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Der Weg aus dem Kampf

Wenn Träume Berge versetzen
von

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Ein Krieger?

Kapitel 30

Ein Krieger?
 

Dhaôma hatte die Last, die er gerade trug, halbiert und kletterte nun die Felsen hinunter. Dazu hatte er sich eine möglichst trockene Stelle gesucht, die von dem Sprühnebel weniger abbekam, aber der teils recht böige Wind schaffte es auch ihn zu besprühen. Auf einer kleineren Felsnase machte er Rast und ließ sich mit geschlossenen Augen den Wind durch die Haare wehen, damit sie wieder trocknen konnten. Hier, vor dem offenen Grasland, das in einiger Entfernung wieder zum Wald wurde, und hoch oben in der Felswand, hatte er einen fantastischen Ausblick einerseits auf den Wasserfall und andererseits auf die Ebene.
 

Mimoun ließ sich am Rand der Felswand oberhalb des Wasserfalls nieder und sah in den Abgrund hinab. Ihm lief es eiskalt den Rücken hinunter. Dhaôma konnte er auf die Schnelle nicht hier oben entdecken. Also war er bereits dort unten. Der Geflügelte runzelte besorgt die Stirn. Hoffentlich unbeschadet.

Aufmerksam schritt er am Rand auf und ab und versuchte dort unten mehr als nur Wasser und Nebel zu entdecken. Keine Spur von dem Magier. Doch die Vernunft verbot es ihm, auch nur daran zu denken, Dhaôma könne hier den direkten, gefährlichen Weg genommen haben. Also ließ er seinen Blick weiter schweifen, auf der Suche nach einem einfacheren Abstieg für Dhaôma. Dabei fiel ihm etwas ins Auge. Eilig schritt er darauf zu. Tatsächlich. Er identifizierte seinen Fund als einen Teil ihrer Ausrüstung.

Er ließ sich auf die Knie fallen, dicht am Rand und spähte nach unten. Wieder vergingen einige Augenblicke, bis er ausgemacht hatte, was er suchte. Mit einem erleichterten Lächeln griff er sich die letzten Ausrüstungsteile und stieß sich ab. Lässig segelte er auf die untere Ebene hinab, entschied sich kurzfristig um. Mit heftigem Flügelschlagen hielt er sich genau vor seinem Freund in der Luft.

„Tut mir wirklich Leid. Ich wollte dich nicht so lange allein lassen.“
 

Braune Augen öffneten sich, als Dhaôma die vertraute Stimme hörte, dann flog ein strahlendes Lächeln über sein Gesicht. „Du bist wieder da!“, rief er und war schon beinahe dabei, ihm um den Hals zu fallen, als ihm bewusst wurde, wo er sich befand. Mitten in der Bewegung, sich aufzurichten, hielt er inne und lächelte ihn an. „Schön, dass es dir gut geht.“
 

Als er die hastige Aufwärtsbewegung sah, hob sich schon ein Arm, um notfalls zuzugreifen, nachdem Dhaôma aber von selbst innehielt, seufzte der Geflügelte erleichtert auf. „Ich bin gleich wieder da.“, lächelte er, ohne auf die Worte des Magiers einzugehen und brachte seine Last an einen sicheren und trockenen Ort unweit des Wasserfalls. Anschließend kehrte er zu Dhaôma zurück und mit den Fußspitzen an der Felskante Stabilität suchend, breitete er einladend die Arme aus.
 

Wie schon so oft legte dieser ihm seine Arme um den Hals und drückte Mimoun an sich. „Ich hab dich vermisst.“, flüsterte er ihm ins Ohr und selbst aus der Stimme konnte jeder das Lächeln hören.
 

„Ich dich auch.“, erwiderte Mimoun, schlang seine Arme um Dhaômas Hüften und stieß sich wieder ab, schwebte entspannt dem Erdboden entgegen. Als er neben den bereits hier unten befindlichen Habseligkeiten landete, stellte er seinen Freund zwar wieder auf die Füße, hielt ihn aber noch immer umschlungen. „Es tut mir furchtbar Leid.“
 

„Warum? Ist etwas passiert? Geht es Addar vielleicht nicht gut? Oder Seren?“ Besorgt nahm er etwas Abstand.
 

Verständnislos musterte der Geflügelte seinen Freund, blinzelte kurz, bevor er den Kopf schüttelte. „Keine Angst. Es geht ihnen sehr gut. Es tut mir nur so Leid, dass ich dich so lange allein gelassen habe. Ich konnte nicht ahnen, dass sich die Insel schon so weit entfernt hatte und dann noch dieses verdammte Unwetter die letzten Tage.“ Unglücklich sah er zu Boden. „Dabei hatte ich dir doch versprochen, dich nicht mehr allein zu lassen.“
 

Also war das sein Problem. Dhaôma lächelte weich und wuschelte durch die kurzen, struppigen, schwarzen Haare. „Ich dachte mir schon so was, also ist es nicht so schlimm. Immerhin bist du zurückgekommen.“

Ja, jetzt konnte er so etwas sagen. Damit sich Mimoun keine Sorgen machen musste. Damit das nicht zwischen ihnen stehen musste.
 

Mit einen erleichterten Seufzen nickte Mimoun und entspannte sich nun völlig. „Warte.“ Hektisch begann er an sich herumzutasten und zu suchen. Er hatte doch noch etwas für seinen Freund. Wo hatte er es nur hin gesteckt? Ah, genau. Umständlich zog er unter der Rüstung die zusammengefalteten Papiere hervor, die er dort verstaut hatte, um sie wirksam vor dem Regen zu schützen, und reichte sie dem Magier mit einem breiten Grinsen. „Hier. Für dich.“
 

„Ein Brief?“ Blinzelnd nahm er Mimoun das Papier ab. Auf den ersten Blick wusste er, dass dieser Brief von Asam kam. Er begann mit: ‚Seren ist so goldig!’ Erst danach kam die Begrüßung. Lächelnd betrachtete er das Papier, dann faltete er es wieder zusammen, um es vor dem Nebel zu schützen. „Bilderbuchvater?“, fragte er mit einem amüsierten Unterton.
 

Mimoun verzog sein Gesicht zu einer gequälten Grimasse. „Du glaubst gar nicht, wie anstrengend es ist, stundenlang immer wieder dieselben Lobpreisungen hören zu müssen. Du hast das Ganze ja nur auf Papier und brauchst es dir nur einmal durchlesen.“ Er schnaubte belustigt. „Aber so ist zumindest gewährleistet, dass die Kleine sicher aufwachsen wird.“

Der junge Geflügelte griff sich seine Sachen. Er hatte in den letzten Tagen genug Wasser abgekriegt, mehr als ihm lieb war, und wollte jetzt nur aus dem Wasserstaub hinaus.
 

