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Der Weg aus dem Kampf

Wenn Träume Berge versetzen
von

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Rettende Magie

Kapitel 13

Rettende Magie
 

Mimoun erwachte schon kurz nach Sonnenaufgang, wobei davon kaum etwas zu sehen war, da diese noch immer hinter den Bergen blieb. Es war nur heller als nachts und das hatte ihn aus seinen Träumen gerissen. Doch noch wollte er nicht aufstehen. Irgendwie war er heute faul. Träge drehte er sich auf die andere Seite und döste weiter.
 

Sein Begleiter hatte da nicht solche Skrupel. Sobald Dhaôma wach war, setzte er sich auf und sah über die Schneelandschaft, die im Schatten lag. Wenn er das richtig sah, dann würde er noch etwa drei Stunden klettern müssen, bevor er unten ankam, aber ab da würde es schneller gehen. Zum Glück.

Mit einem lockeren Schwung aus dem Handgelenk ließ er die Blüten, die der Kälte nicht hatten trotzen können, wieder erblühen und trieb sie dann weiter, bis aus ihnen Früchte geworden waren. Die Trauben ergaben eine schöne Ergänzung zu dem inzwischen doch recht zähen Fleisch.

Mimoun schien noch zu schlafen, also holte Dhaôma seinen Drachenzahn hervor und kratzte mit seiner Nadel daran herum, bis eine kleine Delle auf beiden Seiten entstanden war. Inzwischen stand die Sonne hoch genug, damit aus den unförmigen Ungetümen der Felsen Schatten hervortraten und ihnen Struktur gaben. Er stand auf, streckte sich und grinste.

„Ich werde euch finden!“, brüllte er in die weite Welt hinaus, hörte sein Echo zurückkommen und antwortete ihm, so laut er konnte. „Ich verspreche es euch! Ich finde euch! Und ich finde das Große Wasser!“
 

Mimoun saß vor Schreck senkrecht, als der erste Satz gebrüllt wurde. Als dann das Echo zurückkam und sich ein Wortgefecht entwickelte, da Dhaôma weiter rief, hielt sich der Geflügelte mit einem gequälten Stöhnen die Ohren zu und ließ sich wieder zu Boden sinken. Seine Flügel faltete er um sich und sah ein wenig aus wie ein in Leder gepacktes Bündel.

„Du mieses Aas.“, zischte er leise. Das war die absolut fieseste Art aus seinen Träumen gerissen zu werden. Irgendwann würde er die Rechnung dafür zu zahlen haben.
 

Zufrieden mit sich drehte sich Dhaôma wieder um und setzte sich hin. Während er sich etwas zu Essen nahm, betrachtete er sich den Geflügelten, der jetzt dalag wie eine überdimensionale Schmetterlingspuppe. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er ihn womöglich geweckt hatte und wurde leicht rot. Das tat ihm Leid. Aber es hatte wirklich gut getan, mal herauszuschreien, was er sich vorgenommen hatte.
 

Die Geschäftigkeit des anderen ließ ihm nun keine Ruhe mehr. Mimoun faltete sich wieder auseinander und setzte sich grummelnd auf. Wortlos, und ohne den Magier zu beachten, nahm er sich ebenfalls zu essen. Sein Blick ging den Weg hinunter, den sie noch zu bewältigen hatten. Das würde sicher nicht lange dauern, wenn Dhaôma sich ran hielt.
 

„Guten Morgen.“, grüßte dieser nun. „Entschuldige, dass ich dich geweckt habe. Aber sag mal… Sind diese Flügel wirklich ein effektiver Lärmschutz? Oder machst du das, wenn dir kalt wird?“
 

„Weder noch.“, murrte Mimoun noch immer, ohne den Magier anzusehen. Dann kam ihm sein Verhalten kindisch vor und er schnaubte belustigt über sich selbst. „Aber einen Versuch war es zumindest wert.“
 

Dhaôma nickte und lächelte dann.

Nach dem Essen machte er sich fertig für den letzten Teil des Abstiegs. Er hatte sich vorgenommen, nicht soviel Zeit zu brauchen.

Eine Stunde ging das gut, bevor er doch wieder eine Pause brauchte. Seine Arme schmerzten. Seine Finger und Handballen fühlten sich wund an und die Gelenke waren von der Kälte und den vorangegangen Tagen noch steif und unerfreut bei Bewegung. Eigentlich würde er es für diesen Tag dabei belassen, wäre er alleine, aber da er dem Hanebito nicht zur Last fallen wollte, der ja die ganze Zeit über fliegen musste und auf ihn warten, zwang er sich schon nach kurzer Zeit weiter.

Das Resultat war, dass seine Konzentration und seine Kraft nachließen. Irgendwie kam alles zusammen. Sein Kopf wusste schon, dass er fallen würde, bevor sein linker Fuß bemerkte, dass ihm der Halt fehlte. Durch die unerwartete Gleichgewichtsstörung krallten sich seine Finger reflexartig in Felsen und hatten doch nicht genug Stärke, um das Gewicht abzufangen.

„Nein!“, keuchte er erstickt und griff erneut zu, ohne etwas zu erreichen. Es war wie im Wasserfall damals, kurz war er schwerelos, bevor es wirklich abwärts ging. Aber Gestein war härter als Wasser!
 

Genau in diesem Moment war Mimoun schon wieder ein Stück voraus, um nach dem Rechten zu sehen. Als er das Krachen der abwärts rollenden Felsen vernahm, drehte er sich ruckartig um, um zu sehen, was geschehen war und ob es Dhaôma gut ging. Ihn inmitten der talwärts stürzenden Steine zu entdecken, war nicht das, was er gehofft hatte.

