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Der Weg aus dem Kampf

Wenn Träume Berge versetzen
von

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Eskalation

Kapitel 71

Eskalation
 

Derweil glitt Mimoun über die Baumwipfel, noch in gebührender Höhe. Sein Blick suchte das unübersehbare Zeichen für Dhaômas Aufenthaltsort: den großen Grünen.

Die Magier schienen nichts von seiner Annäherung gemerkt zu haben. Dafür sprachen die fehlenden Angriffe und die Tatsache, dass sich anscheinend ausnahmslos alle einer Richtung zuwandten, soweit er durch die Bäume erkennen konnte. Dieser folgte er und stieß schnell auf die kleine Lichtung, auf der sich seine Freunde befanden. Zögerlich drehte er einige Runden und noch immer schienen sie mehr auf die Diskussion dort unten konzentriert, als sich um die eigentlich existente Gefahr am Himmel zu kümmern. War das ein gutes Zeichen? Sollte er sich Gewissheit verschaffen, um seinen Leuten Sicherheit zu geben, wo noch immer Zögern herrschte?

Ein Achselzucken, ein hoher Pfiff und schon hatte er die gewünschte Aufmerksamkeit. Er breitete die Arme aus und blieb auf seiner derzeitigen Position zum Zeichen seiner Friedfertigkeit.

„Verzeihung. Darf ich kurz stören oder ist es gerade sehr ungünstig?“, rief er nach unten, bevor jemand wie auch immer geartet reagieren konnte.
 

„Mimoun!“ Dhaôma winkte ausladend. Ihm kam der Gedanke, dass das Auftauchen eines Hanebito bei seinen Leuten immer einen recht unangenehmen Effekt hatte, deshalb hob er augenblicklich die Hände. „Dieser Hanebito ist auch Drachenreiter. Er wird euch nichts tun.“, versprach er und war überglücklich, als einige der Männer vor ihm sogar nickten. Ihre Unsicherheit kümmerte ihn nicht, Xairas mulmiges Gefühl bemerkte er nicht einmal, als er dem Schwarzhaarigen zurief, er solle herunterkommen, damit er alle vernünftig vorstellen konnte.

„Ein unglaublicher Anblick. Ein Hanebito, der sich ganz allein zwischen die Soldaten der Armee begibt.“, murmelte Genahn. Wie viele andere konnte er nicht den Blick von diesem abwenden. Und wie beinahe jeder hier hatte er die Hände bereit zum Angriff gehoben.

Mimoun war noch nicht ganz unten, als es plötzlich laut wurde um sie herum. Feuer tauchte die Lichtung in rötlichen Schein, ein Blitz zuckte über den Himmel. Einige der Magier ergriffen die Gelegenheit und griffen an.

Für Dhaôma blieb die Zeit stehen. Feuer konnte man überleben, einen Blitz niemals!

Die Angreifer wurden niedergerungen, bevor die Magie ihr Ziel erreichte. Männer schrieen Warnungen, Anfeuerungsrufe. Genahn machte eine Bewegung, stieß die Hand schnell von sich, schickte einen Windstoß zu dem Hanebito hinauf, der stark genug war, ihn fortzupusten. Blitz und Feuer gingen ins Leere. Dhaômas ohnehin schwache Kontrolle über seine Macht brach.
 

Ungünstiger Zeitpunkt, sehr ungünstiger Zeitpunkt, befand Mimoun, als der Wind ihn erfasste. Das war wohl mal wieder eine seiner schlechten Entscheidungen gewesen.

Für kurze Zeit sah er blauen Himmel und braunen Boden beinahe ineinander zerfließen, als er herumgewirbelt wurde, dann reagierten seine antrainierten Reflexe und verstärkten den nach oben gerichteten Wind. Bloß aus der Reichweite der Magier.

Anscheinend hatten es seine Freunde dort unten auch nicht einfacher als er mit seinen Leuten. Dabei hätte er doch so gerne Dhaôma gegen seinen Bruder beigestanden.

Der Luftstrom erstarb so schnell, wie er gekommen war, und Mimoun ließ sich wieder in die Waagerechte kippen. In langsamen Schrauben verschaffte er sich einen Überblick über die Situation. Angefangen bei seinen eigenen Leuten. Der Angriff auf den Drachenreiter war natürlich nicht unbemerkt geblieben und nun herrschte hektische Bewegung auf beiden Seiten der nur durch einen dünnen blauen Strich getrennten schwarzen Wolke.

Sein Blick glitt wieder auf die Lichtung. Auch dort schien es zu Rangeleien gekommen zu sein. Wie es schien, bildeten sich hier ebenfalls zwei Fraktionen. Fraglich war nur, welche bei den Magiern die Oberhand hatte.
 

Währenddessen leuchteten Dhaômas Zeichen auf. Wut erfasste ihn, kaum dass er verstand, dass Mimoun außer Gefahr war. Erst die Angst, die ihn vergessen ließ, dass er sich konzentrieren musste, wenn er nicht wollte, dass sie Amok lief, dann der Zorn, dass man seinen Schatz grundlos angriff. Unter ihm wölbte sich der Boden auf, als die Wurzeln der Bäume und das Gras wuchsen, sein Poncho zerfiel zu Staub, dann starben die Pflanzen auf der Lichtung. Die Luft wurde stickig, der Boden vereiste.

Radarr starrte seinen Bruder wie versteinert an. Von den Pflanzen wusste er, vom Wind und dem Eis, von der Heilung, aber Tod? Das auch noch? Wie hatte er je glauben können, dieser Junge wäre unbegabt? Um ihn herum wichen seine Berater zurück, einer stolperte über eine Wurzel, die kurz darauf zerfiel. Unter seinen Füßen verrotteten seine Schuhe. Wie eine Welle breitete sich die Zerstörung aus. Warum fühlte er sich so matt?

„Freiheit, du zerstörst das ganze Essen.“

Die fremde Stimme in den Ohren der verunsicherten Menschen in Zusammenhang mit diesen unsinnigen Worten, machte das Chaos komplett.
 

