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Der Weg aus dem Kampf

Wenn Träume Berge versetzen
von

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Begegnung

Kapitel 1

Begegnung
 

„Alarm. Zu den Waffen!“

Der Ruf hallte an den Felsklippen wider und riss Mimoun aus dem Schlaf. Der junge Geflügelte kam frisch aus der Ausbildung und hatte gleich mal zur ‚Feier’ seiner Ankunft an der Front den letzten Teil der Nachtwache übernehmen dürfen - nachdem am Abend tatsächlich noch eine kleine Feier für die Frischlinge abgehalten worden war. Demzufolge war es um seine Reaktionsgeschwindigkeit nicht wie sonst bestellt und ein derber Griff am Arm riss ihn in die Höhe.

„Na los. Steh auf, Grünschnabel. Schlafen kannst du, wenn du tot bist.“

„Beschrei es nicht.“, murrte Mimoun und fuhr sich mit den Händen über Gesicht und Haare.

Kekaras drückte ihm nacheinander die einzelnen Rüstungsteile in die Hand, die der Jüngere mit leicht fahrigen Bewegungen anlegte. Abschließend reichte sein Mentor ihm noch Pfeil und Bogen. „Und nun ab.“

Widerspruchslos folgte der junge Geflügelte demjenigen, dem er gleich nach seiner Ankunft zugeteilt worden war. Jeder Frischling bekam einen erfahrenen Kämpfer zur Seite gestellt, der ihn unterstützen und anleiten sollte. Und Kekaras sah man seine vielen Schlachten an. Der ernste Blick, die vielen Narben.

Mimoun wandte seinen Blick rasch ab. Die ersten zwei Anweisungen, die er erhalten hatte, waren ‚Nicht anstarren!’ und ‚Gehorche, ohne zu zögern und widerspruchslos!’. Und er wollte noch nicht herausfinden, was geschah, wenn er gegen diese Anweisungen verstieß. Sein Mentor war zwar angesehen, aber nicht gerade beliebt.

Kekaras war an den Rand der Felsspalte getreten und hangelte sich an die Wand daneben, um auch seinem Schüler und den anderen die Möglichkeit zu geben nach draußen zu gelangen. Dicht unterhalb seines Mentors suchte sich Mimoun sicheren Halt und ließ seinen Blick schweifen, während der steife Wind an Haaren und Flügeln zerrte. Überall von den Felswänden der schwebenden Inseln um ihn herum stürzten sich die Krieger, um sich wenige hundert Meter unterhalb in kleineren Schwärmen zu sammeln. Ein einzelner Schwarm war zu riskant, denn ihre Gegner kannten nur eine Kampfstrategie: Hinterhältigkeit. In großen Schwärmen boten die Geflügelten einfach ein viel zu gutes Ziel für die heimtückischen Zauber, die auch mehrere gleichzeitig außer Gefecht setzen konnten, waren sie zu dicht beieinander.

Mimouns Augen suchten den Wald ab, der sich unterhalb der Inseln erstreckte. Dort unten, irgendwo zwischen dem wild wuchernden Grün, versteckten sie sich. Doch es hatte ihnen nichts gebracht. Die Wachen hatten sie entdeckt.

Ein Tritt in seine Seite und eine bezeichnende Kopfbewegung Kekaras erinnerten den jungen Geflügelten daran, dass es auch für ihn an der Zeit war, sich in die Tiefe zu stürzen und seinen Platz in der Schlachtformation einzunehmen. Mimoun stieß sich ab und stürzte sich kopfüber in die Tiefe. Erst kurz vor seiner Position breitete er seine Schwingen aus, spürte den Wind der ihn auffing. Dicht neben ihm kam Kekaras flatternd zum Stillstand.

„Halt die Augen und Ohren offen.“

Der Frischling schnaubte. Als wenn er das nicht wüsste. Auch ihm schien es hier zu ruhig zu sein. Rasch suchte er das Blätterdach ab, konnte aber nicht einmal erkennen, was die Wachen alarmiert haben könnte.

Nicht nur sein Blick war aufmerksam nach unten gerichtet und so bekam keiner mit, wie sich ein Stück oberhalb der Inseln einige Wolken langsam aber unaufhaltsam zusammenballten.

Die Eissplitter, die sich daraus lösten, trafen viele, bevor man realisierte, woher der Angriff kam. Sofort zerstreuten sich die Geflügelten noch weiter.

Ein stechender Schmerz explodierte in Mimouns linkem Flügel und er fiel ein ganzes Stück, bevor er auch nur daran dachte, wieder an Höhe zu gewinnen. Doch der Wind weigerte sich, ihm Halt zu geben. Ein Blick zeigte dem jungen Geflügelten, warum. Die Flughaut wies einen riesigen Riss auf. Er konnte der Luft nicht mehr gleichmäßig Widerstand bieten und begann wie ein Flügelsamen torkelnd zur Erde zu stürzen. Seine verzweifelten Versuche, den Sturz abzubremsen, brachten ihn noch mehr ins Schlingern und er krachte ungebremst ins Blätterdach. Ein kleinerer Ast bohrte sich auf seinem weiteren Weg nach unten tief in seine Seite, bei dem Versuch sich festzuhalten, verrenkte und brach er sich den rechten Arm und knallte schließlich Rücken voran auf eine aus dem Erdboden ragende Wurzel. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst und er glaubte, ersticken zu müssen, weil er sekundenlang nicht richtig atmen konnte. Dunkle Schleier tanzten vor seinen Augen und drohten Mimoun in die Bewusstlosigkeit zu ziehen. Ein Schrei voller Todesqualen riss ihn zurück und er rollte sich von der Wurzel herunter ins Dickicht. Ein vorsichtiger Blick in die Runde, bestätigte seine Befürchtung. Er war nicht der einzige, der abgestürzt war. Und natürlich waren die Magier zur Stelle, um ihr Werk zu vollenden. Grausam und heimtückisch zu mehreren auf einen Verletzten. Mimoun wusste, dass seinem Kampfgefährten nicht mehr zu helfen war, und versuchte stattdessen lieber, seine Haut zu retten. Doch wohin sein Blick auch streifte: Magier. Überall um ihn herum. Seine einzige Hoffnung war die kleine schlammgefüllte Kuhle unter der Baumwurzel. Es war eng und er hatte Schmerzen, doch er durfte keinen Laut von sich geben. Einzelne Farne und große Blätter versuchte er wie zufällig vor dem Eingang zu platzieren. Und dann blieb ihm nur noch zu hoffen, dass diese Schlacht schnell vorbei war, dass die Magier ihn nicht aufspürten, dass irgendjemand ihn suchen würde.

