Ein Tropfen auf dem heißen Stein“, entgegnete sie zynisch.

„Wir konnten nicht wissen, dass Amane Misa das Heft weitergeben würde“, räumte L ein, „aber ich hätte es einkalkulieren müssen. Da ich nicht damit rechnete, ist es mein Fehler. Einen Moment bitte.“ Diesmal unterbrach L die Übertragung, um sich an seinen Partner zu wenden. „Was meinst du dazu?“

„Ungewöhnlich für Kira“, stimmte Light zu. „Es muss in seinem Interesse sein, die Personenzahl der Involvierten so gering wie möglich zu halten. Das Heft an irgendjemanden weiterzureichen, wäre extrem riskant. Umso wahrscheinlicher ist es, dass er alle Mitwisser aus dem Weg räumt. Aber vielleicht hat er sich das Heft auch direkt über Misa zukommen lassen und es befindet sich längst in seinem Besitz.“

„Vielleicht.“

Light studierte Ls Miene. „Du hältst es für unwahrscheinlich, dass Kira um mehrere Ecken bereits an das Heft gelangt ist, oder? Jetzt, da ich tot bin, muss er aufpassen, nicht zu schnell in die Schusslinie zu geraten. Dennoch dürfte eine Verfolgung der Spur direkt zu ihm führen.“

„Außer“, wandte L ein und hob einen Zeigefinger, „er schiebt einen Stellvertreter ins Feld.“

In einem Schachspiel ging es nicht darum, den einzelnen Bauern zu schützen, sondern die Figuren gezielt einzusetzen. Die Kunst bestand darin, mit so wenig Zügen und Opfern wie möglich zu gewinnen. Der König konnte nicht geschützt werden, indem man alle bedrohten Figuren in Sicherheit zu bringen versuchte, nur bedacht auf den nächsten Schritt. Wenn man jeden zu retten versuchte, nichts und niemanden aufgeben wollte, konnte am Ende kein einziger gerettet werden.

„Falls Misa das Heft an jemanden weitergegeben hat“, sagte Light nachdenklich, „handelt es sich bei dem Mittelsmann mit Sicherheit um ein Bauernopfer.“

„Hoffst du um Misas willen, es wäre anders?“

Light schaute auf. Diesmal wich L seinem Blick nicht aus, sondern erwiderte ihn ernst, fast sorgenvoll. Seine Frage verlangte nicht nach einer Antwort.

„Wedy“, sagte L schließlich, den Finger wieder auf dem Übertragungsschalter, „lassen Sie mir bitte die Fotografien und alle vorhandenen Daten über sämtliche Kontakte zukommen, die Amane Misa in der letzten Woche hatte.“

„Roger.“

„Watari, ich brauche ein paar Leute, die sich darum kümmern. Möglichst welche, die sich auch zufällig mit ihnen unterhalten können.“

„Sie meinen“, hörte man Wataris Stimme zögernd aus dem Lautsprecher, „wie Mogi-san im Fall von Kitamuras Tochter? Leider muss ich Sie daran erinnern, dass wir nur noch bedingt auf die Unterstützung der Polizei zurückgreifen können. Unsere alternativen Ressourcen sind nicht ausreichend oder bergen die Gefahr gewisser Informationslecks.“

„Ich werde mir etwas überlegen“, entgegnete L bestimmt. „Sollte sich ein Verdacht auftun, kann es nötig sein, die Wohnungen der betreffenden Personen zu untersuchen. Wedy?“

„In dem Fall stehe ich natürlich wieder zur Verfügung“, bestätigte sie umgehend, ohne sich den sarkastischen Zusatz zu verkneifen: „Schön, wenn ich mich zur Abwechslung mal wieder mit meinem Spezialgebiet beschäftigen darf.“

„Ich zähle auf sie“, entgegnete L und unterbrach die Übertragung. „Light-kun, wir brauchen hierbei Misa-sans Mithilfe. Erstens benötigen wir ihre Fanpost. Zweitens muss sie sich mit den Leuten in Verbindung setzen, die sie in der letzten Woche traf, und diese danach fragen, ob sie ihnen etwas gegeben oder ihnen irgendwelche Anweisungen erteilt hat.“

„Und was ist, wenn Kira das mitbekommt?!“ Der plötzliche Vorstoß machte Light fassungslos. „Er kennt ihren Namen und könnte sie aufhalten, sollte sie das tun. Genauso könnte er andere Kontaktpersonen umbringen, die sich einem Mittelsmann auffällig nähern. Wenn er dieses Bauernopfer per Death Note dazu zwingt, kein Wort zu verlieren, ist die ganze Aktion völlig sinnlos und würde Misa bloß unnötig in Gefahr bringen!“

„Wir müssen es trotzdem versuchen.“ L war aufgestanden und packte Light unvermittelt an den Armen, um ihn zu beruhigen, oder vielleicht auch nur, um ihn daran zu hindern, zurückzuweichen. Eindringlich redete L auf ihn ein. „Das Augenlicht besitzt er nicht. Unüberlegte Handlungen seinerseits würden unseren Verdacht nur bestärken, erst recht, wenn sie sich auf eine bestimmte Person beschränken. Das würde er nicht riskieren. Glaub mir, die Gefahr ist geringer, als du denkst.“

„Ich soll dir vertrauen?“

„Ja.“

Sie blickten einander starr in die Augen, L mit dem unmissverständlichen Willen, seinen Partner zu überzeugen, Light lediglich beherrscht von Ungläubigkeit und Zweifel.

Ein langer Moment verging, bevor Light endlich nachgab. Er atmete schwer aus und nickte.

So plötzlich, wie L nach ihm gegriffen hatte, ließ er ihn wieder los.

„Es gibt eine Möglichkeit“, fügte Light düster an, „wie Kira verhindern kann, dass wir ihm bei seiner Aktion auf die Schliche kommen.“

„Hm?“

„Indem er einfach wahllos alle umbringt.“ Wie er es damals mit den FBI-Agenten getan hatte, ergänzte Light in Gedanken und wusste, dass L den Wink verstand, auch ohne es auszusprechen.

Doch L kramte unbeteiligt in seiner Süßigkeitenpackung, schob sich ein paar Gummibonbons in den Mund und nuschelte: „Wenn er das wollte, hätte er es schon längst getan und wir könnten daran nichts ändern.“

Light betrachtete den wirren Haufen an Zuckerwerk, der sich vor seinem unfokussierten Blick in ein konturloses Gemisch verwandelte. „Meinst du“, begann er tonlos, „Misa wird … noch sterben? Dass Kira sie durch eine Anweisung im Heft kontrolliert?“

„Spätestens in dreiundzwanzig Tagen wissen wir mehr.“
 

Einen halben Meter Abstand zum nächsten Grundstück, so wurde es von der Verordnung vorgeschrieben, daran meinte sich Nori aus den zahlreichen Vorträgen zu erinnern, die ihr Onkel gern bei Familienfeiern über seine Tätigkeit als Verwaltungswirt in der Bauaufsichtsbehörde hielt. Ein halber Meter für Sonnenlicht, ein halber Meter Erdbebenschutz, ein halber Meter Privatsphäre. Fünfzig Zentimeter Raum bis zum nächsten Leben.

Irgendwo in diesen engen Lücken zwischen den Gebäuden sollten Stimmen aus früherer Zeit hausen, so erzählten es urbane Legenden. Nori sah aus dem Fenster ihres Zimmers und ließ ihren Blick durch ein Gewirr von Stromkabeln über all diese Lücken gleiten. Aneinandergereihte Blumenkübel mit verkümmerten Pflanzen darin. Klimaanlagen, die fast die gegenüberliegende Mauer berührten. Regenrinnen, die sich daran vorbeiquetschten. Fenster, die direkt auf das nächste Haus starrten und niemals geöffnet wurden. Dicht voreinander standen die Gebäude und doch schien eine unsichtbare Barriere sie voneinander zu trennen.

Noris Mobiltelefon vibrierte.

Sie kramte es unter ein paar Zeitschriften hervor und warf einen Blick auf das Display. Sofort setzte sie sich auf den Boden neben ihren Tisch und nahm den Anruf entgegen. „Hallo, Misa-senpai, wie geht‘s?“

„Ganz gut, Nori-chan, und dir? Wie lief das letzte Vorsprechen?“ Für diese Zahnpastawerbung, das meinte Misa wohl, oder für die Lolita-Castingshow, von denen es derzeit etliche gab.

„Ach, na ja.“ Nori lachte.

„Weißt du, ich rufe aus einem bestimmten Grund an, Nori-chan. Wir haben uns doch letztens in der Stadt getroffen und etwas unternommen. Kannst du dich erinnern, dass ich dir da etwas gegeben habe?“

„Natürlich“, antwortete Nori und griff mechanisch nach ihrer Handtasche. Sie klemmte sich das Mobiltelefon zwischen Wange und Schulter, um die Hände frei zu haben. „Ich trage es seitdem immer bei mir“, erklärte sie, während sie in der Tasche suchte.