Lachend und sich vorstellend, wie Asam Mimoun in der Mangel hatte, machte der Braunhaarige sich auf den Weg, dem Fluss weiter zu folgen. Weiter hinten, würde es noch einen Wasserfall geben, aber dieses Mal würde es keine Probleme geben mit dem Abstieg. Mimoun war ja wieder da. „Und welche Neuigkeiten gibt es sonst? Kennt Addar die Insel, die wir suchen?“
 

„Nein.“ Kurz sah er entschuldigend zu seinem Freund hinüber. „Aber er hat Boten ausgeschickt und lässt rumhorchen, ob jemand etwas weiß. Addar kennt unsere Route. Er weiß ja, wie wir zu finden sind und er will uns auf dem Laufenden halten.“ Kurz kicherte er. „Und ich kann mir vorstellen, dass der arme Bote dann mehr als nur diesen Bericht zu schleppen hat.“
 

„Asam.“, nickte Dhaôma und kicherte ebenfalls. Es tat gut, wieder zu lachen, Erleichterung zu spüren. „Hoffentlich kann er dann noch fliegen.“

Dann wurde er wieder ernst. „Mimoun, ich habe nachgedacht. Viel.“ Seine Worte verstummten, als er nachdenklich die Stirn in Falten legte, weil ihm der Name nicht mehr einfiel. „Darüber, was der Hanebito mit nur einem Auge gesagt hat, und darüber was Jadya gesagt hat. Dass du wegen mir nicht mehr kämpfen kannst. Dass du aber solltest in seinen, und nie wieder solltest in ihren Augen.“ Er blickte ihn an. „Warum bist du Krieger geworden? Wirklich nur, damit du deinen Vater rächen kannst?“
 

Kurz stoppte er seinen Lauf und sah Dhaôma an. Wer hatte was gesagt und wer wollte was? Kurz kratzte er sich am Kopf. Das war nicht wichtig. Wichtig war eine Antwort auf die eigentliche Frage. Grübelnd setzte er seinen Weg fort.

„Um zu beschützen, was mir wichtig ist.“, erwiderte er leise, nachdenklich. „Entschuldige, aber je weniger deiner Art leben, umso weniger können meiner Familie, meinem Dorf gefährlich werden. Irgendwie hatte ich gehofft, so die Gefahr für sie zu mindern.“ Er schnaubte verächtlich und fuhr sich mit einer Hand über die Flughaut, die damals zerrissen war. „Aber ich war ein Idiot. Wie konnte ich glauben, dass ich irgendetwas bewirken könnte. Ich war nicht einmal einen Tag an der Front und wurde schon so schwer verletzt. Und anstatt wie andere wenigstens noch ein paar Missgeburten mit in den Tod zu nehmen, hab ich mich feige versteckt. Ein toller Krieger bin ich.“
 

„Das meine ich.“ Dhaôma seufzte leise. „Dein Überlebenswille ist groß. Viel größer als bei den meisten. Auch dein Wunsch zu beschützen ist zu groß, als dass du dich fröhlich in den Tod stürzen könntest. Dagegen ist deine Erfahrung mit Kämpfen nicht besonders ausgeprägt. Zwar magst du im Zweikampf den Kindern und Jugendlichen oder auch Beutetieren überlegen sein, aber gegen Magier auf Distanz…“ Hilflos zuckte er die Achseln. „Sei mir nicht böse, aber ich habe das Gefühl, dass du zu viel Liebe in dir hast, um wirklich ein Krieger zu sein.“ Und mit einem unsicheren Lächeln fügte er noch leise an: „Was nicht wirklich das Schlechteste ist.“
 

Ja, mochte sein, aber... Mimoun warf die Hände in die Luft. „Wie soll ich denn sonst das, was mir wichtig ist, beschützen? Ich verfüge nicht über deine Kräfte. Ich weiß, dass ich nicht stark bin oder ausdauernd genug oder... Ach, was weiß ich.“ Mit einem kurzen, traurigen Lächeln ließ er die Hände wieder sinken. „Ich bin wohl zu nichts zu gebrauchen.“ Kurz und hart lachte er auf. „Na toll. Jetzt bin ich an dem Punkt angekommen, wo du die ganze Zeit immer warst. Ich fühl mich nutzlos.“
 

Dhaôma gab ihm eine sanfte Kopfnuss. „Das hab ich nicht gesagt. Du hast mich vor dem Rat verteidigt, du konntest deine Familie und Freunde davon überzeugen, dass du das richtige tust. Du bist stark. Da.“ Sein Finger tippte gegen seine Brust. „Man kann Schutz auch anders ausüben. Indem man dafür sorgt, dass genügend zu Essen da ist, indem man überzeugt. Nutzlos bist du nicht. Ich verstehe nur nicht, warum du ein Krieger sein willst. Warum du immer frontal angreifst.“
 

Hilflos zuckte er mit den Schultern. „Heimlichkeit ist die Art der Magier?“ Auch wenn es spaßig klingen sollte, er fühlte sich ganz und gar nicht so. Auch das Lächeln verunglückte völlig. „Was ist, wenn es zu spät ist? Wenn ich jetzt nicht handeln würde, hätte ich später überhaupt noch die Möglichkeit jemanden zu retten?“
 

„Warum bist du dann hier und nicht an der Front?“, wollte Dhaôma wissen, den für ihn nicht sinnigen Satz am Anfang einfach ignorierend. „Wenn du wirklich mit Leib und Seele ein Krieger wärst, dann hättest du dich nicht vom Kämpfen abhalten lassen.“
 

„Weil du mir die Hoffnung gibst, dieses Leid endgültig zu beenden.“ Kurz huschte ein Lächeln, diesmal ein ehrliches und zufriedenes, über sein Gesicht. „Und du hast doch sehr richtig festgestellt, dass ich kein Krieger bin. Ich bin ein Beschützer. Ich weiß, dass ich hier mehr bewirken kann als an der Front.“
 

Zufrieden mit diesen Worten nickte Dhaôma, doch damit war noch lange nicht gesagt, worauf er hinauswollte. „Okay. Und jetzt möchte ich noch, dass du darüber nachdenkst, was du zu tun gedenkst, wenn ich irgendwann zurück nach Hause gehe. Du kannst nicht mitkommen, das ist dir klar, nicht wahr?“
 

„Ich weiß.“, gab er kleinlaut zu. Es war ihm ja selbst bewusst, dass es einem Selbstmord gleichkam, sich innerhalb oder auch nur in der Nähe einer Magierstadt aufzuhalten. Aber er ließ ihn so ungern allein dorthin. Und was sollte Mimoun groß in der Zeit tun? Auf Dhaômas Schmusedrachen aufpassen, sollten sie tatsächlich einen finden. Und sonst?