Ohne nachzudenken, handelte der Geflügelte. Am Rande seines Bewusstseins wusste er, dass es verrückt war, was er da tat, doch er beachtete dieses winzige Stimmchen nicht. Ohne auf sich oder seine geringen Kräfte zu achten, schoss er auf die Gerölllawine zu und griff nach dem Magier. Er bekam ihn zu fassen, doch der unerwartete Ruck riss ihn ein Stück nach unten und der Pelz, den er in den Fingern hielt, entglitt ihm wieder. Ein Stein weiter oben prallte von einem Widerstand ab und knallte dem Geflügelten an die Stirn. Kurz geriet er ins Straucheln, doch er verbiss sich den Schmerz und setzte erneut an. Diesmal bekam er die Hand des Magiers zu fassen. Mit heftigem Flügelschlagen versuchte er verzweifelt an Höhe zu gewinnen und Stück für Stück riss er seinen Freund aus der Umklammerung der Felsen. Immer wieder wurde er dabei selbst von kleineren Trümmerstücken erwischt und die Staubwolke erschwerte die Orientierung. Und Mimoun spürte, wie ihn immer schneller die Kräfte verließen.

Da die abwärts stürzenden Steine auf ihrem Weg immer neue Felsen losrissen, verbreiterte sich der Strom immer weiter und für den Geflügelten wurde es eine Tortur, den Magier aus dem Gefahrenbereich zu bringen. Und für die Landung fehlte ihm schlussendlich die Kraft. Mit einer letzten Anstrengung zog er den anderen Körper dicht an sich und ließ sich fallen. Es fühlte sich an, als würden seine Beine in den Bauch gerammt werden und er hatte nicht die Kraft sich abzufangen, weshalb er stürzte. Hastig schlang er die Flügel schützend um den Freund, bevor er wenige Schritte ins Tal schlitterte. Zwar löste er keine zweite Lawine aus, doch er schlug mit dem Kopf gegen einen Felsen, was sein Bewusstsein auslöschte.
 

Es war eine gefühlt endlose Zeit, bis sie zum Liegen kamen, und auch dann rollte und donnerte hinter ihm immer noch die Lawine ins Tal. Dhaôma hatte gespürt, wie er eingefangen worden war, hatte sich bemüht, sich so leicht wie möglich zu machen, doch das Unausweichliche war passiert. Mimoun konnte ihn nicht tragen, das hatten sie schon früher festgestellt. Sie waren abgestürzt. Und jetzt bewegte er sich nicht mehr!

Panik erwachte in seinen erstarrten Gliedern und möglichst vorsichtig befreite er sich aus den Flügeln und den Armen, die ihn umfingen. Es gab keinen Widerstand. Die letzten Augenblicke der Rettungsaktion hatte er Dank der Schwingen nicht visuell mitbekommen, jetzt fing er bei dem Anblick fast an zu heulen. Mimoun lag da wie tot. Seine Flügel waren wieder gerissen, seine Beine hatten einen seltsamen Knick und Blut war überall an seinem Kopf, lief über sein Gesicht.

„Mimoun!“ Mit zittrigen Händen schüttelte er ihn, hinterließ überall Blutspuren auf der Rüstung, doch er nahm die Schmerzen nicht wahr, die in seinen Fingern erwachten. „Hanebito, sag doch was!“

Vorsichtig rollte er ihn auf die Seite. Und wurde schlagartig kalkweiß. Der Oberkörper drehte sich ohne den Unterkörper. Seine Wirbelsäule hatte etwas abbekommen! „Nein!“ Jetzt tropften wirklich Tränen von seinen Wangen. Mit so einer Verletzung würde er nicht einmal mehr gehen können! „Nein, nein, nein! Mimoun!“ Das durfte nicht sein! Es war doch sein Fehler gewesen! Seiner! Er war doch abgestürzt, nicht der Geflügelte. Warum musste dieser darunter leiden, dass er sich nicht richtig festhalten konnte?

Wieder versuchten seine Hände, den Schwarzhaarigen wach zu bekommen, doch es kam keine Reaktion. War er etwa…

Braune Augen weiteten sich angstvoll und hektisch beugte sich Dhaôma vor und spürte dem Atem nach. Mit angehaltener Luft harrte er des Lebenszeichens, welches nach Sekunden bangen Wartens ungewöhnlich flach kam.

Im Kopf des Braunhaarigen wurde es still. Er wusste, dass Mimoun sterben würde. Oft genug hatte er diese Anzeichen bei Tieren gesehen, die er gejagt hatte. Sein Freund würde sterben. Weil er ihn gerettet hatte. Das durfte nicht passieren!

„Das kannst du nicht machen! Du hast es deiner Schwester versprochen! Du hast es mir versprochen!“, wisperte er. „Wenn überhaupt, dann sollte ich sterben!“

Wieder kam ein zittriger, kaum wahrnehmbarer Atemstoß und wie mechanisch hob Dhaôma seine Hände wieder. Er legte sie auf Mimouns Brust, weich und federleicht. „Ich lasse dich nicht gehen.“, sagte er mit tonloser Stimme, als die Magie sich unaufhaltsam in ihm sammelte. Er fühlte, wie sie unter der Haut floss wie warmes Wasser, wie sie seine Finger zum Kribbeln brachte und Schauder über seinen Rücken schickte, wie sie ihn einlullte und versuchte, ihn dazu zu überreden, ihr die Kontrolle überlassen. Mit all seinem noch vorhandenen Bewusstsein wünschte er sich, dass sie Mimouns Leben retten möge. So wie er in der Lage war, einen sterbenden Baum zurückzuholen, so sollte die Magie diesmal Mimoun zurückholen.

Seine Sicht verschwamm, wurde milchig, während sein Instinkt die Führung übernahm. Zuerst waren es nur die kleinen Kratzer auf der Haut des Geflügelten, die wie ein Wunder verschwanden, dann fand die Magie ihren Kanal endgültig. Unter seinen schmalen Händen richteten sich Knochen, Sehnen und Nerven. Die Platzwunde am Kopf verschwand, ließ nur Blut als Beweis ihrer Existenz zurück, die Risse in den Flügeln schlossen sich, als würden sie zuerst durch Wasser ersetzt, bis die Haut unversehrt war. Längst war die Magie außer Kontrolle. Wie damals in der Bieberhöhle, als er tote Pflanzen zum ersten Mal ins Leben gerufen hatte, kanalisierte sich Dhaômas ganze Kraft in einem Moment. Sie machte auch nicht vor den kleinen Löchern halt, die Silia gestochen hatte, ließ uralte Narben verschwinden und ersetzte sie durch heile Haut. Die störenden Sehnen, die die künstliche Flughaut hielten, und das Leder in unmittelbarer Umgebung zerfielen zu Staub, als wären sie schon Jahrzehnte alt. Im gleichen Maße wurden tote Hautzellen von neuen ersetzt, wurden kraftlose Muskeln mit Energie und Wärme gefüllt und überbeanspruchte Sehnen erneuert.