„Hast du nicht Angst“, fragte Misa, „es zu verlieren?“

„Da könnte ich es eher im Chaos meines Zimmers verlieren.“ Wieder lachte Nori. „Ah, da ist es.“ Sie holte ein Lederetui in der Größe eines Notizblocks heraus, öffnete es und hielt eine längliche, mit Schriftzeichen bedruckte Karte in der Hand. „Das Ticket zum Konzert von Ryuga Hideki! Ich hätte nie gedacht, dass du mir so kurzfristig noch eine Karte besorgen kannst, Misa-senpai, vielen Dank!“

„… Das freut mich für dich, Nori-chan. Mehr habe ich dir nicht gegeben?“

„Was meinst du?“, fragte Nori und starrte auf die Lücke zwischen Bett und Schreibtisch.

„Schon gut. Ich wollte nur sicher gehen, dass du das Ticket nicht verbummelt hast.“

„Was soll das heißen?!“ Nori hörte Belustigung und Empörung in ihrer eigenen Stimme. Misa klang reizend und zuckersüß. Wie immer. Die beiden Freundinnen plauderten noch über dies und das, sie alberten, lachten. Dann legte Nori auf und schaltete den Fernseher ein.

„…bstmorden haben wir von Sakura TV schließlich nichts zu tun. Ich finde es großartig, wenn man sich entschuldigt, aber dafür muss man einen Fehler gemacht haben. Ich werde mich natürlich sofort entschuldigen, sollte ich irgendwann in ferner Zukunft jemals einen Fehler machen.“

„Sie sehen sich also in keiner Weise in der Verantwortung, Demegawa-san?“

Nori schaltete um. Eine Soap. Ein Anime. Eine Gewinnshow. Nachrichten.

Sie legte die Fernbedienung beiseite. Ihre andere Hand hielt noch immer die Konzertkarte fest. In den Tagesnachrichten wurde der gleiche Bericht über Kira abgespult, der schon eine Weile im Kreis lief. Danach ging es um Unwetter in Kyushu, ein Erdbeben in der Kansai-Region, irgendwelche außenpolitischen Treffen, ein abgestürztes kleines Flugzeug, zerstörte Scheiben in einer Einkaufsstraße, Demonstrationen gegen Militärstützpunkte, eine neue Blumenausstellung. Es war, als ginge die Welt einfach weiter.

Schließlich kamen die Gesichter. Frontal fotografiert, versehen mit Namen und Alter. Nori kannte einen von ihnen von einem Gesucht-Plakat in der Bahn. Ihre Hand hielt noch immer die Konzertkarte fest. Jetzt schob sie dahinter ein liniertes Stück Papier hervor, das wie ein Vogel gefaltet war. Sie setzte sich an ihren Tisch, nahm einen Stift und schrieb. Zuerst vorn, dann hinten an eine freie Stelle der groben Faltung.

Als sie fertig war, schüttete sie die Glasschale mit den Büroklammern aus, griff nach der Streichholzschachtel neben ihren Dekokerzen und zündete das gefaltete Stück Papier an. Sie hielt den Origami-Vogel ein paar Sekunden fest und schaute zu, wie ihn das Feuer zerfraß, bevor sie ihn in die Glasschale fallen ließ. Dort krümmte er sich zusammen und starb langsam.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Der erste Satz basiert auf einem Zitat aus der „Ilias“ von Homer: Gleich wie die Blätter im Walde, so der Menschen Geschlecht, dies wächst und jenes verschwindet. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Nori ist eine Freundin von Misa und taucht im sechsten Band auf, Seite 102 bis 105. Auch den Nachrichtensprecher Tanakabara Koki gibt es im Original, dritter Band, Seite 167. Er ist trotz des geringen Platzes, den man ihm zubilligte, einer der mutigsten Kira-Gegner. Im Anime erhielt er sogar durch das Fernsehbild ein im Manga nicht spezifiziertes Aussehen. Übrigens wurde er in der deutschen Erstauflage fälschlicherweise als Barakoki Tanaka übersetzt. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Die sogenannte stillste Stunde im ersten Absatz dieses Kapitels stammt aus Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Der fröhliche Geselle ist eine Anspielung auf ein Lied aus „Tabaluga und das leuchtende Schweigen“.
2. Als L meint, das Schicksal verleihe keine Waffen, zitiert er Poseidonius.
3. Gott wolle es, mit diesen Worten rief Urban II. den ersten Kreuzzug aus.
4. Eine weitere Anspielung darüber, dass Wahrheit selten rein oder einfach sei, verweist, obwohl nur äußerst subtil, auf Oscar Wilde.
5. Die etwas lyrische Metapher über die Blumen und den Frühling stammt von dem Dichter Pablo Neruda.
6. „Enge Räume“ ist eine Formulierung, die auf den gleichnamigen Roman von James Purdy anspielt.
7. L ginge es nicht um Gerechtigkeit, sondern lediglich um die Lösung spannender Fälle, das teilt er den Kindern von Wammy’s House per Bildschirm mit. Im Zuge einer Fragerunde gesteht er dort sogar, dass er viele Verbrechen begeht und nicht ehrlich spielt, wenn er dafür gewinnen kann. An diese Episode erinnert sich Near in der Manga-Kurzgeschichte, die nach Death Note erschien und zwei Jahre später spielt. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Der Kapiteltitel ist eine Anspielung auf Goethes „Faust II“. Lethe ist der griechische Unterweltenfluss, durch den man seine Erinnerungen verliert.
2. Als L denkt, alles wahrhaft Böse würde aus Unschuld geboren werden, zitiert er Ernest Hemingway.
3. Der Gedanke, der Mord sei des Mörders und falle auf ihn zurück, stammt aus dem Gedicht „Ein Gesang von der rollenden Erde“ von Walt Whitman. Ein weiterer passender Abschnitt aus „Gib mir die strahlende, schweigende Sonne“ lautet:
Ich sehe das, wovor ich fliehen wollte,
sich meinen Schreien entgegenstellen, sie überschreien,
seh meine eigene Seele das mit Füßen treten, worum sie bat.
Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Otemachi Mao taucht im Manga im Band 9, Seite 111 auf. Die Namenslesung ist aus der deutschen Übersetzung entnommen.
2. Ls Aussage darüber, dass er vor Monstern Angst haben würde, stammt vom Anfang der später erschienenen Kurzfassung des Anime „Relight 2: L’s Successors“.
3. Es ist ein Zitat von Thomas Manegold, dass die Kindheit endet, sobald man erkennt, dass alle Menschen nur Masken tragen, bis man irgendwann selbst eine hat. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
1. Ich habe Demegawa einige Zitate von Donald Trump in den Mund gelegt.
2. Mit einer Red Notice (oder Roten Ausschreibung) ersucht Interpol weltweit, teils öffentlich, um die Festsetzung bestimmter Personen, die normalerweise mit Namen oder zumindest Bild in der Liste geführt werden.
3. Man zögert, eine Ratte zu erschlagen, um nicht das Geschirr zu zerstören. Light verwendet hier ein chinesisches Sprichwort, das auf eine Erzählung im „Han Shu“ zurückgeht.
4. Beim Schreiben habe ich mich von „Der Krieg ist vorbei“ von Judith Holofernes inspirieren lassen. Komplett anzeigen

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Von:  Venu
2018-11-02T17:47:44+00:00 02.11.2018 18:47
Hey du :) Hoffe, du weißt noch wer ich bin. Ich muss gestehen, dass ich die letzten zwei Jahre kaum bis gar nicht hier Online war, aufgrund einiger persönlicher Probleme die ich hatte. Das erkläre ich dir aber näher in einer anderen Nachricht, falls es dich noch interessiert, natürlich. ^^"

Irgendwie hatte Ich die letzten Tage das dringende Bedürfnis, eine richtige gute FF zu lesen und musste direkt an deine denken. Das heißt, dass ich 'Zwischen den Zeilen' jetzt bereits zum dritten Mal komplett gelesen habe und ob du es glaubst oder nicht, die Geschichte hat mich genauso begeistert und ich habe wieder genau so mitgefiebert, als würde ich sie zum ersten Mal lesen! Deine FF nochmal zu lesen, hat irgendwie so ein vertrautes Gefühl ausgelöst, ich hab es wirklich genossen, sie nochmal zu lesen und werde es sicher wieder tun. ^^

Dabei habe ich dann mit Freude gesehen, dass du erst kürzlich ein neues Kapitel zur Fortsetzung veröffentlicht hast, was ich natürlich gleich verschlungen habe. Ich weiß nicht, ob ich erfreut oder traurig sein soll, dass ich nach all der Zeit nicht wirklich viel verpasst habe, was die Anzahl der Kapitel angeht. :o Wenn ich richtig gesehen habe, fast drei Jahre zwischen dem letztem und dem neusten Kapitel. Bei dir war wohl auch so einiges los. :)

Nachdem ich den ersten Teil jetzt nochmal gelesen habe, fällt mir besonders nach diesem Kapitel erst so richtig auf, wie sehr sich das Verhältnis der Beiden zu vorher geändert hat. Während wir jetzt wieder einen Light ohne Erinnerung haben, haben wir diesmal einen L, der zu hundert Prozent im Bilde ist über Lights/Kiras wahre Natur und irgendwie werde ich total aufgeregt, wenn ich darüber nachdenke, wie L das zu seinem Vorteil nutzen will, wie er Light vor Kira beschützen will. Was für einen grandiosen Plan hat er sich ausgedacht? :D Auch das er Light mit bedacht gewählten Sätzen indirekt auf seine wahre Natur hinweist. Zumindest kommt es mir so vor. Ich mag in diesem Fall den allwissenden L und den ahnungslosen Light, das gibt dem ganzen eine ganz andere Dynamik.