Der junge Geflügelte versank in grüblerisches Schweigen.
 

„Aber du wirst dich nicht aufhalten lassen, mir zu folgen, auch das ist dir klar.“, stellte Dhaôma fest, das Schweigen einfach als diese Antwort deutend. „Ebenso klar ist, dass sie dich dann töten werden. Einfach so. Und weder ich noch irgendjemand anderes wird sie daran hindern können. Sie würden mich einfach ebenfalls töten, damit ich ihnen nicht mehr im Weg stehe.“
 

Mimoun schnaubte unglücklich. „Ja, ja. Du brauchst es nicht immer wieder betonen. Ich weiß, dass du nicht willst, dass ich dir folge. So langsam hab ich das begriffen.“
 

„Aber da ich dich nicht aufhalten kann, wäre es gut, wenn du lernen könntest, versteckt zu sein und auf Distanz zu kämpfen.“, überging der Junge wieder die Antwort. „Ich meine damit Bogenschießen, Lanzen benutzen oder sonst irgendetwas, was dich in die Lage versetzt, nicht körperlich und wenn möglich sogar nicht in Sichtkontakt mit einem Magier zu treten. Und wenn du nur lernst, Steine gezielt zu werfen. Und falls man dich dann doch entdeckt, solltest du in der Lage sein, mit einem Hieb zu töten, bevor er dir was tun kann.“ Es fiel ihm nicht leicht, diese Worte zu sagen, und seine Stimme klang hart und unnachgiebig.
 

Irritiert runzelte Mimoun die Stirn. Wollte Dhaôma, wollte ausgerechtet dieser friedfertige Magier vor ihm, dass er kämpfen und töten lernte? Wo er ihn doch anfangs ständig davon abhalten wollte zu kämpfen?

Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber kein Ton kam über seine Lippen. Irgendwie war er sich nicht sicher, ob sein Freund, sollte Mimoun nun nachfragen, nicht doch einen Rückzieher machen würde oder ihn für verrückt erklärte. Stattdessen nickte er nur.
 

Erleichtert entließ Dhaôma einen Schwall Luft aus seinen Lungen. „Das ist gut. Dann muss ich mir in Zukunft weniger Sorgen machen.“ Lächelnd setzte er seinen Weg wieder fort. „Vielleicht kann dir der Hanebito mit dem einen Auge helfen.“
 

„Kaley? Oh ja. Um jemanden wie ihn besiegen zu können, werde ich eine Menge trainieren müssen.“, murmelte Mimoun wie zu sich selbst. Dann versank er wieder in grübelndes Schweigen. Wie sollte er das machen? Wie sollte er sich von Kaley trainieren lassen, sollte dieser dem überhaupt zustimmen? Es würde Wochen, wenn nicht gar Monate dauern. Sollte er Dhaôma in der Zeit allein lassen? Das konnte er nicht machen. Aber wieder dort oben auf den Inseln gefangen zu sein, nur damit Mimoun stärker werden konnte? Irgendwie konnte sich der junge Geflügelte vorstellen, dass der Magier sogar soweit gehen würde.

Nachdenklich runzelte er die Stirn. Dhaôma wäre gar nicht gefangen, wenn sie die Drachen gefunden hatten und er tatsächlich einen als Begleiter kriegen würde. Dann wäre es für ihn nicht das Problem. Oder würde Dhaôma den Drachen bei ihm dort oben lassen und allein zu den Magiern gehen? Wie sollte Mimoun dann noch wissen, wann sein Freund seine Hilfe brauchte? Wie sollte er ihm so beistehen?

„Und wie stellst du dir das vor? Ich meine, kommst du mit hoch oder gehst du zu den Magiern in der Zeit oder was wirst du tun? So was geht nicht von heute auf morgen.“
 

„Ich werde viel Zeit dafür benötigen, meinen Drachen zu erziehen, nicht wahr? Freundschaft braucht Zeit. Die will ich mir nehmen, denn Freunde - das hast du mir beigebracht - lassen einander nicht im Stich. Ich möchte, dass er weiß, dass ich sein Freund bin und ihn beschütze.“ Ein weiches Kichern ließ Dhaômas Stimme wanken. „Und zu diesem Zweck werde ich mir eine Insel suchen, die keine Bewohner hat, damit ich in deiner Nähe sein kann. Dann kann ich dich besuchen kommen.“
 

Einem plötzlichen Impuls folgend, trat Mimoun näher an seinen Freund heran und schlang seine Arme um Dhaômas Hals.

„Danke.“, flüsterte er ihm ins Ohr.
 

„Wofür?“ Leicht irritiert erwiderte Dhaôma die freundliche Geste, bevor er kicherte. Irgendwie schien sein Freund schmusebedürftig. „Ich hab dich auch lieb.“ Seine freie Hand wuschelte durch schwarzes Haar und ließen es wirrer denn je zurück.
 

„Einfach so.“, murmelte der Geflügelte und ließ die Misshandlung seiner Haare über sich ergehen. „Einfach dafür, dass du da bist.“ Kurz verstärkte er den Druck noch ein wenig und löste sich wieder, um seinen Weg fortzusetzen.
 

Ja, dieses Gefühl kannte er. Glücklich und in sich Wärme aufsteigen spürend folgte Dhaôma Mimoun zum Fluss zurück und dann an diesem entlang. „Der Sommer stirbt schon.“, sagte er wie nebenbei, als an ihnen ein gelbes Blatt vorbeischaukelte, das den Wasserfall überstanden hatte. „Bald müssen wir einen Ort suchen, an dem wir bleiben können, wenn der Schnee fällt.“
 

Mimoun ließ seinen Blick über die Ebene schweifen, bevor er nickte. Es würde eine Menge Arbeit auf sie zukommen. Sie brauchten schließlich nicht nur eine Unterkunft. Auch Vorräte mussten herangeschafft und Holz gelagert werden.

„Ein Wald oder etwas Ähnliches wäre da vielleicht das Beste für dich.“, erwiderte der Geflügelte. „Mit ein wenig Hilfe würde es den meisten Wind und Schnee abhalten können und Holz wäre ebenfalls vorhanden.“ Hastig hob er abwehrend eine Hand und grinste. „Und ja. Trocken lagern.“ Den Fehler hatte er anfangs zu häufig gemacht, als dass er ihn sich nicht selbst noch eine ganze Weile nachtragen würde.
 