Bis das Leuchten plötzlich erlosch. Dhaômas Kraft war aufgebraucht. Er kippte einfach zur Seite und schlief schon, bevor er den Boden endgültig berührte.
 

Es dauerte einige Zeit, bis Mimoun das Bewusstsein wieder erlangte. Zögerlich sah er sich um. Er konnte sich nicht erinnern, wie er hier hergekommen war. Dhaôma lag neben ihm und schlief. Verwirrt registrierte er die Schrammen und Kratzer, die Risse in den Kleidern des anderen und plötzlich fiel es ihm wieder ein. Ruckartig setzte er sich auf und griff sich ins Gesicht, als die Bilder noch einmal vor seinen Augen vorbeizogen. Der Absturz des Magiers, seine eigenen Versuche, diesen zu retten, sein eigener Absturz und dann nichts mehr. Seine letzte Erinnerung waren Schmerz und Dunkelheit, die ihn umhüllten.

Vorsichtig löste er seine Hand wieder vom Gesicht und wollte erneut den Magier betrachten, in der Hoffnung der Schlafende würde ihm Antwort geben, doch sein Blick blieb an dem Blut hängen, das nun an seinen Fingern klebte. Er erinnerte sich wieder an den Stein, der ihn dort getroffen hatte. Erstaunt wischte er sich erneut über die Stirn, doch dort war nur Blut. Kein Kratzer, der eigentlich brennen müsste.

Vorsichtig erhob er sich. Mit Erstaunen sah er aus dem Augenwinkel seinen Flügel ohne Leder. Das Erstaunen wurde zu Entsetzen, als die Erkenntnis in sein Bewusstsein drang, dass er durch diese Aktion die Arbeit seiner Schwester zunichte gemacht hatte, er nun wieder nicht fliegen konnte. Voller Verzweiflung sah er auf den Flügel, doch dieses Gefühl änderte sich wieder in Erstaunen, als er diesen völlig unversehrt vorfand. Keine Löcher, keine Risse.

Und dann ging ihm auf, dass er einen ABSTURZ gehabt hatte. Er müsste verletzt sein. Er müsste erschöpft sein, geschwächt! Doch nichts. Er fühlte sich besser als jemals zuvor.

Erneut glitt sein Blick über Dhaôma. Vorsichtig näherte er sich dem Magier und wischte ihm sanft über die zerschrammte Wange. Sein Blick und die Fingerspitzen wanderten über die Zeichen, die sich nun auch in dessen Gesicht ausgebreitet hatten.

„Was hast du getan?“, fragte der Geflügelte leise und mit gerunzelter Stirn. Doch der Schlafende gab ihm keine Antwort. Er rührte sich nicht, reagierte nicht einmal auf diese Berührung. Vorsichtig strich er ihm einige Fransen aus der Stirn. Es war wie damals, als der Magier das letzte Mal zusammengebrochen war und auf nichts reagiert hatte.

Hastig sah sich Mimoun um. Hier konnten sie nicht bleiben. Die Spur, die die Gerölllawine gezogen hatte, zeichnete sich dicht neben ihnen ab. Und der Geflügelte befürchtete jederzeit eine weitere. Und das Ende der Geröllhalde war noch weit entfernt.

Nachdenklich kaute er auf seiner Unterlippe herum. Er fühlte sich frisch und ausgeruht. Sein Flügel, seine Verletzungen waren komplett geheilt, warum auch immer. Er suchte die nähere Umgebung nach ihren Habseligkeiten ab, die sie bei ihrem Sturz verloren hatten. Der Wasserbeutel, den er immer am Gürtel trug, war bei seinem Sturz geplatzt und nun nutzlos. Seine eigene Tasche fand er ein wenig oberhalb von ihrem unfreiwilligen Lager. Sie wies einige kleinere Löcher und Schlitze auf. Nichts, was sich nicht irgendwie reparieren ließ. Der Bogen steckte zwischen zwei Felsen, schien aber völlig intakt. Behutsam löste er ihn aus der Spalte. Die Pfeile waren zerbrochen und verloren. Dennoch packte er die Spitzen mit ein. Die Schäfte würde er bei Gelegenheit neu schnitzen.

Doch Dhaômas Tasche konnte er nirgends finden. Er stand direkt neben der Spur aus Steinen, die sich talwärts zog und sah betrübt hinunter. Er lief einige Schritte abwärts, konnte sie aber nirgends ausmachen. Und dabei hing Dhaôma doch so daran. Sein Blick glitt wieder zu dem Magier. Erst würde er dafür sorgen, dass dieser einen sicheren Ort zum Ausschlafen hatte, bevor er sich auf die Suche danach machen konnte. Er nahm seine Sachen auf und schob seine Arme unter den schlaffen Körper. Sorgsam achtete er darauf, dass der Kopf des Magiers bequem auf seiner Schulter ruhte, bevor er sich auf den Weg aus dem Geröllfeld machte. Einige Meter legte er zu Fuß zurück, bevor er grübelnd stehen blieb und probehalber mit den Flügeln schlug. Der Flügel war wieder intakt, er war im Vollbesitz seiner körperlichen Kräfte. Mit einem kräftigen Sprung stieß er sich ab und suchte sich eine Luftströmung, die ihm auf dem Weg nach unten half, seine Kräfte zu schonen. Es ging besser, als er erwartet hatte, dennoch zerrte das Gewicht des Magiers gewaltig an seinen Armen.

