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Blind

Holly x Rico
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
~ Die Erinnerungen sind das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden kann. ~ Komplett anzeigen

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Kapitel 3: Memories & Tears

Rico blieb solange still in seinem Schlafzimmer stehen, bis er die Tür ins Schloss fallen hörte. Erst dann rührte er sich und ging langsam, wie in Trance, zum Fenster. Er sah noch, wie Holly in seinen Wagen stieg und losfuhr. Doch selbst, als die Scheinwerfer des Autos schon längst in der Dunkelheit der Nacht verschwunden waren, löste sich seine Starre nicht. Ihm wirbelten tausende Gedanken durch den Kopf, die ein solches Chaos verursachten, dass er nicht mal einen einzigen klaren Gedanken fassen konnte. Nur diese unterschwellige Sorge, dass Holly etwas zustoßen würde und er ihn hätte aufhalten sollen, wurde der Violinist einfach nicht los. Immer wieder versuchte er sich einzureden, dass der Sänger ihm in ca. zwei Stunden sicher eine kurze SMS schreiben und sich herausstellen würde, dass seine Bedenken völlig unnötig waren.

Nach einer Weile seufzte der dunkelhaarige Violinist und schüttelte den Kopf, um endlich dieses Chaos aus Gedanken und Gefühlen loszuwerden, doch es half nicht. Da er wusste, wie wenig Sinn es hätte, sich jetzt ins Bett zu legen, beschloss er, es Holly gleichzutun und duschen zu gehen. Als er in das noch feucht-warme Bad kam, bemerkte er als erstes einen Duft, der ihm in die Nase stieg. Er war nur schwach wahrzunehmen und doch präsent. Es war Hollys Geruch. Wieder seufzte der Violinist, diesmal lautlos. Einerseits fand er es angenehm, dass er den Sänger hier riechen konnte; andererseits war es nicht unbedingt förderlich für seinen Gefühlszustand… Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, denn er konnte die bis vor kurzem andauernde Anwesenheit Hollys regelrecht spüren. Wie von einem unsichtbaren Bann gefesselt, stieg Rico langsam, fast schon apathisch in die Dusche. Als ihm das Wasser über den Körper rann, durchzuckte ihn immer wieder dieser süße Schmerz, den er nur zu gut kannte. Er spürte ihn jedes Mal, wenn er allein war, nachdem er mit Holly geschlafen hatte. Er liebte es, von dem Sänger genommen zu werden, ihn so nah bei sich zu spüren. Seine Küsse, seine Leidenschaft, seine Berührungen – einfach alles schürte das Feuer seines Verlangens nach Holly. Er wünschte sich ein ums andere Mal, dass diese Momente nie vergehen würden, dass er ihm für immer so nah sein könnte. Doch jedes Mal musste er einsehen, dass dies nur ein kindischer, naiver Traum war – nichts weiter. Er liebte Holly. Doch das wusste der Sänger nicht – und das war auch gut so. Denn er wollte diese Nähe zwischen ihnen nicht zerstören. Aber dennoch wusste er nicht, wie lange er das noch aushalten würde…

Langsam schloss er die Augen und senkte den Kopf. Doch plötzlich hatte der Dunkelhaarige das Gefühl, in eine bodenlose, unendliche Tiefe zu fallen und schlang seine Arme um seinen Körper, fast wie um sich selbst festzuhalten. Obwohl das Wasser und auch die Raumtemperatur angenehm warm waren, zitterte Rico. Sein schlanker Körper erbebte immer wieder, seine Schulter zuckten in unregelmäßigen Abständen. Und nun vermischte sich das Wasser, welches ihm übers Gesicht lief, mit seinen Tränen. Er konnte und wollte nicht gegen sie ankämpfen, denn es wäre ein aussichtsloser Kampf, der nicht von Erfolg gekrönt wäre. Für den Moment spülten sie den Schmerz wenigstens zum Teil aus seinem Herzen und seiner Seele fort und ließen ihn meist völlig ausgelaugt und erschöpft zurück. Nicht selten war dies der einzige Weg für Rico, überhaupt einschlafen zu können – zumindest wenn er allein war… Zwar sank er dann entweder in einen scheinbar traumlosen, aber dennoch unruhigen oder aber in einen von Alpträumen und Ängsten geplagten Schlaf, was beides nicht besonders erholsam war. Doch es war auch immer noch besser, als gar nicht zu schlafen.

