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Denn die Prophezeiung sagt

von

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Die vergangene Nacht war der reinste Albtraum gewesen, sie hatte keine Sekunde die Augen zugemacht und trotzdem fühlte sich Lavanya nicht müde, als sie der Menge der Menschen folgte. Nur geblendet von dem hellen Sonnenlicht, das ihren übernächtigen Geist und ihre Augen quälte, und immer noch völlig überrumpelt von den schockierenden Ereignissen der letzten Nacht.

Sie wollte sie in den Hintergrund drängen, um sich auf Vasin zu konzentrieren, der bald den Beweis für die Prophezeiung ablegen würde. Aber es gelang nicht, immer wieder flackerten sie unvermittelt auf.

Blut auf dem Boden.

Man hatte sich endschieden, den Kampf gegen die Felsenköpfe am Mittag stattfinden zu lassen. Der denkbar schlechteste Zeitpunkt wegen der direkten Sonneneinstrahlung und der Hitze, die die Konzentration schwächte, aber Vasin hatte nicht protestiert. Wenn er diesen Fehler nicht korrigierte, würde man nicht auf Lavanyas Urteil hören, mit dem Gedanken hatte sie längst abgeschlossen.

Unverständlicherweise erschien dieser von allen Siedlungsbewohnern herbeigewünschte Moment wie ein langerwartetes Ereignis, eine Art makaberes Volksfest, bei dem jeder in der ersten Reihe stehen wollte, obwohl man dort potentiell gefährdet war, teilweise saßen Menschen schon seit dem Morgen wartend auf dem Boden und es schwebte eine abwegige Heiterkeit in der Luft.

Für Lavanya war das momentan unverständlich, allerdings hatte auch kaum jemand von dem tragischen Todesfall erfahren; ihr Held lebte noch, daher musste man sich nicht mit anderen Dingen beschäftigen.

Kaans stumpfer Gesichtsausdruck, als die Energie in ihn eindrang.

Im Nachhinein wusste sie nicht mehr, ob sie jemanden geholt hatte oder irgendwer durch den Lärm auf sie aufmerksam geworden war; irgendwann hatten ein paar Menschen teils verwirrt, teils angeekelt im Zimmer gestanden, sich das Ausmaß des Chaos‘ angesehen und sowohl Lavanya als auch Kaan mitgenommen. Sie hatte sich nicht gewehrt, das war ihr gar nicht in den Sinn gekommen und wäre ihr kaum möglich gewesen.

Ihre Anspannung wuchs ins Unermessliche, als sich eine bekannte Person zwischen den Umstehenden hindurchzwängte. Vasin trug nicht mehr die Kleider von gestern Abend, mit denen er wie ein fleißiger Schlachter ausgesehen hatte, allerdings auch nicht seine eigenen. Das hätte sie auch gewundert, wenn er tatsächlich noch einmal in die Herberge zurückgekehrt war, um sich neu einzukleiden. Vielleicht hatte Felipa sie für ihn bereitgestellt. Wo er in den vergangenen Stunden gewesen war und was er dort getan hatte, hatte Lavanya nicht verfolgt, es hatte anderes im Vordergrund gestanden.

Aber selbst ohne das blutbefleckte Hemd konnte sie nicht behaupten, dass sich viel an seinem Äußeren geändert hatte, die schlaflosen Nächte sah man ihm unverkennbar an.

Ob er den Schrecken der Nacht überwunden hatte, würde sich zeigen. Sie an seiner Stelle hätte dieses Ereignis hier vertagt, vielleicht sogar völlig abgesagt. Traumatische Erlebnisse konnten die nötige Konzentration bei der Energiebündelung erheblich beeinträchtigen.

Eigentlich hätte er nur noch am Boden kriechen dürfen, so wie er sich in den letzten Tagen selbst zugrunde gerichtet hatte; entweder war er stärker, als sie vermutete und der Prophezeiung tatsächlich würdig, oder nur noch eine leere Hülle, die in absehbarer Zeit ihr Inneres vor allen offenbarte und Enttäuschung hervorrief.

Lavanya hoffte nicht, dass letzteres eintrat.

Die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut fühlten sich an wie die Hitze des Feuers in dem Ofen, in den gestern Nacht Kaan in aller Eile verbrannt worden war. In diesem Gebiet war es zu heiß, um Tote längere Zeit liegen zu lassen, besonders wenn der Tod eindeutig feststand.