Das Ende der Geröllhalde kam schneller, als er erwartet hatte. Im Flug ging alles viel schneller und einfacherer. Und Entfernungen spielten kaum noch eine Rolle. Nun wieder zu Fuß stapfte er durch den Schnee und suchte sich eine geeignete Stelle: einen Felsen, der tief im Boden verankert Schutz gegen herabfallende Steine bieten würde. Vorsichtig trat er den Schnee dort fest, da er darunter Felsen befürchtete und er den Schnee deshalb nicht wegschieben wollte. Sacht bettete er den Magier im Schatten des Felsens und legte sämtliche Fundstücke neben ihn. Mit den Wechselkleidern sorgte er für eine angenehme Kopfstütze. Doch er hatte nichts, was er Dhaôma zum Schutz gegen die Kälte anbieten konnte. Er blieb noch einige Augenblicke neben dem Magier hocken, bevor er sich wieder zur der Geröllhalde aufmachte und nun gründlich nach den Habseligkeiten des Magiers zu suchen begann.

Es vergingen Stunden. Mimoun drehte immer wieder vorsichtig, um keine weitere Lawine auszulösen, Steine um und suchte tiefer. Doch nichts. Erschöpft setzte er sich auf einen Felsen in der Nähe und zog ein Bein an, um seinen Kopf auf dem Knie abzustützen. Erstaunt blickte er auf nackte Haut und besah sich noch einmal genauer, bevor er in schallendes Gelächter ausbrach. Was auch immer der Magier getan hatte, hatte nicht nur das Leder des Ersatzflügels zerstört, sondern auch seine Kleider. Nur am Rande wunderte er sich, dass seine Rüstung noch intakt war, bestand sie doch auch aus Leder, doch die Lösung dieses Rätsels verschob er lieber auf später. Dass ihm das aber auch nicht aufgefallen war!

Als eine Erinnerung sein Bewusstsein durchzuckte, gefror sein Gesichtsausdruck und zögerlich glitten seine Finger zu seinem Hals hoch. Weg. Das Lederband, das den Stein gehalten hatte, war ebenfalls weg. Und mit ihm der Stein.

„Sie bringt mich um. Sie bringt mich um.“, murmelte er immer wieder und rannte zu der Stelle, an der er aufgewacht war. Der Magier hatte das Leder aufgelöst. Dort, wo das geschehen war, musste auch der Stein sein. Dass er sich auch bei seiner Rutschaktion den Hang hinunter gelöst haben konnte, verdrängte er aus seinen Gedanken. Er ließ sich an der blutgetränkten Stelle auf die Knie fallen, ignorierte die Schrammen, die die Felsen auf seiner ungeschützten Haut hinterließen und suchte immer verzweifelter nach dem kleinen, grünen Stein. Je mehr Zeit verstrich, umso panischer wurde der Geflügelte. Einige scharfkantige Splitter rissen seine Hände auf, doch auch das erreichte sein Bewusstsein nicht. Er musste den Stein finden. Er hatte es Silia doch versprochen. Aus dem Augenwinkel sah er etwas Grünliches schimmern und hektisch kroch er darauf zu. Vor Erleichterung zitternd fischte er den Anhänger aus einer kleinen Spalte eines Felsens. Fest in seiner Hand verborgen, drückte er den Stein an seine Brust und atmete tief durch.

Mit seinem Fund begab er sich sofort zum provisorischen Lager. Er entledigte sich seiner Rüstung und zog unter Dhaômas Kopf seine Ersatzhose hervor, in die er schlüpfte. Auch sein Hemd nahm er an sich, aber nur, um vom unteren Bund ein dünnes Lederband abzutrennen. Danach schob er es wieder unter den Kopf des Magiers. An dem neuen Band befestigte er den Stein und hängte ihn sich um. Sicherheitshalber hielt er den Stein dennoch weiterhin in seiner Hand verborgen.

Noch einmal ließ er seinen Blick über den Magier gleiten. Dessen Zustand war noch immer unverändert. Seine Finger glitten über die Stirn des Jungen. Fieber schien er keines zu haben. Wenigstens etwas.

Aufmerksam sah er sich um. Die Sonne neigte sich schon wieder stark dem Horizont zu und es wurde Zeit, dass er etwas Nahrung heranschaffte. Sein eigener Wasserschlauch war nutzlos geworden und Dhaômas sowie der Proviant waren noch immer unter der Gerölllawine verschüttet.

Doch die klägliche Ausbeute nach zwei Stunden Jagd war ein mageres Kaninchen. Alle anderen Tiere schienen sich aus dieser Region verzogen zu haben. Dafür brachte er aber einiges an Holz mit. Und ein wenig Rinde. Da die Decke des Magiers verschollen war, brauchte er eine andere Möglichkeit, Dhaôma warm zu halten. Das Kaninchen legte er ein wenig abseits hin, darum würde er sich später kümmern. Erst musste er das Feuer in Gang bringen. Er richtete alles so her, wie er es gelernt hatte, doch die Steine waren in der Tasche, die unter dem Geröll vergraben lag. Wahllos griff er sich zwei kleine Steine und probierte es damit. Doch so sehr er es auch versuchte, es ließ sich damit kein Funken erzeugen. Frustriert warf er sie in den Schnee und wandte sich im letzten Licht des Tages seiner Beute zu. Fell abziehen, Innereien entfernen, ausbluten lassen. So dass auch der Magier später davon essen konnte, sollte er aufwachen und Hunger verspüren. Doch es blieb noch immer die Frage, wie er ihn vor der Kälte schützen konnte. Da ihm sonst nichts anderes einfiel, legte er sich neben Dhaôma und zog ihn in seine Arme, legte einen Flügel über seinen Freund, um ihn vor dem Wind zu schützen. Er erlaubte sich nur einen leichten Schlaf. Mit halbem Ohr lauschte er auf die Geräusche der Nacht und eventuelle Räuber.
 

Dhaôma erwachte am nächsten Morgen. Irgendwie war ihm kalt. Aber nur an einigen Stellen. Sein Oberkörper und Rücken waren warm, seine Füße bereiteten ihm Probleme. Sachte bewegte er sich. Schmerzen und Hindernisse hielten ihn davon ab. Das war die Wärmequelle – Mimouns Arme, wie er nach einem Blick feststellte. Was war denn jetzt kaputt? Und warum waren seine Augen und seine Glieder so schwer?

Müde ließ er die Lider wieder sinken und seufzte. „Was ist denn los?“, fragte er schwach.
 