Langsam aber sicher kehrten die schwarzen Schlieren vor seinem Gesichtsfeld zurück, die sich diesmal nicht vertreiben ließen. Das Ende des Kampfes erlebte er in tiefer Bewusstlosigkeit.
 

Dhaôma hatte sich versteckt. Wie beinahe jedes Mal, wenn sein Bruder die anderen zu einem Angriff führte, hängte er sich an ihre Fersen. Er konnte sich nicht erklären, warum er das tat, aber ihn trieb die Neugier. Die Hanebito, die Geflügelten, gefielen ihm schon, seit er denken konnte. Sie waren stolz, majestätisch und exotisch, wenn sie auf ihren riesigen, ledernen Schwingen durch die Lüfte glitten, beinahe ohne einen Laut. Oft versteckte er sich im Wald auf einem der hohen Bäume oder am Rande der Ebenen und wartete auf sie, um sie zu beobachten. Dann konnte er träumen. Davon träumen, genau wie sie eines Tages frei durch die Lüfte schweben zu können.

Aber das hier war anders. Er folgte den Kriegern, um vielleicht die Chance zu erhaschen, einen Hanebito aus der Nähe zu sehen, vielleicht, um ihn zu retten. Aber in den letzten zwei Jahren hatte sich diese Gelegenheit niemals ergeben. Doch heute…

Versteckt zwischen Blattgrün beobachtete er, wie die vier Magier dem verbrannten Hanebito den Rücken kehrten. War das ihr ernst? Hatten sie nicht gesehen, dass zwei heruntergekommen waren?

„Glück gehabt!“, frohlockte er leise und ließ still seine Augen durch das Gebüsch wandern, während er sich vorsichtig voranbewegte. Er musste aufpassen, damit keiner der anderen ihn hier sah. Sie würden wieder schimpfen. Aber momentan waren sie mit ein paar anderen beschäftigt und außer Sichtweite.

Endlich entdeckte er den schwarzen Schatten unter der Wurzel. Nicht sehr gut versteckt, trotz der Tarnfarbe. Wie hatten sie ihn übersehen können? Dhaôma grinste, hockte sich möglichst versteckt hinter die Wurzel und begann seine Magie auf den Boden zu richten. Unter seinen Händen wuchsen weiche Seidengräser und buschiger Schlangenfarn, Heidelbeeren und junge Baumschösslinge. Eine Ranke verankerte sich auf dem Holz des alten Baumes, unter dem der Hanebito schlief, und kletterte dort hinauf, schloss die Höhle der Wurzel zu einem großen Teil ab.

Geschrei ertönte neben ihm und aus den Baumkronen kam ein weiterer Hanebito. Er war noch am Leben, aber an seinem Bein klaffte eine hässliche Wunde. Blitzschnell wog Dhaôma seine Chancen ab. Dass er gesehen worden war, konnte er nicht glauben, aber dieser Irre da oben würde sicherlich die Magier auf den Plan rufen und die sollten ihn besser nicht entdecken.

Mit einiger Anstrengung weitete er den Winkel seiner Magie und verlangsamte den Fluss, so dass es unaufmerksamen Menschen nicht mehr auffallen würde. Im Hintergrund hörte er, dass zwei Magier und der Hanebito starben, dann herrschte um ihn herum fast betäubende Stille. Als er fertig war, hörte er in der Ferne den Ruf zum Rückzug und entspannte sich ein wenig. Er musste sich ausruhen. So viele Pflanzen wachsen zu lassen, war anstrengend.

Als er wenig später, aus dem Gebüsch trat, musste er sich selbst loben. Von den unteren vier Metern des Baumstammes sah man so gut wie nichts mehr. Alles überwuchert von Vegetation. Sehr hübsch. Ein richtiges Kunstwerk. Aber das war nebensächlich. Endlich war er allein und hatte einen Hanebito, den er sich ganz aus der Nähe anschauen konnte!

Neugierig kroch er durch das hohe Gras zu der Stelle, an der er ihn vermutete, denn man sah die Wurzel nicht mehr. Und da war er. So schön! Das Gesicht etwas kantiger, die Nase schmal, die Haut dunkler als bei irgendjemanden von seiner Rasse. Er hatte Haare wie sie, dafür waren die Ohren ein wenig spitz. Der Rest des Körpers wurde von einem dieser wundervollen Flügel verdeckt.

„Wow!“, flüsterte Dhaôma beeindruckt und streckte die Hand aus. Es war ein kühles, weiches Gefühl, wie besonders teures, gegerbtes Hirschleder.
 

Seine Sinne schlugen Alarm. Etwas war nicht in Ordnung.

Mimoun schlug die Augen auf, doch irgendwie wollte sich seine Sicht nicht scharf stellen. Ein verwaschener Farbfleck beugte sich über ihn. Kein Geflügelter, das war zumindest sicher.

Seine Hand bewegte sich nach vorn, stieß auf Widerstand und versuchte diesen wegzuschieben. Gleichzeitig versuchte er der Höhle zu entkommen, die wie befürchtet zu einer Falle geworden war, aus der es keinen Ausweg mehr gab.
 