Die Erinnerung daran ließ Lavanya erschauern, aber wenigstens hatten sie ihn nicht hier begraben, irgendwo in der Fremde, wo man nicht einmal seinen Namen kannte. Nun ruhten seine Überreste in eine der Wasserkannen, bis sie zurück in der Stadt waren.

Verzweifelt versuchte sie sich auf Vasin zu konzentrieren, der seine Konzentration sammelte, um in wenigen Momenten seine Energie fließen zu lassen. Es gelang nicht, dauernd sah sie dieses Bild vor sich, wie genau diese Energie Kaan und die Decke mit einem Loch versah, gefolgt vom Feuer im Ofen der provisorischen Bestattungsstätte. Wie in einem übermächtigen Strudel vermischte sich der Austragungsort der Prophezeiung, der grausige Unfall und ihre wirren Gedanken zu einer neuen Realität zusammen, aus der sie nicht ausbrechen konnte.

Tapfer kämpfte sie dagegen an und sah trotzdem Bilder, die nicht zueinander gehörten; Vasin, der die Felsenköpfe aus reichlicher Entfernung mit dem ersten Bündel Energieladung beschoss, umringt von einer dunklen Wolke aus Rauch, in der sich die Gesichtszüge Kaans abzeichneten.

Lavanya schlug sich so fest selbst auf die Wange, um die falschen Bilder auszublenden, dass einige Umstehende sie kurz skeptisch musterten. Zum Glück lenkte ein Aufschrei weiter vorne die wenigen wieder ab und Lavanya konnte sich allein ihren Problemen widmen. Diese Siedlung hatte bisher keinem von ihnen gutgetan, einer war tot, einer Auge in Auge mit ihm und sie verlor wohl den Verstand. Sie kam sich erschreckend hilflos vor, dabei besaß sie nicht mehr Handlungsspielraum als ohnehin auch.

Ein Energiestoß riss die Nase von einem der Felsengebilde ab, aber das empfand Lavanya nicht als Grund zum Feiern; wenn Vasin in der Geschwindigkeit fortfuhr, wie er momentan diese Riesen attackierte, hätten alle am späten Nachmittag immer noch lange auf einen Sieg zu warten. Er stellte sich nicht effektiv genug an.

Vasin stand fünfzig Schritte von den Siedlungsbewohnern entfernt, der Abstand zu den Felsenköpfen betrug noch einmal knapp die Hälfte der Distanz, die er zögerlich weiter verringerte.

Trotz dieser nicht gerade großen Entfernung kamen die Felsenköpfe nicht unerwartet auf das schaulustige Publikum zu und zermalmte es unter seinem unbegreiflichen Gewicht. Entweder wollten sie das nicht oder etwas hielt sie davon ab, was sicher nicht Vasins Verdienst war. Dafür hatten seine Energiestöße zu wenig Kraft.

Die Felsenköpfe besaßen ihren Namen nicht ohne Grund; sie sahen tatsächlich aus wie in Stein gehauene Köpfe mit erkennbaren Gesichtern von Menschen, ab und zu entdeckte Lavanya einen Stier- oder einen Schafskopf unter ihnen. Wie eine makabere, übermäßig vergrößerte Widerspiegelung der Siedlungsbewohner, eine boshafte Karikatur in ihrem bevorzugten Element – Stein.

Wie ein Zwerg erschien dagegen Vasin, der in einem Halbkreis von den Felsenköpfen umringt wurde; eine Zinnameise gegen ein Rudel Flugfüchse. Was war das für eine verhexte Prophezeiung, die behauptete, so etwas lebend zu überstehen?

Lavanya stand kurz davor, in den Kampf einzugreifen und mit ihrer Energie ihren Kollegen zu unterstützen, ungeachtet der Meinung der Masse, er könnte es allein bewältigen, und seiner eigenen Vorstellung, alle in den Schatten zu stellen.

Ihr Entschluss ließ zu lange auf sich warten, einer der Felsenköpfe, dem Vasin soeben eines der Steinaugen ausgestochen hatte, öffnete seinen haushohen Mund und verursachte einen Sog, der Vasin von den Füßen riss und in das dunkle Loch zog.

Das Publikum schrie nicht vor Entsetzen, es trat eher eine gespannte Stille ein, die in Lavanya das ungute Gefühl erweckte, dass diese Besonderheit nicht unbekannt für sie war. Vasin allerdings schien man nicht eingeweiht zu haben.