Interessant fand ich die Unterhaltung über Monster und das L sich selbst als ein solches bezeichnet. Im Prinzip hab ich es so verstanden, dass L sich eigentlich am Meisten vor sich selbst und Menschen die sind wie er fürchtet. Er hat auch mal, wenn ich mich richtig erinnert gesagt, er habe Todesangst davor, jemanden zu lieben der ihn umbringen will. Für mich hört sich das so an, als habe er Angst vor dem, was er ist und im Stande ist zu tun. Wahrscheinlich liege ich damit völlig daneben. ^^"

Was mich auch persönlich berührt hat war das Gespräch darüber, dass alle Menschen Masken tragen. Das ist ein Thema, das mich selbst sehr beschäftigt und womit ich so meine Probleme habe. Ich hasse den Umstand, dass man, um gesellschaftsfähig zu sein, eine Maske tragen muss, weil es anders einfach nicht geht. Welcher Mensch kann sich denn schon wirklich so zeigen wie er ist? Light hat mal gesagt, dass es niemanden gäbe, der ihn wirklich so akzeptieren könnte wie er ist. Das kein Mensch wirklich hinter die Fassade eines anderen Blicken möchte, sehen möchte, was sich wirklich hinter dessen Persönlichkeit verbirgt.
Persönlich denke ich, dass das auf den Großteil der Menschheit tatsächlich zutrifft. Die Menschen wollen immer nur das gute sehen und hören, wer will sich denn schon mit den Abgründen eines anderen Menschen auseinander setzen. Seine Meinung ehrlich zu äußern wird nur dann gern gesehen wenn sie den Vorstellungen der Allgemeinheit entspricht. Zumindest ist das die Erfahrung die ich gemacht habe. Also bleibt nichts anderes, als sich hinter einer Maske zu verstecken und zu leugnen wer man wirklich ist. Zum Wohle der Gesellschaft, hurra!
Sorry, da bin ich grad echt abgeschweift. Kaum zu sehen, meine Frustration, oder? :D

Jedenfalls was ich mit dem ganzen Bla Bla sagen wollte: Sehr tolles Kappi, das wieder sehr zum Nachdenken anregt und mich wahrscheinlich noch ein paar Tage beschäftigen wird. ^^

Da ich jetzt wieder so voll drin bin in deiner Geschichte, graut es mir davor darüber nachzudenken, wann du denn das nächste Kapitel updatest. Ich hoffe nicht, erst in drei Jahren?! T_T
Ich freue mich darauf, bald wieder von dir zu lesen und wie ich damals schon sagte: Ich bin wirklich ein riesen großer Fan deiner FF und auch wenn ich immer wieder mal Lese pausen einlege, egal wie lange sie sein mögen, ich finde immer wieder zu dieser fantastischen FF zurück und werde sie weiter verfolgen. :D

Lg Venu
Von:  Yuna_musume_satan
2018-08-01T12:28:47+00:00 01.08.2018 14:28
Eine ech wundervolle Geschicht habe Erz festen den 1Esten Teil der story 24/7 gemessen ( die abgeschlossene) und freue mich das es weitergeht.
Obwol du manchmal echt kompliziert schreibst das ich es 2 mal lesen muss um es richtig zu verstehen. Wäre schön wenn du es bald weiterschreibst
Antwort von:  halfJack
02.08.2018 09:23
Danke für deinen Kommentar.
Ich kann leider nichts versprechen und nichts darüber sagen, wann es weitergehen wird. Mit der Überarbeitung des ersten Teils bin ich glücklicherweise vor kurzem fertig geworden. Es könnte daher sein, dass das nächste Kapitel bald kommt, allerdings wird es danach dennoch nur langsam vorangehen...
Von:  Kaylee
2015-07-14T16:47:33+00:00 14.07.2015 18:47
Hallo,
Ich freue mich auch sehr, dass dieses Kapitel aus der Sich von L geschrieben ist - seine Gedanken mitzuerleben und seine Sichtweise auf Lights Taten und Light selbst, dass er unter seinen Taten leidet und die Mörder seelische Spuren hinterlassen haben.
Und auch wenn Light nicht der Teufel ist, entsteht bildlich vor meinen Augen immer die Analogie mit dem Sturz des Sohnes der Morgenröte ;-) Auch wenn zwischen einem Morgenstern und einer Morgensonne noch Differenzen gibt. Neben den Einfluss auf Light, finde ich es auch interessant, wenn darauf eingegangen wird, was Kiras Anhänger für Vorstellungen über ihn (Kira) haben. Wie sagte eins Oscar Wilde: Eine Wahrheit hört auf wahr zu sein, wenn mehr als einer an sie glaubt (um auch mal ein Zitat anzuwenden). Das habe vergessen, im vorherigen Kapitel zu erwähnen, deshalb schreibe ich es hier noch einmal.

Die Szene als L sein Versprechen an Light, dass er dafür sorgen wird das Lights nichts passiert, quasi wiederholt, hat mein aufgeregtes Leserherz höher springen lassen. Auch im Anschluss die Frage des Namens im Zusammenhang mit Identität gesehen bzw. der verlorenen Identität/Erinnerungen von Kira und Yagami fand ich sehr erweckend. Auch wenn ich in dem Moment nur zu gern gewusst hätte, was Light denkt. Aber ich kann verstehen, dass du beschlossen hast diese Kapitel aus einer Sicht wiederzugeben und systematisch zu wechseln.
Der Titel wie immer sehr passend, auch wenn zuerst an das Gedicht Lethe von Baudelaire denken musste, aber die Anspielung auf Goethe macht auf jeden Fall mehr Sinn.

Antwort von:  halfJack
26.08.2015 19:10
Bei dem Namen Asahi bin ich ein bisschen zwiegespalten. Natürlich habe ich ihn mir nicht selbst ausgedacht, sondern ihn aus dem Manga entnommen; das ist der Name, den L auf die falsche Polizeimarke von Herrn Yagami setzen ließ, demnach müsste auch Light verdeckt unter diesem Namen agieren. Einerseits ruft das nicht nur bei mir, sondern bei diversen Leuten die unfreiwillig komische Assoziation mit der gleichnamigen japanischen Biermarke hervor. Andererseits kann ich diesen Umstand relativ leicht beiseite schieben und nur die ursprüngliche Bedeutung darin sehen, nämlich die von dir selbst genannte "Morgensonne". Ich mag die Ambivalenz dieses Namens, weil er das genaue Gegenteil von Lights wirklichem Namen, "Mond" und "Nachtgott", darstellt. Erstaunlich ist zudem, dass ich dabei ebenso wie du an den Morgenstern denken muss, Luzifer, den Lichtbringer und gefallenen Engel. Betrachtet man die Begriffe genauer, schließen sie einander gar nicht mehr aus. Eine Sonne bezeichnet dasselbe wie ein Stern. Der Morgenstern ist dasselbe wie der Abendstern. Light schreibt sich zwar mit dem Zeichen für "Mond", doch er wird wie "Licht" gelesen. All diese Gegensätzen werden plötzlich wieder eins und das ist für mich das Interessante daran.

Der Kapiteltitel spielt zwar in seiner genauen Formulierung auf den zweiten Teil von Goethes Faust an, aber so falsch ist Baudelaires "Lethe" oder all die anderen Inspirationen keineswegs, die auf diesem Unterweltenfluss beruhen. Light ist sicher kein Märtyrer ohne Schuld, aber ohne seine Erinnerung muss es ihm so erscheinen, als spielte er eine verkehrte Rolle und würde (auch in den Augen seines Vaters) für etwas büßen, das er nicht beging. Darin zeigt sich eine doppelte Märtyrerrolle: erstens jene, die Kira mit seinem Opfer für die Welt einzunehmen denkt, zweitens das vermeintliche Opfer, das Light auf sich nimmt, um Kira zur Strecke zu bringen. Es ist eine verstrickte Lüge, bei der man sich, wie ich finde, nur unwohl fühlen kann.
Lethe steht für das Vergessen, ob nun beim Eintritt ins Totenreich oder bei der Wiedergeburt, was beides derzeit zu Light passt. An Goethes Faust habe ich bei dieser Thematik nun vorrangig gedacht, weil auch Faust im ersten Teil der Tragödie viele Sünden auf sich lud, von denen er zu Beginn des zweiten Teils reingewaschen wird. Das ändert dennoch nichts an seinem bestehenden Pakt mit dem Teufel.
Von:  Kaylee
2015-07-14T15:59:11+00:00 14.07.2015 17:59
Juuhuu, das lang ersehnte Gespräch zwischen L und Light!!!

