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Blind

Holly x Rico
von

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Kapitel 12: Von Anfang an

Rico sah ihn mit erhobener Augenbraue nahezu herausfordernd an. Holly starrte indes völlig entgeistert zurück. Konnte es wirklich sein, dass…?

Der Sänger hatte Mühe, sich unter Kontrolle zu halten. Er ging unsicher einen Schritt auf seinen Bandkollegen zu und wartete kurz, bis sein Herzschlag sich wieder beruhigt hatte. Denn der hatte in dem Moment, als er den Dunkelhaarigen und Chris aus dem Bad kommen sah, scheinbar für einige Zeit ausgesetzt. Der Anblick war einerseits schockierend, andererseits verletzend und sein eigentlicher Plan, noch einmal zu versuchen, ganz in Ruhe und unter vier Augen mit Rico zu sprechen, war dahin. In diesem Moment konnte er nicht klar denken, tausende von Gedanken schossen gleichzeitig durch seinen Kopf und dann war da plötzlich nur noch Leere. Der Sänger atmete noch einmal tief durch, ehe er Rico ernst ansah. Er hoffte nur, dass er keinen weiteren Fehler begehen würde – doch dafür konnte er nicht garantieren. Denn das war eindeutig zu viel für ihn gewesen. Mühsam versuchte er, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. „Was zur Hölle sollte das?“

Der Dunkelhaarige, der seine Augenbraue inzwischen wieder gesenkt hatte, hob sie nun wieder. „Was meinst du?“

Doch was Holly noch mehr reizte als die kühle, distanzierte Art Ricos, war der Fakt, dass letzterer diese Frage offensichtlich auch noch ernst meinte. Aufgebracht sah er den Violinisten an und wurde ungewollt etwas lauter. „Du weißt ganz genau, was ich meine!“ Und ohne es zu wollen, rutschte ihm auch noch eine Frage heraus, auf die er eigentlich nicht unbedingt eine Antwort haben wollte – zwar würde ihn der Gedanke daran nie loslassen, doch die Wahrheit zu kennen, war vielleicht noch schmerzhafter. „Hast du's allen Ernstes mit Chris da drin getrieben?“

Rico jedoch blieb vollkommen ruhig und reagierte gelassen auf die hitzige Reaktion des Sängers. Er schien sogar fast ein wenig gelangweilt zu sein. „Wie kommst du denn darauf?“

Der leicht ironische Unterton in der Stimme des Dunkelhaarigen entging dem Sänger keineswegs und machte ihn nur noch wütender. Warum wollte Rico sich so sehr an ihm rächen? Hätte es nicht gereicht, ihn backstage (mehr oder weniger) zu ignorieren und onstage an ihm rumzuspielen? Musste er es derart ausreizen? Er hatte ja nicht einmal eine richtige Chance bekommen, ihm irgendetwas persönlich zu erklären oder sich gar zu entschuldigen. Und solche Dinge regelte man nun mal nicht per Email, SMS oder über die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Zumal Rico wahrscheinlich keine seiner Nachrichten gelesen bzw. abgehört hätte… Wie also hätte er sonst mit ihm kommunizieren sollen, ohne gegen den Willen Ricos zu handeln?

Anfangs hatte er sich einfach nur mies deswegen gefühlt und war verzweifelt gewesen, aber so langsam wuchs neben seiner Eifersucht auch seine Wut. So sehr er Rico auch verletzt haben mochte – der Violinist machte es ihm nicht gerade leicht, eine Möglichkeit zu finden, das wieder gutzumachen. Mal ganz davon abgesehen, dass der Dunkelhaarige ihn inzwischen selbst ziemlich verletzt hatte… Und so reagierte er in seiner Verzweiflung dennoch auf die Frage Ricos, obwohl ihm klar war, dass diese rhetorischer Natur sein sollte. „Ihr knutscht ja auch auf der Bühne wild rum und befummelt euch backstage vor aller Augen!“