Dhaôma zog seine Hand wieder zurück, als der Hanebito sich zu bewegen begann. Kam er wieder zu Bewusstsein? Musste er jetzt befürchten, angegriffen zu werden? Aber wenn, war das nicht egal?

„Hey, ruhig.“, sagte er in seiner sanftesten Tonlage und lächelte. „Ich tu dir nichts. Versprochen. Aber wenn du dich zu viel bewegst, verletzt du dich vielleicht noch mehr.“ In ihm brodelte Aufregung. Endlich, endlich wurde sein Wunsch wahr, endlich konnte er mit einem von ihnen sprechen! Weich lachte er, als ihm klar wurde, dass der junge Mann versuchte, durch die Wurzel zu kriechen. „Das ist die falsche Richtung. Raus kommst du aus deinem Versteck nur, wenn du in meine Richtung krabbelst.“
 

Als ihm die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen bewusst wurde, wandte sich Mimoun der Stimme zu. Noch immer konnte er nichts klar erkennen. Da half es auch nichts, mit dem schlammbesudelten Arm übers Gesicht zu fahren.

„Geh.“, flüsterte er schwach. „Oder... töte mich. Aber... wage es... nicht... deine Spielchen mit mir zu treiben.“ Der junge Geflügelte flüchtete sich in die nächste Bewusstlosigkeit in der Hoffnung, seinen Tod so nicht kommen sehen zu müssen. Nur einen Sekundenbruchteil vorher begann er Angst zu verspüren. Er wollte noch nicht sterben.
 

Seufzend schüttelte Dhaôma den Kopf. Vielleicht war seine Idee, mit diesen Wesen Freundschaft zu schließen, Käse. Zu lange schon und zu viel hatte sein Volk ihnen angetan. „Ich spiele keine Spielchen mit dir.“, sagte er leise, doch es kam keine Antwort mehr. „Bist du wieder ohnmächtig?“ Sachte berührte er ihn erneut, doch es kam nicht mal ein Zucken. „Armer Kerl. Ich werde dich irgendwo hinbringen, wo du es bequemer hast.“

Es stellte sich als ziemlich schwierig heraus, den Hanebito aus der kleinen Höhle zu ziehen, zumal er den einen Arm nicht zum Ziehen nutzen konnte. Deutlich hatte er das Knacken und Knirschen gehört, als er es versucht hatte. Als er es doch noch geschafft hatte, sah er erst das volle Ausmaß der Verletzungen. Der Flügel war zerrissen. Es traf ihn wie ein Blitz. Das bedeutete, dass der junge Mann nicht mehr fliegen konnte!

„Verdammt!“, fluchte er. „Das krieg ich nicht mehr hin, das sollte dir klar sein! Ich bin kein Heiler!“

Unter größten Kraftanstrengungen wuchtete er sich den schlaffen Körper auf die Schultern und machte sich auf den Weg in sein Versteck. In der kleinen Baumhöhle verbrachte er mitunter Tage, wenn er es zu Hause nicht aushielt, weil sein Bruder wieder und wieder von seinen Schlachten schwärmte und detailreich beschrieb, wie und wie viele er getötet hatte. Es gab ein weiches Lager aus Moos und Blättern, duftende Kräuter und einen ordentlichen Vorrat an getrockneten Früchten.

Drei Stunden dauerte es, bis er den Arm geschient, eingerenkt und alle Kratzer und Wunden gesäubert und versorgt hatte. Die Bauchwunde bereitete besonders große Probleme, aber zum Glück war kein Schmutzwasser hineingelaufen. Nur der Flügel überstieg seine Fähigkeiten. Zwar trug er Salbe auf, aber wie sollte man ihn verbinden? Es war zu sperrig. Sein Patient hatte in der ganzen Zeit nur ein paar Mal gestöhnt, doch wach geworden war er nicht.

Als er fertig war, war es draußen längst dunkel und Dhaôma war erschöpft. Es war ein langer Tag gewesen und er hatte seine Kräfte überbeansprucht. Immerhin hatte er auch die Heilpflanzen wachsen lassen, um sie nicht suchen zu müssen. Aber neben dem Fremden zu schlafen, erschien ihm zu gefährlich. Er wusste ja nicht, wie der reagieren würde, wenn er erwachte. Außerdem mochte er es nicht, jemanden nachts neben sich zu haben, also zog er sich auf den Nachbarbaum zurück und rollte sich dort in einer Astgabel zusammen. Er hoffte nur, dass er auch wach wurde, bevor der Hanebito noch verschwand.
 

Leises Rauschen von Wind zwischen Blättern war der erste Sinneseindruck, der sich Mimoun offenbarte, als er wieder zu sich kam. Als nächstes kam ein angenehmer Geruch hinzu, der ihn umhüllte. Mimoun öffnete die Augen und sah sich blinzelnd um. Er war nicht tot, soviel stand fest. Dafür tat sein Körper einfach zu sehr weh. Doch wo war er hier?

Mit seiner linken Hand fuhr er vorsichtig tastend über seine Unterlage. Weich, nachgiebig. Die rechte konnte er nicht benutzten, stellte er am Rande fest. Mit wenigen unauffälligen Kopfdrehungen erkundete sein Blick die restliche Höhle, doch es erschloss sich ihm nicht, wo er hier war, geschweige denn, wie er hier hingekommen war.

Als er keine andere Lebensform in seiner unmittelbaren Nähe ausmachen konnte, wagte es Mimoun, sich vorsichtig aufzusetzen. Verwundert begutachtete er die Verbände. Wer war das gewesen?

Kurz blitzte ein Bild durch seinen Geist. Ein verwaschener Farbfleck, aber dennoch deutlich als Magier zu identifizieren. Dieser musste ihn zum Sterben dort liegen gelassen haben und statt zu sterben, war er rechtzeitig von Seinesgleichen gefunden und gerettet worden, schlussfolgerte Mimoun. Schließlich war er weder gefesselt noch eingesperrt. Und vor allem war er noch am Leben! Doch wo befand sich der andere nun? Schwankend und sich an der Wand abstützend, tastete sich der junge Mann Zentimeter für Zentimeter weiter Richtung Ausgang vor.
 