Natürlich sind deine vorherigen Kapitel ein guter Einstieg und ich freue mich, dass näher auf die Nebenpersonen eingegangen wird. Aber ich liebe halt die Gespräche zwischen Light und L :-) Wie können nur so wenig Worte bewirken, dass ich in einen Glückszustand kapitulierte werde, den die Menschen in meiner Umgebung dazu veranlasst mich zu fragen, ob ich high wäre? Ein Mysterium ;-)
So nun aber mal zum Kapitel: Um ehrlich zu sein, war ich überrascht, wie offen in gewissen Aspekten das Gespräch von Light und L ist. Natürlich ist es in der Situation angemessen. Aber dennoch war ich irgendwie überrascht, dass es schon im vierten Kapitel um die zentralen Handlungsmotive und Ansichten (im speziellen Gerechtigkeit) von den beiden geht. In gewisser Weise finde ich, dass es der Kern der Sache ist: Warum benutzt Light/Kira das Death Note? Wie würde L reagieren? Und letztendlich immer die Frage, wie würde man selbst handeln, wenn man im Besitz eines Death Notes wäre? Besonders gefreut habe ich, dass mal wieder das Thema Ideale bzw. fehlende Ideale angeschnitten wurde. Ich denke, jeder kann Lights/ Kiras Motive nachvollziehen - eine gerechte Welt zu erschaffen. Die Möglichkeit zu haben Gewalt, Repression, Diktaturen, und Armut etc. zu bekämpfen ist verlockend. Und die Darstellung von Ligths höchstem Ideal der Gerechtigkeit, für das er selbst bereit ist, sich selbst aufzugeben - alles für das größere Wohl - ist wieder ausgesprochen gelungen. Natürlich im Kontrast dazu L, der nicht an die perfekte Welt glaubt und sich in kein Staatssystem integriert hat. Er kam nie so stark mit der japanischen Lebens- und Arbeitsphilosophie Kaizen, das Streben nach Verbesserung in Berührung wie Light. Du hast einmal geschrieben, dass deines Erachtens L nicht an Verbesserungen glaubt. Ich teile diese Meinung, auch wenn ich sie niemals so drastisch ausgedrückt hätte. Aber es hat mich wieder fasziniert, wie prägnant du Charakterzüge der Beide auf den Punkt bringen kannst. Der entscheidende Unterscheid lag meiner Ansicht nach auch immer zwischen L und Light darin, dass Light wirklich glaubt, die Welt idealer zu gestalten, während L eine zu realistische Haltung besitzt, als das er je daran glauben würde, dass dies gelingt. Aber jeglich Negierung von Verbesserungen, führt bei mir zwangsläufig zum Ergebnis der Antriebslosigkeit. Wenn man nichts verbessert kann, warum sollte man überhaupt etwas tun? Handeln oder denke, wenn man darin kein Zweck oder Ziel erkennt (außer instinktgesteuertes Verhalten)? Vielleicht der Zweck des Interesse ein Abbruch der Langweilig. Dennoch ohne Hoffnung kann man da z.B. hoffen Light vor Kira zu retten? Welchen Sinn hat das alles? Schwups, bin ich in einer endlos Schleife der müßigen Sinnfrage angelangt. Sicherlich ist meine Darstellung des Sachverhaltes stark vereinfachte. Es fehlt der Einfluss des Handelns (auch wenn es nach Ls Sicht keine Besserung erbringen würde, sondern nur Änderung, aber das wiederum heißt ja nicht, dass es den Wert des Aktion vermindert...). Ich widerspreche auch nicht die Haltung von L. Es sind lediglich meine Gefühle der Trostlosigkeit die ich damit verbinde, oder vielleicht spricht auch nur der naive Optimismus aus mir :D
Nun noch zu der Frage: Wie würde ich handeln, wenn ich im Besitz des Death Notes wäre?
Das ist natürlich immer schwierig zu bestimmen, wie man sich in so einer Lage verhalten würde. Aber wie ich schon gesagt habe, sind Lights Motive sehr verlockend. Wenn man die Macht hat eine friedliche Welt zu gestalten, ist es dann nicht sogar verbrecherisch sie nicht einzusetzen? Wenn man die Möglichkeit hat für das allgemeine Wohl zu sorgen, ist es dann nicht unmoralischen Nichts zu unternehmen? Die Armen weiter hungern zu lassen, die Bevölkerung weiter von Tyrannen unterdrück zu lassen, nichts zum Schutze von Unschuldigen zu tun. Das wäre doch nicht gerecht? Dabei kann man allerdings auch fragen, ob der Tod wirklich gerecht für solche Verbrecher ist? Ist das die angemessene Büße? Oder doch eher eine Erlösung? Und wenn man nun wirklich dieses Prinzip „Aug um Aug“ anwenden würde, würde dann nicht Vergeltung und Rachsucht in den Vordergrund der Motive gerückt werden. Es ist der Tod , dann nicht nur die Maßnahme zur Beseitigung von Gefahr für das größere Wohl? Daran kann schon wieder erkennen, das Gerechtigkeit sehr subjektiv interpretiert werden kann.
Trotz der Partei, die ich hier ergreifen, glaube ich nicht, dass ich das Death Note benutzen würde.
Sagen wir mal ich teile Lights Einstellung, wie wahrscheinliche viele Menschen auf dieser Welt, verfüge über einen gewissen Gerechtigkeitssinn und scheue mich nicht davor selbst die Konsequenzen zu tragen. Warum habe ich mir nicht schon längst eine Kalaschnikow besorgt und bin zur Selbstjustiz übergangen, wenn wir die praktischen Umsetzungsfaktoren mal außer acht lassen? Das Beispiel ist natürlich exzessiv übersteigert. Dennoch ist die Antwort simpel neben moralischen Bedenken und praktischen Schwierigkeiten, besitze ich die realistische Einsicht, dass dies keine wirkungsvolle Veränderung bewirkt.
Mit der Macht des Death Notes, kann man sicher sehr viel erreichen, wie gezeigt würde. Aber wie lange kann man die realistische Nachteile außer acht lassen und an seinem Ideal weiter festzuhalten ohne seine eigene Maxime zu verlieren? Und hat man seine Maxime die gilt, dass niemand das Recht hat einen anderen Menschen gegen seinen Willen das Leben zu nehmen, schon verloren, wenn selbst das Death Note benutzt. Nicht umsonst hat selbst Light am Anfang schwere Gewissenskonflikte und ich denke, das ist ein Punkt warum viele das Death Note nicht benutzen würde. Im Allgemeinen vertrete ich die Meinung das Extremität also im Sinne extrem sein, insbesondere Fanatismus immer zur negativen Folgen führt. Aber nur um seinen guten Ruf willen, dass Death Note nicht zu benutzen, wäre das nicht mehr als egoistisch? Trotzdem wenn man das Death Note benutzt und einem Menschen das Leben nimmt, stirbt zwangsläufig immer ein Stück seiner Menschlichkeit, wie man an Light sieht.
Also kann man gar nicht das Ideal erfüllen.
In letzter Konsequenz müsste man sich immer selbst töten. Wie schnell würde es dann dauern, bis man zum alten Zustand zurück kehrt ist? Und von der Suche und Gefahr einen geeigneten Nachfolger zu finden, wollen wir gar nicht erst reden. Neben der Tatsache, dass man diese Ideale in der Form die Kira anstrebt nicht umsetzen kann, gibt es die unglaublichen viele Faktoren. Das man nicht abschätzen kann, welche Bedeutung der Tod einer Person auf den Rest der Gesellschaft hat, ob es die Situationen nicht noch zuspitzen konnte, wie kann ich meine Gegner effektiv ausschalten etc.. Ich würde versuchen all diese Faktoren zu kalkulieren und das würde meine Entscheidung verzögern und vielleicht schon ganz aufhalten. Ich wäre zu analytisch um schnell tatkräftig zu handeln. Aber der entschiedene Punkt ist, dass ich nicht so vermessenem bin zu glaube, ich wäre ausgewählt. Im Gegensatz zu Light, der so überzeugt ist, die perfekte Person für das Death Note zu sein. Die Person, die das Ideal so nah wie möglich umsetzen kann, fehlt mir schlichtweg der Glaube dazu.
Ich glaube nicht, dass meine Fähigkeit trotz der Waffe des Death Notes ausreichend sind, um die Gesellschaft nachhaltig allein zu verändern. Deshalb fürchte ich sogar die Macht, die das Death Note mir verleihen würde und die gravierend Folgen eines Fehlers meinerseits für die Gesellschaft. Welcher Mensch ist schon fehlerlos genug, um das Death Note zu benutzen?