Mimoun wurde von der leisen Stimme aus seinem dösigen Zustand gerissen und hob sacht Flügel und Arm, so dass der Magier sich von ihm lösen konnte, wenn er wollte. Es blieb ihm natürlich auch die Möglichkeit, weiter liegen zu bleiben. Er schien noch immer müde zu sein. Und wenn es so ablief wie bei dem letzten Zusammenbruch, würde er es noch eine Weile bleiben.

„So genau kann ich mich daran nicht erinnern.“, antwortete er leise. „Du bist von einer Gerölllawine mitgerissen worden und bei dem Versuch dich zu retten, sind wir abgestürzt. Ich erinnere mich erst wieder, seit ich aus meiner Bewusstlosigkeit erwachte und dich schlafend neben mir fand.“, fasste er es kurz zusammen. Der Magier schien nicht für längere Erklärungen aufnahmefähig.
 

Deswegen taten ihm also die Hände, Arme und Beine so weh. Ja, das ergab Sinn. „Bist du verletzt?“, fragte er und fröstelte. Die Wärmequelle war verschwunden. Nicht gut.
 

„Nein.“, erwiderte der Geflügelte schlicht. Alles Weitere würden sie klären, wenn der Magier wieder bei Kräften war. Als er das Zittern des Jungen sah, legte Mimoun wieder Arm und Flügel um Dhaôma. „Besser?“
 

Dieser nickte beruhigt. Die innere Unruhe, die ihn beherrscht hatte, seit er einigermaßen wach war, legte sich. Keine Verletzung, keine Probleme und ihm war wieder warm am Bauch. „Mir ist kalt.“, murmelte er dennoch und versuchte umständlich die Beine an den Bauch zu ziehen.
 

„Verzeih.“, murmelte der Geflügelte leise. „Ich konnte deine Tasche nicht mehr finden. Und die Steine zum Feuermachen sind auch verloren.“ Er rutschte ein Stück zurück, um dem Magier seinen Positionswechsel zu erleichtern. Nun hatte er die Beine des Jungen am Bauch und doch konnte er nicht sagen, ob es das für ihn besser machte. So würde der Rest sicher wieder kälter werden. Also änderte auch er seine Lage. Er setzte sich an die angezogenen Beine Dhaômas und lehnte sich über ihn drüber. Die eine Hand schob er unter den Kopf des Magiers, die andere legte er an dessen Rücken und stützte sich auf den Ellenbogen ab. Sein eigener Kopf kam an der Schulter des Jungen zur Ruhe. Nun spannte er seine Flügel zu beiden Seiten dicht um sie.
 

Dhaôma bekam sowohl die Erklärung als auch die Bewegungen nur am Rande mit. Nachdem er jetzt wusste, dass Mimoun sicher und unverletzt war, kehrte die Schläfrigkeit zurück. „Ist das nicht unbequem?“, fragte er murmelnd und schob seine Hände unbewusst zwischen Hemd und Haut.
 

Mimoun zuckte kurz zurück, als die Finger an seiner Brust entlang glitten. Es kam zu unerwartet und überraschend. Mit einem amüsierten Schnauben rollte er sich ein wenig zusammen, zog den Jungen noch enger an sich, um ihm besser Wärme spenden zu können. Dass er es in seiner Situation noch schaffte, sich um den Geflügelten Sorgen zu machen, war unglaublich.

„Nein. Überhaupt nicht.“ Noch stimmte es, aber es würde auf Dauer seine Schultern belasten. „Ruh dich einfach nur aus.“
 

„Hmhm.“ Zufrieden kuschelte sich Dhaôma tiefer und schlief augenblicklich wieder ein. Es war wärmer jetzt, die Angst war weg und sein Körper forderte sein Recht.

Aber diesmal war der Schlaf nicht traumlos. Er verarbeitete den Schrecken vom Absturz und die Angst um Mimoun, die Enttäuschung wegen der Drachengerippe, die Kälte und die Umarmung. Und was dabei herauskam, war so wirr, dass man den Schlaf beim besten Willen nicht als gut bezeichnen konnte.
 

Mimoun spürte die Bewegungen unter sich. Leise flüsterte er ihm beruhigende Worte ins Ohr. Dass alles in Ordnung sei und Ähnliches. Irgendwann begnügte er sich damit, ein Schlaflied zu summen, das seine Mutter früher immer für sie gesungen hatte. Ab und zu stützte er sein Gewicht nur auf einen Arm, um die andere Schulter zu entlasten und ein wenig kreisen zu lassen. Dabei achtete er besonders darauf, nicht das Gewicht auf Dhaôma abzustützen. Es war nicht einfach. Fast war er versucht, den Magier einfach wieder auf den Arm zu nehmen und weiter talwärts in wärmere Gefilde zu tragen. Doch er wollte noch eine letzte Suchaktion wegen der Tasche starten. Einige Dinge darin waren nun einmal wichtig. Und so hielt er durch.
 

Der Braunhaarige wurde kurz nach Mittag wieder wach. Er fühlte sich ausgeruht und warm. Als er die Augen öffnete, sah er dunkles Haar, eine Schulter und ein bisschen von Mimouns Flügel. Irritiert bewegte er sich ein wenig, was in seinen Muskeln zog, aber das war nebensächlich. Er war vollkommen eingekesselt. Das war zwar nicht unangenehm, aber einfach seltsam.

„Mimoun?“, fragte er leise und versuchte ihn anzusehen.
 

Dieser setzte sich halb auf, um im Notfall sofort wieder die Wärme spenden zu können, die der andere vorhin so dringend gebraucht hatte.

„Wie fühlst du dich?“, wollte er wissen und beobachtete jede Bewegung des Magiers.
 

„Gut. Müde, aber gut.“ Dhaôma lächelte ihn an, setzte sich auf und streckte sich wie eine zufriedene Katze, nur um im nächsten Moment inne zu halten. Sein ganzer Körper fühlte sich zerschlagen an. Himmel, was war das nur? „Du bist schön warm. Warum haben wir gekuschelt?“
 

Amüsiert verzog der Geflügelte das Gesicht. Es war gut, dass er vorhin keine Erklärungen verschwendet hatte.