Rico stand immer noch ungerührt da und schien davon überhaupt nicht beeindruckt zu sein. Ganz im Gegenteil: seine Gelassenheit nahm nicht ein bisschen ab – oder zumindest wirkte es so; er führte sich fast so auf, als würde ihn das alles nicht betreffen. Vielleicht war er aber auch einfach nur ein sehr guter Schauspieler, denn Holly bezweifelte, dass es den Violinisten wirklich derart kalt ließ, dass sie sich mehr oder weniger lauthals stritten. Rico war auch früher schon sehr sensibel gewesen und hatte immer als erstes mitbekommen, wenn irgendetwas bei irgendjemandem im Argen lag… weshalb die meisten Mitglieder der Instanz mit Problemen zu ihm gingen. Zwar war auch Benni diesbezüglich ein guter Ansprechpartner, aber irgendwie hatte Rico so eine beruhigende Art an sich. Auch Holly hatte damals schnell bemerkt, wie gut der Dunkelhaarige zuhören konnte. Doch jetzt erkannte er ihn kaum wieder – schon allein das war Grund genug, daran zu zweifeln, dass sein Verhalten ernst gemeint und nicht nur Fassade war… Doch die Stimme des Violinisten riss ihn aus seinen zweifelnden Gedanken. „Na und? Was geht es dich an? Und außerdem: selbst wenn ich mit ihm geschlafen hätte – was wäre dann?“

„Was mich das angeht?!“ Der Sänger machte einen weiteren Schritt auf Rico zu – diesmal jedoch entschlossen und bestimmt. „Wir sind in einer Band, verdammt! Und wir waren mal sehr, sehr gute Freunde! Reicht das nicht?! Und außerdem interessiert es mich sehr wohl, wen du küsst! Also: was habt ihr da drinnen getrieben?“ So langsam riss bei Holly der Geduldsfaden. Ob das von Ricos Seite nun alles gespielt war oder nicht – er hatte inzwischen ernsthaft Probleme, sich zu beherrschen und seine Wut wurde besonders in der Lautstärke seiner Stimme deutlich. Er wusste nur nicht, wie er Rico noch begreiflich machen sollte, was in ihm vorging, ohne ihn gleich mit seinen Gefühlen zu konfrontieren. Sein Kopf war wie leer gefegt und dennoch herrschte in seinem Herzen ein einziges Chaos. Es war ein Paradoxon, das die Situation nicht gerade leichter machte.

Allerdings schien auch der Violinist allmählich genug zu haben, denn der Sänger bemerkte das kurze Zucken seiner Augenbrauen und auch die Veränderung in seinem Blick. Jetzt schien auch er endgültig gereizt zu sein und stieß Holly von sich weg. „Was soll das? Bist du verrückt geworden?! Ich bin kein Kind mehr, auf das man aufpassen muss! Und selbst wenn, wärst du sicher der letzte für diese Aufgabe!“

Der Sänger machte ob dieses unerwarteten Stoßes ein paar unkontrollierte Schritte nach hinten; er spürte, dass er nun nicht nur im übertragenen Sinne mit dem Rücken zur Wand stand. Zurückgedrängt und durch all die Missverständnisse verunsichert, die in der gesamten letzten Zeit zwischen ihnen entstanden waren, wurde auch seine Stimme wieder leiser. Man konnte sogar die Verunsicherung darin ein wenig hören. Seine Wut war mit einem Mal so schnell verraucht, dass er sich nun kraftlos und verletzlich fühlte. Er hatte genug von dem endlosen Streit; er wollte ihn nur noch beenden. Hier und jetzt, für immer. „Natürlich bist du kein Kind mehr, aber-“

Doch Holly kam nicht einmal dazu, seinen Satz zu beenden, denn er wurde von Rico unterbrochen. Dieser sah ihn nun ebenso wütend an, wie es Holly bis vor wenigen Sekunden noch gewesen war. „Na also, da hast du's! Und ganz nebenbei: das ist mein Leben – damit kann ich ja wohl machen, was ich will!“

Seine Worte waren hart und eindeutig. Und sie trafen Holly tief, denn das war es nicht, was er hatte sagen wollen. „Du verstehst es einfach nicht! Ich mach mir Sorgen um dich, Rico!!“

Es war ein Fehler. Das bemerkte Holly noch im selben Moment, als der Satz über seine Lippen kam, denn nun war Rico eindeutig stinksauer. Seine Stimme bebte leicht und war erfüllt von bitterem Sarkasmus. „Sorgen? Ach ja? Oh, verzeih, dass ich das nicht bemerkt hab. Es hat sich ja nur so angefühlt, als wolltest du mich kontrollieren und mir vorschreiben, was ich darf und was nicht – wie konnte ich das nur mit Sorge verwechseln?!“