Antwort von:  halfJack
27.07.2015 04:16
Jenes lang ersehnte Gespräch ist eigentlich ein Kondensat dessen, worum es später gehen wird, im Prinzip so etwas wie eine Zusammenfassung der Hauptprobleme. Ich habe lang überlegt, wann ich dieses erste Gespräch bringe, und war anfangs eigentlich davon überzeugt, dass ich es erst viel später in die Wege leite. Anhand des Epilogs von ZdZ wissen wir, dass Light ein paar Monate nach seiner Überführung sein Gedächtnis noch immer nicht zurückerhalten hat. Das Gespräch hier in "Last" - wobei der Kapiteltitel ein Wortspiel aus der deutschen und englischen Bedeutung des Begriffes ist - sollte meiner ursprünglichen Intention folgend nach dem Epilog des ersten Teils stattfinden. Warum habe ich mich nun dagegen entschieden? Ich glaube, dass es L geradezu unter den Nägeln gebrannt hat, mit Light endlich uneingeschränkt sprechen zu können. So geht es wohl beiden, darum ist diese Unterhaltung so überraschend offen. Wie du es treffend formuliertest, wollte ich die zentralen Handlungsmotive umreißen.
Der nächste Faktor besteht in Ls Entscheidung, Light das Death Note vorzuenthalten. Ein paar Beweggründe wurden bereits genannt, aber eben noch nicht alle. Die Motive werden erst nach und nach geklärt, doch ein Auslöser dafür ist dieses irgendwie zugleich erste wie letzte Gespräch.

Der Wunsch nach Verbesserung, das Streben des menschlichen Seins an sich und welche Unterschiede es in dieser Hinsicht zwischen dem östlichen und westlichen Denken gibt, darüber könnte man ganze Seminare füllen. Ein wesentlicher Unterschied besteht beispielsweise schon allein darin, was man unter Kaizen bzw. der Verbesserung versteht. In der westlichen Welt, vor allem in Amerika und Europa, erachtet man es als selbstverständlich, dass jeder Mensch nach Verbesserung strebt und darin den Fortschritt sieht. Höher, schneller, weiter, das sind die allgemeinen Devisen und die Werbeindustrie vermittelt uns dasselbe, dass wir nämlich immer mehr, mehr und mehr brauchen und dass nur dieser Konsum uns glücklich macht. So selbstverständlich ist diese Ausrichtung allerdings gar nicht und auch wenn wir glauben, dass nahezu jeder Mensch den Fortschritt gut finden müsste und dass er darunter die genannte Verbesserung versteht, so gibt es doch viele Völker, die sich nicht auf die Zukunft ausrichten, sondern auf ihre Wurzeln besinnen. Für solche Völker/Personen ist Verbesserung etwas ganz anderes.
Japan nun stellt im fernen Osten meines Erachtens einen Sonderfall dar. Insbesondere der amerikanische Einfluss ist unverkennbar, dennoch bleibt Japan in vielen Aspekten auf seine Traditionen bedacht. Hier prallen zwei Extreme aufeinander und trotz des Strebens nach Verbesserung, ist dies nicht prinzipiell gleichbedeutend mit Fortschritt, sondern eher mit Optimierung und Perfektionierung. Es geht häufig nicht darum, etwas Neues zu erschaffen, sondern das Bestehende zu verbessern, das Streben nach absoluter Vollkommenheit, obwohl diese mit Gewissheit nie erreicht werden kann. Man kann sich ihr nur annähern. In den letzten hundert Jahren und mit zunehmender Globalisierung war es eine weit verbreitete Anschauung, dass die westliche Welt die Innovationen brachte und hernach die östliche Welt durch Optimierung der Ideen nach einiger Zeit die Marktführung übernahm. Neue Technik kam zwar aus dem Westen, aber Kosten und Fehlerhaftigkeit zu vermindern und Arbeitsprozesse zu beschleunigen, kurz: die Effizienz zu steigern, das sind vor allem "Errungenschaften" des Ostens. Menschliche Fehler durch Einsatz von Maschinen auszumerzen, nicht mehr eine Person mit dem gesamten Prozess zu beauftragen, sondern die Arbeitsschritte zu verteilen, generell die ganze aus der Gesellschaft gewachsene Zusammenarbeit - man kann durchaus behaupten, dass sich der Westen das vom Osten abgeschaut hat. Da allerdings die Individualität in Japan hinter der Gemeinschaftlichkeit zurücksteht, ist der Drang, sich zu beweisen oder etwas Neues zu entdecken, nicht so ausgeprägt wie in der westlichen Welt, wo die Selbstverwirklichung des Einzelnen im Zentrum steht. Das alles ist historisch gewachsen, aber ich denke, dass diese Ausprägungen sich mittlerweile gewandelt haben, dass der Osten inzwischen viele Innovationen fordert und der Westen durch gemeinschaftliche Arbeitsteilung eine ähnliche Vorstellung von Verbesserung hat. Ich finde das gut, diese kulturelle Vermischung, ohne dass sich an der Unterschiedlichkeit der Mentalität etwas ändert.

Es ist nur meine Meinung, aber ich glaube, dass Light den Tod nicht als gerecht für Verbrecher empfindet, sondern dass er es gerecht findet, Verbrecher für das Wohl der Menschheit aus dem Weg zu räumen. Das klingt zwar, als wäre es annähernd dasselbe, aber die erste Variante bedeutet tatsächlich Vergeltung oder Rache, die zweite hingegen entspricht der Verbesserung bzw. Perfektionierung.
Abgesehen davon, dass es wahrscheinlich niemanden gäbe, der das auf Dauer aufrecht erhalten könnte, weil man für solch ein Ideal empathisch sein muss und vermutlich irgendwann an seinen Taten zerbricht oder, wenn man nicht empathisch, sondern soziopathisch ist, ein solches Ideal gar nicht erst entwickelt. Ich persönlich glaube zwar, dass man mit einem Death Note einiges bewirken kann, aber ich bezweifle, dass man damit alle Probleme löst oder wirkliche Verbesserung erreicht.

Vielen Dank für deinen unglaublich ausführlichen Kommentar! Es war sehr interessant, deine Gedanken hierzu zu lesen.
Von:  Kaylee
2015-07-13T17:29:40+00:00 13.07.2015 19:29
Hallo,
Es ist schon länger her, dass ich ein Kommentar geschrieben habe. Aber manchmal ist ein sauberer Schnitt für eine Zeit das Beste, damit man nicht in den Abgrund der Verzweiflung stürzt, während man auf das nächste Update wartet :-D
Aber dennoch werde ich diese Geschichte immer folgen, wenn auch unregelmäßig und meinen Senf ab und an dazu geben. Aber ich prophezei, Cliffhanger werden eines Tages noch mein Verderben werden.
Soso… also, erstmal freue ich mich sehr, über den Auftritt der Shinigamis. Als ein Freund vom Charakter Ryuk ist das natürlich verständlich und ich bin schon gespannt, auf die Umsetzung Ls Plan, den er schmiedet. Außerdem wollte ich noch einmal, meinen ersten Eindruck von Haupttitel schildern. Also ich fand ja schon, als du den Titel 24/7 „Zwischen den Zeilen“ hinzugefügt hast, dass unglaublich zutreffen, Und auch wenn man natürlich noch nicht gleichen Maß den Inhalt kennt, finde ich „Jenseits verkehrter Wahrheit“ sehr passend. Pluspunkte macht natürlich auch der poetischen Klang. Meine ersten Assoziation zum Titel war (wie sollte es bei den Titel anders sein?) Nietzsche: Das Wahrheit nur Illusion ist.
Aber schön in dem Bezug finde ich ,auch das Gleichnis Die blinden Männer und der Elefant. Ich weiß nicht, ob es dir oder jemand das Gleichnis/Gedicht bekannt ist. In gewisser Weise ist der Titel fast schon selbsterklärend. Die blinden Männern untersuchen einen Elefanten, um zu begreifen, worum es sich bei diesem Tier handelt. Jeder untersucht einen anderes Körperteil und am Ende kommt jeder von ihnen zu einer anderen Schlussfolgerung der Realität. Die Moral der Geschichte ist somit, dass es natürlich mehrere Versionen einer Wahrheit gibt und das Erkenntnis immer subjektiv verstanden wird. So das wollte ich nur kurz erwähnen :-D

Antwort von:  halfJack
26.07.2015 11:20
Oje, da mache ich mir schon ein bisschen Vorwürfe, dass es so schleppend vorangeht. Mir war leider von Anfang an klar, dass die nächsten Updates immer nur langsam und unregelmäßig erfolgen würden, weshalb ich es auch fair fand, sofort darauf hinzuweisen. Beim Lesen würde ich mir vermutlich auch lieber etwas ansparen, sonst verliert man so leicht den Überblick.

Tatsächlich hat mich zum zweiten Titel unter anderem Nietzsche inspiriert, besonders sein Werk "Jenseits von Gut und Böse" - ein Buch, das Light in einer Szene des ersten Realfilms überraschenderweise in deutscher Ausgabe liest. Also können wir ihm unterstellen, dass er laut dieser Interpretation sogar Deutsch beherrscht. Auf einige Aspekte des Titels werde ich im Laufe der Geschichte noch eingehen. Es freut mich sehr, dass die Titel gut ankommen, denn gerade beim zweiten habe ich mich gefragt, ob dieser "poetische Klang" nicht irgendwie abschreckt.