Heute jedoch würde er keine Ruhe finden, bis er von Holly irgendeine Nachricht bekommen hatte, dass alles in Ordnung war. Und mit genau diesen Aussichten, dem Schmerz und der Sorge kämpfte der Violinist, während immer mehr Tränen über seine Wangen liefen und mit dem Wasser vermischt auf den Boden der Dusche tropften. Würde er dieses Gefühl der Hilflosigkeit und des Schmerzes nicht schon allzu genau kennen, wäre er wohl – wie viele Male zuvor – unter der Last seiner Emotionen zusammengebrochen und in die Knie gegangen. Doch inzwischen schaffte er es irgendwie, dabei aufrecht stehen zu bleiben.

Erst als der Tränenstrom langsam abebbte und Rico leise schniefend nach dem Duschgel griff, machte er auch das Wasser wieder aus. Seine Haut war schon ganz aufgeweicht und schrumpelig. Mit flinken Fingern seifte er sich ein und duschte sich danach schnell ab, denn er hatte das dringende Bedürfnis, endlich dieser beengten Duschkabine, der schwül-warmen und feuchten Luft des Badezimmers und dem Wasserstrahl zu entkommen, der seine Haut noch weiter aufweichte. Rico hasste es, wenn er so schrumpelige Finger hatte – zwar war es manchmal sehr entspannend, etwas länger unter der Dusche oder in der Badewanne zu bleiben. Aber trotzdem beeilte er sich nun. Als er endlich, mit einem Handtuch um die Hüfte gewickelt, der Tropenlandschaft des Bades entkam, fühlte er sich gleich etwas besser. Frischere Luft und vor allem nicht dieses Gefühl des eingeengt seins.

Der Violinist atmete einmal tief durch, ehe er sich wieder anzog und sich dann nach einer passenden Beschäftigung umsah – irgendwas, das ihn ausreichend ablenkte und ihn für eine Weile beschäftigen würde. Leider trat ein, was er befürchtet hatte: wie schon an dem Abend, als Holly angekündigt hatte, zu ihm zu kommen oder sich zumindest dazu hatte überreden lassen, war der Versuch, zu lesen, nicht gerade erfolgreich und auch im Fernsehen kam um diese Zeit nichts Spannendes. Billige Pornos und irgendwelcher Mist, den sich sowieso niemand ansah. Dennoch blieb Rico noch kurz auf der Couch liegen, als er den Fernseher wieder ausgeschaltet hatte. Dieser Moment genügte jedoch, um einzudösen. Holly hatte eben doch nicht ganz Unrecht gehabt: er sah nicht nur müde aus – er war es auch. Sein Körper merkte deutlich, dass sie es zwei Stunden lang wild und leidenschaftlich miteinander getrieben hatten. Und auch wenn die Sorge um Holly immer noch nicht verschwinden wollte, ebenso wenig wie das Chaos in seinem Kopf und der Schmerz aufgrund seiner Gefühle für den Sänger, so brauchte er dennoch ein bisschen Ruhe.

