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Atemzug

Grey Mr. Grey
von

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Wir waren den ganzen Tag und die ganze Nacht hindurch unterwegs. Vail hatte uns keine Pause gönnen wollen. Immer hieß es »Es ist nicht mehr weit« und »Wir sind doch bald da.« Aber daraus wurde ein langer Marsch durch pralle Sonne am Tag, Nieselregen in der Nacht und heftigem Wind am frühen Morgen. Erst gegen Mittag, als die Sonne ihre ganze Kraft zu uns hinab schickte, erreichten wir Fyr. Die kleine Stadt lag auf freiem Feld, ringsherum Ackerland. Geschützt war ihr Inneres nur durch eine einfache Holzpalisade. Von weitem sahen wir schon die zwei Wachtürme, die knapp hinter der Palisade in die Höhe schossen und durch eine Brücke miteinander verbunden waren. Die Wachen saßen zu viert im linken Turm vor einem kniehohen Tisch und würfelten.

Als wir näher kamen, erkannten wir, dass es sich um zwei Armbrust- und zwei Bogenschützen handelte. Es waren gelangweilte Burschen, die uns zwar schon längst entdeckt hatten, sich aber kaum die Mühe machten, die Köpfe zu heben und von ihren Würfeln aufzusehen.

Erst als wir direkt vor dem verschlossenen Stadttor standen und hinaufriefen, stand einer von ihnen auf.

»Verpisst euch, die Stadt ist voll!«, brüllte er kurz und setzte sich wieder hin.

»Werte Herren…«, begann Vail.

»Steck dir deine werten Herren in den Arsch und hau ab!« Von dem Turm drang Gelächter zu uns herunter. Der Assassine verschränkte die Arme vor der Brust und knirschte beleidigt mit den Zähnen.

»Wir sind Reisende«, versuchte ich es und erntete ebenfalls einen blöden Spruch. Doch ich ließ nicht locker. »Wir benötigen Nahrung und Ausrüstung. Deshalb sind wir gewillt, unser Geld in die Kassen Fyrs zu legen.«

Bei dem Wort »Geld« sprangen alle vier Männer auf und sahen uns mit gierigen Augen an. Die Meisten würden alles für ein paar Scolt tun und genau das kam uns gelegen.

»Nun«, sprach ein Bogenschütze im Namen seiner Kumpanen. »Fyr ist leider überfüllt und wir sind nicht befugt, die Tore für irgendwen zu öffnen. Aber ich glaube in eurem Falle könnten wir darüber hinweg sehen.«

»Sieh sie dir mal an! Als ob die Geld hätten!«, mischte sich ein besonders schlauer Schütze ein.

Vail, der meinen Plan durchschaut hatte, knöpfte einen seiner Beutel vom Gürtel ab und empörte sich: »Ihr beleidigt uns, werter Herr. Für Euch gibt es keine Belohnung.«

Schon erschallte schadenfrohes Lachen.

»Aber euch anderen bin ich gewillt, etwas für eure Mühen zu geben, sofern wir Einlass erhalten.«

Der Bogenschütze beugte sich weit über die Brüstung und taxierte den Beutel, in dem es freudig klimperte. Er war ein Mann um die Vierzig, der in seinem Leben vermutlich kaum etwas anderes gemacht hatte, als auf dem Turm zu würfeln. Sein Bauch war kugelrund und zeugte von übermäßigem Bierkonsum.

»Wie viel ist euch der Einlass denn wert?«, stellte er eine erstaunlich intelligente Frage.

»Wie viel verlangt Ihr?«, entgegnete ich. Ich war sicherlich kein geselliger Mensch. Eigentlich verbrachte ich meine kostbare Zeit viel lieber allein. Ich war nicht gut darin, mit anderen zu interagieren und zu kommunizieren. Aber eines hatte ich schon sehr früh gelernt: Wer Fragen stellt, kontrolliert das Gespräch. Und Kontrolle ist Macht.

Der Bogenschütze verschwand aus unserem Blickfeld, um sich mit seinen Kumpanen zu beratschlagen. Es dauerte nicht lange, da ließ sich der Mann wieder blicken und offerierte sein Angebot: »Einhundert Scolt für jeden von uns.«

»Fünfzig für jeden«, hielt Vail dagegen.