Es war wie stechender, beißender Hohn und alle Versuche, sich dagegen zu wehren, blieben erfolglos. Der Sänger schaffte es nicht, die verzweifelte Wut, die nun zurückkehrte, zu unterdrücken. Sich einfach vor den Worten des Violinisten zu verschließen und alles von sich abprallen zu lassen. Zwar wusste er, dass diese Worte – wahrscheinlich sogar ungewollt – Einblicke in das zerstörte Seelenleben des Dunkelhaarigen und dessen mit tiefen Wunden und Narben übersätes Herz gaben. Doch seine Vernunft wurde von seiner Verzweiflung nahezu mühelos ausgeschaltet – es war, als würde er nur noch seinen Instinkte gelenkt werden und nicht mehr selbst handeln.

Ohne es zu merken, hatte Holly ausgeholt, doch als er in die vor Wut funkelnden, herausfordernden Augen des Violinisten sah, hielt er mitten in der Bewegung inne und ließ wie in Zeitlupe seine Hand sinken. Der Blick des Dunkelhaarigen brannte sich in sein Gedächtnis; es war als hätte er ihm stumm entgegen geschrien: „Na los, mach schon! Schlag zu, wenn du dich traust!“ Entgeistert starrte er auf seine Hand, als würde sie nicht zu ihm gehören. Als wäre sie ein Fremdkörper. Der Sänger atmete keuchend, als hätte er einen Sprint hinter sich und begriff nur sehr langsam, was gerade geschehen war. Als ihm dann klar wurde, was er beinahe getan hätte, fing sich alles um ihn herum an zu drehen. Er wollte zurückweichen, prallte mit dem Rücken jedoch gegen die Wand und rutschte an ihr herab. Seine Beine trugen ihn ohnehin nicht mehr. Tränen brannten hinter seinen Augen, als er in sich zusammengesunken vor Rico am Boden saß und ins Nichts starrte. Er konnte einfach nicht glauben, dass das wirklich passiert war.

„Oh Gott… Es… es tut mir so leid, Rico.“ Völlig hilflos schlang er die Arme um seinen eigenen Körper, versuchte, irgendwie Halt zu finden und hatte doch das Gefühl, immer tiefer zu fallen, ohne jemals anzukommen. Ein leichtes Zittern ging durch den Körper des Sängers und seine Schultern bebten, als die erste Träne sich ihren Weg über seine Wange bahnte. Er hatte versucht, sie zu unterdrücken, doch er war nun vollends kraftlos und fühlte sich so unsagbar schwach und verletzlich wie schon seit langem nicht mehr. Auch seine Stimme war mehr ein leises, verzweifeltes Wimmern. Er hatte keine Fehler machen wollen und doch alles falsch gemacht. Ob ihm Rico überhaupt irgendwann vergeben würde? Wahrscheinlich würde er auch nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen… Seine Karriere als Sänger der Instanz war somit wohl endgültig beendet. Doch seine Gedanken waren nur von der einen Tatsache beherrscht: Rico würde ihn hassen und er würde ihn heute wohl das letzte Mal sehen…

„Was denn? Was tut dir leid?“

In seiner Verzweiflung merkte Holly nicht, dass sich die Stimme des Violinisten verändert hatte. Da war keine Wut mehr und auch kein Sarkasmus. Sie klang eher… neutral.