„Gekuschelt kann man das auch nennen. Ich würde das eher als überlebenswichtige Maßnahme gegen Erfrieren bezeichnen.“ Da sich der Magier aufgerichtet hatte, ließ es sich auch Mimoun nicht nehmen sich ausgiebig zu strecken und seine Schultern zu massieren. Einmal tief durchatmen. „Um es kurz zu machen. Du bist mit einer Gerölllawine talwärts gerutscht, ich hab dich rausgefischt und bin abgestürzt. Als ich schließlich erwachte, hast du neben mir geschlafen. Da deine Sachen trotz intensiver Suche noch immer unter dem Schutt begraben liegen, also Decke und die Steine zum Feuermachen, gab es nur eine Möglichkeit, dich warm zu halten.“ Er setzte eine künstlerische, genau abgepasste Pause ein, bevor er schelmisch grinsend fortfuhr: „Kuscheln.“
 

Wärme stieg dem Jungen in die Wangen, als er das hörte. Maßnahme gegen das Erfrieren. Ihm hatte es gefallen. „Danke.“ Eigentlich hatte er noch mehr sagen wollen, aber ihm kam, was der Hanebito danach gesagt hatte. Seine Sachen waren weg. Seine Samen! All die kleinen Samen, die er über Jahre hinweg gesammelt hatte! Die schon soviel mit ihm durchgemacht hatten!

„Nicht doch.“, wisperte er und stand ächzend auf. „Wo war das?“ Suchend sah er sich um, aber er konnte nichts entdecken, was einer Lawine ähnlich sah.
 

Mimoun zog ihn am Ärmel wieder zurück auf den Boden und reichte ihm Teile des Kaninchens. „Du isst jetzt erst einmal etwas.“, befahl er in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. „Du hast seit gestern Mittag nichts zu dir genommen und wir haben schon wieder etwa Mittag. Die Sachen werden schon nicht wegrennen. Ich bring dich nachher hin.“
 

Dhaôma nickte brav und setzte sich. Er hatte wirklich lange geschlafen. Lag wahrscheinlich an dem Absturz. So schnell verkraftete man das wohl nicht.

Seine Hände waren wund und blutig verkrustet, seine Arme zerkratzt und seine Beine ebenfalls. Und seine Klamotten völlig zerrissen. Dem Gefühl nach waren auch überall Prellungen zu finden. Er wollte wirklich nicht wissen, wie er gerade aussah. Dazu kam der Muskelkater vom Klettern. „Ich hätte wirklich mehr Wechselkleider mitnehmen sollen.“, murmelte er und zupfte an seinem Ärmel, bevor er begann, seine Hände abzulecken. Es brannte, aber es war besser so, als wenn der Dreck in den Wunden blieb, denn Wasser hatte er nicht gesehen, als er sich umgesehen hatte.
 

„Ja, ich auch.“, seufzte Mimoun leise. „Was mich zu der Frage bringt, was du eigentlich gemacht hast, während ich bewusstlos war.“
 

Was er gemacht hatte? Mimoun war bewusstlos gewesen? Ach ja, hatte er ja gesagt. Dass er aufgewacht wäre und ihn schlafend gefunden hatte.

Nachdenklich hielt er inne, nuckelte an seinem kleinen Finger. Da war etwas, das tief in ihm verborgen war. Eine Erinnerung, die er nicht so recht fassen konnte. Da war Angst, dass Mimoun sterben konnte. Und das Bild von Blut.

Dhaôma rieb sich mit dem Handrücken über die Augen. „Ich weiß nicht.“ Da war ein seltsames Gefühl. Er hatte Magie gewirkt, nicht wahr? Aber warum? Jetzt noch spürte er das unwiderstehliche Gefühl, diese Magie erneut einzusetzen. Aber dann würde er bloß wieder müde werden. „So wie ich mich fühle, habe ich wohl eine neue Kraft entwickelt.“, sagte er schließlich und drehte seine Arme, ohne etwas Neues zu entdecken. „Aber daran erinnere ich mich nicht. Das ist immer so. Es ist nur noch ein Gefühl vorhanden, das mir sagt, dass es passiert ist.“
 

Eine neue Kraft entwickelt also? Ob es daran lag? Prüfend musterte er den Magier, um seine Reaktion zu sehen. Im Schneidersitz, die Arme verschränkt, saß er vor ihm und streckte beide Flügel weit aus. Ob es ihm wohl auffiel? Er schien nicht bemerkt zu haben, dass Mimoun völlig unverletzt war.

„Woran erkennt man, welche Magie ihr wirken könnt? Ich weiß bisher nur, dass diese Zeichen dann leuchten.“
 

„An den Zeichen.“ Dhaôma seufzte und begann zu essen. Langsam kaute er darauf herum. Rohes Fleisch. Damit konnte er noch immer nicht viel anfangen. „Weißt du, die Zeichen wirken wie ein Filter. Sind sie erst einmal da, ist die Kontrolle einfacher und verhindert, dass man zuviel von dieser Kraft einsetzt. Aber bevor sie da sind, also das erste Mal, kann ich es nicht kontrollieren. Vielleicht liegt es daran, dass die Magie selbst die Zeichen in die Haut brennt. So genau weiß ich das nicht.“
 

Es fiel ihm also nicht auf. Er schien immer noch nicht ganz wach zu sein.

„Also bedeuten die Zeichen auf den Armen, dass du Pflanzen wachsen lassen kannst. Und die Striche im Gesicht symbolisieren die neue Kraft?“, hakte der Geflügelte sicherheitshalber nach.
 

„Gesicht?“ Die Hand, die Kaninchenfleisch zum Mund führen wollte, sank wieder herab. Dafür hob sich die andere. „Wo?“ Aufregung kribbelte in seinen Fingerspitzen, überlagerte das dumpfe Pochen des Schmerzes. Würde er etwa gleich wissen, was er gelernt hatte?
 

Mimoun beugte sich ein wenig vor. „Nicht bewegen. Ich zeig es dir.“, wies er an, bevor er seine Hand hob und vorsichtig mit dem Zeigefinger jede einzelne Linie, die er sehen konnte, nachzog.
 