„Mir wäre eine Höhle lieber. Mit ein paar Bäumen in der Nähe, die genügend Holz liefern können. Im Wald wäre natürlich perfekt, aber solche Höhlen sind rar und meistens von Bären oder anderen Raubtieren bewohnt.“ Sein Finger legte sich wie von selbst an seine Wange. „Nett wäre Aussicht, aber wenn Schnee fällt, ist die sowieso nicht mehr vorhanden.“
 

„Und eine freie, flache Fläche, eine Art Lichtung meinetwegen, damit ich vernünftig starten und landen kann.“, sinnierte Mimoun. „Muss nicht groß sein. Sollte nur nicht völlig von Unkraut zugewuchert sein.“ Er begann zu schmunzeln. Bei all ihren Wünschen und Vorstellungen fanden sie sicher nie etwas Geeignetes. Nicht vor Anbruch des Winters.
 

„Das wird eine harte Suche.“, jammerte Dhaôma gespielt leidend, doch er lachte. „Eine Lichtung wird kein Problem sein. Notfalls liefert uns das Holz, das die Lichtung vorher bewachsen hat, eben unser Feuer im Winter.“ Immerhin war es nicht besonders schwer, Pflanzen zu töten.

Sie setzten ihren Weg am Fluss entlang fort. Einmal noch flog Mimoun zu einer passierenden Insel hinauf, um Rezepte abzugeben, aber es wurde immer kälter. Irgendwie hatte Dhaôma das Gefühl, dass sich der Winter im letzten Jahr mehr Zeit gelassen hatte.

Bald hatten sie den Wald hinter sich gelassen und wanderten zwischen den Felsen eines Mittelgebirges entlang, das der Fluss rigoros teilte. Das Tal war breiter als gewöhnlich und die Hänge waren hell und boten viel Sonne auf der einen Seite und Dhaôma beschloss, dort einen Platz zu finden, der sie im Winter beherbergen konnte. Das Licht würde ihnen Wärme schenken.

Es dauerte auch nicht lange, da fanden sie eine geeignete Höhle. Den Bewohner hatte Mimoun vor Schreck schlichtweg getötet, als dieser sie angegriffen hatte. Es war ein Berglöwe gewesen, nun hing sein Fell in der Sonne und trocknete, nachdem Dhaôma es gewaschen hatte. Er brauchte sowieso noch warme Sachen für die kalte Jahreszeit.
 

Der Geflügelte machte es sich zur Aufgabe Fleisch und Felle heranzuschaffen, nahm dafür auch größere Strecken in Kauf, um tiefer ins Gebirge vorzudringen. Die Gemse, die er im letzten Winter erlegt hatte, hatte einen dichten Pelz besessen. Genau das, was Dhaôma für den Winter brauchte, und so suchte er gezielt nach solchem und ähnlichem Wild.

So fiel Dhaôma die Aufgabe zu, sich um das Holz und die pflanzliche Abwechslung auf ihrem Speiseplan zu kümmern. Um ihre Vorräte und sich selbst vor weiteren Raubtieren zu schützen, mussten sie sich noch etwas einfallen lassen. Anfangs half die kleine Blüte, die den Geruchssinn verwirrte, doch diese würde den Winter nicht überstehen können. Allerdings ließ sich nirgends ein weiteres dieser Tiere blicken.

Die Wochen zogen ins Land und es wurde immer kälter. Die Blätter färbten sich immer schneller und fielen zu Boden, die Herbststürme kamen und zogen vorbei. Mimoun stand vor der Höhle und sah in die Ferne. Gedankenverloren spielte er mit dem Anhänger um seinen Hals. Zu gern würde er wieder mal bei sich zu Hause vorbeisehen.

Sein Blick glitt zu seinem Freund. Genug Vorräte, um einige Zeit allein zurechtzukommen, hatte er ja. Und nun im Winter, wo sie sowieso nicht vorwärts kommen würden, ließ sich ein Besuch bei seiner Familie am einfachsten einrichten. Es widerstrebte ihm trotzdem, Dhaôma allein zurückzulassen. Die Reise zurück würde Wochen dauern. Immer wieder hatte er Briefe zu ihnen geschickt, aber das war nicht dasselbe.

Seufzend ging er zu dem Magier hinüber, setzte sich zu ihm. Unsicher suchte er nach einem Anfang, wie er seinen Zwiespalt offen legen sollte. „Ich würde gern meiner Familie einen Besuch abstatten. Aber ich möchte dich auch nicht so lange allein lassen.“, erklärte er. „Was soll ich machen?“
 

„Hinfliegen.“, war Dhaômas einfache Antwort. Er war gerade dabei, den Eingang zu verengen, so dass Mimoun gerade hindurchpasste. Einerseits wollte er mit den dichten Haselstämmen den Wind abhalten, andererseits versteckte er damit die Höhle. „Du hast genug geholfen. Ich kann hier sicher drei Monate leben, ohne einen Finger krumm machen zu müssen.“
 

Mimouns Gefühle stritten miteinander. Einerseits war er dankbar dafür, dass sein Freund ihn ohne Schwierigkeiten ziehen ließ, andererseits machte es ihn unglücklich, dass sich Dhaôma so weit zurücknahm und wieder das Alleinsein akzeptierte.

„Ich möchte dir aber nicht weh tun.“, erklärte er und berührte die Brust seines Freundes, deutete auf dessen Herz. „Hast du es vergessen?“
 

Dhaômas Magie versiegte. Er hatte es nicht vergessen. Aber er konnte verstehen, wenn Mimoun seine Familie sehen wollte. Und damit er es ihm nicht schwerer machte, als es ihm ohnehin fiel, wollte er ihm keine Sorgen bereiten. „Du tust mir nicht weh.“, erklärte er ernst. „Ich weiß, dass du zurückkommst. Ich werde nicht für immer alleine sein. Aber deine Mutter ist alleine. Und deine Schwester fühlt sich auch alleine, wenn du nie da bist. Außerdem könnte es sein, dass sie deine Hilfe brauchen, weil sie es nicht geschafft haben, genügend Beute zu finden.“ Er lächelte. „Ich mag dein Dorf. Du solltest nachsehen, ob es ihnen gut geht.“
 

Nachdenklich schwieg Mimoun und schließlich nickte er. „Okay.“, gab er sich geschlagen. Zwar glaubte er nicht, dass es schlimm um sie stehen könnte, aber er verstand, dass Dhaôma ihm einen Gefallen tun wollte. Und es war doch nicht schlimm. Dhaôma hatte richtig festgestellt, dass der Geflügelte zurückkommen würde. Aber drei Monate, wenn die Schätzung stimmte?

Mimoun neigte leicht den Kopf zur Seite und lächelte sanft. „Du bist lieb.“, stellte er wie schon so häufig fest und machte sich daran, seine Sachen zu packen. Die Nacht würde er aber noch hier verbringen und erst in den frühen Morgenstunden loszufliegen.
 