„Alles… Das mit dem Streit… Das mit dem Abend damals… und… Gott, ich wollte dich nicht schlagen, Rico… Das könnte ich einfach nicht.“ Der Sänger biss sich auf die Lippe, um ein Schluchzen zu unterdrücken, während die Tränen nun ungehindert über seine Wangen liefen. Er kam sich so klein und hilflos vor wie ein Kind. Was musste Rico nur von ihm denken? Wollte sich entschuldigen, verursacht stattdessen einen Streit und heult dann herum, als wolle er nur Mitleid erregen. Dabei war das nicht mal die Wahrheit. Mitleid wollte er nicht; das hatte er nicht verdient – schon gar nicht von Rico. Nicht nach allem, was passiert war und was er ihm angetan hatte. „Und ich wollte dich auch nie verletzen…“, fuhr der Sänger dann leise fort. „Ich werde die Band verlassen und dich auch ab sofort für immer in Ruhe lassen… Du hast es nicht verdient, weiter wegen mir leiden zu müssen…“ Die Worte taten weh, denn eigentlich liebte der Autor die Instanz. Hier fühlte er sich wohl und die Zeit mit den Jungs war mit die schönste seines Lebens. Und mehr noch als alles andere liebte er den dunkelhaarigen Violinisten mit seinem süßen Lächeln und den wunderschönen Augen. Doch er hatte es sich selbst zuzuschreiben, wenn er nun gehen musste. Er hatte einfach alles zerstört, was ihm wichtig war. „Aber bitte… Sag mir nur noch, was mit dir los ist. Ich flehe dich an, Rico… Es würde mir keine Ruhe lassen… Ich mach mir doch einfach nur Sorgen um dich… und ich verstehe es nicht. Warum hast du mir nicht wenigstens eine kleine Chance gegeben, vernünftig mit dir zu reden?“ Und leise murmelnd fügte er noch hinzu: „Ich will nicht, dass dieses Gespräch so endet… Und ich möchte wenigstens die Möglichkeit haben, mich ordentlich zu entschuldigen für das, was ich dir angetan habe. Die Fehler, die ich gemacht habe… Denn ich… will dich nicht verlieren.“

Obwohl Holly immer leiser geworden war, hatte ihn der Dunkelhaarige dennoch verstanden. Nachdenklich sah er zu ihm herab, reagierte jedoch nicht sofort. Stattdessen seufzte er. „Was redest du da nur?“, murmelte er so leise, dass Holly es nicht verstand. „Kannst du dir das wirklich nicht denken?“

Der Sänger hatte sich inzwischen zumindest wieder halbwegs unter Kontrolle und sah nun aus geröteten Augen zu ihm auf. Sein fragender Blick machte jede Antwort überflüssig. Er wirkte wie ein Hundewelpen, den man getreten und ausgesetzt hatte.

„Jetzt sieh mich doch nicht so an…“ Vorsichtig kniete sich der Dunkelhaarige vor Holly hin und musterte ihn nach wie vor nachdenklich. Letzterer verfolgte jede Bewegung des Violinisten und nahm zum ersten Mal seit ihrer Auseinandersetzung sowohl die Veränderung seiner Stimme als auch die seines Blickes wahr. Langsam hob Rico eine Hand und legte sie an die Wange des Sängers, der daraufhin die Augen schloss. „Manchmal habe ich das Gefühl, du bist damals wirklich erblindet.“ Mit dem Daumen wischte er eine Träne aus dem Augenwinkel Hollys, der ihn nun reichlich verwirrt ansah.

„Was… meinst du damit?“ Seine Stimme klang ein wenig kratzig und wieder musste er feststellen, dass er das Verhalten des anderen einfach nicht verstand. Er hätte etwas völlig anderes erwartet, doch jetzt schien da wieder der fürsorgliche, warmherzige Rico zu sein, der sich um andere stets mehr kümmerte als um sich selbst. Doch womit hatte er ausgerechnet so einen liebevollen Menschen wie Rico verdient? Die kalte, abweisende Art der letzten Zeit hatte ihm deutlich gemacht, dass er eigentlich keine Berechtigung hatte, mit dem Violinisten befreundet zu sein. Er hatte ihn verletzt und ausgenutzt. Ausgerechnet ihn. Und doch schien der Dunkelhaarige nun überhaupt nicht mehr wütend zu sein. Oder zumindest nahm er es ihm nicht mal mehr halb so übel, was passiert war, wie er bis eben noch angenommen hatte.

„Ich hab das Gefühl, dass du mich manchmal gar nicht mehr richtig wahrnimmst, Holly.“, meinte Rico leise seufzend. Er ließ sich neben den Sänger sinken und lehnte sich ebenfalls an die Wand. Nach wie vor in Gedanken versunken, starrte er an die Decke.