Etwas stimmte nicht. Etwas stimmte ganz und gar nicht. Mimoun spürte es selbst noch hier oben. Vergessen waren seine Leute, die erst einmal so weit beruhigt werden mussten, um einen erneuten und endgültigen Ausbruch der Kämpfe zu vermeiden. Vergessen waren die Magier, die zurückwichen, aber dennoch potenzielle Gefahr für ihn waren.

Der Geflügelte ließ sich fallen, stürzte sich mitten in das Chaos. Nur Sekundenbruchteile später berührten seine Füße den Boden und er stürzte auf seinen Magier zu. Stimmen rauschten über ihn hinweg. Die Halblinge waren zurückgewichen, strauchelten ebenfalls. Tyiasur sah nicht mehr so aus, als könnte er dem Verfall um sie herum Einhalt gebieten. Schlaff und schwer atmend hing die kleine Schlange an Dhaômas Brust herab. Mit letzter Kraft klammerte sich das Schuppentier an der porös werdenden Seide fest und zerriss sie, als er fiel. Mit einem erstickten Schrei gelang es dem Geflügelten gerade noch, seinen Gefährten aufzufangen. Der Schritt, den er dafür machen musste, wirkte unsicher. Was war das? Wirkte sich die Zersetzung von Stoff und Pflanzen nun auch schon auf Lebewesen aus? War Dhaôma schon so weit, so verzweifelt?

Sanft ließ Mimoun den Drachen auf den kalten Boden sinken und murmelte eine Entschuldigung. Er konnte sich jetzt nicht um den Wärmehaushalt seines Freundes kümmern, sonst würde er sich nie wieder um irgendetwas kümmern müssen.

Mit einem letzten mühsamen Schritt war er bei Dhaôma, schlang sanft seine Arme um ihn. „Es ist gut. Ich bin hier. Mir ist nichts passiert.“, murmelte er unablässig und weil er sich nicht anders zu helfen wusste, küsste Mimoun seinen Freund. Das hatte diesen sonst immer auf positive Gedanken gebracht. Bitte, lass es diesmal auch funktionieren.
 

Die warmen Lippen zogen Dhaômas schwindende Kontrolle beinahe sofort zurück und einzig auf diesen einen Punkt. Es kribbelte. Seine Finger kribbelten, sein Bauch, seine Lippen. Seine Knie waren weich, aber in seinem Kopf klarte es auf. Mimoun war in Ordnung und er hielt ihn auf. Das konnte nur bedeuten, dass er nicht wollte, dass er hier wütete. Mimoun wollte, dass er aufhörte. Das war okay. Dann würde er es stoppen.

Weich lehnte er sich in den Kuss, klammerte sich an Mimouns Arm, um nicht zu fallen. Er fühlte sich schwach, schläfrig, müde. Seine Arme juckten, seine Wangen auch, aber darum konnte er sich nicht kümmern. Mimoun war ja da.

Lulanivilay kam in Bewegung. Er hatte die Stimmung gespürt, die von den Magiern ausging, die dieses Schauspiel untätig wie Fische beobachteten. Der Schreck über diese unbezähmbare Macht und jetzt ein Kuss zwischen diesen beiden, das war mehr, als sie verkrafteten. Vor allem der eine, der seinem Freund so ähnlich sah, konnte sich nicht entscheiden, ob er ängstlich, beeindruckt oder wütend sein sollte. Bei dem würde er anfangen.

„Setz dich, Fangzahn, sonst fällst du hin.“

Geweitete braune Augen richteten sich auf ihn, aber noch immer war die Starre nicht gelöst. Wie lästig.

„Finde dich damit ab. Und jetzt sag deinen Freunden, dass sie die Pflanzen zurückholen sollen. Ich bin immer noch nicht satt.“

Radarrs Mund öffnete sich, aber es kam kein Ton heraus, bis Xaira plötzlich zu lachen anfing. Der große Heerführer sah aus wie ein verstörtes, kleines Kind.

„Vielleicht wäre es nicht schlecht, wenn wir weitere Gespräche vertagen.“, meinte sie leichthin. „Jetzt ist ein bisschen viel passiert. Sprecht über das, was gesagt wurde, tauscht eure Eindrücke aus und bedenkt, dass keiner zu Schaden gekommen ist. Zum Glück, wie ich sagen muss. Es wäre wirklich besser, wenn ihr Mimoun in Zukunft nicht mehr angreift. Das letzte Mal, als er so außer sich war, war ein halbes Dorf drei Tage lang bewusstlos. Und er ist jetzt viel stärker als damals.“ Sie lächelte dem entsetzten Radarr entgegen. „Einen schönen Tag noch. Wir werden uns jetzt mal um die Geflügelten kümmern, damit es auch bei einem schönen Tag bleibt.“

Sie wandte sich um und seufzte. Die beiden Männer küssten einander immer noch. „Schluss jetzt. Mimoun, hast du die Situation da oben unter Kontrolle bekommen oder bist du weggelaufen, um Hilfe zu holen?“ Sie klaubte den kleinen blauen Drachen aus dem Staub. „Himmel, Dhaôma, du hast wirklich kein Quäntchen Selbstbeherrschung.“
 

Widerwillig löste er sich Millimeter von seinem Geliebten, um Xaira einen wütenden Blick zuwerfen zu können. Seine Arme hielten noch immer den warmen Körper an sich gedrückt.

„Ich bin nicht weggelaufen, sondern wollte nach dem Rechten sehen. Derzeit hab ich da oben zwei Fronten.“ Ihm fiel wieder die Situation nach dem Anschlag ein. „Oh. Nach dem Angriff auf mich dürften sie gerade dabei sein, sich gegenseitig zu zerhacken.“ Seine Finger suchten und fanden die Wange Dhaômas, strichen vorsichtig daran entlang. Grüne Augen glitten besorgt über die schmale Gestalt. „Alles in Ordnung bei dir? Geht es wieder?“
 

„Ja.“ Zwei sich zerhackende Fronten? „Lass uns hinfliegen, um sie aufzuhalten. Ich…“ Er löste sich von Mimoun, um zu Lulanivilay zu gelangen, aber seine Beine gaben unter ihm nach.