Der braunhaarige Magier war schon vor einiger Zeit wieder aufgewacht, hatte das Frühstück besorgt und dann geduldig unter dem Baum gesessen, die Höhle stetig im Blick. Bei Tageslicht konnte er seinen Besucher auch besser sehen und seitdem er den gröbsten Schlamm entfernt und ihm die starre Rüstung ausgezogen hatte, sogar Einzelheiten erkennen.

Er gefiel ihm, machte ihn neugierig und kribbelig. Die spitzen Ohren allein waren schon faszinierend, die Haare waren irgendwie etwas starrer als seine eigenen und sein Körper etwas drahtiger, vielleicht muskulöser. Und die Flügel waren riesig, gerade, wenn er sich direkt neben ihnen befand. Jeder einzelne war fast so lang wie er selbst. An den Fingernägeln hatte er sich sogar geschnitten, als er an der einen Armschiene gezogen hatte. Im Grunde war der ganze Körper zum Kampf geschaffen. Wirklich faszinierend.

Jetzt aber straffte er die Schultern. Es war Vorsicht geboten, denn obwohl der Hanebito verletzt war, hieß das nicht, dass er nicht gefährlich war. Zumindest sagte man in seinem Volk, dass die Hanebito zu allem fähig wären. Langsam erhob er sich.

„Du hast nicht gegessen.“, erhob er die Stimme. „Dabei ist das wichtig, damit du wieder zu Kräften kommst.“
 

Mimoun erstarrte. Diese Stimme. Alles in ihm verkrampfte sich und er zog sich wieder ein Stück in die Höhle zurück. Das Schlimmstmögliche war eingetroffen. Es war dieser Magier. Also war er doch ein Gefangener.

„Was willst du?“, fragte er barsch, sich eng an die Wand hinter ihm pressend.
 

„Dass du etwas isst.“, seufzte Dhaôma. Wie es aussah, stimmte es nicht, was man sagte. Diese Geflügelten waren nicht wirklich Monster ohne Schmerz und Angst. Zumindest wirkte es nicht so. „Keine Angst, ich mache nichts. Ich bin nicht wie die anderen. Ich töte niemanden.“

Versuchshalber machte er einen Schritt auf die Höhle zu, jederzeit bereit, sich wieder zurückzuziehen. Er kannte das von verletzten Tieren. In die Enge getrieben entwickelten sie häufig immense Kräfte.
 

Keine Angst? Er war nicht wie die anderen? „Ja sicher.“ Mimoun schnaubte abfällig. „Für wie verrückt hältst du mich eigentlich?“

Er ließ sich langsam in die Hocke sinken. Trotz der Stütze in seinem Rücken war Stehen zuviel für seine schwindenden Kräfte. Erneut sah er sich aufmerksam um. Es musste doch irgendwie einen Weg hier heraus geben.
 

Nachdenklich blickte Dhaôma seinen Fund an. Eigentlich war es ja kein Wunder, dass der misstrauisch war. Wo er wahrscheinlich auch immer nur gehört hatte, dass Magier schrecklich brutale Wesen waren. Noch dazu war er ein Krieger. Wer wusste schon, wie viele Schlachten er miterlebt hatte und wie viele er schon sterben sah.

„Ist gut. Auf dem Regal steht ein Teller mit Beeren und etwas zu trinken für dich. Wenn du mutig genug bist, nimmst du auch noch den Zweig, der daneben liegt. Er hilft bei der Wundheilung. Ich komme später wieder, um zu sehen, wie es dir geht.“

Ein klein wenig enttäuscht war er schon. Wie sollte er es schaffen, Freundschaft mit einem zu schließen, der eigentlich sein Todfeind war?

„Dich findet hier keiner der anderen. Du kannst dich also in Ruhe erholen. Bis später!“ Grinsend winkte er, dann rannte er davon. Er würde nicht weit gehen, aber er brauchte noch ein paar Samen von Heilpflanzen, damit er welche in Reserve hatte. So wie es aussah, würde ihm noch ein langer Weg bevorstehen mit seinem Hanebito.
 

Mimoun starrte ihm fassungslos hinterher. Was dachte sich der Kerl eigentlich? Was bezweckte er damit? Er versorgte die Wunden eines Feindes, anstatt ihn elendig an Wundbrand und ähnlichem krepieren zu lassen? Er hatte ihn nicht gefesselt oder eingesperrt. Und nun drehte er ihm tatsächlich den Rücken zu und ging.

Verdammt. Mimoun griff sich an den Kopf. Warum fiel ihm Denken grade nur so schwer?

Mit heftigem Schütteln versuchte er Klarheit in seine Gedanken zu bringen, doch alles, was er erreichte, war heftiges Schwindelgefühl. Sein Blick glitt über seine Rüstung. Er hatte nicht einmal richtig Kraft zu stehen. Auch noch den zusätzlichen Schutz am Körper mit sich herumzuschleppen, überstieg sein Können momentan bei weitem.

Sein Augenmerk richtete sich als nächstes auf das Regal. Mimoun glaubte nicht daran, dass auch nur eine Beere giftig war. Was auch immer dieser Magier mit ihm vorhatte, er brauchte ihn lebend. Entschlossen schleppte er sich dorthin, griff nach dem Wasser und stürzte es schnellstmöglich hinunter. Dann nahm er sich den Zweig.

Solange dieser Kerl nicht in Sichtweite war, würde Mimoun seine Chance nutzen und von hier verschwinden. Auf dem Zweig herumkauend, schleppte er sich wieder zum Ausgang der Höhle und spähte nach draußen. Es blieb still, von typischen Waldgeräuschen mal abgesehen. Also nutzte er seine Chance und schlich in entgegengesetzter Richtung davon, Baum für Baum schwer atmend zur kurzen Stütze und Rast nutzend.
 