„Aber… ich…“ Nun war Holly endgültig verwirrt. Völlig aus dem Konzept gebracht, sah er den Dunkelhaarigen von der Seite her an, wobei ihm nicht entging, wie wunderschön Rico aussah. Seine weichen Gesichtszüge, die sanfte Haut… Holly hatte Mühe, sich zusammenzureißen und seinen Drang zu kontrollieren, den Violinisten einfach berühren zu müssen. Doch genau danach sehnte er sich in diesem Augenblick mehr als je zuvor. Auch vorher war es schon ziemlich hart gewesen – wenn er nachts wach im Nightliner lag in dem Wissen, dass Rico eigentlich so nah und doch unerreichbar für ihn war, wenn er mit den anderen Jungs durch die Städte bummelte oder im Backstage-Bereich nervös auf den Gig wartete. Wenn er auf der Bühne stand und Lieder über Gefühle sang, die er selbst auf so schmerzliche Weise erfahren hatte.

Doch Holly konnte Rico schlecht die ganze Zeit sehnsüchtig anstarren. Er musste erst einmal seine holprige Antwort zu Ende bringen. „Natürlich nehme ich dich wahr! Du bist für mich immerhin viel mehr als nur irgendein Freund.“

„Aber dennoch übersiehst du das Offensichtliche.“, meinte Rico leichthin. Er schien jedoch nicht gewillt zu sein, genauer in seiner Antwort zu werden.

Holly sah ihn verwirrt an; langsam verstand er gar nichts mehr. Was sollte das nun schon wieder bedeuten? Resigniert seufzend schüttelte der Sänger den Kopf – er kam sich so dumm vor. „Du sprichst in Rätseln, Rico… Was wird das hier? Eine Denksportaufgabe? Lässt du mich so lange raten, bis ich darauf komme, was los ist?“ Langsam ließ er seinen Kopf gegen die Schulter des Violinisten sinken und lehnte sich an ihn. Es tat gut, dem Dunkelhaarigen so nah zu sein und gab ihm Halt; denn irgendwie fühlte er sich einfach ausgebrannt. Er konnte spüren, dass Rico ihn für einige Momente nachdenklich ansah. Doch er sagte nichts. „Das ist ziemlich gemein. Ich weiß in letzter Zeit einfach nicht, was in dir vorgeht. Und du willst ja offensichtlich auch nicht darüber reden.“

Rico schien für einen Moment zu überlegen, wie er darauf reagieren sollte. Oder vielleicht genoss er auch einfach nur die Ruhe, die zwischen ihnen herrschte. Immerhin war es bisher nur kühle Distanz oder Streit gewesen… Kein Wunder also, wenn das auch an Ricos Nerven gezerrt hatte; so etwas ging wohl kaum spurlos an jemanden vorbei, der stets sensibel und gefühlsbetont war. „Siehst du? Genau das habe ich gemeint: du weißt im Grunde momentan nichts über mich – und das obwohl wir uns nun schon seit Jahren kennen.“

„Momentan?“, fragte Holly überrascht. „Da untertreibst du jetzt aber ein bisschen. Immerhin geht das schon so, seit wir damals in der Bar Sotiria kennengelernt haben.“ Langsam schloss er die Augen und glaubte, zu spüren, wie Rico leicht zusammenzuckte, als er den Namen der Sängerin aussprach. Doch er konnte es nicht mit Gewissheit sagen und war auch nicht in der Lage, weiter darüber nachzudenken. Nicht jetzt.

Wieder herrschte eine Weile Schweigen zwischen den beiden Mitgliedern der Instanz. Dann räusperte sich der Violinist; seine Stimme klang irgendwie hohl – als würde er sich bemühen, neutral zu klingen. „Es überrascht mich, dass du dir dessen so genau bewusst bist, aber mein Verhalten ansonsten kein bisschen verstehst.“

Holly sah auf und betrachtete Rico nachdenklich. Was war denn auf einmal mit ihm los? Hatte er es sich nicht nur eingebildet, dass er auf Sotiria irgendwie seltsam reagierte? Doch der Sänger sagte nichts weiter dazu; er wollte, dass Rico es entweder von sich aus erzählte oder ihm zumindest einen konkreteren Hinweis gab. Und er hatte das Gefühl, dass er dies am ehesten erreichen würde, wenn er einfach abwartete.