Das Gleichnis mit den Elefanten kenne ich. Ich habe meinem Neffen zu seinem letzten Geburtstag ein für Kinder verständliches Buch über die Weltreligionen geschenkt, darin war genau dieses Gleichnis enthalten und es schien mir ungemein passend. Mein Neffe ist einige Jahre seiner Kindheit in Louisiana aufgewachsen, seine Großeltern dort sind äußerst konservativ und christlich. Sie sind mit absoluter Sicherheit davon überzeugt, dass diejenigen, die nicht an Gott glauben, in die Hölle kommen. Die deutsche Seite der Familie hingegen ist konfessionslos erzogen; uns ist es völlig egal, wir könnten nicht mal an Gott glauben, wenn wir es uns einzureden versuchten. Mein Neffe steht demnach zwischen den Stühlen. Er kann nicht verstehen, wieso Menschen von etwas absolut überzeugt sein können, warum es zum Beispiel auch so viele Religionen auf der Welt gibt und am Ende trotzdem alle Recht behalten, niemand falsch liegt. Deshalb das Gleichnis mit dem Elefanten. Danke, dass du es hier anbringst. Es trifft den Nagel auf den Kopf!
Von:  Venu
2015-04-14T14:06:26+00:00 14.04.2015 16:06
Hey :)

Ich freu mich sehr, dass das neue Kappi jetzt doch so schnell da war! Es hat mir sehr gefallen, L's Gedanken mitzuverfolgen, nachdem Light erneut seine Erinnerungen verloren hat. Man merkt ihm schon an, dass er mit der Situation zur Zeit nicht ganz zufrieden ist, aber dennoch für den Moment nichts daran ändern kann. Und obwohl er ja ein Meister darin ist, anderen Lügen aufzutischen, hat man doch das Gefühl, dass es ihm gerade jetzt etwas schwer fällt.

Zum einen möchte er Light der Wahrheit schützen, auf der anderen Seite will er aber auch beide Seiten, sprich Light/Kira für sich. Ganz schöne Zwickmühle, in der er da steckt. ^^

Ich freue mich schon aufs nächste Kapitel! Sorry, dass mein Kommi so kurz ist, aber ich habe das Gefühl, ich schaff es nicht meine Gedanken ordentlich aufs Papier zu bringen, von daher hab ich nur mal das wesentlich, was mir aufgefallen ist, aufgeschrieben. Bin echt gespannt, wie L Light dazu bringen wird zu erkennen, dass er Kira ist. :)

Lg Venu
Antwort von:  halfJack
15.04.2015 14:05
Obwohl L nach außen hin meistens so wirkt, als würde er kühl analytisch irgendwelche Entscheidungen treffen und sie resolut in die Tat umsetzen (lassen), glaube ich, dass er häufiger seinen Instinkten als seinem Verstand folgt. Man merkt ihm seine Unsicherheiten, Zweifel und generell Emotionen oft nicht an, wie damals in der Situation, als Ukita vor Sakura TV getötet wurde und L Aizawa daran hinderte, gleich hinterherzustürmen. Da ist wahrscheinlich auch Aizawa, weil er Ls Zittern bemerkte, zum ersten Mal aufgefallen, dass er es ja eigentlich mit einem Menschen zu tun hat.
Ich stelle mir vor, all das Vorgehen vom jetzigen Zeitpunkt an würde für Ls Verstand durchaus Sinn ergeben, aber warum er sich dafür entschied und ob diese Wahl richtig ist, bleibt für ihn selbst undurchsichtig, ein Dilemma.

Vielen Dank für deine Gedanken. :)
Von:  Venu
2015-03-14T21:58:59+00:00 14.03.2015 22:58
Huhu :)

hab mich lange nicht mehr gemeldet, da ich das letzte 3/4 Jahr sehr beschäftigt war und leider nicht die nötige Zeit gefunden habe, um deine Geschichte weiter zu verfolgen. Das finde ich sehr schade, aber andererseits bin ich auch sehr froh darüber, wenn ich jetzt sehe, dass dein letztes Kapitel im September veröffentlicht wurde. (Nicht falsch verstehen!) Wie du weißt ist Geduld ja nicht unbedingt meine Stärke, deswegen freue ich mich, dass ich jetzt gleich zwei Kapitel zum Lesen hatte! Natürlich änderst das nichts an der Tatsache, dass ich jetzt trotzdem wieder voller Ungeduld auf die nächsten Kapitel warten muss, aber das ist mein Problem. :D

Da es schon so lange her war, dass ich die erste Geschichte gelesen hatte, hab ich sie die letzten beiden Tage einfach nochmal gelesen, damit mir wieder alles frisch im Gedächtnis ist. Obwohl ich die FF ja schon kannte, hat sie mich beim zweiten Mal wieder genau so eingenommen wie beim ersten Mal. :)

Ich gelange wieder zu dem Schluss, dass ich deine Art zu schreiben einfach faszinierend und mitreißend finde. Die ganzen Themen die zwischen L und Light angesprochen wurden, haben mich erneut zum Nachdenken angeregt und immer wieder habe ich analysiert, wie ich selbst zu diesen Themen stehe und darüber denke. Genau das finde ich an deiner Geschichte so spannend und anziehend. Man kann sie nicht einfach von oben nach unten durchrattern und abhaken, sondern wird mit jedem Gespräch der beiden in ihre Unterhaltung mit rein gezogen und geradezu zum Nachdenken aufgefordert. Ich finde das gibt deiner Geschichte richtig Leben! Aber ich merke gerade, ich schweife total ab, sorry! Da siehst du mal wie sehr mich deine Geschichte nun schon zum zweiten Mal einnimmt. :)

Nun zu der Fortsetzung: Ich finde, der Einstieg ist dir wirklich sehr gelungen und man konnte sich nochmal gut in die Geschichte hinein finden. Auch wenn ich die vorherige FF jetzt nicht nochmal gelesen hätte, wäre mir der Einstieg nicht schwer gefallen. Interessant fand ich zu lesen, wie nun auch die anderen mit den jüngsten Geschehnissen umgehen und fertig werden. Sicher hätte ich mich auch gefreut, sofort eine Konfrontation mit L und Light zu sehen, aber ich verstehe auch die Notwendigkeit, die Sicht der anderen Charaktere darzustellen.

Dennoch habe ich mich natürlich am Meisten über das letzte Kapitel gefreut, da sich hier L und Light erneut gegenüberstanden (nicht wörtlich gemeint) und eines ihrer so von mir geliebten Gespräche geführt haben. Es gibt einfach nichts besseres und aufregenderes für mich, als einem Gespräch der beiden beizuwohnen und ich kann Yeliz nur beipflichten! Auch ich bin in die Gespräche der beiden verliebt. ;)

In diesem Kapitel hast du die Weltanschauung der beiden erneut dargelegt und zwar noch tiefgehender, als in allen Kapiteln zuvor, zumindest kam es mir so vor. Ich hatte das Gefühl, dass L und Light wirklich zum ersten Mal unverholen und unverfälscht, mit jeder ihrer Äußerungen die Wahrheit gesagt haben. Was sie denken und was sie vom anderen wollen.

Ich kann beide Seiten verstehen, was ihren Sinn von Gerechtigkeit angeht, ich selbst sehe es zum Einen wie Light, dass unserer Rechtssystem unvollkommen ist und das Gesetz einfach in zu vielen Fällen versagt oder unzureichend ist. Wie oft werden Straftäter bzw. Sexualverbrecher nicht ausreichend bestraft oder nach viel zu kurzer Zeit bereits wieder aus dem Gefängnis entlassen? Das finde ich besonders in Deutschland schlimm. Insofern stimme ich Light zu und verstehe die Idee hinter seinem Handeln. Auch das der Tot die gerechte Strafe ist, denn mittlerweile haben es die Kriminellen in den Gefängnissen teilweise schon zu bequem, als das man das noch als Strafe ansehen könnte.

Auf der anderen Seite sehe ich es aber genauso wie L. Zum einen ist der Tot für solche Verbrecher der einfachste Ausweg. Sie haben nicht die Möglichkeit, ihre Taten zu reflektieren und sich gegebenenfalls zu ändern. Sie müssen sich auch nicht damit auseinander setzen. Deswegen bin ich persönlich nicht unbedingt ein Verfechter der Todesstrafe. Wobei es natürlich auch ausnahmen gibt. Ich bin bei diesem Thema auch echt zwiegespalten und kann mich für keine der beiden Seiten entscheiden.
Und auch wenn ich die Idee, Verbrecher mittels des Death Note zu bestrafen nicht unbedingt schlecht finde.. so glaube ich, wie L auch, dass es nach einiger Zeit nicht mehr ausreichen würde. Wenn erst mal alle Schwerverbrecher beseitigt sind, was bleibt dann noch? Kleinkriminelle? Faulenzer? L hat es schon ganz richtig gesagt. Ich glaube jeder würde nach und nach sein Ziel aus den Augen verlieren und das Ideal einer perfekten Welt würde den Bach hinunter gehen. Somit würde Light sein Vorhaben niemals gelingen, egal wie gute und ideal seine Vorsätze auch sein mögen.