Schon bevor er bei der Baumhöhle ankam, wusste Dhaôma, dass sein zukünftiger Freund weg war. Die Geräusche des Waldes hatten sich geändert, die Vögel schimpften anstatt zu singen und das Rascheln der kleinen Tiere war verhaltener. Als würde der Tod in der Luft liegen.

Erschrocken beeilte er sich, folgte einer erstaunlich deutlichen Spur ein Stück in den Wald hinein, bevor er den Hanebito dort liegen sah. Er rührte sich nicht. Schnell kniete er neben ihm nieder, drehte ihn halb auf den Rücken und stellte erleichtert fest, dass er noch atmete. Aber seine Schiene war verrutscht.

„Du bist aber auch ein Idiot.“, murmelte er und machte sich daran, ihn zurück auf das Mooslager zu bringen. Erneut behandelte er alle Wunden mit einer extra dafür hergestellten Salbe, stellte dann wieder etwas zu Essen bereit und bemühte sich, das beginnende Fieber zu senken. Dabei redete er ständig auf ihn ein, schimpfte, weil er unvorsichtig mit seinem Leben war und kein Vertrauen kannte, lachte, weil er im Schlaf das Gesicht verzog, und erzählte ihm, wie interessant er ihn fand. Sobald er feststellte, dass der Junge wach wurde, spannte er sich allerdings wieder. Nur, dass er diesmal die Höhle nicht verließ.

„Bist du wach?“, fragte er vorsichtig.
 

Mimoun wandte ihm kurz den Kopf zu, richtete dann den Blick wieder stumm an die Decke. So hatte es keinen Sinn, das sah er nun ein. Mimoun musste erst wieder vernünftig zu Kräften kommen, bevor er von hier verschwinden konnte. Die Frage war nur, ob der Magier dann noch genauso unvorsichtig sein würde wie jetzt.

Mit einem tiefen Seufzen schloss er ergeben die Augen. Jetzt hieß es abwarten.
 

„Also bist du wach.“ Dhaôma lächelte. „Das ist gut. Ich weiß, dass es dir unangenehm sein muss, hier zu sein, aber wenn du dein Fieber auskuriert hast, bringe ich dich an einen Ort, von dem aus man deine Leute fliegen sehen kann. Vielleicht sehen sie dich dort und holen dich herauf, denn fliegen wirst du wohl erstmal nicht können.“

Sanft stellte er eine Schale mit kühlem Wasser neben das Lager. „Darf ich?“, fragte er und deutete auf das Stoffstück, das auf Mimouns Stirn lag.
 

Die Worte des Magiers riefen eine Erinnerung in Mimouns Gedächtnis, die dieser bisher verdrängt hatte. Seine Finger glitten über den Riss, spürten soweit es ging dem Verlauf der Verletzung nach. So ganz stimmten die Worte des anderen nicht. Mimoun würde nie wieder fliegen können, diese Verletzung würde nie entsprechend heilen können!

Kurz glitt tiefe Traurigkeit über seine Gesichtszüge, bevor er sich wieder zur Gleichgültigkeit zwang, die Hand neben seinem Körper zur Ruhe kam und er wieder die Augen schloss.
 

Das nahm er als Erlaubnis. Leise lächelnd begann Dhaôma das Tuch in kühles Wasser zu tauchen und damit die Stirn abzutupfen. Danach stellte er in Reichweite etwas zu Essen und zu trinken hin. „Brauchst du Hilfe?“, wollte er wissen.
 

Mimoun verkrampfte seine Hand zur Faust und bohrte sich die Fingernägel in die Handfläche, als der Magier das Tuch wechselte. Er entspannte sich erst wieder, als das Essen gebracht wurde. Auch der angehaltene Atem entwich seinen Lungen.

Nach zwei erfolglosen Versuchen schaffte er es, sich selbst aufzusetzen. Sein Blick glitt über die dargebotenen Nahrungsmittel. Beeren, Früchte, eine komische braune, schwammige Masse. Langsam, zögernd und mit einigen Pausen aß er alles. Nachdem er sein Mahl beendet hatte, ließ er sich noch immer wortlos zurücksinken.

Es war anstrengend gewesen, das spürte er, doch die Hilfe des anderen mehr als nötig anzunehmen, sah er nicht ein.
 

Dhaôma grinste, als er die Schale wieder fortstellte. „Und jetzt schlaf, Hanebito. Werd wieder gesund.“

Er verließ die Höhle und sah hinauf in das Blattwerk. Die Sonne hatte den Zenit längst überschritten und er hatte kaum etwas getan. Eigentlich würde er am liebsten Laufen. So schnell es ging und so weit er konnte in den Wald hinein, das bisschen Freiheit spüren, das er sich selbst erfüllen konnte, aber er konnte seinen Patienten in dem Zustand nicht so lange alleine lassen. Stattdessen würde er lesen. Das Buch über die Legende der Drachenreiter, das er sich vor kurzem von seinem Bruder erbettelt hatte. Diese Legende war sein zweiter Traum. Er wollte ein Drachenreiter werden. Er wollte einen Drachen finden, ihn aufziehen und auf ihm fliegen. Und danach würde er nie mehr zu den seinen zurückkehren, damit sie ihn nicht töteten, denn die Drachenjagd war in seinem Volk ein beliebter Sport gewesen.

Die Sonne kroch irgendwann an den Ort, an dem er sich niedergelassen hatte, und schläferte ihn ein. Er liebte es, in der Sonne zu schlafen.

Als er erwachte, war es längst dunkel und der Hanebito schlief. So stromerte Dhaôma durch den Wald, bevor er sich in seine Astgabel zurückzog. Am Morgen setzte er sich schon früh auf eine Lichtung und ließ dort die Pflanzen wachsen, die er für heute brauchte. Damit kehrte er in die Höhle zurück, zerquetschte sie und vermengte sie mit ein wenig Öl, bis die Mischung sämig geworden war. In dem Moment, als der Hanebito wach war, wandte er sich ihm zu.