»Siebzig!«

»Fünfundzwanzig für Euch und die anderen beiden. Derjenige, der uns beleidigte erhält nichts.«

Der Schütze spuckte verächtlich aus. »Willst du mich jetzt beleidigen? Hast du den Sinn von handeln nicht verstanden? Fünfundzwanzig ist viel zu wenig. Dafür würde ich euch nicht einmal bei den Schweinen schlafen lassen.«

Vail schien das ganze köstlich zu amüsieren. Er hatte sichtlich Spaß daran, die Schützen zum Narren zu halten. Mich hingegen ermüdete es bloß.

Der Assassine setzte zum nächsten verbalen Schlag an, während er den Beutel zurück an seinen Gürtel knöpfte. »Wir können Fyr auch umrunden und zum Nordtor gehen. Die Wachen dort freuen sich sicher über fünfundzwanzig Scolt.«

Jetzt ragten gleich drei Köpfe über die Brüstung – der vierte Mann saß wahrscheinlich schmollend in der Ecke. Die Wachen hatten die Augen weit aufgerissen und die Münder zu einem erschrockenen »Das meinst du nicht ernst!« geöffnet. Der Bogenschütze hatte seine Augenbrauen so weit hochgezogen, dass seine Stirn in tiefen Falten lag.

Wir verständigten uns kurz mit einem Blick darauf, die Wachmänner zappeln zu lassen, drehten uns gleichzeitig um und gingen ein paar Schritte an der Palisade entlang.

»In Ordnung!«, schrie da der Bogenschütze, der sogleich einem seiner Kumpanen klarmachte, er solle das Tor öffnen. »Ich denke fünfundzwanzig Scolt sind angemessen.«

Vail grinste noch einmal breit, bevor er sich wieder zu den Geldgeiern wandte.

Derweilen öffnete sich das Holztor und heraus trat der Bogenschütze, der im Eiltempo vom Turm geklettert war und uns nun mit einem falschen Lächeln begrüßte. Seine Mimik hatte einen Hang zum Übertriebenen. Sein Lächeln zog sich über das ganze glattrasierte Gesicht, sodass es wirkte, als habe man ihm Angelharken in die Mundwinkel gesteckt und dann brutal an den Schnüren gezogen.

Vail öffnete den Beutel und entnahm ihm die entsprechenden Münzen, die er nun dem Schützen in die Hand drückte. »Ich danke Euch für Eure Mühe, werter Herr. Wie heißt Ihr?«

»Man nennt mich Hammel. Aber ich bin nicht adelig, also lassen wir doch die Höflichkeiten«, bot der gezähmte Bogenschütze an, dessen Lächeln erstaunlicher Weise noch breiter wurde. Er bedeutete uns mit einladender Handbewegung, dass wir in Fyr willkommen seien und fügte noch hinzu: »Wenn ihr etwas braucht, lasst es mich wissen.«

Wir traten durch das Tor und befanden uns direkt im Gedränge. Sie hatten Recht gehabt, die Stadt war wirklich voll. Ich war kaum einige Augenblicke hier, da waren mir schon sechs verschiedene Leute auf die Füße getreten. Dem Siebten, der sich zielstrebig auf mich zubewegte und dem man schon von weitem ansehen konnte, dass er mir auf die Stiefel latschen würde, wich ich mit einem Sprung zur Seite aus, wobei ich zwei Frauen, die unglücklicher Weise hinter mir standen, anrempelte. Die Klatschweiber gerieten ins Taumeln und stießen gegen die nächsten und die wiederum gegen noch andere. Ich hatte mit meinem Ausweichmanöver eine Kettenreaktion ausgelöst, die sich jetzt vermutlich durch die ganze Stadt ziehen würde.