Als hätte er Hollys Gedanken gelesen, seufzte der Dunkelhaarige. „Ich möchte dir etwas erzählen. Wenn du es danach immer noch nicht begreifst, kann ich dir wirklich nicht mehr helfen, Holly.“ Er machte eine kurze Pause, wie um nach den richtigen Worten zu suchen. „Dieser Song, den du mit Eisblume singst… Blind… ich habe ihn bereits gelesen, bevor du der restlichen Instanz davon erzählt hast.“

Diese Aussage war für Holly ein Schock. Ein einziger Satz, der alles veränderte. Sein Denken war einmal mehr an diesem Tag vollends lahmgelegt; er konnte sich nicht einmal rühren. Eigentlich wollte er etwas erwidern, doch dazu fehlten ihm die Worte. Der Sänger wusste einfach nicht, was er sagen sollte. Völlig entgeistert starrte er seinen Bandkollegen an, der sich daran nicht wirklich zu stören schien. Er schaute ins nichts und fuhr mit neutraler, fester Stimme fort.

„An dem Tag, als wir Ria in besagter Bar kennengelernt haben, fand ich beim Packen einen Zettel in deinem Schlafzimmer. Du standest unter der Dusche… und ich war neugierig. Also hab ich ihn gelesen… Dieser Song, er…“ Wieder schien Rico kurz abzuwägen, was er sagen sollte. „Er hat mir Hoffnung gemacht. Hoffnung auf etwas, das ich mir nie zu wünschen gewagt habe… Doch bevor ich den Mut aufbrachte, mit dir darüber zu reden, hast du mit einer einzigen Frage – ohne es selbst zu bemerken – all meine Hoffnung wieder zerstört… In diesem Moment brach meine Welt in sich zusammen. Denn ich hatte es gewagt, etwas zu begehren, dessen ich mir eigentlich hätte bewusst sein müssen, dass es niemals funktionieren, mir niemals gehören würde…“ Langsam drückte sich Rico von der Wand ab und stand auf. Auf seinen Lippen bildete sich ein trauriges Lächeln, während die Erkenntnis, was das alles bedeutete, langsam in Hollys Bewusstsein eindrang.

Dennoch brauchte er lange, um es zu verarbeiten. Konnte es wirklich sein, dass…? Er wagte es nicht, diesen Gedanken auch nur im Geiste zu Ende zu formulieren. Und doch wollte er nichts mehr, als die Wahrheit zu erfahren. Egal, wie diese aussehen würde – er musste es wissen. „Rico… du…“ Doch die Worte wollten nicht so recht zusammenpassen. Der Sänger war so durch den Wind durch das, was er gerade gehört hatte, dass er nicht klar denken, geschweige denn vernünftig reden konnte. „Deine Gefühle… der Grund für dein Leid… Kann es- kann es sein, dass…“ Doch er brachte diesen einen Satz einfach nicht über die Lippen. Diese eigentlich so einfache Frage, die er sich jahrelang untersagt hatte. Nun verfluchte er sich innerlich dafür; hätte er nur früher all seine Vernunft zum Teufel gejagt! Vielleicht hätte es ihnen so viel Schmerz ersparen können.

Rico sah indes über seine Schulter zu Holly. Seine Augen waren matt und glanzlos, wie dem Sänger nun auffiel. Seit wann hatten sie ihren lebendigen Schimmer schon verloren? Und warum war ihm das bisher entgangen? Inzwischen waren die Augen des Violinisten nur noch ein Ozean aus traurigen Erinnerungen; doch scheinbar hatte Rico bereits mit diesem Thema abgeschlossen und es endgültig aufgegeben. Ihn endgültig aufgegeben. Diese Erkenntnis traf den Sänger mitten ins Herz. Unbewusst fasste er sich an die Brust, denn diese zog sich nun wieder schmerzhaft zusammen.