Jemand fing ihn. Groß, breite Schultern, braunschwarzes Haar im Stile der Kriegerklasse getragen. Genahn lachte. „Du bist ziemlich leicht für deine Größe. Und es ist beruhigend zu wissen, dass auch ein Drachenreiter sich schwach fühlen kann, nachdem er gezaubert hat. Ich hatte da so meine Zweifel.“
 

Sollte er jetzt aus Spaß und zur Auflockerung eine Bestätigung und einen dummen Kommentar abgeben? Nein. Man könnte es missverstehen.

„Es ist nicht einfach, so etwas zuzugeben, wenn die Augen aller auf einem ruhen.“ Mimoun schaute den Mann nicht an, sondern hielt seinen Blick auf Dhaôma gerichtet. Dieser brauchte Ruhe. Dringend. Mehr als alles andere. „Ich brauche euer Wort, dass ihr keine weiteren Kampfhandlungen startet. Nur so kann ich meine Leute so weit wieder beruhigen, dass auch sie sich zurückziehen.“ Eigentlich war das hier eher rhetorisch und er gab sich mit dem kurzen Nicken zufrieden. Keiner dieser Männer hier sah so aus, als würde er kämpfen wollen. Der Schreck über das gerade Erlebte saß einfach noch zu tief.

Der Geflügelte warf einen sichernden Blick auf den Mann, der Dhaôma hielt. Juuro war hier, Volta und Xaira. Lulanivilay schien es gut zu gehen. Er musste hier nicht mehr eingreifen, obwohl sein Auftauchen fast eine Katastrophe ausgelöst hatte. Der Wasserdrache kehrte in die Arme seines Reiters zurück und schlief augenblicklich ein, als er mit warmer Haut und Leder in Berührung kam.

„Prüft die Körbe, nicht dass sie beschädigt wurden. Kommt nach, falls ihr könnt.“ Und damit wandte er sich wieder ab, dem letzten existierenden Problem zu.
 

Sie sahen zu, wie der Geflügelte startete, und Dhaôma wurde von Lulanivilay eingesammelt. „Du hast es übertrieben, Freiheit.“

„Ich weiß.“ Der Braunhaarige seufzte tief, ließ sich gegen seinen schuppigen Freund fallen. „Mein Poncho ist hin. Dabei war er ein Geschenk von Jadya und den anderen. Elin wird böse sein. Es war doch ihre erste Beute. Und meine Kleider sehen auch wieder aus, wie schon Jahre getragen.“ Müde schloss er die Augen. „Wir sollten Mimoun folgen. Vielleicht braucht er Hilfe. Sie sollten sehen, dass alles in Ordnung ist.“

„Vielleicht hilft es, wenn ich mitkomme, um ihnen zu versichern, dass wir vorerst nicht angreifen.“, schlug Genahn vor. Er hatte Radarr auf die Beine geholfen und stützte nun seinen Heerführer, der nicht nur seine Schuhe eingebüßt hatte, sondern auch diverse Verletzungen durch gefrorene Haut aufwies. Im Großen und Ganzen sah der Heerführer ziemlich mitgenommen aus.

Xaira zuckte die Achseln. „Das könnte vielleicht helfen. Ich glaube nur, dass Dhaôma nicht mehr stark genug wäre, dich zu schützen, wenn es sein muss.“

„Glaubst du denn, es muss sein?“, fragte der Mann freundlich nach. „Ich habe so ein Gefühl, dass es das Beste ist, wenn sie es aus erster Hand erfahren. Und währenddessen wird Radarr die Soldaten zurückbefehlen und einen Kriegs- beziehungsweise Friedensrat einberufen.“

Der Mann nickte geschlagen, straffte sich endlich und stand kurz darauf wieder auf eigenen Beinen. „Ich muss sagen, Dhaôma, du hast mich überrascht und erstaunt.“

„Das ist nicht zu schlecht.“, gab der Drachenreiter zurück und lächelte. „Denkst du darüber nach, Frieden zu schließen?“

„Hab ich eine andere Wahl? Viele aus unseren Reihen scheinen das längst für Gegeben zu nehmen.“ Er schickte Genahn einen wütenden Blick. „Ich bin immer noch nicht einverstanden. Ich hasse sie immer noch. Dass du dich mit einem von ihnen eingelassen hast, noch dazu mit einem Mann, ist der Gipfel!“

„Er ist mein Leben.“, zuckte Dhaôma mit den Schultern. „Es ist mir egal, was du oder Mutter dazu sagen. Er hat mir jede Last von den Schultern genommen, mich wirklich frei gemacht. Und er macht mich glücklich.“ Vorsichtig strich er sich die Haare aus der Stirn. „Wie geht es Penny und deinem Sohn?“

Radarr schnaubte. „Meine Söhne haben ihr Training begonnen. Und Penny ist schwanger mit einem dritten.“

„Du hast deine Familie also ausgebaut.“

„Mutter geht es nicht so gut. Sie steht immerzu an der Kante zum Selbstmord.“

„Das wollte ich nicht wissen.“ Leise lächelnd wandte sich Dhaôma ab, stieg auf Lulanivilays Fuß und ließ sich hochheben.

„Du solltest sie besuchen gehen, wenn du sowieso in der Hauptstadt bist. Sie wird dich sicher willkommen heißen, jetzt da du der Heiler bist, den sie sich gewünscht hat.“

„Ich werde ein paar Dinge holen kommen. Ob ich sie besuche, ist eine andere Frage.“

„Sei lieber nicht zu optimistisch, was den Frieden betrifft.“, warnte ihn Radarr. „Du hast hier eine sehr zweideutige Situation geschaffen. Kommst hier mit einer Horde Hanebito an, greifst den Heerführer an, bedrohst seine Berater, das wird nicht gut enden.“

„Es wird gut enden.“, schmetterte Dhaôma seinen Pessimismus ab, dann lachte er. „Aber allen voran, solltest du dir überlegen, was du tun willst. Folgst du weiter den Eingebungen eines Puppenkönigs, der von wahnsinnigen Halblingen gelenkt wird, oder lernst du auf eigenen Beinen zu stehen?“ Xaira und Volta hockten wieder in ihren Körben. Offenbar waren sie noch zu gebrauchen. Er wandte sich an den Berater. „Wollt Ihr jetzt mitkommen?“

„Sicher. Ich bin gespannt.“

„Dann, bitte, seid nicht böse über die Behandlung. Vilay?“

Und der griff sich den Magier und startete mit wildem Flügelschlagen. Vielleicht hätte es Panik und Empörung gegeben, wenn Genahn geschrieen hätte, aber der Mann lachte. Er lachte laut und jubelte, winkte sogar seinen Freunden unter sich.