„Geht es dir gut? Kannst du dich aufsetzen? So wie gestern?“ Eigentlich müsste es ihm besser gehen, da das Fieber heruntergegangen war. Offenbar war die befürchtete Infektion des offenen Bauches ausgeblieben. Glück gehabt.
 

Träge wischte sich Mimoun mit der Hand über die Augen. Irgendwie wollte er sich jetzt noch nicht bewegen. Aber je schneller er hinter sich gebracht hatte, was auch immer der Magier von ihm wollte, desto schneller hatte er vielleicht wieder seine Ruhe.
 

„Sehr gut.“, nickte der Braunhaarige zufrieden. Die Bewegungen waren schon viel sicherer. „Noch zwei, drei Tage, dann solltest du wieder einigermaßen auf den Beinen sein.“ Mit geübten Bewegungen riss er ein Stofftuch in Streifen. „Ich werde deine Wunden behandeln. Sag Bescheid, wenn es weh tut, aber brennen wird es trotz allem.“ Und schon stellte er die Schüssel neben sein Tablett mit Salbe und Stoffstreifen. „Wenn du möchtest, kannst du nebenbei auch frühstücken.“, deutete er auf die Schale.

Dann verlor sich seine Sicherheit ein wenig, als er nach dem Bein des Hanebito greifen wollte. Vorsichtig versuchte er es anzuheben, schielte beunruhigt zur Seite, um einen möglichen Angriff blocken zu können.
 

Mimoun erwiderte dem Blick ruhig und gelassen. Dann griff er nach den dargebotenen Speisen. Na gut. Zwei, drei Tage würde er sicher überstehen. Die Frage war nur, wohin er danach wirklich gebracht werden würde. Sich auf das Wort eines Magiers zu verlassen, kam für ihn gar nicht in Frage.
 

Der Blick war so abschätzig gewesen, dass Dhaôma fast hatte lachen müssen. So misstrauisch. Aber er fragte sich, ob er nicht genauso handeln würde, wenn er in der Hand der Hanebito wäre. Doch nachdem er förmlich die Erlaubnis hatte, begann er ihn neu zu verbinden. Was ihm auffiel, war, dass die Haut etwas fester war als seine eigene. Sie fühlte sich toll an. Neu und aufregend.

„Flügel aufmachen.“, wies er ihn einmal an, bevor er auch diesen einsalbte. Der junge Mann tat, was er wollte, aber er sagte nicht einen Ton. „Wie heißt du eigentlich?“, wollte er irgendwann wissen. „Ich kann dich ja nicht immer Du nennen.“ Aber auch das war dem Geflügelten keine Antwort wert, so beschloss Dhaôma, ihn einfach Hanebito zu nennen. War ja nicht mal falsch. Schließlich hatte er ja Flügel.

Als er fertig war, grinste er ihn an. „Ich werde erst wieder heute Nachmittag zurückkommen. Ich habe noch etwas Wichtiges zu erledigen, immerhin habe ich kein Verlangen danach, dass mich mein dämlicher Bruder suchen kommt. Deine Waffen liegen da vorne, falls wilde Tiere kommen. Dass einer meines Volkes kommt, ist unwahrscheinlich. Ihnen ist es hier viel zu stachelig – wie ich zugeben muss, der Grund, warum ich den Dornenbüschen beim Wachsen geholfen habe. Also, bis später.“
 

Seufzend schüttelte Mimoun den Kopf. Der redete zu viel. Sollte er doch sagen, was er wirklich wollte. Und so unhöflich. Nach dem Namen fragen und sich nicht einmal selbst vorstellen.

Der junge Geflügelte ließ sich zurücksinken und versuchte wieder zu schlafen. Doch innere Unruhe zwang ihn schließlich, sich zu erheben. Der Weg nach draußen war nicht ganz so Kräfte zehrend wie noch am Vortag. „Zwei, drei Tage noch.“, sinnierte er leise. Gut. Die Zeit würde er nutzen, um sich so weit es ging zu erholen. Er ließ sich direkt neben dem Eingang nieder und starrte durch das Blätterdach in den dahinter verborgenen Himmel. Ohne sein bewusstes Zutun krochen seine Finger wieder über seinen Flügel. Die Geräusche um ihn herum, die Vögel und das Rauschen der Blätter lullten ihn schließlich ein.
 

Der Besuch zu Hause fiel gewohnt kurz aus. Dhaôma sagte kurz Bescheid, dass er noch lebte, packte ein paar Kleinigkeiten und Lebensmittel zusammen, dann verschwand er wieder. Seine Familie war nichts anderes von ihm gewöhnt und da er mit seinen lächerlichen magischen Fähigkeiten sowieso nutzlos und das schwarze Schaf der Familie war, ließen sie ihn anstandslos ziehen. Hauptsache, er machte ihnen keine Schande. Aber diesmal beeilte er sich noch ein wenig mehr, um in sein Versteck zu kommen. Und er war noch ein wenig vorsichtiger, dass ihm niemand folgte.

Als er den Hanebito dort in der Sonne schlafen sah, musste er lächeln. „Du bist so hübsch.“, sinnierte er und ging vor ihm in die Hocke, um ihn einfach zu betrachten. „Und so unvorsichtig. Du hättest wenigstens eins von den Armmessern mitnehmen können.“

Dann packte er seinen Rucksack aus. Ein bisschen Proviant, den man im Wald nicht fand, ein paar Verbände, eine zweite Schale und einen zweiten Becher und ein paar neuer Kleider für den Hanebito, auch wenn er noch nicht ganz durchschaute, wie man mit den Flügeln ein Hemd anzog. Vielleicht musste man den Rücken abschneiden oder so. Das Hemd des Hanebito jedenfalls hatte kein Rückenteil.