Allerdings hielt auch diese nicht lange, denn als Rico wieder erwachte oder besser gesagt: hochschreckte, war kaum eine halbe Stunde vergangen. Seufzend setzte sich der Violinist auf, wuschelte sich durch die inzwischen fast trockenen Haare und schüttelte den Kopf, um die Müdigkeit abzuschütteln und wieder richtig wach zu werden. Mit einem Blick zur Uhr stellte er fest, dass Holly inzwischen etwa eine Stunde unterwegs war. Das bedeutete, er hatte in etwa die Hälfte des Weges hinter sich… wenn nichts dazwischen kam. Doch diesen Gedanken verscheuchte Rico sogleich wieder – er wollte sich keine unnötigen Sorgen machen, auch wenn er diese innere Unruhe immer noch nicht ganz abschütteln konnte. Langsam erhob er sich und ging in die Küche. Vielleicht sollte er noch etwas essen, immerhin war seine letzte Mahlzeit eine ganze Weile her und momentan wäre er eh kaum in der Lage, Hunger zu verspüren. Dazu war sein Empfinden viel zu sehr von der allgegenwärtigen Sorge, von Holly und seinem Gefühlschaos beherrscht. Rico fühlte sich regelrecht benommen. Grübelnd schaute er in den Kühlschrank und beschloss schließlich, sich einfach nur ein Brot zu machen. Auch davon würde wieder etwas Zeit verstreichen. Also setzte er sich sogar ordentlich mit seinem Mitternachtsmahl an den Tisch und kaute langsam auf seiner Scheibe Brot herum. Rico dachte dabei die meiste Zeit an Holly – wie er ihn kennen und lieben gelernt hatte, wie sie gemeinsam lachten, ihre erste Tour, die ersten gemeinsamen Songs, ihr erster Kuss… und schließlich die stille Übereinkunft, dass sie „Freunde mit gewissen Vorzügen“ waren. Fuck Buddies. Freunde mit speziellen Extras. Wie immer man es nennen wollte.

Als Rico aufgegessen hatte, saß er noch ein paar Minuten schweigend am Tisch, lauschte der leisen Musik aus dem Radio in der Küche und schweifte gedanklich in die Vergangenheit ab. Er genoss diese Erinnerungen an all die schönen, gemeinsamen Zeiten mit Holly, Benni und den anderen der Letzten Instanz. Doch dann erhob er sich seufzend. Bald musste die Nachricht von Holly kommen; der Dunkelhaarige sah zum wahrscheinlich tausendsten Mal in dieser Nacht auf sein Handy, das er die ganze Zeit bei sich trug, seit er aus dem Bad gekommen war. Doch nach wie vor zeigte es weder entgangene Anrufe, noch SMS oder sonst irgendwas neues. Laut ausatmend ließ er es wieder in die Tasche seiner Jogginghose gleiten, brachte seinen Teller zurück in die Küche und überlegte, was er jetzt noch machen sollte. Doch seine Gedanken schweiften immer wieder zu Holly. Er konnte an nichts anderes denken; also beschloss er, sich oben aufs Bett zu legen und abzuwarten. Was sollte er auch tun, wenn er sich nicht mal aufs Nachdenken konzentrieren konnte?

Oben angekommen warf er sich, ohne Rücksicht auf das ziemlich verwühlte, unordentliche Bettzeug, einfach auf sein Bett und rollte sich auf die Seite. Er schluckte; sein Hals fühlte sich trocken an, obwohl er gerade noch etwas getrunken hatte. Der Blick des Violinist glitt wie von selbst und ohne dass er etwas dagegen tun konnte, zu seinem Wecker. In zehn Minuten wären ungefähr zwei Stunden um… was bedeuten würde, dass Hollys Nachricht wirklich bald ankommen müsste. Doch Rico wusste aus Erfahrung, dass diese zehn Minuten für ihn zu einer quälenden Ewigkeit werden würden – wenn es denn überhaupt „nur“ zehn Minuten waren. Vielleicht gab es irgendwo Stau oder eine Straßensperrung und Holly würde später ankommen, als eigentlich geplant. Dann würde für den Dunkelhaarige eine Zeit des ungeduldigen Wartens beginnen, eine Zeit, in der er durch die Hölle gehen würde. Und das wusste er. Nur zu gut. Es war nicht das erste Mal, dass er in solch einer Situation steckte und die Qual der Ungewissheit durchleiden musste.

Der Violinist biss sich auf die Unterlippe, als er erneut ein Brennen in den Augen spürte und versuchte diesmal, die Tränen zu unterdrücken, was ihm jedoch redlich misslang. Wieder bildeten sich kleine Tropfen in seinen Augenwinkeln, die langsam größer wurden und dann wie kleine Perlen über sein Gesicht rannen. Flüssige, salzige Perlen, die im Licht des Vollmondes schwach glitzerten, das durchs Fenster hereinschien. Wieder schluckte Rico. Doch jetzt, da der Damm eh gebrochen war, ließ er es einfach geschehen. Noch ein paar vereinzelte Tränen folgten, ehe der plötzliche Sturm in seinem Herzen sich wieder gelegt hatte und er sich einfach nur noch ausgebrannt fühlte. Als er die Augen schloss, spürte er, wo die Tränen sich ihren Weg über sein Gesicht gebahnt hatten und sah vor seinem geistigen Augen einen Scherbenhaufen, den er als seine Gefühlswelt erkannte.