„Ja, es ist wahr. Ich liebe dich, Holly… mehr als alles andere auf der Welt.“ Der dunkelhaarige Violinist wandte den Blick wieder ab und sah nach wie vor traurig lächelnd zu Boden. „Ich konnte es nicht ertragen, so von dir verletzt zu werden. Auch wenn du dir dessen nicht im Geringsten bewusst warst.“ Sein Blick wanderte unstet hin und her, doch er schien nicht wirklich etwas wahrzunehmen. „Im ersten Moment habe ich dich dafür sogar gehasst – ich war wütend und enttäuscht. Und als du dann auch noch ganz unbedarft gefragt hast, ob alles okay sei, konnte ich nicht anders, als dir eine runterzuhauen… Im Nachhinein habe ich mich dafür natürlich selbst am meisten gehasst; du konntest ja nichts dafür. Aber ich habe es auch gehasst, diesen Song zu spielen. Denn aus meiner Sicht warst du derjenige, der einfach nur blind war. Es lag mit wenigen Ausnahmen alles vor dir – all die Antwort, all die Zusammenhänge. Du hättest sie theoretisch so leicht erkennen können… Doch du hast es einfach nicht gesehen.“ Leise seufzte er, drehte sich wieder zu Holly und kniete sich erneut vor ihn. „Natürlich tut mir das mit deiner Wange leid. Ich hoffe, sie hat nicht allzu sehr wehgetan und du verzeihst mir diesen Ausrutscher.“ Vorsichtig strich er über die einst gerötete Wange und lächelte ein wenig verträumt, als wäre er in Erinnerungen an schönere Zeiten versunken. Der Sänger sah ihn währenddessen immer noch aus großen Augen an und konnte kam glauben, was er da hörte. Es dauerte lange, bis er es endgültig realisiert hatte, was hier gerade geschah. „Ich wollte dich nicht schlagen, doch ich hatte mich nicht mehr im Griff. Das tut mir wirklich leid, Holly. Von Herzen. Bitte glaub mir das. Aber ich hatte trotz allem die Hoffnung, dass du dadurch wenigstens zur Vernunft kommen würdest. Dass du vielleicht endlich verstehen würdest, dass mit mir absolut gar nichts in Ordnung war. Natürlich war mir klar, dass ich es dir ziemlich schwer gemacht hab, überhaupt mit mir zu reden, aber nachdem auch Benni der Meinung war, dass du ein ziemlicher Blindfisch bist, konnte ich nicht anders. Wenn sogar er mitbekam, was los war, dann müsstest du es doch auch sehen. Vielleicht kenne ich Benni inzwischen länger als dich, aber ich habe zu dir immer schon das engere Verhältnis gehabt.“ Er sah dem Sänger noch wenige Sekunden lang direkt in die Augen, dann erhob er sich vorsichtig und atmete geräuschvoll aus. Es schien, als sei eine große Last von seinen Schultern gefallen.

„Aber… aber…“ Langsam sickerte die gesamte Wahrheit in Hollys Bewusstsein. Nachdem er halbwegs seine Sprache wiedergefunden hatte, sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. Er hätte nicht einmal sagen können, ob sie so Sinn ergaben, doch es war ihm egal. Er wollte nur, dass auch Rico endlich wusste, was in ihm vorging. All die Zeit, all die Jahre schon. Etwas ungeschickt stand er auf und packte den Violinisten am Handgelenk. Dieser zuckte ob der unerwarteten, plötzlichen Berührung zusammen, wehrte sich jedoch nicht dagegen. Auch nicht, als der Sänger ihn in seine Arme zog und ihn festhielt. „Nein, Rico, du musst dich nicht entschuldigen… viel mehr tut es mir leid. Ich war derjenige, der dich immer wieder verletzt hat und hab es noch nicht mal richtig bemerkt. Ich war wirklich blind und ziemlich dumm. Doch daran ist hauptsächlich meine Angst schuld. Ich wollte nicht, dass du angewidert von mir bist und hatte Schiss, dass du mich abweisen würdest. Ich wusste, dass es dann für mich vorbei wäre – ich meine, ich hätte dann nicht mehr in der Instanz bleiben können. Immerhin warst du von Anfang an dabei, ich dagegen…“ Er ließ den Satz unbeendet, da er keine Ahnung hatte, wie er ihn sinnvoll formulieren sollte und jetzt auch nicht die Muße hatte, über dieses Thema zu philosophieren. Rico verstand ihn mit Sicherheit auch so. „Deswegen habe ich dir nie gesagt, was ich fühle und jede Vermutung meines Verstandes, dass du auch mehr für mich empfinden könntest, im Keim erstickt. Bitte verzeih mir. Aufgrund meiner Feigheit musstest du so lange leiden… Und das auch noch grundlos.“ Er löste sich ein kleines Stück von Rico, um ihm in die Augen sehen zu können. Dieser sah nun verwirrt und ein wenig überrascht drein. Scheinbar schien er langsam zu erahnen, worauf dieses Gespräch hinauslief. „Ich wollte dich immer vor Schmerzen bewahren und dich beschützen, weil…“ Er stockte. Die Worte, die er sich so lange verboten hatte, nun doch aussprechen zu können, war wie ein Traum und doch irgendwie seltsam. „…weil ich dich liebe, Rico.“, hauchte er sanft. „Ich wollte immer nur dein Glück.“