„Fliegen ist toll!“, rief er Radarr zu. „Probier es nächstes Mal auch!“

Dann gewann Lulanivilay Geschwindigkeit und folgte Mimoun zu den Hanebito.
 

Missmutig gewahrte dieser, dass die Linie, die die beiden Gruppen getrennt hatte, nicht mehr existierte. Und dabei sagte er noch ausdrücklich, keine Kämpfe untereinander.

Wie der Kampf geführt wurde, erstaunte ihn dann doch ein wenig. Waffen und Krallen wurden großteils vermieden. Stürzte dennoch jemand ab, wurde er sofort aufgefangen, egal welcher Partei er angehörte. Sie schienen alle noch genug Furcht vor den Magiern zu haben. Seufzend schüttelte Mimoun den Kopf. Wie ein Haufen Kinder. Dabei konnte man das auch mit Worten regeln.

„Schluss jetzt.“, brüllte er aus Leibeskräften. In dem Tumult konnten ihn schlecht alle hören, aber nach und nach lösten sich die Parteien wieder voneinander. „Sagt mal, geht es euch noch gut, auf eure eigenen Leute loszugehen? Falls sich eure Spatzenhirne wider Erwarten abgekühlt haben sollten, richtet eure Aufmerksamkeit bitte nach unten. Kein Einziger der Magier macht auch nur noch ansatzweise Anstalten uns anzugreifen.“

„Dich haben sie angegriffen.“

Mimoun schnaubte abfällig und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Zwei oder drei. Wenn ihr euch die Menge dort unten anseht, könnt ihr euch ja mal ausrechnen, wie lange sie das unbeschadet überstanden haben. Und einer hat mich durch Wind sogar gerettet.“ Zumindest hoffte er, dass es ein Rettungsversuch gewesen war und nicht ein fehlgeschlagener Angriff. Aber von diesen Gedanken mussten sie ja nichts wissen. „Ich war dort unten und…“ Weiter kam er nicht, denn Lulanivilay kam nun bei ihm an. Verblüfft starrte Mimoun auf die Fracht in dessen Klauen.

„Oh. Hallo. Willkommen bei dem wohl chaotischsten Haufen, den es gibt.“, meinte er lakonisch.
 

Genahn strahlte über das ganze Gesicht. Seine Wangen waren gerötet, seine Haare wild vom Wind. Er wirkte nicht wirklich, als ob er sich fürchtete. „Danke. Hallo, übrigens, Mimoun. Wir wurden einander noch nicht vorgestellt. Ich bin Genahn en Voka en Gemmon, meines Zeichens zweiter Berater des Heerführers der ersten Armee. Es freut mich, Eure Bekanntschaft zu machen.“ Weil er keine Verbeugung machen konnte, winkte er einfach.

Unter den Hanebito setzte Gemurmel ein. Ein sehr zerrupft aussehender Einel wagte sich näher heran. „Ein Magier? Was willst du hier oben?“

„Ah? Mit euch reden, natürlich. Vielleicht ist es wirklich möglich, Frieden zu schließen. Es wurden uns viele neue Aspekte unterbreitet und die Männer werden darüber beraten, ob sie dem Glauben schenken wollen oder nicht, aber ich denke, es ist nicht mehr undenkbar, dass die Kämpfe ein Ende haben werden. Also bin ich gekommen, um zu sehen, ob auch auf eurer Seite Frieden gewünscht wird, wie die Drachenreiter berichtet haben.“ Er hatte ein so entwaffnendes Lächeln, dass Einel die Spucke wegblieb.

„Für einen Magier ist er recht gutaussehend.“, meinte Aylen, die ihren Weg wie üblich direkt an Mimouns Seite gefunden hatte. „Beeindruckendes Selbstbewusstsein. Nicht einmal Dhaôma war so locker drauf, als er uns das erste Mal gegenüberstand.“

Und Genahn machte große Augen. „Eine Frau? Das ist wirklich das erste Mal, dass ich die Ehre habe, eine weibliche Hanebito zu sehen.“ Er lächelte breit. „Verzeiht, dass ich Euch nicht gebührend begrüßen kann, aber um ehrlich zu sein, bleibt mir nicht viel übrig, als hier herumzuhängen.“ Dennoch deutete er eine Verbeugung an, was das Mädchen erröten ließ.

Rai räusperte sich, sie lachte. „Macht nichts.“, winkte sie ab. „Ich komm schon klar. Bin es eh nicht gewöhnt, wenn man mich wie eine echte Frau behandelt. Das machen sonst nur Rai und Dhaôma.“
 

„Würdest du dich benehmen wie eine Frau, könnte man dich auch so behandeln.“, wies Mimoun mit einem Fingerzeig hinter sich auf die Tatsache hin, dass sie an vorderster Front einer Schlachtlinie stand.

„Irgendjemand muss ja auf euch aufpassen.“, konterte die Angesprochene gelassen.

Fast wären die Worte eines anderen in ihren untergegangen, doch der Drachenreiter hörte sie trotzdem und sie brachten ihm den Ernst der Lage wieder näher.

„Berater des Heerführers?“ Diese Worte wurden von einem lauernden Unterton begleitet.

Das konnte doch nicht wahr sein. Hatte dieser Narr nicht zugehört? Mimoun wandte sich betont langsam um und maß den Sprecher mit einem Blick aus dem absolute Verachtung sprach. Es verwunderte ihn kein bisschen, sich dabei dem Befehlshaber gegenüber zu sehen. „Denkt nach, bevor ihr handelt.“, wandte er sich statt an den Anführer der kleinen Armee direkt an die Krieger. „Ein hoher Magier begibt sich freiwillig in eure Reichweite und offenbart euch, dass ihre Soldaten nicht kämpfen wollen. Das zeugt doch von Vertrauen uns gegenüber.“ Und die Tatsache, dass er sich in der Obhut eines riesigen Drachens befand, den einige der Anwesenden schon einmal in einem Blutrausch erlebt hatten.
 