Ich finde es schwer mich für eine der beiden Seiten zu entscheiden. Beides ist für mich nicht wahre Gerechtigkeit, aber wer bin ich schon, dass ich darüber Urteilen kann? Ich schätze, für jeden ist Gerechtigkeit etwas anderes. So kann ich mich sehr gut in L und Light hinein versetzen und beiden Standpunkten etwas abgewinnen, da ich es ja sehr ähnlich sehe, aber dennoch wäre beides für mich nicht das, was ich unter Gerechtigkeit verstehe. Ein sehr kompliziertes Thema, aber ich finde es durchaus Interessant sich darüber Gedanken zu machen. :) Doch ich schweife ab...

Ich selbst habe, ebenso wie du oder Yeliz auch schon eingehend darüber nachgedacht, was ich mit einem Death Note anstellen und ob ich es benutzen würde. Ich bin zu dem Entschluss gelangt, dass ich es auf jeden Fall benutzen würde. Natürlich nicht an Kleinkriminellen, sondern an wirklich schwer wiegenden Verbrechern, wie beispielsweise: Anders Behring Breivik, der 2011 auf der Insel Utoya einen Amoklauf in einem Feriencamp gestartet hat. Für solche Verbrecher finde ich es nicht Strafe genug in einem Gefängnis ihre Zeit abzusitzen, wenn sie auch noch in aller Öffentlichkeit nicht einen Funken Reue zeigen. Und ich wäre wohl nicht so gnädig wie Light und würde solche Menschen einfach an einem Herzinfarkt krepieren lassen. Ich wäre da sicher kreativer.
Das hört sich kaltblütig an, aber das ist meine ehrliche Meinung dazu!

Soviel zu diesem Thema. Aus meinem Kommi ist leider ein ganzer Roman geworden, tut mir echt leid! Ich hoffe du hast dich trotzdem etwas darüber gefreut. Wie du siehst regt deine Geschichte extrem dazu an, sich über solche Themen Gedanken zu machen und deshalb nochmal ein ganz großes Lob.

Da dein letztes Kapitel im September veröffentlicht wurde, hoffe ich, dass das nächste nicht mehr allzu lang auf sich warten lässt.
Wie immer bin ich sehr ungeduldig, entschuldige. ^^

Liebe Grüße
Venu




Antwort von:  halfJack
21.03.2015 17:13
Vielen Dank, Venu! Schön, von dir zu hören. :)

Bei mir war auch einiges los. So viel Zeit lasse ich mir schließlich normalerweise nicht mit dem Upload. Das nächste Kapitel ist schon seit längerem zum größten Teil fertig, aber ich weiß nicht, wann ich dazu kommen werde, es zu vervollständigen. Daher bin ich froh über deine Geduld und darüber, dass du immer hierher zurückfindest und am Ball bleibst. Mit der Bearbeitung der ersten Geschichte muss ich mich auch bald wieder auseinandersetzen.

Am meisten hoffe ich stets darauf, dass man Verbindungen in 24/7 zwischen weit voneinander getrennten Kapiteln ziehen oder erkennen kann. Vielleicht fallen sie bereits beim ersten Lesen auf, vielleicht sind sie aber auch nie ersichtlich, weil nicht deutlich genug hervorgehoben. Oder ganz im Gegenteil, vielleicht erscheint es zu offensichtlich, um überhaupt darauf hinzuweisen. Dahingehend bin ich wenig dazu in der Lage, zu entschlüsseln, wie einzelne Aspekte rüberkommen und ob sie erst wirken, wenn man sich die gesamte Story tatsächlich erneut in einem Rutsch antut. *lach*

Der Anfang des zweiten Teils hat sicherlich seine Schwächen, weil ich den Leser relativ auf Distanz halte. Vorher waren allein L und Light im Blick, selten ging es um andere Personen. Zumindest für den Einstieg, dachte ich, wäre das wohl frustrierend, immerhin freut man sich am meisten auf die beiden Hauptfiguren. (Ich übrigens auch.) Dennoch hat es mir schon immer Spaß gemacht, mich in die Lage anderer Figuren hineinzuversetzen. Jetzt, da der Schreibstil nicht mehr pseudo-allwissend ist, sondern personal von Szene zu Szene wechselt, kann ich noch tiefer in die einzelnen Charaktere eintauchen und sie darstellen. Ein wichtiger und zumindest für mich interessanter Faktor. Auch auf das Ausarbeiten der Handlung freue ich mich schon riesig. Ich bin gespannt, wie das ankommen wird, was ich mir überlegt habe, und ob man die gestreuten Hinweise womöglich sogar schon durchschauen kann, wenn es erst richtig losgeht. :)

Bei den Unterhaltungen reden L und Light endlich nicht mehr um den heißen Brei herum, aber nur für den Moment. Das finde ich ebenfalls spannend, doch es wird sich bald ändern. Wie ich im letzten Kapitel schrieb, war dies vorerst das letzte unverfälschte Gespräch zwischen ihnen. Ich mag den erinnerungslosen Light und freue mich, ihn wieder in Erscheinung treten zu lassen, aber es wird deshalb sicher nicht einfacher zwischen ihnen sein. Eigentlich ist es sogar eine ziemlich schreckliche und verlogene Sache, die L da mit ihm vorhat. Das würde nicht jeder richtig finden oder gutheißen, aber L greift nun einmal oft zu verqueren Mitteln.

Was du über die Strafen und Gefängnisse in Deutschland geschrieben hast, stimmt natürlich absolut und ich schließe mich dir an. In Japan allerdings, das muss man sich auch vergegenwärtigen, verhält es sich da schon anders, generell im asiatischen Raum. Japan wird manchmal, aufgrund der Technik und der etwas anders gearteten Mentalität, als westlich im fernen Osten angesehen. Aber die Art, mit Kriminellen umzugehen, ist mit unserer nicht vergleichbar. Sicher sind in den USA, wo es in einigen Staaten ebenfalls noch die Todesstrafe gibt, die Verhältnisse gleichermaßen schärfer als in Deutschland. Ich meine damit nur, dass Gefängnisse in Japan kein Zuckerschlecken sind und dass auch die Polizei dort ganz anders angesehen wird als bei uns. Ihnen wird Respekt erwiesen, nicht so wie bei uns.
Tatsächlich ist es sogar erstaunlich, dass Light die Welt für verdorben hält, obwohl er in einer Gesellschaft aufwächst, die extrem diszipliniert ist, in einer sehr sauberen, geordneten Umgebung und zudem mit einer der geringsten Kriminalitätsraten weltweit. Dafür haben Japaner allerdings andere Probleme, die wohl gerade durch die hohe Disziplin, Anti-Individualität und, wenn man so will, Forderung nach "mentaler Gesundheit" entstanden ist. Meines Erachtens ist das japanische Sozialwesen eines der faszinierendsten und kompliziertesten der gesamten Welt.

Deinen Aussagen über die Gerechtigkeit stimme ich vollkommen zu, darum würde ich mich ebenfalls nicht einer Seite anschließen. Gerade dieser Zwiespalt veranlasst einen ständig dazu, L und Light ihre Positionen vertreten zu lassen und die eigene Widerrede in der jeweiligen Person zum Ausdruck zu bringen. Es ist kein einfaches Schwarz oder Weiß, kein Ja oder Nein. Außerdem kann ich dein Urteil über Verbrecher, die keinerlei Reue zeigen, durchaus nachvollziehen. Mir wäre es ab und zu nicht möglich, bloß kühl zu entscheiden. Wenn jemand seine Taten auch noch glorifiziert, dann bin ich gewillt, zum Prinzip Auge-um-Auge zurückzukehren. Klingt zwar total bescheuert, aber zum Beispiel wäre es doch viel effektiver, einen Vergewaltiger nicht in den Knast zu stecken, sondern ihn gleichfalls vergewaltigen zu lassen, damit er mal merkt, wie das ist. Ein böswilliger Gedanke, doch manchmal finde ich Kreativität auch irgendwie besser. ^^;
Von:  Yeliz
2015-02-27T17:11:02+00:00 27.02.2015 18:11
Halllo,
ich freue mich über die Fortsetzung. Die Kapitel zuvor waren gut gestaltet, da man sich wieder in die Situation einfinden konnte. Meine Gefühle äußerten sich auch bei jedem Charakter mit Verständnis. Besonders dieses Kapitel war wieder ein Genuss für mein Hirn. Ich bin verliebt in die Gespräche zwischen L und Light. Ein Kompliment an dich, dass du es schaffst die beiden in meinen Gedanken zum Leben zu erwecken.
Ich stehe zwischen den Stühlen bei ihren Ansichten, aber ihre Weltanschauung trifft ganz auf meine zu. Wahrscheinlich gefallen mir ihre Eigenarten deswegen so sehr... Allerdings sehe ich in ihnen keine Gerechtigkeit und ehrlich gesagt, tue ich es so wie sie größtenteils nur in mir. Das ist wohl auch der Grund, weshalb ich beide verstehe. Vielleicht sieht ja jeder Mensch in den eigenen Taten die wahre Gerechtigkeit und einige würden das Death Note ausnutzen, wie Light für die Menschheit. Nur sind L und Light sehr auf ihre eigenen Anschauungen fixiert, möglicherweise ist es auch der Grund für ihre Art und Weise zu handeln. Sie sind eben Egoisten - Menschen wie alle anderen, die die Gleichheit unserer Mitmenschen und unserer selbst vergessen.
Ich habe mich oft gefragt, wie ich handeln würde. Mein Entschluss war es nichts damit zu tun, denn der Mord an einem Menschen kann nicht gerechtfertigt werden. Aus meiner Sicht verliert man einen Teil seiner Menschlichkeit und wahren Freiheit, wenn man anfängt über einen anderen und über dessen Leben zu urteilen. Auf Light und L bezogen, ist dies ja schon geschehen. Vielleicht sind meine Äußerungen zu leichtfertig... Mich würde es interessieren wie du dazu stehst.