Am nächsten Morgen winkte Dhaôma Mimoun hinterher. Sie hatten noch zusammen gefrühstückt, nun trennten sich ihre Wege für ein paar Wochen. Und Dhaôma hatte beschlossen, bis dahin noch ein wenig aufzustocken, was so fehlte. Solange es noch nicht geschneit hatte, würde er jagen. Jetzt, da Mimoun nicht mehr da war, sollte er sich wieder mal darin üben. Er hatte sein Training diesbezüglich zu sehr schleifen lassen.

Schon die erste Jagd ging grandios schief. Der Speer, den er sich gebastelt hatte, lag nicht gut in der Hand, seine Beute war schneller als er. Also übte er weiter. Im Großen und Ganzen war das seine Art, sich selbst abzulenken von der Einsamkeit. Wenn er den Eindruck hatte, er müsse um sein Leben kämpfen, dann fehlte ihm Mimoun nicht so sehr.

Nachts kam dann die Sehnsucht. Gerade, wenn es kalt wurde, fühlte er sich furchtbar. Und wenn es dunkel wurde, war es noch schlimmer. Dann kuschelte er sich in die Felle, die Mimoun für ihn gejagt hatte, und musste sich davon abhalten, zu weinen.

Dann kam der Schnee. Über Nacht wehte er den Eingang zu und wollte die nächsten Tage nicht abflauen. Da konnte er den Schnee so oft schmelzen, wie er wollte, immer wieder wurde der Eingang verschüttet. Erst eine Woche später konnte er wieder hinaus, ohne völlig weiß zurückzukommen. Der Himmel war blau wie ein Bergsee und die Luft schneidend kalt. Lange blieb er auch nicht draußen, es war nur, um Luft zu holen.

„Ob Mimoun das hier wieder findet?“ Und er konnte nichts wachsen lassen, um ihn zu rufen. Stattdessen legte er die Lichtung großflächig schneefrei. Erstens war das ein deutliches Signal und zweitens würde Mimoun es damit leichter beim Landen haben.

Natürlich war es nicht das letzte Mal, dass es schneite und so verbrachte er die größte Zeit damit, diese Kraft zu entfalten, damit Mimoun auch ganz bestimmt zurückkommen konnte. Auch sein Eingang wollte immer wieder enteist werden, damit der Rauch abziehen konnte. Dennoch wurde die Zeit lang.
 

Während seiner Reise spielte Mimoun mit dem Gedanken, der Insel des Ältesten einen Besuch abzustatten, entschied aber doch, dies besser auf dem Rückweg zu machen. Und er konnte versuchen, Kaley aufzusuchen und ihn bezüglich der Sache mit der Kriegerausbildung zu fragen. Aber des erste Ziel war und blieb sein Dorf.

Die Tage zogen sich dahin, wurden zu Wochen. Nur selten ging er auf die Jagd und dann nur nach Kleintieren, um sein Gewicht so gering wie möglich zu halten. Dörfer auf seinem Weg umging er. Zu groß war die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn mit neugierigen Fragen aufhielten. Nur wenn er gegen Abend ein Dorf fand, quartierte er sich für die Nacht dort ein, befriedigte ihre Neugier und ließ sich ebenfalls Neuigkeiten berichten.

Als die Inselformationen endlich vertrauter wurden, legte er noch einmal an Tempo zu, doch er konnte es nicht lange durchhalten. Zu weit war er an diesem Tag schon geflogen. Und so musste er nur wenige Stunden von seinem Ziel entfernt eine letzte Pause einlegen.

Unruhig lief der Geflügelte auf der Insel herum und musste sich regelrecht dazu zwingen, sich zu setzen und zu entspannen. Zu sehr freute er sich auf das bevorstehende Wiedersehen. So fiel die Ruhephase kürzer aus, als sie nötig gewesen wäre.

Gerade als seine Kräfte erneut zu erlahmen begannen, sah er endlich sein Ziel. Und an den Schatten, die sich in die Lüfte erhoben, erkannte Mimoun, dass auch er entdeckt worden war. Seine Schwester war wie zu erwarten, die erste, die ihn erreichte. Sie ließ ihm nicht die Zeit zu landen und fiel ihm noch mitten in der Luft um den Hals. Als er unter ihrem Gewicht zu ächzen begann, löste sie sich sofort wieder von ihm. Dafür nahm sofort Elin den Platz von Silia ein. Das Kind war nicht annähernd so schwer wie die junge Frau und so landete Mimoun mit Elin auf dem Arm auf einer unter ihm schwebenden Insel. Die anderen, die ihm zur Begrüßung entgegen geflogen waren, ließen sich dort ebenfalls nieder. Dabei dienten die meisten von ihnen nur als Transportmittel für die Kinder, die ihren Magier begrüßen wollten. Groß war ihre Enttäuschung, dass dieser nicht hier war.

„Wo ist Dhaô?“, war das Erste und Einzige, das die Kleinen wissen wollten.

Bevor der Geflügelte darauf antworten konnte, klebte wieder Silia an ihm. „Wieso hast du so lange gebraucht?“

Ergeben seufzte Mimoun. Natürlich. Entweder wurde nach Dhaôma gefragt oder ihm wurden Vorwürfe gemacht. Warum sollte man sich auch freuen, dass er wieder hier war? „Dhaôma konnte nicht mitkommen.“, erklärte er den enttäuschten Kindern. „Er verträgt doch Kälte nicht so gut. Aber er vermisst euch und macht sich Sorgen, dass ihr den Winter nicht gut überstehen könntet. Also sollte ich mal nachschauen.“

„Und wie lange bleibst du?“, warf Silia dazwischen.

Nachdenklich kaute Mimoun auf seiner Unterlippe herum. Darüber hatte er sich schon auf der Reise hierher Gedanken gemacht. „Ich weiß es noch nicht. Eine Woche mindestens, damit sich die Reise auch gelohnt hat.“ Er befreite sich von den Kindern und seiner Schwester und schwang sich wieder in die Luft. „Aber das können wir auch im Dorf klären.“, kündigte er an und legte auch die letzte Strecke zurück, dicht gefolgt von seinem Empfangskomitee.

Der Tag neigte sich bereits dem Ende zu und so dauerte es nicht lange, bis sich das ganze Dorf um den Besucher versammelt hatte und ihn herzlich begrüßte. Zwar hatten sie durch die Briefe schon eine Menge über die Reise der beiden erfahren, dennoch waren Berichte aus erster Hand viel interessanter und man konnte Fragen stellen, Begebenheiten genauer hinterfragen. Besonders die Höhle mit der Statue und den Zeichnungen wollten sie bis ins kleinste Detail beschrieben bekommen. Und so wurde es ein langer Abend, doch das störte niemanden.