Nachdenklich betrachtete Dhaôma den Mann, der wenig entfernt von ihnen in der Luft stand und Lulanivilays Windstöße ausglich. So viele Muskeln. Aber wie er das sah, war seine ganze Kraft in diese gegangen und hatte das Gehirn ein wenig vernachlässigt. Sollte er sich einmischen? Es war nicht so, dass er nichts zu sagen hatte, aber diese Leute würden sicher besser auf Mimoun hören. Und er war irgendwie müde. Und…

„Ihr seid lästig.“ Viele der Anwesenden zuckten zusammen, als der große Drache sich wieder in Bewegung setzte, Schwung holte, indem er sich fallen ließ. „Macht was ihr wollt, aber seid ab jetzt leise.“

In seinen Klauen begann Genahn zu lachen und auch Xaira kicherte leise. Dhaôma streichelte seinen Freund über den schuppigen Hals. „Wenn du schlafen willst, dann flieg doch bitte über den Fluss, ja? So können sich die, die uns folgen, sicherer fühlen.“
 

Vorerst folgte ihnen keiner. Noch immer hielt sich ein Teil der Geflügelten wie eine Schutzschicht zwischen den Unentschlossenen und den Magiern.

„Ich weiß, euch fällt die Entscheidung nicht leicht.“, begann Mimoun seine Litanei wieder von vorne. „Auch mir fiel es anfangs nicht leicht einem Magier zu vertrauen.“ Bei diesen Worten schickte er ein sanftes Lächeln hinter seinem Liebsten her. „Aber bedenkt, dass ihr nicht nur für euch selbst entschieden müsst. Ihr müsst auch an die zukünftigen Generationen denken, an eure Kinder und deren Kinder. Wollt ihr ihnen Schmerz und Tod zumuten oder ihnen eine bessere Welt zum Leben erschaffen?“

„Mimoun!“

Angesprochener sah auf und sah erneut einen weißen Blitz auf sich zuschießen. Rücksichtslos drängte Keithlyn sich dabei zwischen mehreren Männern durch und nicht wenige gerieten dabei ins Trudeln. Er begrüßte sie mit einem sanften Lächeln und einer Kopfnuss, die sie erwischte, wenige Augenblicke bevor sie ihre Arme um seinen Hals schlingen konnte.

„Solltest du dich nicht in Sicherheit bringen?“, verlangte er von ihr zu erfahren, nachdem sie von ihrem Vorhaben abgelassen hatte und sich den Kopf hielt.

„Ich hab es versucht, doch nachdem sie den Angriff auf dich bemerkte…“

„Schon gut.“, unterbrach Mimoun den jungen Krieger, über dessen Gesicht sich Kratzer zogen und der auch sonst ein wenig derangiert wirkte. Sie musste mit allen ihr zur Verfügung stehenden Kräften auf ihn losgegangen sein. „Es ist gut. Der Kampf ist vorbei.“

„Ich glaube nicht, dass du das zu bestimmen hast.“, rief der Muskelberg, der es noch immer nicht für nötig befunden hatte, sich vor zu stellen.

Mimoun verdrehte die Augen, kam aber nicht mehr zum Antworten. Jemand anderes war schneller. „Oh doch. Das bestimmt er. Er hat Recht. Wir brauchen jetzt nicht jemanden, der kämpfen, sondern der reden kann.“ Es war einer der noch Unschlüssigen gewesen. Kurze Zeit blieb er noch dort in der Luft stehen und wandte sich dann um, folgte Lulanivilays Route.

Mimoun war sich nicht ganz sicher, wann er das gesagt hatte, aber er beschwerte sich nicht. Der Ansatz gefiel ihm. Und anscheinend auch anderen. Immer mehr schlossen sich ihm an. Und je mehr der Zauderer sich abwandten, desto mehr der Entschlossenen flogen mit ihnen, denn sie wurden nicht mehr benötigt, um eine Konfrontation zu vermeiden.

Diese Entwicklung beobachtete Mimoun mit tiefer Erleichterung. Mit einem kurzen Wink rief er das Albinomädchen näher, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und schickte sie in Begleitung ihres Aufpassers zu Dhaôma und den anderen.

Schließlich blieb nur noch ein kümmerlicher Rest von ganz Verstockten, doch sie sahen ein, dass mit ihrer Anzahl kein Blumentopf mehr zu gewinnen war. Sie drehten nicht aus Überzeugung ab, sondern weil ein weiterer Aufenthalt hier keinen Sinn und keinen Erfolg haben würde.

Als Mimoun endlich bei seinen Freunden landete, reckte er siegreich die Faust in die Luft.
 

Das Flussufer hatte sich immer weiter gefüllt. Zuerst waren die Geflügelten laut am Schnattern gewesen, über die Situation und Mut und vieles andere, aber nachdem Lulanivilay sich einmal lautstark beschwert hatte, herrschte beinahe so etwas wie Ruhe. Sie unterhielten sich immer noch, aber sehr gemäßigt.

Dhaôma lächelte und gesellte sich zu den anderen. Er war erschöpft und müde und eigentlich wollte er nur schlafen, aber er konnte diesen mutigen Magier nicht einfach alleine lassen, der sich so todessehnsüchtig gerade auf Aylen zu bewegte. Diesmal vollführte er eine richtige Verbeugung und küsste ihre Hand, was sie schlagartig erröten ließ. Rai auch – vor Wut.

„Nachdem ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen habe, noch einmal. Ich freue mich wirklich, die Bekanntschaft einer Geflügelten zu machen. Nein, eigentlich freue ich mich, überhaupt die Bekanntschaft von Geflügelten zu machen. Also, dann erzählt mir über euch. Ich möchte mir ein Bild davon machen, wer ihr seid.“

Dhaôma sah Mimoun landen und winkte ihn zu sich. Noch bevor er ankam, gesellte sich das Albinomädchen zu ihnen, die nun auch Dhaôma freudig begrüßte. Er hatte also doch nicht falsch gesehen. Sie war da. „Du hast es wirklich geschafft, uns zu finden. Das ist eine ziemliche Leistung von dir. Auch wenn sich jetzt gerade vermutlich sehr viele Leute Sorgen um dich machen.“

„Sie wissen doch, dass ich bei euch sicher bin.“, strahlte sie.