„Holly…“ Es war ein leises, verzweifeltes Schluchzen, doch mehr brachte Rico nicht hervor. Der Name des Sängers schwebte im Raum und schien noch lange nachzuhallen, auch als die brüchige Stimme des Violinisten schon längst verklungen war.

Es dauerte noch eine Weile, ehe sich Rico wieder gefasst hatte und es wagte, die Augen wieder zu öffnen. Doch automatisch wurde sein Blick wieder auf den Wecker gelenkt, als zöge er ihn magisch an. Und was Rico sah, gefiel ihm nicht: Holly müsste eigentlich jeden Moment zu Hause ankommen. Mit anderen Worten: er müsste sich auch jeden Moment bei ihm melden.

Doch es kam nichts – keine Nachricht, kein Anruf, einfach nichts.

Konnte er es vergessen haben?

Aus einer unbestimmten Überzeugung heraus war sich Rico absolut sicher, dass Holly es nicht vergessen hatte. Das nicht. Doch leider war er immer noch nicht davon überzeugt, dass seine Sorge unberechtigt war… Kurz entschlossen, holte er sein Handy hervor, setzte sich auf und drückte die Schnellwahltaste für Hollys Nummer. Es klingelte. Doch niemand nahm ab; auch nach dem siebten Klingeln nicht. Skeptisch die Augen zusammenkneifend legte Rico auf. Es war immer noch möglich, dass Holly seine Freisprecheinrichtung nicht am Handy hatte und immer noch unterwegs war. Doch dieser Gedanke beruhigte ihn in keinster Weise.

Der Violinist erhob sich nun ganz vom Bett und lief unruhig im Zimmer auf und ab, ehe er es wenige Minuten später noch einmal versuchte. Vielleicht war Holly gerade im Bad oder hatte es doch einfach vergessen und nur sein Handy nicht gehört. Selbst in seinen Ohren klang das nicht besonders überzeugend – doch er brauchte irgendeine Erklärung dafür, warum der Sänger auch dieses Mal nicht ans Telefon ging. Schließlich beschloss Rico, sich einen beruhigenden Tee zu machen. Vielleicht half wenigstens das oder vielleicht würde er davon müde werden. Eine schwache Hoffnung zwar, aber besser als gar keine.

Nachdenklich und von seiner inneren Unruhe getrieben, ging er wieder in die Küche und während das Wasser anfing, zu kochen, lief er im Erdgeschoss unstet hin und her. Er fühlte sich wie ein Tiger im Käfig. Nachdem er die Tasse Tee mit ins Wohnzimmer genommen und sich aufs Sofa gesetzt hatte, begann erneut das, was er am meisten hasste: das Warten und die dadurch nur noch verstärkte Ungewissheit. Ungeduldig wippte er mit dem Fuß zu einem nicht vorhandenen Takt auf und ab, während er darauf wartete, dass sein Tee eine trinkbare Temperatur annahm und sein Handy ihm mitteilen würde, dass er eine Nachricht von Holly bekommen hätte. Doch letzteres war selbst dann noch nicht eingetreten, als die Teetasse Ricos bereits leer und wieder in der Küche war. Langsam wurde Rico immer unruhiger, seine dunkle Vorahnung bestätigte sich zunehmend und als Holly sich nach knapp einer halben Stunde immer noch nicht gemeldet hatte, rief er bei ihm zu Hause an. Es war ihm egal, ob er den Sänger weckte, falls dieser es wirklich vergessen und nur sein Handy nicht gehört hatte. Dann wäre er doch selbst schuld. Außerdem machte sich Rico nur Sorgen – Holly hatte ihm versprochen, sich zu melden. Und ein Versprechen brach er für gewöhnlich nie.