Im Ganzen verbrachte Mimoun fast zwei Wochen in seinem Dorf. Er half bei der Jagd und bei der Ausbesserung und Absicherung der Hütten. Überall, wo Hilfe benötigt wurde, sprang er mit ein. Silia war in der Zeit richtig friedfertig. Schließlich lief hier nirgends der Magier herum, der ihr ihren Bruder streitig machen konnte. Zu Mimouns Erleichterung klammerte sie sich nicht völlig an ihn, ließ ihm auch Zeit für sich und war selbst guter Laune.

Das änderte sich erst wieder, als klar wurde, dass er sich auf den Rückweg machen wollte. Sie hinderte ihn nicht. Weder mit Worten, noch mit Gesten. Sie bat ihn nur auf sich aufzupassen und schnell wieder im Dorf vorbei zu sehen. Ebenso verlangten die Kinder, dass ihr Magier schnell wieder kommen sollte. Sie steckten ihm kleine Zettel zu, auf denen sie mit sehr krakeliger Schrift bekundet hatten, wie sehr sie diesen vermissten und dass es ihnen gut ginge, er sich keine Sorgen machen musste. Auch von Cerel bekam er einen Brief für Dhaôma in die Hand gedrückt. Es war ein Bericht, was in den Monaten ihrer Abwesenheit in dem Dorf alles geschehen war und dass man sich über jeden einzelnen Brief von ihnen gefreut hatte.

Als Mimoun schließlich abhob und sich auf den Rückweg machte, winkten die Dorfmitglieder noch lange hinter ihm her.

Da er nicht genau wusste, wo Kaley lebte, führte ihn sein Weg zu der Ratsinsel. Von dort würde er sich durchfragen müssen. Mimoun brauchte fast drei Tage, bis er den Gesuchten endlich ausfindig machen konnte.

Unsicher landete er auf der direkten Nachbarinsel. Er war bereits bemerkt worden und man sah neugierig zu dem Neuankömmling hinüber, aber Mimoun wusste nicht, wie er seine Bitte an das Ratsmitglied herantragen sollte. Mit Addar und seinem Enkel kam er mittlerweile gut zurecht, aber bei Kaley? Und es betraf nicht Dhaôma, für den er sich ohne zu zögern in größte Gefahren stürzte, sondern es ging um ihn selbst. Obwohl, wenn er sich einredete, dass es nur zum Schutz seines Freundes diente - was es genau genommen ja auch war…

Mit einem schweren Seufzen überwand Mimoun den letzten Abstand und landete inmitten des Dorfes. Es umfasste etwa genauso viele Hütten wie das des ältesten Geflügelten.

„Ich habe gehört, du suchst nach mir?“, erklang es hinter dem jungen Geflügelten, bevor dieser sich vorstellen und die Dorfgemeinschaft begrüßen konnte. Langsam drehte er sich herum und sah zu dem Größeren auf.

„Ja. Ich brauche Eure Hilfe.“, offenbarte Mimoun und betrachtete das Ratsmitglied aufmerksam. Dieser sah genauso aufmerksam auf ihn herab. Er schien auf eine Erklärung zu warten. Kurz huschte Mimouns Blick über die Versammelten. Unsicherheit ergriff ihn, dennoch straffte er sich und sah Kaley fest in das verbliebene Auge. „Um beschützen zu können, was mir wichtig ist, muss ich stärker werden. Mit meinen jetzigen Kräften und Fähigkeiten werde ich nie erreichen können, was ich mir vorgenommen habe.“, erklärte er. „Deshalb wollte ich Euch bitten, mich zu trainieren. Oder mir zu helfen, einen geeigneten Lehrer für mich zu finden.“

Kaley lachte brüllend los. „Na wenigstens das hast du begriffen.“

Mimoun biss sich auf die Innenseite der Lippen, um ruhig zu bleiben. Er fand nicht, dass dies ein Anlass zum Lachen war. „Werdet Ihr mir helfen?“, hakte er noch einmal nach.

Kaleys Lachen erstarb schlagartig und eine Faust schoss nach vorn. Mit einem erschrockenen Keuchen wich Mimoun zurück, stolperte über seine eigenen Füße und stürzte. Die Faust verfehlte ihn. Verdattert sah er zu dem Ratsmitglied auf. Dieser schnaubte nur verächtlich. „Reflexe hast du ja, aber was du daraus machst, ist furchtbar. Kannst du überhaupt etwas?“

Perplex blieb Mimoun noch eine Weile im festgetretenen Schnee hocken. Er war unfähig zu antworten. Wieso sollte er damit rechnen müssen, in den eigenen Reihen angegriffen zu werden?

Kaley kratzte sich am Hinterkopf. „Na mal sehen.“ Der Koloss drehte sich herum und winkte Mimoun, ihm zu folgen.

„Verzeiht, aber ich habe keine Zeit.“, erwiderte der junge Geflügelte und erhob sich wieder. „Ich war nur hier, um zu fragen, ob Ihr überhaupt bereit dazu währt. Dhaôma wartet bereits auf mich. Ich muss zurück.“

Kaley blieb stehen und runzelte missbilligend die Stirn. Sein Blick glitt über den Rand der Insel hinab.

„Er ist nicht hier. Ich habe mich schon vor Wochen von ihm getrennt, um meinem Dorf einen Besuch abzustatten. Deshalb muss ich ja auch zurück.“, erklärte Mimoun mit einem leisen Kopfschütteln.

„Aber nicht sofort.“, bestimmte Kaley unnachgiebig und fixierte den Jungen vor sich fest.

„Doch.“, widersprach Mimoun und wollte noch mehr sagen, wurde jedoch mit einer wütenden Handbewegung unterbrochen.

„Nicht einmal das kannst du?“, fragte Kaley scharf. Mimoun blinzelte ihn verwirrt an. Wovon sprach er? „Spätestens heute Abend wird ein Schneesturm aufziehen. Man kann es im Wind riechen. Wenn du jetzt losfliegst, wirst du mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr lebend bei dem Magier ankommen.“

Betroffen schwieg Mimoun. Nein. Das hatte er nicht geahnt. Und das zwang ihn nun schon wieder zu einer unvorhergesehenen Pause. Aber nachzufragen, wie lange der Sturm anhalten würde, traute er sich nicht.

„Komm.“ Erneut winkte der Riese dem jungen Geflügelten und diesmal widersprach dieser nicht. Er folgte dem Älteren zu einer der Hütten. Sie war größer gebaut, so dass eindeutig war, dass Kaley hier hauste. Dieser verschwand in einem der Räume. Unschlüssig blieb Mimoun im Vorraum stehen. „Leg deine Sachen ab. Du kannst sie dort vorne verstauen.“, drang es gedämpft hinter der Lederplane hervor und zögerlich folgte Mimoun den Anweisungen. Also war er nun ein Gast Kaleys. Irgendwie beschlich ihn ein leises Unwohlsein bei dem Gedanken.