„Aber sie wissen nicht, dass du uns wirklich gefunden hast. Du hast ihnen Sorgen bereitet. Das solltest du einsehen. Du wirst dich bei ihnen entschuldigen müssen, wenn du zurück bist.“, mischte sich Xaira ein, dann umarmte sie Keithlin. „Ich bin froh, dass du wohlauf bist.“

Immer mehr Hanebito versammelten sich um den fremden Magier, der an Einels und Aylens Lippen hing, die erzählten, wie sie lebten. Immer wieder warf er etwas dazwischen, was zunächst nur einige zum Lachen brachte, dann trauten sich immer mehr, einzustimmen.

Dhaôma lehnte sich gegen Mimoun. „Du warst toll heute.“, murmelte er breit lächelnd, doch das Lächeln verblasste. „Mein Bruder hat vorerst Ruhe gegeben. Ich hoffe wirklich, dass die Magier sich gegen den Kampf entscheiden. Wenn, dann wird es ab jetzt viel einfacher.“
 

„Wenn ich mich grad nicht völlig verrenne, dann ist dein Bruder doch ein sehr angesehener Mann, ziemlich hochrangig und so weiter. Ihn überzeugen zu können, wird uns einen gewaltigen Schritt nach vorn bringen.“ Mimoun war sich insgeheim dennoch absolut sicher diesem Mann niemals mit etwas anderem als tiefer Abneigung und Wut zu begegnen.

Seine Gedanken glitten fort von Dhaômas Vergangenheit und befassten sich mit dessen Gegenwart. Die Erschöpfung des Magiers war ihm anzusehen, zumindest von jemandem, der ihn schon seit Jahren kannte. „Ich glaube, wenn wir unseren neuen Freund warnen, können wir uns alle ein wenig zurücklehnen und ausruhen. Rai sieht nicht so aus, als würde er noch lange Ruhe geben.“
 

„Mein Bruder ist genau das Problem. Er war fertig, aber begeistert war er von der Idee nicht. Ich glaube nicht, dass er ein überzeugter Friedenspatriot wird.“ Traurig schloss er die Augen. „Er sagte, seinen Söhnen geht es gut, aber wie es Penny geht, hat er nicht gesagt. Er hat sie wieder allein gelassen, obwohl sie schwanger ist. Das zeigt seine Prioritäten ziemlich deutlich, oder?“

Diesen Augenblick suchte sich Keithlyn aus, um den neuen Magier kennen zu lernen. Sie hatte ihn ja schon zuvor bemerkt, aber es war wichtiger zu erzählen, was als letztes in ihrem Dorf passiert war. Damit war sie jetzt fertig. Jetzt war er dran. Ohne Scheu stellte sie sich vor ihn hin und betrachtete ihn von oben bis unten.

„Wer ist stärker, du oder Dhaôma?“, wollte sie abschätzig wissen.

Viele der Geflügelten begannen zu lachen. Es war allseits anerkannt, dass Dhaôma überhaupt nicht stark war, wenn man seine Magie außer Acht ließ, aber Genahn nahm die Frage sehr ernst. „Allein von der Kraft, die er in sich hat, ist er viel stärker. Wenn er sie nicht benutzt, hat er keine Chance.“, meinte er. „Aber sage mal, was sucht ein Kind wie du an der Front? Du bist doch sicher gerade mal vierzehn Jahre alt.“

„Ich bin bald sechzehn.“, maulte sie. „Und ich bin wegen Mimoun hier. Ich will ihnen helfen, Frieden zu schaffen.“

„Das ist sehr mutig von dir.“

„Sowieso, aber darum ging es nicht. Wäre es nicht einfach nur schrecklich, wenn ich die beiden nie wieder sehen würde? Sie wollen einen Krieg beenden, dann wollen sie zurück zu den Drachen, um Haru dorthin zu bringen, dann zu den Geflügelten… Sie werden keine Zeit haben, mich zu besuchen. Und mir kann keiner beibringen, wie es ist, eine Geflügelte zu sein, da wo ich herkomme.“

„Da, wo du herkommst? Ich verstehe nicht ganz.“

„Das kommt daher, dass ich noch nicht lange eine…“

In Dhaôma kam Bewegung, richtete sich auf. „Das, Keithlin, wirst du nie wieder in den Mund nehmen!“, grollte er und erschrocken drehte sie sich um. „Diese Sache verlässt niemals das Dorf, in dem sie geschehen ist, verstanden?“

Sie sah ihn an, als wolle sie gleich weinen. Unsicher huschten ihre Augen zu den Hanebito, die um sie herumstanden. Dhaôma war klar, sie wussten es bereits. Was sie davon verstanden hatten, war vermutlich genug, um jeden wütend zu machen, der ihm je begegnet war. Jemand, der es wagte, mit dem Leben zu spielen, den Körper eines anderen zu verändern und zu formen…

„Erwähne es einfach nie wieder!“, presste er heraus und blickte zu Boden.
 

Mitleidig huschte Mimouns Blick über seinen Freund und dann über das Mädchen. Er konnte beide verstehen. Keithlyn war endlich stolz auf das, was sie war, und Dhaôma verfluchte das, was er getan hatte.

„Na komm schon.“ Sanft kraulten Mimouns Finger Dhaômas Kopf. „Wir sollten den Tag nicht mit Trübsinn zu Ende gehen lassen. Wir haben gerade ein Blutbad verhindert.“ Schlagartig wurde er ernst und sein Blick glitt zurück zu der Stelle, an der die Armee der Magier sich befand oder befunden hatte. Der Drachenreiter erinnerte sich an die gefallenen Körper und mit sehr gedrückter Stimmung ließ er von seinem Freund ab und wandte sich Genahn zu.