Doch auch beim Festnetzanschluss ging nur der Anrufbeantworter ran und Rico verspürte einen schmerzhaften Stich in der Brust, als er erneut Hollys Stimme auf dem Band hörte. Wie auch schon bei seinen beiden vorigen Anrufen auf Handy hinterließ er eine kurze Nachricht mit der Bitte, dass sich Holly sofort melden solle, wenn er das hörte und der Erklärung, dass er sich aus unerfindlichen Gründen einfach Sorgen machte. Rico ahnte jedoch nicht, dass er dazu auch wirklich allen Grund hatte…

Der Violinist ging wieder ins Schlafzimmer und versuchte, die düsteren Gedanken zu vertreiben. Unruhig wälzte er sich im Bett hin und her, sah alle paar Minuten, wie es ihm vorkam, auf die Uhr und wartete auf irgendeine Nachricht von Holly. Zwischenzeitlich glitt er immer wieder in einen Halbschlaf mit wirren Träumen, in denen es zumeist um den Sänger ging; der Sex und die vielen schlaflosen oder zumindest unerholsamen Nächte der vergangenen Zeit forderten ihren Tribut. Gleichzeitig wollte sein Kopf jedoch nie gänzlich abschalten und so hielt die Sorgen ihn – mehr oder weniger – wach. Wenn er jedoch wegnickte, schreckte er schon nach wenigen Minuten wieder hoch, teilweise mit kaltem Schweiß auf der Stirn. Oder er hörte den Nachhall eines Schreis, den er entweder als seinen eigenen identifizierte oder als einen, der nicht real war. Einen, der in seinem Traum ausgestoßen wurde und ihm immer noch in den Ohren klang, als hätte man ihn tatsächlich angeschrien.

Als es irgendwann anfing, zu dämmern, quälte sich Rico wieder aus dem Bett. Er hatte wirklich kaum geschlafen und fühlte sich wie gerädert. Eigentlich wusste er nicht mal, warum er aufstand; doch liegen konnte er inzwischen auch nicht mehr. Er spürte jeden einzelnen Knochen, jeden Muskel in seinem Körper. Sie waren steif und unbeweglich und sein Rücken schmerzte, als hätte er stundenlang in nicht besonders rückenfreundlicher Haltung vor dem PC gesessen. Ziemlich verschlafen und ohne so recht zu wissen, was er tat oder warum, ging er in die Küche, um sich ein Glas Wasser zu holen. Während er an der Küchenzeile lehnte, löste sich seine Benommenheit allmählich und er wurde wieder klarer im Kopf. Zumindest soweit, dass er sich wieder orientieren und an die letzte Nacht erinnern konnte. Das war jedoch nicht unbedingt angenehm, denn seine Sorge kehrte gleich doppelt so heftig zurück und sein Herz verkrampfte sich schmerzhaft. In seinem Kopf herrschte derweil immer noch das Chaos aus Gedanken und Gefühlen, doch es hatte etwas nachgelassen, da Rico von der einzigen, für ihn wichtigen Frage beherrscht wurde: Ging es Holly gut?

Wie von selbst griff er abermals zum Telefon und rief nacheinander auf Handy und Festnetz an. Doch wieder ertönte Hollys Stimme nur auf dem Band der Mailbox. Der Violinist musste sich zusammenreißen, um nicht vor Wut sein Handy in irgendeine Ecke zu feuern. Doch er wusste, dass es nichts bringen würde – außer dass er sich wohl ein neues kaufen oder seins zur Reparatur schicken müsste… Um sich abzulenken, ging er ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Die Moderatorin, die auf dem Bildschirm erschien, entschuldigte sich gerade für die Unterbrechung des Programms aufgrund einer Sondermeldung. Rico gab ein undefinierbares Geräusch von sich und wollte gerade umschalten, da er keine Lust auf irgendwelche Horrormeldungen hatte – wahrscheinlich hatte es in der Nacht irgendwo einen Großbrand oder ein Zugunglück gegeben und der Dunkelhaarige machte sich auch ohne solche Szenarien schon genug Sorgen. Doch dann sagte die Sprecherin etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte und er ließ die Fernbedienung wieder sinken, während er, wie gebannt, auf die Mattscheibe starrte. Es ging nicht um irgendeinen Brand oder ein Zugunglück. Auch nicht um einen Flugzeugabsturz oder irgendetwas Politisches. Nein. Es ging um einen Autounfall. Auf der Autobahn, die von Dresden nach Berlin verlief. Und die Holly immer nahm, wenn er Rico besuchte.