Schon nach wenigen Augenblicken erschien sein Gastgeber wieder im Vorraum, eine kleine Tasche in der Hand haltend. Stirnrunzelnd sah er auf den Jungen herab. „Deine Rüstung auch.“

Mimoun hatte sich im Laufe der Monate so sehr an das Ding gewöhnt, dass er ihr Gewicht kaum noch spürte und sie so völlig vergessen hatte. Hastig legte er auch die Rüstung ab. Seine Unruhe wuchs. Kaley verhielt sich nicht wie ein Gastgeber. Aber was wollte er dann von ihm?

„Komm.“, wies dieser erneut an und verließ die Hütte. Gerade als auch Mimoun ins Freie trat, hob der andere ab. Der Jüngere musste sich beeilen, um ihm folgen zu können. Auf dem fast halbstündigen Flug legte Kaley ein Tempo vor, das Mimoun kaum halten konnte. Auch unterband der Veteran jede Art von Gespräch oder Frage. Schließlich landete Kaley am unteren Teil einer völlig aus Fels bestehenden Insel und sah zu Mimoun zurück. Dieser schwebte kurz noch in der Luft, um sich diese Insel genauer betrachten zu können und der andere winkte ihn unwirsch heran. Der junge Geflügelte landete dicht unterhalb des Ranghöheren. Dieser deutete nur wortlos auf den Höhleneingang, neben dem er hing. Mit einem verstehenden Nicken kletterte Mimoun hinein. Ihm blieb nicht viel Zeit sich zurechtzufinden und seine Augen an das im vorderen Bereich herrschende Halbdunkel zu gewöhnen, denn die Geräusche hinter ihm kündeten davon, dass auch Kaley hereinkam. Der Schwarzhaarige musste tiefer in den Gang hinein, um ihm Platz zu machen.

„Weiter.“

Still folgte Mimoun der Anweisung und tastete sich vorwärts. Es dauerte nicht lange, da stieß er auf eine Höhle. An der Decke befanden sich vereinzelt Durchbrüche, die diffuses Licht hineinließen, aber nicht genug, um wirklich viel erkennen zu können. Das einzige, was er mit Sicherheit sagen konnte, war, dass diese Höhle fast die gesamte Insel umfasste.

Ein Schlag traf ihn unerwartet im Rücken und schleuderte ihn auf den etwa zwei Meter unter ihm befindlichen harten Felsboden hinab. Schmerzerfüllt keuchte Mimoun auf.

„Zeig mir, wozu du fähig bist.“, verlangte die Stimme Kaleys irgendwo über ihm.

„Bitte was?“, japste Mimoun und erhob sich schwankend.

„Du hast den Sturm über Zeit.“ Die Stimme befand sich nun genau hinter dem jungen Geflügelten. „Überzeuge mich, dass du es wert bist.“ Erneut traf Mimoun ein harter Schlag in den Rücken und schleuderte ihn gegen die Wand.

Nachdem dieser die Schleier der Bewusstlosigkeit zurückgedrängt hatte, wirbelte er herum. „Aber hier kann man kaum etwas sehen.“, protestierte er.

„Dann gibst du etwa jetzt schon auf?“ Die Stimme erklang links von ihm und der Junge wich zur anderen Seite aus. Leicht spürte er den Lufthauch eines an ihm vorbeigehenden Schlages.

„Nein.“, knurrte er und flatterte einige Meter zurück. Die Landung fiel unglücklich aus. Da er den Untergrund nicht klar sehen konnte, trat er in eine Spalte und blieb stecken.

„Schwach.“, wurde diese Aktion kommentiert. Der Kopf des Jungen ruckte herum. Die Stimme klang wieder dicht vor ihm. Doch wie konnte sich dieser Koloss in dieser Finsternis so völlig lautlos bewegen? In Erwartung eines erneuten Schlages hob er abwehrend die Arme. Nichts geschah. Mit mühsam unterdrücktem Atem und weit aufgerissenen Augen versuchte er die Dunkelheit zu durchdringen und seinen Gegner ausfindig zu machen. Als noch immer alles ruhig blieb, hockte er sich langsam hin und zog seinen Fuß aus der Spalte. Kaum war er frei, traf ihn ein Hieb unter dem Kinn und schleuderte ihn zurück. Ein Platschen erklang in seinen Ohren, bevor er völlig von Wasser umschlossen wurde. Mit Prusten und Röcheln kam er wieder an die Oberfläche.

Ein abfälliges Geräusch ließ ihn wieder aufmerksam in die Runde blicken. Nichts. Schatten blieben Schatten.

„Wenn das alles ist, gib besser gleich auf.“

Mimoun befreite sich aus dem Wasser und blieb am Rand in Abwehrhaltung stehen. Er würde nicht aufgeben. Er musste stärker werden. Er musste Dhaôma beschützen können! Tief durchatmend schloss er die Augen. Bei dem kaum vorhandenen Licht konnte er sich nicht auf sie verlassen. Der junge Geflügelte konzentrierte sich völlig auf sein Gehör, doch außer seinem eigenen rasenden Herzschlägen, seinem stoßweisen Atem und dem letzten Plätschern des Wassers hinter ihm konnte er keine Geräusche vernehmen. Minutenlang verharrte er in Bewegungslosigkeit. Er zwang seinen Herzschlag zur Ruhe, bemühte sich, flach zu atmen. Er kannte das. Er musste zum Jäger werden. Und Kaley war seine Beute. Und in Geduld musste er sich nicht erst üben. Das beherrschte er.

Stille senkte sich über die Höhle. So war das minimale Rascheln von Leder fast überdeutlich zu hören. Mimouns Kopf ruckte in die entsprechende Richtung und reflexartig fuhren auch seine Hände weiter in die Höhe. Erschrocken registrierte er, wie sich seine Nägel tief in Fleisch bohrten. Hastig zog er seine Hände zurück und gab seine Verteidigungshaltung auf. Das Resultat war eine riesige Pranke, die sich auf sein Gesicht legte und ihn wieder ins Wasser warf.

„Besser. Aber zu weich.“, waren die Worte, die er vernahm, als sein Kopf wieder die Wasseroberfläche durchbrach.

Die Löcher in der Decke der Höhle verdunkelten sich und einzelne Schneeflocken wirbelten herein. Und das Pfeifen des Windes verwirrte Mimouns Gehörsinn. Dennoch ließ er nicht locker. Er musste es schaffen, Kaley zu überzeugen.