„… Aber mein Glück bist du.“ Die Stimme des Violinisten war brüchig. Er schien den Tränen nahe zu sein.

Ohne weiter darüber nachzudenken, verschloss Holly Ricos Mund mit seinen Lippen. Vorsichtig, fragend. Dieser war im ersten Moment ein wenig überfordert mit der Situation und hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Seine Welt drehte sich um ihn herum. Halt suchend klammerte er sich an Hollys T-Shirt fest, der ihn daraufhin noch enger an sich drückte. Eine Hand war um die Taille des Dunkelhaarigen geschlungen, die andere lag in dessen Nacken. Genießerisch schloss Rico daraufhin die Augen und ging zärtlich auf den Kuss ein. Holly verstand dies als Aufforderung und wurde sogleich leidenschaftlicher. All die Zeit, die er darauf verzichten musste und nur davon träumen konnte, machte sich nun bemerkbar. Sanft strich er mit der Zunge über die Lippen des Violinisten, der den Mund leicht öffnete. Ihre Zungen spielten wild und neckisch miteinander, als hätten sie nie etwas anderes getan und wurden immer leidenschaftlicher. Alles um sie herum war in diesem Moment vergessen.

Erst nach einer wunderschönen Ewigkeit lösten sie sich wieder voneinander. „Ich liebe dich, Rico.“, hauchte Holly, der etwas außer Atem war und lächelte liebevoll. Er strich dem Jüngeren über die Wange und küsste ihn auf die Stirn. „Und das mit dem Song… das tut mir leid. Eigentlich war er dir gewidmet… und natürlich auch ein wenig den Erfahrungen, die ich durch den Unfall gemacht hab. Aber ich konnte dich schlecht als zweiten Gesangspart nehmen. Du spielst immerhin Geige, machst auch sonst nirgends die Backing Vocals und…“ Er zögerte kurz und errötete leicht; aber jetzt konnte er es ja sagen. „Ich hab im Internet diverse Gerüchte gelesen. Einige Mädels scheinen es sehr… interessant zu finden, wie nahe wir uns doch stehen und na ja… Es gibt inzwischen sogar Wallpapers und Stories über uns beide.“

Ungläubig sah der Violinist Holly an. „Und deswegen hast du dir wirklich Sorgen gemacht? Ich wusste doch, dass ich den zweiten Part niemals singen konnte. Mir ging es ja nur darum, dass du jemanden gefragt hast, den du gerade erst kennengelernt hast. Dazu noch jemanden, der vorher nichts mit der Instanz zu tun hatte.“ Nun lächelte auch er wieder – sanft und warmherzig. Das erste Mal seit dem Abend, als er Holly geschlagen hatte. „Und solche Gerüchte gibt’s doch zu fast allen Bands. Wenn sie nur ein bisschen Erfolg haben und es ein paar verrückte Fans gibt, gibt’s auch Geschichten und manipulierte Bilder. Du weißt doch: das Internet ist dahingehend sehr vielfältig und bewertet nichts und niemanden.“

Ehe der Sänger jedoch etwas erwidern konnte, kam Benni um die Ecke. „Kommt ihr beiden nun endlich mal oder wollt ihr da noch ewig rumturteln? Wir warten schon alle auf euch.“ Er war nicht wirklich böse, klang aber dennoch ungeduldig.

Etwas panisch sah Holly den Cellisten an, der nur eine Augenbraue hob und Rico fing an, zu lachen. „Keine Sorge. Benni ist der Letzte, der das zwischen uns nicht mitgekriegt hat.“ Beruhigt atmete der Sänger auf und ging zusammen mit dem Violinisten zu den anderen.

Endlich schien die Zukunft ein Ende ihres gemeinsamen Leids zu bedeuten…



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