Ganz langsam, regelrecht tröpfchenweise sickerten die Informationen der Meldung in sein Gehirn und dieses begann nun immer schneller werdend zu arbeiten. Als Bilder von den Autowracks gezeigt wurden und ein Reporter vor Ort Bericht erstattete, saß Rico stocksteif auf seiner Couch. Wie erstarrt sah er aus schreckgeweiteten Augen auf den Bildschirm. Es waren mehrere PKWs und sogar ein Kleintransporter in den Unfall verwickelt gewesen. Alle Farbe war aus dem Gesicht Ricos gewichen, er war nun weiß wie eine Wand. Denn als der Reporter, bevor er zum Unfallhergang kam, sagte, wann es passiert war, glaubte der Violinist, man würde seine ganze Welt erst auf den Kopf stellen und ihm dann den Boden unter den Füßen wegreißen. Das war in etwa die Zeit, zu der auch Holly an diesem Abschnitt der Autobahn gewesen sein müsste, wenn er ganz normal durchgekommen war und seine gewohnte Strecke genommen hatte. Er wollte schon aufstehen und zu seinem Telefon stürzen, als sich plötzlich alles um ihn drehte. Er war noch nicht einmal ganz hochgekommen, da sank er schon wieder, wie betäubt, zurück und kippte unkontrolliert zur Seite auf die Couch. Der Schlafmangel, die Panik, die Sorge und der Schock hatten ihren Preis und das machte ihm sein Kreislauf nun sehr deutlich. Doch nach einigen Momenten fing der Violinist sich wieder und schüttelte immer noch leicht benommen den Kopf, nachdem er sich vorsichtig aufgesetzt hatte. Diesmal wartete er kurz, bis der Raum um ihn herum sich aufgehört hatte, zu drehen und erhob sich dann sehr langsam. Ihm wollte das Bild der Unfallfahrzeuge bzw. dessen, was noch von den Autos übrig war, nicht aus dem Kopf. Der eine Wagen… er sah genauso aus wie der von Holly. Und der Teil, der vom Nummernschild noch zu erkennen gewesen war, stimmte auch überein.

Gott! Konnte es womöglich sein, dass Holly…?

Doch Rico schüttelte heftig den Kopf. Nein! So durfte er nicht denken. Wenn er Holly so leicht aufgeben würde – was würde der Sänger dann von ihm halten? Es war doch noch gar nicht sicher, ob Holly wirklich in den Unfall verwickelt war. Vielleicht war es ja nur Zufall und seine Einbildung hatte Rico einen bösen Streich gespielt. Zitternd stand er im Wohnzimmer und spürte, wie seine Augen anfingen, zu brennen. Die ersten Tränen sammelten sich darin und liefen ihm schon wenige Augenblicke später über die Wangen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass seine dunkle Vorahnung ihn genau davor hatte warnen wollen… und er hatte es als überflüssige Sorge abgetan, die vollkommen unbegründet war! Er hatte ja nicht mal richtig den Versuch unternommen, Holly aufzuhalten. Der Violinist ging mit bebenden Schultern in die Knie und schluchzte leise; er kam sich in diesem Moment so schwach und verletzlich vor. Und gleichzeitig so dumm. Er hätte auf die Warnung seiner Intuition hören sollen. Wie hatte er das nur zulassen können? Warum nur?

Ohne eine Bestätigung oder einen wirklichen Beweis zu haben, wusste er, dass Holly deshalb nicht an sein Telefon gegangen war. Er konnte es nicht.