Dhaôma schloss die Augen und spürte den Bewegungen nach. Vom Augenwinkel zum Ohrläppchen, von unter dem Auge bis zum gleichen Punkt. Vereinigten sich die Linien dort? Die warmen Finger folgten seinem Hals bis zum Nacken und ein Stück in den Kragen hinein.

Sein Bauch flatterte. Er wusste, was das hieß. Er kannte den Verlauf dieser Linien, wusste, dass sie noch bis hinunter auf den Rücken zogen und wie Pfeile ausliefen. Es war das, was seine Eltern sich von ihm erhofft hatten, als sie ihm seinen Namen gegeben hatten. Heilkraft.

„Es bedeutet, dass ich jetzt heilen kann.“, lächelte er. Seine Wangen färbten sich rot vor Freude. Und einfach, weil er es ausprobieren wollte und die Schmerzen in den Händen und den Armen ihn nervten, aktivierte er die Kraft doch noch. Auch wenn es bedeutete, dass er müde sein würde, er wollte es probieren!

Vor seinen Augen schlossen sich die Abschürfungen, heilten die Kratzer und Prellungen. „Wahnsinn!“, hauchte der Junge glücklich und im nächsten Moment schnippte sein Kopf wieder hoch. „Mimoun, jetzt kann ich deinen Flügel reparieren!“
 

„Also doch.“, meinte er nur trocken, als sich sein offensichtlicher Verdacht bestätigt hatte. Mit dem Fingerknöchel klopfte er kurz gegen Dhaômas Stirn. „Dummkopf. Hör mir zu, wenn ich mit dir rede. Ich erwähnte, wenn ich mich nicht irre, dass ich abgestürzt bin. Hat es dich echt nicht verwundert, dass ich hier ohne Kratzer vor dir sitze?“ Gespielt beleidigt schüttelte Mimoun den Kopf und öffnete erneut seine Flügel.

„Danke.“ Das Wort kam aus tiefstem Herzen.
 

Sprachlos starrte Dhaôma erst seinem Freund ins Gesicht, dann auf den Flügel. Er begann zu lächeln. Das war also der Grund, warum die Magie erwacht war. In seinem Inneren erinnerte er sich an Angst. Schreckliche Angst. Und wenn er Mimoun instinktiv geheilt hatte, hatte er wohl ziemlich was abbekommen.

„Funktioniert er denn?“, fragte er.
 

„Ja.“, lachte Mimoun amüsiert. „So gut wie vor diesem Zwischenfall.“ Er erhob sich und klopfte sich Schmutz und Schnee von der Hose. „Was aber nicht bedeutet, dass ich dich stundenlang durch die Luft tragen kann.“, schränkte der Geflügelte sofort ein. Lächelnd streckte er eine Hand nach dem Magier aus. „Aber es reicht zumindest bis zur Absturzstelle.“
 

„Du kannst mich ehrlich tragen? Und wenn du wieder abstürzt?“ Wenn er daran dachte, wie schwer es für ihn gewesen war, über den Fluss zu kommen, dann wollte er eine solche Belastung lieber vermeiden.
 

„Erstens hätte ich ja dann jemanden, der mich wieder zusammenflickt.“, antwortete er leichthin, ergriff den Magier am Handgelenk und zog ihn langsam aus dem Schutz des Felsens hervor. Mit der anderen deutete er den Geröllhang hinauf. Auch von hier unten war die Spur gut zu erkennen, die die Lawine gerissen hatte. „Zweitens hab ich dich von dort oben hier herunter getragen.“ Schultern zuckend grinste er seinen Freund von der Seite an. „Die Gefahr, dass du beim Aufstieg eine weitere Lawine auslöst, ist höher als die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Absturzes.“

Die Sorge des Magiers tat dem Geflügelten gut. Es zeigte ihm, dass das, was er hier tat, das Richtige war.
 

„Einverstanden.“, nickte Dhaôma. „Aber bitte sei nicht unvorsichtig. Ich weiß nicht, wie gut das mit der Heilung ist. Wie und was ich damit alles machen kann. Und meine Kraft ist auch erschöpflich.“

Vertrauensvoll streckte er ihm beide Arme entgegen.
 

„Werde ich nicht.“, versprach Mimoun und trat näher. Er dirigierte Dhaômas Hände so, dass dieser sich nun an seinem Hals festhielt, und umschlang seine Hüfte mit einem Arm. Die zweite Hand schob er unter die Knie des Jungen und hob ihn hoch. Noch einmal überzeugte er sich davon, dass sich Dhaôma richtig festhielt, bevor er sich abstieß und der deutlichen Spur den Hang hinauf folgte. Es war anders als auf dem Flug nach unten. Damals konnte er die abwärts strömenden Winde nutzen. Und nun trug er nicht das zusätzliche Gewicht der Rüstung und seines Gepäcks.

Für die Landung suchte er sich eine Stelle etwas unterhalb der Blutlache aus und setzte federleicht auf. Die Strecke den Hang hinauf hatte er schon durchsucht. Dort konnte die Tasche des Magiers eigentlich nicht sein. Vorsichtig stellte er seinen Fluggast wieder auf die Füße. Er hielt ihn noch so lange umschlungen, bis er sicher war, dass Dhaôma festen Stand hatte.
 

„Du bist großartig.“, übermittelte ihm dieser voller Bewunderung, erfüllt von dem Gefühl des Fliegens. Es war besser gewesen als beim ersten Mal. Freier, weniger gezwungen. Ein schier unglaubliches Gefühl!

Dann lief er los, ließ seine Augen über die Trümmer schweifen und begann darüber zu klettern, soweit ihm die übrig gebliebenen Prellungen das erlaubten. Alles war locker und lose und ließ sich auch leicht bewegen. Immer wieder grub er ein Stückchen tiefer und ließ probehalber seine Magie nach den Samen rufen. Würden sie wachsen, würde er das spüren. Stunden vergingen so und Dhaômas Müdigkeit wuchs rapide. Gerade, als er aufgeben wollte, um sich auszuruhen, fand er sie. Unter einem schlammigen Felsmatsch kam eine Reaktion und er grub glücklich seine Tasche aus. Die Decke war mit Wasser voll gesogen und schmutzig, aber noch einigermaßen intakt. Aber den Fellumhang konnte er nicht finden. Nirgendwo. Außerdem stand die Sonne schon sehr tief.