Ich tat, als hätte ich nichts damit zu tun und sah mich stattdessen nach Vail um, den ich in den Massen verloren hatte. Ich stellte mich aufrecht hin und versuchte über die unzähligen Köpfe hinweg zu blicken und das charakteristische weiße Haar des Meuchelmörders ausfindig zu machen. Doch die Menge, die zu einem einzigen Fleischklumpen zusammengeschmolzen war, hatte kein Verständnis für meine Lage. Hinter mir schrien schon die ersten, ich solle endlich weiter gehen und nicht den Verkehr aufhalten. Ich ignorierte sie und betrachtete unbeirrt meine Umgebung. Die Häuser waren hoch gebaut, deutlich höher als die in Geek, und sie  machten einen eher plumpen und geometrischen Eindruck. Ein Kastenbau an dem anderen zogen sich die Gebilde durch die Straßen. Was die Baumeister an Höhe hinzugefügt hatten, hatten sie an breite gespart. Und besondere Kreativität hatten sie auch nicht gebraucht, um die Klötze zu errichten. Ihre mattgraue Farbe war so trüb und nichtssagend, dass man schon von vornherein kein Interesse daran hatte, hier eine Wohnung zu beziehen.

Ich konnte einen Gemüsestand erblicken, an dem eine junge Frau ihre Ware feilbot, indem sie die Leute anschrie, sie sollten gefälligst stehen bleiben und sich ihr Sortiment genauer ansehen und nicht nur dämlich gucken. Und da entdeckte ich die schneeweißen Haare Vails, die ich gesucht hatte.

Ich wollte mich gerade daran machen, mir einen Weg zu ihm zu bahnen, als ich plötzlich von hinten angeschoben wurde. Ein großer und ebenso dicker Oger hatte seine Plauze vorgeschoben und zwang mich dadurch, mich in den Fleischklumpen einzureihen und mit dem Strom zu schwimmen. Der Oger presste mich gegen meinen Vordermann und keilte mich damit zwischen ihnen ein, sodass ich gar keine Möglichkeit hatte, in irgendeine andere Richtung zu gehen. Mit dem Hintern an dem Bauch des Ogers und mit dem Kopf in den Schweißflecken meines Vordermanns wurde ich mitgerissen. Bei dem Stadtrundgang, an dem ich unweigerlich teilnehmen musste, konnte ich nichts als Füße sehen und nichts außer den Schweiß des Kerls riechen, an dessen verschwitztem Hemd ich klebte.

Irgendwann erreichte die Menge einen großen Marktplatz, an dem sie sich spaltete und in verschiedene Richtungen weitergingen. Der Oger hatte beschlossen mich freizugeben und sich nach rechts zu wenden. Mein Schweißfreund war derweil nach links verschwunden.

Ich ließ den Blick schweifen und musste mir eingestehen, dass ich keine Ahnung hatte wo ich war und wie ich wieder zum Ausgangspunkt zurückkam.

Mit sieben Jahren war ich nach Geek gekommen und hatte es seither nicht mehr verlassen. Ich kannte jeden Winkel und jede Gasse von Geek, jeden noch so kleinen Gang. Aber hier, in diesem Fyr, war ich verloren. Hier in dieser Fremde, in der Stadt die ich noch nie zuvor betreten hatte. Zum Henker, ich konnte mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie man sich anhand der Sonne orientiert, wo Osten und wo Westen liegen. Ich war aufgeschmissen!

Meine Hände begannen zu zittern. Das Getümmel auf dem Marktplatz behagte mir nicht. Mit Gesellschaft konnte ich noch nie viel anfangen. Ich wusste nie recht, was ich sagen sollte und was ich besser verschwieg. Manche mögen diese Taktlosigkeit meinerseits als das Produkt mangelnder Erziehung oder zu wenig Übung sehen, aber in Wahrheit handelte es sich dabei um reines Desinteresse. Die groben Höflichkeiten kannte ich zwar und ich war durchaus in der Lage, ein hochwertiges Gespräch zu führen, aber tiefgreifende Unterhaltungen, wie sie unter Freunden üblich sind, waren für mich schon immer ein unangenehmes Rätsel, das ich gar nicht erst lösen wollte. Was war daran reizvoll, irgendjemandem sein Herz auszuschütten und all seine wertvollen Geheimnisse preiszugeben?