Dann erneuerte er das Moospolster, bevor er wieder hinausging. Was konnte er noch tun? Eigentlich hatte er doch alles. Nur noch Wasser musste er besorgen und dazu musste er nur auf den Nachbarbaum klettern, denn die Blätter sammelten das Regenwasser wie ein natürliches Reservoir.

Irgendwann wurde es dämmrig und Nebel zog auf. Es bedeutete, dass es bald wieder regnen würde, wenn die Sonne schon wieder soviel Kraft gewonnen hatte, dass sie das Wasser aus dem Boden sog. „Hanebito?“ Er hockte sich wieder neben ihn. „Wach auf. Es ist nicht gut für dein Fieber, wenn du im Nebel schläfst.“
 

Schon wieder dieser Magier. War der nicht gerade erst verschwunden?

Mimoun sah sich um. Die Sonne war nicht mehr zu sehen und die viele Feuchtigkeit in der Luft hatte die Umgebung kühler werden lassen. Sein Augenmerk richtete sich auf den Magier. Er hatte nicht so ganz mitbekommen, was dieser nun schon wieder wollte. Aber das ließ sich auch drinnen regeln.

Mit steifen Gliedern stemmte sich der junge Geflügelte in die Höhe. Einige Augenblicke hielt er mit geschlossenen Augen inne, bevor er sich wieder auf sein Lager begab.

„Warum?“
 

„Ai…“ Zögernd legte Dhaôma seinen Finger gegen das Kinn. „Ich glaube, das hat mit der kalten Feuchte zu tun. Der Körper versucht die Kälte auszugleichen, damit steigt das Fieber.“ Zufrieden mit der Erklärung nahm er die Kleider aus dem Regal. „Wenn du willst, kannst du die anziehen, dann kann ich deine mal flicken.“
 

Ein dunkles Knurren entrang sich seiner Kehle. „Warum hilfst du mir?“ Auf die selten dämliche Erklärung ging er gar nicht erst ein.

Dann besah er sich die angebotenen Kleidungsstücke. Von der Größe her müssten sie passen und seine sahen wirklich nicht mehr ansehnlich aus. Doch nur mit einem Arm gestaltete sich die Aufgabe schwieriger, als angenommen.
 

„Ah, das. Weil sich deine Leute sicher nicht hierher trauen, um dir zu helfen, und weil ich sie nicht holen kann, weil sie mir nicht vertrauen.“ Er betrachtete den Schwarzhaarigen vor sich, wie er mit einer Hand die Kleider hochhielt. „Aber das meintest du auch nicht. Du willst wissen, welchen Grund ich habe.“

Seufzend wandte er sich ab, nahm eine Büchse aus dem Regal, öffnete sie und ließ den Zeigefinger durch die vielen bunten Samen streichen. Sein großer Schatz. „Vielleicht bin ich die Kämpfe einfach Leid. Vielleicht beneide ich dich und die deinen. Vielleicht bin ich auch einfach verrückt. Such dir was aus.“ Mit einem zuvorkommenden Lächeln stellte er die Schachtel wieder zurück, bevor er auf die Kleider zeigte. „Soll ich dir dabei helfen?“
 

Die Kämpfe Leid sein? Ja. Das waren sicher viele. Verrückt war der Magier auf jeden Fall auch. Schleppte der sich doch einen Feind nach Hause. Aber beneiden? Mimoun sah keinen Grund darin. Dann stand er halt auf der anderen Seite des Schlachtfeldes. Machte es das besser, wenn man die Kämpfe leid war?

„Verrückt ist ganz praktisch. Ich kann dich ja dann später von deinem Leid erlösen, wenn ich wieder fit bin.“, murmelte der Geflügelte und deutete mit der Hand auf die Bänder, die gelöst werden mussten.
 

„Ah, wenn es darum geht, würde ich dann doch lieber noch ein wenig leben und meine Probleme irgendwann selbst und mit eigener Hand lösen.“ Mit einem leisen Kichern hockte er sich vor ihn und knotete die Bänder auf. Keine Knöpfe, alles Knoten. Es musste Stunden dauern, das an oder auszuziehen. Aber es war wirklich feines Leder. Höchstwahrscheinlich störte es nicht beim Schlafen. Nur für andere Dinge wie baden war es entschieden zu umständlich.

Vorsichtig zog er an dem Hemd. Man konnte es nach vorne abnehmen, wenn man die Knoten im Nacken gelöst hatte. „Uh, da werden dir meine Kleider sehr umständlich erscheinen, Hanebito. Die haben alle ein Rückenteil.“, murmelte er, während er es sich betrachtete. Zwei lange Risse waren im Leder zu sehen. An den blödesten Stellen. Das würde niemals mehr gut aussehen, selbst wenn er es noch so fein zu nähen vermochte, was sicher nicht der Fall war, da er damit kaum Erfahrung hatte.
 

„Hose reicht doch. Oder stört es dich?“
 

„Mich stört es nicht, aber deinem Fieber wird es nicht gut tun.“ Missfallen zeigte sich auf seinem Gesicht, als er die Stirn in Falten zog und das Hemd zerknüllte und zum Ausgang beförderte. „Du solltest dir bewusst darüber sein, dass hier, so nah an der Hauptstadt der Magier, jeder Tag gefährlich ist, selbst wenn ich dich hier verstecke!“

Er erhob sich und holte sein Messer. Etwas nachlässig warf er es vor den Jungen auf das Moosbett. „Hier, du weißt am besten, wie das aussehen muss. Ich halte das Hemd, du führst das Messer.“
 

Mimoun erstarrte. Hatten sie den Angriff echt so dicht an der Hauptstadt des Feindes geführt? Das war doch leichtsinnig!

Angespannter als noch vor wenigen Augenblicken holte er aus und ließ seine Krallen durch den Stoff gleiten. Ob er tatsächlich noch die wenigen Tagen durchhalten sollte? Wieder glitt sein Blick nervös durch die Höhle.
 