„Ich weiß, es ist jetzt vielleicht der falsche Zeitpunkt für so etwas, aber auf unserer Seite hat es Opfer gegeben, die noch irgendwo zwischen euren Reihen liegen. Bitte gebt uns die Möglichkeit, unsere Freunde nach Hause zu holen.“
 

Genahn sah ihn an und man konnte sehen, dass auch ihm das Thema nicht gefiel. „Das hättet ihr viel früher sagen sollen. Vielleicht sind sie noch am Leben. Vielleicht kann ihnen noch geholfen werden.“ Entschlossen stand er auf. „Am besten suchen wir sie gleich.“

Viele der Geflügelten wirkten nun nicht mehr ganz so fröhlich. Natürlich hatten sie nicht vergessen, dass drei der ihren gestorben waren. Diese Magier hatten angegriffen und sie hatten sich nicht verteidigen können oder rächen dürfen. Und nun wollte einer von ihnen auf die Suche nach ihnen gehen, weil sie noch am Leben sein könnten?

„Wie hoch ist schon die Wahrscheinlichkeit, von einem Blitz getroffen zu werden und es zu überleben?“, fragte jemand vom Rand und schaute hasserfüllt herüber.

Genahns Blick verriet nichts darüber, ob er verletzt war oder nicht. Sein Gesicht war ruhig. „Wie viele habt ihr gesehen, die vom Blitz getroffen wurden und nicht abstürzten? Waren die noch am Leben?“

Die Hanebito wechselten einen Blick. Die beiden, die sie gefangen hatten, waren noch am Leben. Sie hatten schlimme Verbrennungen, aber sie lebten. Die Frage war nur, wie lange noch.

„Ich habe viele gesehen, die das überlebt haben. Wenn man am Boden steht, ist das eine andere Sache, aber in der Luft fehlt dem Blitz die Erdung. Er geht gar nicht erst rein in den Körper, sondern wandert an seiner Oberfläche entlang. Sie könnten durchaus am Leben sein.“

Sofort stand Dhaôma auf. „Dann suchen wir sie und… woah!“ Er hatte ein wenig zu viel Schwung genommen und nicht genug Kraft, sich abzufangen. Schwach stolperte er auf die Knie.

„Ja, ja, sicher. Du suchst heute niemanden mehr außer den Traumgeist.“, beschloss Xaira. „Überlass das den anderen. Sie haben doch jetzt Unterstützung.“
 

„So ungern ich das zugebe, aber Xaira hat Recht. Du solltest schlafen.“ So vorsichtig wie umständlich holte Mimoun ein blaues Schuppentier unter seinem Hemd hervor. Tyiasur ließ sich davon nicht wecken. Er war einfach zu erschöpft. „Und pass bitte auf ihn auf, solange ich weg bin.“ Sanft drückte er seinem Freund einen Kuss auf die Stirn. „Keine Angst. Uns passiert schon nichts.“

Anschließend wandte er sich wieder Genahn zu und begann nachdenklich auf seiner Lippe herumzukauen. Mit Lulanivilay waren sie schneller dort, konnten die Verletzten einfacher tragen und die Gefahr, doch noch angegriffen zu werden, lag bei einem absoluten Minimum. Aber hinter einem Drachen verstecken konnte sich jeder. Sollten sie im Gegenzug nur mit einer kleinen Schar Geflügelter dort auftauchen, konnten sich die Magier erst Recht bedroht fühlen.

Mit einem Ruck wandte sich Mimoun ab. Drache. Das war im Moment einfach die unkomplizierteste Variante. Oh Mist. Er hatte ganz verdrängt, dass der Große schlafen wollte. Verlegen kratzte sich der Drachenreiter am Kopf. Half nichts. Es war einfach günstiger so.

„Vilay?“ Sanft kraulte er die Nase des Drachen. „Ich brauche noch einmal kurz deine Hilfe.“
 

Ein goldenes Auge öffnete sich, starrte unbewegt den Geflügelten vor sich an. Dann blinzelte er, die durchsichtige Haut des Unterlids schob sich ganz kurz vor die goldene Iris. Der Drache wirkte wütend und die Schar Hanebito versank in ängstlichem Schweigen. Sie hatten seinen Ausbruch schon einmal gesehen, fürchteten nun einen neuen.

Dann schloss sich das Auge, während der massige Körper in Bewegung kam. „Sicher.“ Lulanivilays großer Kopf schwang auf eine akzeptable Höhe über die Köpfe der anderen und die Schwingen öffneten sich. „Weißwasser, komm mit.“

„Yay!“, quietschte Keithlyn und klebte im nächsten Moment an der riesigen Brust. „Darf ich reiten?“

„Sicher.“
 

Nicht nur Mimoun seufzte erleichtert auf, wenn auch aus anderem Grund als der Rest der Anwesenden. Fast hatte er befürchtet, dass Lulanivilay ablehnen würde. Dass das Mädchen mitkommen sollte, ging ihm ein wenig gegen den Strich.

„Du bleibst die ganze Zeit bei Lulanivilay.“, befahl er ihr in dem sicheren Bewusstsein, dass sie doch wieder tun würde, was sie für richtig hielt, statt auf andere zu hören. Mimoun begutachtete nun selbst die Körbe, testete Stabilität und Polsterung. „Und du solltest aufsteigen, bevor unser großer Freund dich wieder in die Krallen nimmt.“, richtete Mimoun seine Worte in höflicherem Tonfall an Genahn, die dieser sofort in die Tat umsetzte.

Er selbst suchte sich noch zwei kräftige Männer, von denen er wusste, dass sie vollständig hinter ihm standen. Trotz allem ließ er sich seine Unruhe nicht anmerken, als er startete und der kleinen Truppe voraus flog.

Schnell fand er die kleine Lichtung wieder, auf der er schon einmal gewesen war. Hier war es für den Drachen einfacher zu landen und am besten meldete man sich erst einmal bei dem Ranghöchsten an, bevor man zwischen dessen Männern herumsuchte.

Mehr aus Respekt vor dem Drachen als vor den Geflügelten wichen die Magier zurück und mehr als eine Hand war in abwartender Spannung erhoben. Und es war wenig verwunderlich, dass sich Mimouns Begleiter dicht an den Drachen drängten.
 

„Sie sehen ängstlich aus.“, meinte Lulanivilay desinteressiert.