Im Allgemeinen empfand ich jedwede Art von Konversation als Zeitverschwendung. Nichts weiter als aneinandergereihte leere Phrasen. Den schnackenden Weibern und den dummschwätzenden Männern auf dem Marktplatz hätte ich nur zu gern das Maul gestopft. Ich hatte das Bedürfnis, einen nach dem andren zu packen und ihnen Pferdescheiße in den Hals zu schieben. Sie sollten ersticken an dem Mist, den sie tagtäglich von sich gaben!

Die Mengen, die wie Flüsse zu fließen schienen, verursachten einen Schwindel bei mir, den ich versuchte loszuwerden, indem ich mich an die Ecke zweier Häuser zurückzog, mich dort hinsetzte und mit dem Rücken an die Wand lehnte. Was war ich nur für ein Jammerlappen geworden? Früher wäre ich nicht so schnell in meinem Elend und dem Selbstmitleid ertrunken.

Ich vergrub das Gesicht in meinen trockenen Händen, die meine Wangen wie Schmirgelpapier aufschürften, und versuchte mir einen Plan zurechtzulegen, wie es für mich weiter gehen sollte, jetzt, wo ich auch noch Vail im Gedränge verloren hatte.

Ich sah wieder auf und wollte es noch einmal damit probieren, mich zu orientieren. Die grellgelbe Sonne stach mir schmerzhaft in die Augen, als hätte sie die feste Absicht, mich erblinden zu lassen. Nun wirkte die lebendige Masse auf dem Platz eher wie eine Fuhre Heiliger, die sich im Lichte Asnemons, dem Gott der Strahlen, sonnten. Mein Blick hing auf den Erleuchteten, von deren Gepflogenheiten ich so wenig verstand.

Plötzlich bildete sich eine kleine Gasse, nicht von den Leuten beabsichtigt, sondern entstanden aus reinem Zufall. Eine Lücke zwischen den Personen, die es mir erlaubte, bis zum anderen Ende des Platzes zu schauen. Sie blieb nur einen winzigen Augenblick, kaum länger als man für einen flachen Atemzug braucht, doch diese Zeit reichte, um mir einen Schauer über den Rücken zu jagen. Denn mein Blick traf auf zwei Männer, die ich sogar auf diese Entfernung und in der kurzen Dauer des Moments auf Anhieb erkannte. Den mürrischen Gesichtsausdruck des Ersten und das kindliche Lächeln des Zweiten würde ich wohl nie vergessen. Die Zeit schien in der Schwebe zu hängen und dehnte den Moment ins Unendliche. Ich starrte sie mit offenem Mund an. Mein Blick traf den des Mürrischen, der mir soeben den Kopf zugewandt hatte und mir nun direkt in die Augen sah. Und gerade, als dieser einen Ausdruck des Erkennens offenbarte, schoben sich hunderte von Beinen vor das Bild.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2015-01-29T19:42:11+00:00 29.01.2015 20:42
Hey :)

Irgendwie erinnert mich Vail an meine Eltern. Die meinten auch immer, wie seien gleich da, obwohl wir noch stundenlang gelaufen sind!
Ich mag es, wie das Gefeilsche abläuft. Hätten sie doch die fünfzig genommen, statt mehr haben zu wollen ;) Aber da sieht man wieder, wie schlecht Gier ist.
(wobei, wären sie nicht bestechlich, wären die beiden ja nicht reingekommen....)

Ich hatte mit meinem Ausweichmanöver eine Kettenreaktion ausgelöst, die sich jetzt vermutlich durch die ganze Stadt ziehen würde.
Dieses Kopfkino gerade xD Wie eine Dominostein-Reihe, die jetzt durch die ganze Stadt geht xD
(oder eher: Fällt)

Ich mag die Beschreibung der Stadt. Wobei "mag" bedeutet, du beschreibst es sehr anschaulich und ich kann mir vorstellen, dass es auch da so aussieht - aber ich mag es auch nicht, wenn es SO unangnehm voll ist und habe Mitleid mit Grey.
Und die nächste Überraschung: Er kennt Granti und Mumpitz? Woher denn das? und so, wie er reagiert, ist es keine gute Erinnerung...

~Kommentarfieber~


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