War das der Moment, in dem sich alles entschied? In dem sich offenbarte, dass er den Anforderungen gewachsen war? Lavanyas Herz schlug ihr bis zum Hals, weshalb sie die Augen schloss, die Hände aneinander legte und zur Göttin betete. Sonst tat sie das nie, Kaan war der Gläubige von ihnen gewesen, aber sie wusste sich nicht anders zu helfen. Vielleicht verlieh die Göttin Vasin dadurch die fehlende Kraft, die alles entscheidende Energiewelle zu wirken, die alle Felsenköpfe auf der Stelle zu Staub zerfallen ließ.

Als sie ihre Augen wieder aufschlug, geschah wirklich etwas. Der Felsenkopf, der Vasin verschluckt hatte, öffnete seinen Mund erneut. Und spuckte einen Haufen Knochen aus.

Ein kollektives Seufzen lief wie eine Welle durch die Ansammlung der Schaulustigen, als hätten sie vom ersten Moment an die Niederlage befürchtet, während Lavanya vor Fassungslosigkeit schreien wollte, doch heute kamen ihr die Tränen. Der Albtraum setzte sich fort und ließ sie nicht erwachen.

„Weinen Sie nicht“, sprach eine ältere Frau sie an. „Er war nicht der erste, der gescheitert ist, und viele werden ihm noch folgen. Um jeden zu trauern, der stirbt, wäre Zeitverschwendung. Warten Sie lieber auf den, der erfolgreich ist.“

Nein, der Albtraum hatte sich fest um sie gewickelt und schnürte ihr die Luft ab, bis sie erstickte.
 

Die Menge hatte sich schnell verlaufen und ging ihrem Tagewerk nach, als beträfe sie Vasins Tod nicht im Geringsten, nur ein leichter Hauch von Enttäuschung und Resignation auf allen Gesichtern verriet ihren Gemütszustand. Ebenso schnell hatten sich die Felsenköpfe wieder über die Ebene verteilt. Das leichte Beben, das sie dabei verursachten, wirkte wie ein höhnisches Lachen.

In Lavanyas Kopf und Herzen herrschten Leere, die es ihr zumindest ermöglichte, ihr Gepäck und die Überbleibsel ihrer Kollegen zusammenzusammeln, ohne erneut in Tränen auszubrechen. Das war das mindeste, was sie für die Familien tun konnte.

Ein letztes Mal betrat sie den Austragungsort des ungleichen Kampfs. Niemand hatte es für nötig befunden, Vasins sterbliche Überreste wegzutragen, was Lavanya ganz gelegen kam. Sie hätte nicht mehr die Kraftbesessen, die Bewohner höflich darum zu bitten.

Während sie das einzige Totengebet sprach, das sie kannte, legte sie Vasins Knochen in die letzte verbliebene Wasserkanne. Einige von ihnen musste sie mithilfe ihrer Energie zerteilen, damit sie hineinpassten. Sie hoffte, dass er ihr das nicht übel nahm, falls seine Seele ihre provisorische Bestattung beobachtete. Aber sie wollte ihn nicht an diesem Ort lassen, keinen Teil, dem sie habhaft werden konnte. Das hatte keiner ihrer zwei Kollegen verdient, unbeachtet in der Fremde zu verrotten.

Bevor sie sich auf den übereilten Heimweh begab, kaufte sie sich einen nötigen Wasservorrat, um nicht das Schicksal von Vasin und Kaan nachzueifern. Dann wäre nämlich niemand mehr am Leben, der ihrem Lehrmeister die traurige Botschaft samt den zwei Urnen überbrachte. Ihre Bienen waren ihr ausgegangen.

Am Ortsausgang überlegte sie, ob sie als einen verzweifelten Racheakt das Ortsschild in seine Einzelteile zerspringen lassen sollte, aber selbst wenn sie das tat, man konnte es problemlos erneuern und im Endeffekt wies nichts mehr auf ihre Absicht hin.

Ein kleines Grüppchen lenkte sie von ihrem Zwiespalt ab. Zwei jüngere Kinder standen um einen Mann herum, der verdächtig nach einem Reisenden aus dem Norden aussah. Er hielt einen hölzernen Wanderstab in der Hand.

Allein die Wörter „Prophezeiung“ und „Hilfe“, die sie flüchtig aufschnappte, ließ Lavanya bis ins Innerste erschauern und einen Schritt zulegen. Davon wollte sie nie wieder etwas hören.

Knapp, aber höflich grüßte der Mann sie, als sie an den Versammelten vorbeieilte, und sie reagierte gar nicht darauf, statt ihn zu warnen, dass diese Siedlung sein Verderben bedeutete.

Sie bezweifelte, dass er auf sie gehört hätte.



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