Und Rico wollte es nicht wahrhaben. Der Gedanke, dass er diesen Unfall hätte verhindern können oder zumindest Hollys Beteiligung daran, ließ ein Gefühl der Ohnmacht und Schuld in Ricos Herz zurück und brannte sich in seiner Seele ein. Völlig verzweifelt hockte er am Boden seines Wohnzimmers, unfähig sich zu rühren oder klar zu denken. Erst ein paar Minuten später, als seine Tränen langsam versiegten, sein Herzschlag sich wieder normalisierte und er sich wieder fasste, ging er langsam zu seinem Telefon herüber. Er wartete noch kurz, bis er sich wieder vollends beruhigt hatte, um nicht allzu verheult und aufgelöst zu klingen und rief dann bei der Polizei an in der Hoffnung, dass sie ihm dort sagen könnten, wo die Verletzten und Opfer des Unfalls hingebracht worden waren. Es dauerte eine Weile und Rico wurde mit jeder Sekunde ungeduldiger, doch er zwang sich, Ruhe zu bewahren und freundlich zu bleiben. Die Personen, mit denen er sprach, konnten nichts dafür und er wollte ja immerhin etwas von ihnen. Als er dann endlich die gewünschten Informationen bekommen hatte, machte er sich fast umgehend auf den Weg. Er packte schnell ein paar Sachen zusammen und zog sich um, damit er nicht die zerknitterten und verschwitzten Sachen trug, die er auch während seiner unruhigen Nacht getragen hatte. Dann fuhr er sich kurz vor dem Spiegel im Flur durch die Haare – sie waren ziemlich zerzaust, doch Rico ignorierte diesen Umstand und lief schnellen Schrittes zu seinem Wagen. Es war noch recht frisch und nur wenige waren um diese Zeit schon unterwegs, doch die kühle Morgenluft und die Ruhe taten dem Dunkelhaarigen gut und kurz wurde er langsamer, um den Moment zu genießen. Seine Wangen fühlten sich noch immer ein wenig warm an von all den Tränen, doch wurden sie nun von dem leichten Wind, der ihm entgegen blies und sein Haar noch mehr verwuschelte, auf angenehme Art gekühlt.

Rico hatte jedoch nicht die Geduld, diesen Moment auszukosten und eilte sogleich weiter. Hastig kramte er seinen Autoschlüssel hervor und fuhr zu dem Krankenhaus, in dem Holly lag. Er war immer noch blass, seine Augen blutunterlaufen und von dunklen Augenringen geziert – er musste wirklich einen perfekten Vampir abgeben. Der Violinist lachte kurz freudlos auf über diesen unpassenden Vergleich und missachtete nebenbei auf seinem Weg die ein oder andere Verkehrsregel, da sonst kaum ein anderes Auto unterwegs war. Jedoch setzte auch langsam der Berufsverkehr ein, weshalb es langsam voller wurde und Rico gezwungen war, wieder vorschriftsmäßiger zu fahren und teilweise sogar in kleineren Staus steckte, was seine Laune nicht gerade verbesserte. Seine Sorge fraß ihn mittlerweile von innen auf – zumindest fühlte es sich so an – und er konnte es kaum erwarten, endlich bei Holly zu sein. Er wollte ihm einfach nur beistehen, ihm zeigen, dass er da war… und sich selbst ein wenig beruhigen, indem er wusste, wie es dem Sänger ging.

Am Telefon hatte man ihm nur gesagt, dass er nicht mehr auf der Intensivstation liegen würde und dass er keine schlimmen, äußerlichen Verletzungen hätte. Er hatte wohl mächtig viel Glück und einen großen Schutzengel gehabt, hatte ihm die Schwester erklärt. Immerhin hatte es sogar einen Toten bei dem Unfall gegeben, der durch einen Geisterfahrer verursacht worden war und der Zustand einiger Patienten sei noch kritisch. Das berichteten die Medien zumindest immer wieder. Rico schaltete deshalb das Radio aus und legte eine CD ein, um sich von seiner Sorge und den panischen Gedanken abzulenken. Doch viel brachte es nicht. Allein der Satz der Krankenschwester, dass Holly nicht mehr auf der Intensivstation liegen würde, ließ ihn in Angstschweiß ausbrechen. Denn das bedeutete, er musste zumindest zeitweise auf der Intensivstation gelegen haben und das hieß selten etwas gutes…



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