In den drei Tagen, die der Sturm andauerte, gönnte Kaley dem Jungen kaum eine Ruhepause. Immer wieder griff er aus dem Dunkel an, umschlich ihn und narrte seine Sinne. Mimoun blieb standhaft. Immer wieder steckte er Prügel ein, und sein ganzer Körper fühlte sich taub und zerschlagen an. Langsam gewöhnten sich seine Augen an das Dunkel, seine Ohren konnten das dauerhafte Pfeifen des Sturmes ausblenden und sein Körper erinnerte sich bald an jede Spalte im Boden, die Dimensionen des Teiches und die Vorsprünge in den Wänden. Ihm fiel es mit der Zeit immer leichter diesen Dingen auszuweichen und für sich zu nutzen. Nur der Schlafmangel machte ihm zu schaffen. Zudem gesellte sich auch schnell der Hunger hinzu. Damit sein Magenknurren ihn nicht verriet, betäubte er ihn mit einem Übermaß an Wasser. Den Geräuschen zu urteilen, hatte der Ältere ein wenig Nahrung bei sich, doch als Mimoun um etwas bat, wurde er unnachgiebig abgeschmettert. Dazu müsse er Kaley erst einmal erreichen, war die Erwiderung gewesen.

Dies gelang dem jungen Geflügelten in den drei Tagen aber nicht. Auch der Schlafmangel forderte von seinem Körper schließlich seinen Tribut. Völlig erschöpft kippte er einfach um. Er spürte nicht den Aufprall auf den Felsboden, die zusätzlichen Kratzer und Prellungen, die er sich dabei zuzog. Auch dass Kaley näher trat, meldeten ihm seine Sinne nicht.

Der Mann sah nur auf den Jungen herab. Nach einigen Augenblicken legte auch er sich zum Schlafen nieder. Er befand, dass es genug war.

Mimoun schlief fast einen ganzen Tag durch und als er schließlich erwachte, saß Kaley neben ihm und streckte eine Hand in seine Richtung. Einem in den letzten Tagen antrainierten Reflex folgend, hob er abwehrend seine Hand, doch der Veteran hielt ihm nur getrocknetes Fleisch entgegen. „Iss.“

Zögerlich setzte Mimoun sich auf und nahm es entgegen. Noch immer mit misstrauischen Blicken in Kaleys Richtung biss er hinein. Sein Hunger überwog schnell. Ohne weiter auf den anderen zu achten, schlang er alles hinunter.

„Komm.“

Erstaunt sah der junge Geflügelte auf und schluckte den letzten Bissen hinunter. Seine Augen hatten sich so weit an das Halbdunkel gewöhnt, dass er schemenhaft erkennen konnte, wie der Veteran sich dem Ausgang zuwandte. Schnell schloss sich der Junge an.

Unruhe ergriff ihn wieder. Der Sturm war vorbei. Das Pfeifen der letzten Tage war fast völlig verschwunden. Das hieß, nun würde die Entscheidung fallen. Er selbst schätzte seine Chancen schlecht ein, aber das letzte Wort hatte Kaley.

Am Eingang der Höhle stach das ungewohnt grelle Licht in Mimouns Augen und dieser wandte sich mit einem Zischen ab.

„Komm.“

Der junge Geflügelte blinzelte ins Licht und sah, dass der andere sich bereits abgestoßen hatte und seinem Dorf entgegen strebte. Hastig folgte er ihm. Ein wenig war er erstaunt, dass dieser nicht wieder so ein scharfes Tempo vorlegte wie auf ihrem Hinflug. Aber etwas dagegen sagte Mimoun auch nicht. Ebenso wagte er es nicht, das Thema anzusprechen, das ihm auf der Zunge brannte.

Schließlich im Dorf angekommen, wandte sich Kaley zu dem Jüngeren um. „Du hast Potenzial, das sich ausbauen lässt.“, begann er. „Aber ich werde nicht ewig warten, bis der Herr sich bequemt, hier mal aufzutauchen. Ich habe Wichtigeres zu tun.“

„Ich danke Euch.“ Mimouns ganze Haltung entspannte sich, als er den Kopf neigte. Anschließend glitt sein Blick über den wolkenverhangenen Himmel. Der Tag neigte sich ebenfalls seinem Ende zu. Heute würde er nirgendwo mehr hinkönnen.

„Für heute Nacht kannst du mein Gast sein.“, gestattete Kaley, dem der Blick und die gerunzelte Stirn nicht entgangen waren. Mimoun nickte zum Zeichen seines Einverständnisses. Den Abend verbrachte er damit, sich dem Dorf vorzustellen, was bei seinem ersten Eintreffen hier ja nicht möglich gewesen war, und wieder Geschichten seiner Reise mit dem Magier zum Besten zu geben.
 

Am nächsten Morgen erwachte Mimoun sehr zeitig. Da sein Gastgeber noch schlief, schlich sich der junge Geflügelte zu seinen Habseligkeiten und bereitete alles für seine Weiterreise vor. In Gedanken ging er die Route zu seiner nächsten Station durch, schätzte die Zeit, die er dafür benötigte.

Leises Rascheln ließ ihn erschrocken herum fahren. Kaley ließ die Lederplane wieder zurück gleiten. „Guten Morgen.“, begrüßte Mimoun seinen Gastgeber. „Verzeiht. Hab ich Euch geweckt?“

Dieser verneinte mit einem Kopfschütteln und beobachtete den Jungen, wie dieser seine Rüstung wieder anlegte. „Das Training wird, selbst wenn ich dich übermäßig fordere, Monate dauern. Was macht dein Magier in der Zeit? Willst du ihn hier mit einquartieren?“, wollte der Veteran wissen.

„Dhaôma hofft, zu dem Zeitpunkt seinen Drachen bereits zu haben. Er möchte dann auf einer Insel außerhalb wohnen, um Euch keinen Grund zur Sorge zu geben, aber mich dennoch jederzeit besuchen zu können.“, erklärte Mimoun und schloss seine Vorbereitungen ab. Er erhob sich und sah Kaley offen an. Dieser erwiderte den Blick nachdenklich und schließlich nickte er.

Der junge Geflügelte sah kurz aus der Hütte. Der Morgen begann zu grauen. Es waren ideale Bedingungen zur Weiterreise, doch er konnte nicht ohne Frühstück los fliegen. Das würde seine Reise nur behindern. Als er sich wieder seinem Gastgeber zuwandte, drückte dieser ihm ein kleines, in Leder eingeschlagenes Päckchen in die Hand. „Verschwinde.“

Verblüfft schielte er unter das Leder und entdeckte einige Fleischstreifen. Ideal zum Verzehr während des Fluges geeignet. Dankbar verneigte er sich noch einmal vor dem Ratsmitglied und wandte sich nach einem abschließenden Gruß zum Gehen. Die bereits erwachten Dorfmitglieder verabschiedete er ebenfalls mit ein paar letzten Worten und schwang sich in die Lüfte. Nun musste er nur noch bei Addar vorbeisehen und Neuigkeiten austauschen. Dann konnte er endlich zu Dhaôma zurückkehren. Er war schon viel zu lange weg.



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