Lachend kletterte Genahn aus dem Korb. „Hey, Leute, keine Sorge. Sie sind nur hier, um die Verletzten zu suchen.“

Radarr kam aus einem großen Zelt unter den Bäumen gerauscht. Er war wieder vollständig eingekleidet, seine Frisur saß wie zuvor und er wirkte wütend. „Wo ist Dhaôma?“, fauchte er. „Ich habe ein ernstes Hühnchen mit ihm zu rupfen! Was fällt…“

„Freund, lass gut sein.“ Freundschaftlich legte Genahn einen Arm um seinen Anführer und grinste breit. „Sie sind in Ordnung. Ich habe noch ein paar Geschichten zu erzählen, also lass sie ihre Freunde suchen, ja?“

Radarr hörte nur mit halbem Ohr hin. Er hatte Mimoun entdeckt und seine Wut war grenzenlos. „Du wagst dich hierher? Du, der ihn dazu angestiftet hat, uns zu verlassen?“ Grollend kam er auf ihn zu.
 

Kurz schob sich das Gesicht einer jungen, schwarzhaarigen Geflügelten vor das des Mannes und Mimoun seufzte abgrundtief. Silia hatte etwa dasselbe mit denselben Gefühlen gesagt.

„Mag sein, dass er meinetwegen seine Familie verlassen hat, das streite ich gar nicht ab, aber bedenke bitte eines: Hättest du dich wie ein Bruder benommen und dich deinen Verpflichtungen gemäß um ihn gekümmert, wäre er nie auf die Idee gekommen, mir zu helfen. Du bist derjenige, der ihn in meine Arme getrieben hat.“ Seelenruhig wich der Drachenreiter nicht von der Stelle, sah dem Mann ohne Scheu und Furcht entgegen.
 

„Aiaiai, streitet nicht schon wieder.“, versuchte sich Genahn zwischen die beiden zu schieben, aber er hatte gegen seinen Heerführer kaum eine Chance.

„Pflichten als Bruder? Du hast vollkommen Recht. Hätte ich dich an dem Tag vernichtet, als du vom Himmel kamst, wäre er dir nie begegnet! Ich hätte…“ Seine und viele andere Augen weiteten sich in stillem Schrecken, als der Drache vortrat. Mit weit gespreizten Flügeln stellte sich Lulanivilay vor Mimoun, kaum einen Meter mit seiner Nase von Radarr entfernt.

„Du hattest von Anfang an keine Chance, ihn bei dir zu behalten, Jagmarr. Ich habe ihn gerufen. Ich habe ihn gerufen, wie er mich gerufen hat. Es war sein Schicksal, zu mir zu kommen, da das Band längst geknüpft war. Also gib endlich Ruhe. Du störst.“ Einen kleinen Moment länger als nötig starrten die goldenen Augen ihn an, dann wandte sich Lulanivilay ab.

„Jag…“ Um sie herum breitete sich Stille aus. Diese Beleidigung war ungeheuerlich. Den Heerführer der verlorenen Magie zu bezichtigen, war purer, böswilliger Frevel. Radarrs Zorn über diese Unverfrorenheit färbte seine Wangen weiß. „Ich hatte vor, dich am Leben zu lassen, Drache, weil er es so wollte, aber nun werde ich tun, was mir aufgetragen worden ist!“

Sein Angriff kam schnell und präzise. Ein Schwert, verstärkt mit der zerstörerischen Magie des Eises, wurde gezogen, er sprang vor. Die Klinge bohrte sich in den Oberkörper des Drachen, ein Schrei wie von hundert Messern, die über Teller kratzten, donnerte über die sich duckenden Magier, im nächsten Moment schien die Zeit stehen zu bleiben. Die riesenhafte Echse richtete sich auf, ihre Flügel verursachten laute, knallende Geräusche, während alle im Umkreis von hundert Metern zu Boden geworfen wurden. Er merkte gar nicht, dass er die nahen Geflügelten und Genahn mit dem peitschenden Schwanz traf und wegschleuderte. Dann schlugen armlange, messerscharfe Klauen auf Radarr nieder, ein ohrenbetäubendes Brüllen ließ seine Trommelfelle platzen, nahm ihm die Luft zum Atmen. Blut lief aus tiefen Schnitten aus Armen und Schultern.

Dann endete es. Ganz plötzlich. Reglos und drohend über dem Heerführer aufgerichtet leuchteten Lulanivilays Augen rot in der beginnenden Dämmerung.

„Du hast Glück, Fangzahn. Freiheit wünscht deinen Tod nicht, also lasse ich dich am Leben. Solltest du dein Glück noch einmal herausfordern, wirst du sterben.“ Die Stimme hallte über den Wald, vertrieb die angsterfüllte Stille, nur um sie wiederkehren zu lassen, als sie verstummte. „Ich weiß nun, warum wir Drachen euch aufgegeben haben. Wäre es nicht für ihn, würde ich euch euren sinnlosen Toden überlassen.“ Wütend mit dem langen Schwanz schlagend wandte er sich ab. Radarr blieb reglos liegen. Blut lief aus seinen Ohren und Wunden.

Und kleinlaut meldeten sich einige Magier zu Wort: „Wir haben eure Gefährten gefunden und versorgt.“, piepste ein junger Mann und hob vorsichtig die Hand. „Sie sind soweit außer Lebensgefahr, aber noch immer bewusstlos.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  KuroMikan
2015-03-08T08:21:08+00:00 08.03.2015 09:21
Hallö :)

oha dhao... XD naja ich würde sagen die hattens verdient xD
haha gerade als ich mich fragte was mimoun eigendlich treibt ^^ die beiden sind so knuffig <3 und war ja klar das dein bruder das nicht toll findet aber irgendwie hatter er es verdient nochmal eins reingewürgt zu bekommen :D
alles lief so gut... war irgendwie klar das doch noch was schief geht *sich gegen die stirn klatsch*
vilay forever <3 XD

lg Mikan
Antwort von:  torateh
08.03.2015 09:45
*freu* du lebst ja noch. hab mir schon sorgen gemacht ^^

ja. vilay ist und radarr...brtzlgrmpfknurr...am liebsten würde ich ihm noch eine reinwürgen
Antwort von:  KuroMikan
08.03.2015 12:19
gerade so XD ich war jetz paar tage richtig übel krank -.- aber jetz gehts wieder :)


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