Vielen Dank und ich freue mich auf eine Antwort
Liebste Grüße
Yeliz
Antwort von:  halfJack
27.02.2015 20:19
Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren!

Zwischen den Stühlen stehe ich bei dieser Debatte gleichfalls. Ich mache mir viele Gedanken darüber, wie die Gerechtigkeitsvorstellung der beiden aussieht, und orientiere mich dabei an ihren originalen Aussagen, von denen es im Manga zum Teil mehr gibt als im Anime. Im Anime ist dafür auch kaum Platz, es würde die Dynamik unterbrechen. In diesem letzten Kapitel hätte ich mich eigentlich mit Ls Anschauung gar nicht so weit aus dem Fenster gelehnt, wenn sie nicht auf einem der Extrakapitel basieren würde, die nach der Serie erschienen: das eine behandelte Ls Vergangenheit, in dem anderen geht es um einen angeblich zurückgekehrten Kira, dessen Fall von Near untersucht werden soll. In letzterem wiederum erinnert sich Near daran, dass L den Kindern in Wammys Haus einmal gestand, er habe einen anderen Gerechtigkeitssinn als normalerweise üblich; es würde ihm nur um die Lösung von Fällen gehen, weil das sein Hobby sei. Darum glaube ich, dass L gar nicht danach verlangt, alles besser zu machen. Er kennt seine Grenzen und scheint generell eine pessimistische Einstellung zur Welt und zur Menschheit zu vertreten. Jedenfalls wirkt er keineswegs wie ein Idealist.
Es gibt Schnittstellen in den Gedanken von L und Light. Die gibt es, trotz ihrer grundsätzlichen Uneinigkeit, sogar erschreckend oft. Häufig denken sie im Original sogar genau das Gleiche. Dabei ist das, was sie trennt, nicht notwendigerweise von Mensch zu Mensch unterschiedlich, sondern schon in uns selbst, im Denken des Einzelnen ein Widerspruch. Wahrscheinlich neigt man dazu, tatsächlich beiden zustimmen zu wollen. Wie soll das aber gehen, wenn ihre Meinungen sich gegenseitig ausschließen? Gerade dieses Unentwirrbare finde ich faszinierend an der ganzen Debatte, darum kann ich selbst auch gar nicht so einfach und zweifelsfrei festlegen, auf welche Seite ich mich stelle.

Wenn es ein Death Note gäbe, dann würde ich es vermutlich benutzen. Kiras Idee - sei mal dahingestellt, ob und wann die eskaliert wäre - finde ich gut und ich würde mich ihr anschließen, weil sie funktioniert. Das Vorteilhafte an der Serie ist schließlich, dass sie uns zeigt, wie es nach ein paar Jahren aussieht. Kriege, Terror und organisierte Kriminalität wurden nahezu ausgelöscht. Einzig negativer Punkt ist, dass die Menschen sich womöglich aus Angst unterdrückt fühlen. Aber das tun sie auch heute in Regimen, in denen die Meinungsfreiheit unterbunden wird. Dort würde man bereits gefangen genommen werden, wenn man einen unpassenden Zeitungsartikel verfasst. Da sich Kira allerdings auch gegen solche Formen der Ungerechtigkeit wendet, wäre das sogar eine Möglichkeit, Diktaturen, Armut, Ausbeutung etc. zu bekämpfen. Wirklich zu fürchten hat man schließlich nur etwas als Verbrecher, doch das wiederum unterscheidet sich vom Rechtsstaat schließlich auch in keiner Weise. Sollte ich ein Verbrechen begehen, beispielsweise jemanden töten, habe ich so oder so die Sorge, dass ich gefasst, verurteilt und möglicherweise sogar (in Ländern mit Todesstrafe) hingerichtet werde. Ob ich auf diese Weise oder durch die Hand Kiras sterbe, wäre mir dann doch wohl egal. Tot ist tot.

Zurück zu meinem Eingeständnis, das ich das Heft vermutlich verwenden würde:
Auch wenn es viel Recherchearbeit benötigt und sich die Folgen schlechter abschätzen lassen, würde ich das Heft nicht für kleine Verbrecher, sondern nur bei großen Fischen einsetzen. Diktatoren, Leiter von Terrorregimen, solche Leute, die viel Macht haben und mit ihr das Falsche anfangen, ganze Völker Not leiden lassen, solche würde ich umbringen. Wenn ich Tausenden von Menschen durch den Tod eines Einzelnen ein besseres Leben schenken könnte, halte ich das durchaus für eine Rechtfertigung. Natürlich ist mir bewusst, dass man das nicht so einfach bewerkstelligen kann. Man kann vorher nicht abschätzen, wie bedeutend die Person für die allgemeine Veränderung ist, ob ihr Tod tatsächlich eine Rolle spielen oder sie nicht durch jemanden ersetzt werden würde, der noch schlimmer ist. Hierfür wäre dann die vorige Lenkung mit dem Death Note von Nutzen. In religionsfanatischen Staaten beispielsweise könnte man das Geschehen als Willen Gottes verkaufen und dem Volk vermitteln, dass diejenigen, die als Nachfolger weiter einen sinnlosen Krieg führen, der nicht im Sinne Gottes ist, ebenfalls gerichtet werden. Gleichzeitig könnte man dafür sorgen, dass jemand den obersten Posten erhält, der dafür geeignet erscheint. In diesem Fall benötigt man viele, zuverlässige Quellen. Auf diese Weise würde ich überall versuchen gesellschaftliche Missstände aufzulösen.

Man verliert einen Teil seiner Menschlichkeit, das glaube ich auch. Würde ich einen solchen Schritt wagen, würde ich mich jedenfalls nicht als gerecht ansehen oder mein Handeln als Gerechtigkeit verkaufen. Zu meinen Taten würde ich eher stehen wie Batman. *lach* Irgendeiner muss die Drecksarbeit machen, auch wenn man sich hierbei mit Schuld belastet. Sich von dem Gedanken abschrecken zu lassen, etwas Unrechtes zu tun, ist ja eigentlich auch nur egoistisch um das eigene Wohl besorgt, oder nicht? Das klingt zwar alles übertrieben heroisch und ein bisschen lächerlich; im Grunde ist das Lights Selbstaufopferungsgedanke ja auch. Er sieht sich quasi als selbstvergessenen Messias. Einen gewissen Größenwahn kann man bei ihm kaum abstreiten. Dennoch halte ich das Ergebnis für wichtiger als eventuelle moralische Bedenken. Jene Machtinhaber, die ich hinrichten würde, nehmen sich schließlich ebenfalls heraus, über Leben und Tod zu entscheiden.
Von:  SliceOfLuck
2015-02-15T21:32:18+00:00 15.02.2015 22:32
Einfach nur beeindruckend. Ich hab jetzt “zwischen den Zeilen“ und diesen Teil gelesen und hoffe das bald mehr kommt! So intelligent und gefühlvoll geschrieben dass ich richtig süchtig geworden bin :D
Nochmal dickes Kompliment und eine tiefe Verbeugung für dieses Meisterwerk, welches jeder Death Note Fan gelesen haben sollte!
Von:  Venu
2014-07-22T12:10:20+00:00 22.07.2014 14:10
Huhu :)

Ich freu mich riesig, dass du mit der Fortsetzung nun doch so schnell angefangen hast. Ich war bereits bei den ersten Sätzen schon wieder völlig gefangen und begeistert. Ich hab deinen Schreibstil echt vermisst! ;)

Also stell dich schon mal drauf ein, dass du mich ab jetzt wieder an der Backe hast. ;)

Ansonsten verbleibe ich in freudiger Erwartung auf dein nächstes Kapitel :)

Lg Venu


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