Beeindruckt drehte Dhaôma das Hemd herum. „Echt praktisch.“, nickte er, dann grinste er. „Jetzt die Hose. Wir sollten uns ein wenig beeilen, bald ist gar kein Licht mehr da. Ich möchte hier kein Feuer machen. Das ist zu gefährlich für den Lebensbaum.“

Und schon knüpfte er an der Hüfte des Fremden herum, bis der Knoten nachgab. „Hier auch Hilfe oder ist das zu persönlich?“
 

„Ich will ja nicht, dass du neidisch wirst.“, grinste Mimoun diabolisch, ließ sich aber dennoch dabei helfen. So sparte er seine Kräfte für den Notfall auf.

„Lebensbaum?“, fragte er neugierig und ließ seinen Blick über die gewölbte Decke gleiten.
 

Dhaôma zog ihm die Hose aus, während er lächelte. Die Spitze überging er, denn es freute ihn, dass der Hanebito ihm das erlaubte. Immerhin wollte er wissen, wie das bei den Geflügelten da unten aussah. Fast war er enttäuscht, dass es dem seines Volkes so ähnlich sah.

„Der Lebensbaum ist der Baum, in dem du dich hier befindest. Es ist eine Art Baum, die uralt wird, so dass es scheint, als würden sie ewig leben. Dieser hier ist mindestens achthundert Jahre alt, sonst wäre er niemals dick genug, um mir als Zuflucht zu dienen.“

Er reichte dem Jungen die Hose. „Anziehen.“ Und zur Sicherheit fragte er noch, ob er wüsste, wie man Knöpfe benutzte.
 

Die Angelegenheit gestaltete sich nicht ganz so schwierig, wie ursprünglich erwartet. Einfach und praktisch war diese Art des Verschlusses. Die Hose selbst war weit, viel weiter, als er es gewohnt war. Auch das Hemd war ein wenig zu lang an den Ärmeln, aber damit musste er sich abfinden. Obwohl der Rücken sowieso schon ruiniert war für Magierverhältnisse, da machten die Ärmel nun auch nichts mehr. Mit einem Ruck entfernte er den des rechten Arms. An den linken Ärmel kam er nur mit leichten Verrenkungen heran und es sah danach nicht ganz so elegant aus.

Nach dieser Umziehaktion brauchte Mimoun erst einmal eine Pause und ließ sich auf seinem Mooslager nieder.

„Du bist seltsam, Magier.“, stellte Mimoun eher für sich fest und legte seine unverletzte Hand auf die Schiene an seinem Bruch. „Ich versteh dich einfach nicht.“
 

„Das ist okay, Hanebito.“, lachte der. „Ich verstehe auch viele nicht, mit den meisten von ihnen lebe ich sogar unter einem Dach.“ Er knüllte auch die Hose zusammen und begutachtete den Jungen jetzt noch einmal. In dem schwindenden Licht war er inzwischen schwer auszumachen, aber morgen war ja auch noch ein Tag. „Ich heiße übrigens Dhaôma. Als Magier bin ich ein Versager, deshalb wäre es mir lieber, du nennst mich nicht so.“
 

Der Geflügelte streckte sich auf seinem Lager aus.

„Also ich weiß nicht. Wenn ich dich richtig verstanden hab, hast du die Dornenbüsche wachsen lassen. Du hast es geschafft, mich am Leben zu erhalten. Du verbirgst mich erfolgreich vor deinesgleichen.“ Mimoun fixierte sein Gegenüber in der Dunkelheit. „Versagen ist für mich was anderes.“
 

„Mal darüber nachgedacht, dass das in ihren Augen sogar mehr als Versagen ist? Genau genommen verrate ich sie sogar. Und nachdem sie mich nicht im Krieg verwenden können, weil mir keine starke Kraft zuteil geworden ist, obwohl man gehofft hat, mit mir einen neuen Heiler zu gebären…“

Das letzte Licht floh aus der Höhle und ließ Dunkelheit zurück. Jetzt konnte er den anderen nicht einmal mehr erkennen. „Aber es macht mir auch nichts, so zu sein, wie ich bin. Wie du schon sagtest: so konnte ich dir das Leben retten.“ Frech grinsend streckte er sich. „Wenn du mich brauchst, kannst du rufen. Ich schlafe auf der Grünweide nebenan.“
 

Mimoun starrte noch lange in die Dunkelheit. Selbst wenn der Magier keine übermäßigen Kräfte besaß, dass er sich dennoch so frei bewegen konnte und nicht als Schlachtviech in der ersten Reihe gelandet war, bedeutete wohl, dass seine Familie nicht ganz so arm war. Vielleicht war der Kerl doch nützlicher, als anfangs angenommen.

Doch darüber konnte er sich ja noch morgen den Kopf zerbrechen. In dieser Dunkelheit ließ sich sowieso nichts Sinnvolleres anfangen als schlafen. Doch er hatte die letzte Nacht und den halben Tag verschlafen. Sein Körper wollte seine Ruhe, da er sie so dringend brauchte, doch sein Geist war hellwach, irrte ruhelos durch die Gegend. Sein Blick glitt in die Richtung, in der er den Ausgang wusste. Ob er den Kerl rufen sollte? Er brauchte so einiges. Ein wenig Wasser wäre nicht schlecht. Mimoun wusste nicht mehr, ob sich hier in der Höhle noch welches befand. Etwas geistige Beschäftigung könnte er auch ganz gut gebrauchen. Ach nein. Besser nicht. Nicht, dass er es sich am Ende doch noch mit ihm verscherzte. Selbst wenn Dhaôma kein guter Magier war, die anderen in der Stadt waren es sicher.

Also begnügte er sich damit, den Geräuschen der Nachttiere zu lauschen und diese nachzuahmen.
 

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Ich hoffe, ihr hattet Spaß.

nächstes Kapitel nächste Woche ^^



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