„Mimoun! Ich hab die Tasche gefunden!“, rief er und winkte. Wackelig kletterte er über die lockeren Felsen in die Richtung, in der er aufgewacht war. Dass Mimoun ein Lagerfeuer vorbereitet hatte, hatte er gesehen. Er musste es nur noch entzünden.
 

Sofort war Mimoun an der Seite des Magiers und berührte ihn sacht am Arm. Schon während der gesamten Suchaktion hatte er, während er selbst zwischen den Felstrümmern grub, immer ein wachsames Auge auf Dhaôma und seine Schritte gehabt. Ihm war nicht entgangen, dass dieser erschöpft war. Der Magier hatte gestern seine Kräfte mehr als überstrapaziert und nutzte nun schon wieder seine Magie, um nach seinen Habseligkeiten zu suchen.

Wortlos und mit einem aufmunternden Lächeln breitete er einladend sowohl seine Arme als auch seine Flügel aus. Es war zwar nicht mehr weit bis zum Rand der Halde, doch immer noch weit genug. Der Geflügelte schätzte Dhaômas Kräfte momentan nicht als ausreichend ein. Vor allem, da der Kerl selten zeigte, wie schlecht es ihm wirklich ging.
 

Ein Strahlen ging durch die braunen Augen, als Dhaôma die Einladung annahm. Fliegen war toll und der Untergrund hier einfach heikel. „Der Wasserschlauch ist kaputtgegangen.“, sagte er leise, ohne dass wirkliches Bedauern in seiner Stimme lag. Viel lieber sah er zu, wie der Boden sich ein Stück entfernte und Wind seine Haare durchlüftete. Sie waren klebrig und es fühlte sich nicht wirklich gut an, aber der Wind machte vieles wett. „Wir sollten den Bach wieder finden.“ Dort würde er sich auch waschen können.
 

Sicher trug Mimoun seinen Freund wieder zu dem provisorischen Rastplatz. Auch er sah nach dem Stand der Sonne und runzelte die Stirn. Es würde nicht mehr lange dauern, bis es dunkel wurde. Einerseits wäre es gut, frisches Wasser in der Nähe zu haben. Dort ließ sich auch gute Jagdbeute finden, da jedes Tier Wasser brauchte. Doch ob es sich nun lohnte auf die Suche nach dem Bach zu machen und all ihre Sachen dort hinzuschleppen, war die Frage. Ebenso, ob sie dort auf die Schnelle einen geschützten Unterschlupf finden würden.

Sein Blick glitt wieder über die Gestalt des Magiers und dessen unsicheren Stand, nachdem er wieder auf dem Boden abgesetzt wurde. „Heute nicht mehr.“, entschied er für sich. „Du solltest dich noch ein wenig ausruhen. Und dich wärmen.“ Mit den letzten Worten streckte er die Hände nach Dhaômas Tasche aus, um sich die Feuersteine aushändigen zu lassen. Doch schnell zog er sie wieder zurück. „Du kümmerst dich um das Feuer, ich treib noch schnell etwas zu Essen auf. Und Dhaôma.“, begann er scharf. „Schone deine Kräfte. Heute kein Gemüse.“
 

Der Junge runzelte die Stirn und nickte. Den Inhalt des Rucksacks schüttete er auf den Boden, sobald er saß, dann öffnete er den Beutel mit den Samen. Viele waren zerstört, hatten die mahlenden Kräfte der Lawine nicht überstanden. Es war wirklich frustrierend. Es würde ihn einiges an Zeit kosten, sie wachsen zu lassen und neue zu ernten.

Seufzend zog er den Riemen wieder zu und ließ den Beutel in seinem Schoß liegen. Der Rucksack war an einer Seite gerissen und musste erst einmal genäht werden, bevor er darin wieder etwas transportieren konnte, der Wasserschlauch war sogar ganz kaputt. Man konnte diese Blasen nicht so nähen, dass sie wieder dicht waren. Wenigstens waren die Feuersteine noch intakt, so dass er sich daran machte, das Feuer zu entzünden. Mimouns Arbeit war gut, so dass es nicht lange dauerte, bis ein Feuer brannte und willkommene Wärme spendete.

Als nächstes untersuchte er die anderen Dinge aus dem Beutel. Sein Messer hatte eine kleine Scharte. Alles andere war unversehrt. Schließlich hängte er die Decke über den Felsen, damit sie trocknen konnte, bevor er einen Stock suchte, mit dem sich Fleisch grillen lassen würde. Kurz vor Sonnenuntergang kehrte er zurück und kauerte sich ans Feuer. Ihm war wieder kalt und mit dem mitgebrachten Feuerholz heizte er noch ein wenig mehr an.
 

Der Geflügelte kehrte im letzten Licht des Tages zurück. Über der Schulter trug er ein kleines, stämmiges, an eine Ziege erinnerndes Tier. Auf der letzten Strecke orientierte er sich an dem Schein des Feuers, da der Berghang nun völlig in Dunkelheit getaucht war. Zufrieden stellte er fest, dass der Magier auf ihn gehört und keine weitere Magie benutzt hatte. Doch trotz des Feuers schien ihm noch kalt zu sein. Kurz glitt Mimouns Blick zu der Decke, die über dem Felsen trocknete. Auf die musste der Magier wohl auch in dieser Nacht verzichten.

Das Tier ließ der Geflügelte neben dem Feuer fallen und machte sich daran, es von seinem dichten, weichen Fell zu befreien. Bevor er die Eingeweide entfernte, trennte er ein Stück aus der Flanke und reichte es dem Magier, damit dieser es für sich essbar machen konnte. Von den Innereien nahm er das Leckerste an sich und setzte sich hinter Dhaôma, lehnte sich an dessen Rücken. Der Magier hatte selbst festgestellt, dass der Geflügelte schön warm war. Nun hatte er eine zweite Wärmequelle im Rücken.
 

Einvernehmliche Stille herrschte bei ihnen am Lagerfeuer. Sie aßen, dann schlief Dhaôma recht schnell ein, seinen Beutel mit den Samen fest in der Hand haltend. Er holte sich zurück, was er an Kraft verloren hatte.



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