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Fire

... in a world of Black Hearts & Dollar Signs
von

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High Snobiety? Erm … no …

„Wo sind wir hier?“, fragte ich, als Gackt mich in einen ziemlich versteckten Winkel Tokyos führte. Es war sein erster freier Abend und ungefähr vier oder fünf Tage nach unserer 'Abmachung'. Ich hatte zwar noch versucht, mich aus der Sache herauszuwinden, indem ich ihm versichert hatte, dass er seine freien Abende nicht für mich opfern müsste – ich würde das schließlich auch nicht für ihn machen –, aber geholfen hatte es absolut nichts.

„In einer Bar“, erklärte er mir auf meine Frage hin schlicht, was mich dazu brachte, mit den Augen zu rollen.

„Das seh ich. Etwas genauer bitte.“

„Ich bin hier als Teenager immer mit meinen Freunden hingegangen, als wir noch zur Schule gegangen sind. Mittlerweile bin ich in einen anderen Stadtteil gezogen, aber ich komme immer noch regelmäßig hierher. Die Leute kennen mich hier alle und sind echt gut drauf. Glaub mir, es wird dir gefallen. Und das alles ohne Geldsäcke.“

Das nahm ich ihm ja noch nicht ganz ab. Und ich erinnerte ihn auch an den Grund unseres Hierseins: „Ob es mir gefällt, werden wir noch sehen. Wenn ich Spaß habe, hast du Glück; wenn nicht, zahlst du. Das ist der Deal.“

„Ja ja, das vergess ich schon nicht“, winkte Gackt ab, zog sich dann die Jacke aus und hängte sie an einen Haken der Garderobe. Da ich keine Anstalten machte, meinen Mantel loswerden zu wollen, half er mir heraus und wollte ihn zu seiner Jacke hängen.

Allerdings stoppte ich ihn im letzten Moment: „Halt!“

„Was ist?“

„Den nehm ich lieber mit, bevor er mir noch geklaut wird. Der war schließlich nicht von der Stange.“

„Keine Angst, Hyde, hier ist noch nie was weggekommen.“

„Sagst du!“, betonte ich und griff nach meinem Mantel, um ihn ihm wieder abzunehmen.

„Jetzt hab dich nicht so“, insistierte Gackt jedoch und versuchte mir den Stoff zwischen meinen Händen vorsichtig wieder zu entwinden, „entspann dich lieber, sonst-“

„Ja, wen haben wir denn da?“, wurden wir dann aber von einer extrem gut gelaunten Frauenstimme unterbrochen. „Der kleine Gaku-chan lässt sich mal wieder bei uns blicken.“ Gleichzeitig drehten wir die Köpfe in die Richtung, aus der die Stimme kam, wobei sich Gackt etwas mehr verrenken musste als ich. Meinen Mantel ließ er deswegen trotzdem nicht los, was mich in dem Moment fürchterlich wurmte.

„Also, 'klein' halte ich für untertrieben“, merkte der Angesprochene an, kaum dass er sich umgedreht und die Person, die da auf uns zukam, gesehen hatte. „Hallo, Miyako.“

„Hm, du scheinst tatsächlich noch ein Stück gewachsen zu sein“, sagte die Frau, die ich auf Mitte bis Ende vierzig schätzte, und umarmte Gackt. „Und das in deinem Alter!“ Der musste meinen Mantel dann endlich loslassen, sodass ich ihn endlich wieder komplett an mich nehmen konnte.

„Das klingt ja, als wäre ich uralt“, entgegnete dieser darauf amüsiert und grinste sie an, so weit ich das beurteilen konnte. Ich stand schließlich noch immer hinter ihm.

„Du gehst immerhin stark auf die 30 zu.“

„Na, hör mal, das ist ja wohl noch ein paar Jahre hin!“ Bei dieser Bemerkung verschränkte er die Arme vor der Brust und legte den Kopf etwas schief.

„Du weißt doch, die Zeit rast. Es kommt mir wie gestern vor, dass du noch ein halbes Kind warst und dich das erste Mal so richtig betrunken hast. Und You-chan hat dich den ganzen Weg nach Hause schleppen müssen.“

„Das hält er mir heute noch vor.“

Also, nicht dass ich unbedingt darauf aus war, das fröhliche Fest der Erinnerungen zu unterbrechen und mich damit womöglich noch in die Lage zu bringen, mir Kindheitsgeschichten von Gackt anhören zu müssen, aber dieses offensichtliche Desinteresse an meiner Person gefiel mir auch nicht unbedingt.

„Gackt?“, machte ich auf mich aufmerksam, ohne „äh …“ und ohne gespielte Verlegenheit. Er wusste schließlich, dass das nichts für mich war, wenn es die Situation nicht gerade erforderte. Gackt war allerdings nicht derjenige, der zuerst reagierte, sondern diese Miyako.

„Und wen hast du uns mitgebracht, Gaku-chan?“, fragte sie.

„Oh, tut mir Leid“, setzte Angesprochener zu einer Antwort an, „das ist Hyde. Hyde, das ist Miyako, ihr gehört die Bar.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte ich der Höflichkeit halber und deutete eine Verbeugung an.

„Ach, Schätzchen“, kam es jedoch gleich zurück, „kein Grund, so förmlich zu sein. Ich bin Miyako und den Rest der Bande stellen wir dir auch gleich vor.“ Mit diesen Worten ergriff sie mein Handgelenk, zog mich nach vorn, drückte Gackt meinen Mantel in die Arme und bugsierte mich dann in den Gastraum der Bar hinein. Ich sah mich noch leicht hilflos nach Gackt um, der schüttelte aber nur grinsend den Kopf, während er meinen Mantel nun doch an die Garderobe hängte.
 

Ein paar Augenblicke später wurde ich an einem Tisch platziert, der eigentlich schon voll war. Einige hatten sich sogar Stühle von anderen Tischen holen müssen, um noch daran Platz zu finden. So geschah es auch mit mir und ich fand mich inmitten von neun Leuten wieder, von denen ich natürlich keinen kannte. Und sie starrten mich alle an.

„Schaut mal, wen Gackt uns mitgebracht hat. Das ist Hyde. Sag Hallo zu allen, Hyde.“ Hätte ich für mich allein in einem stillen Kämmerchen gesessen, hätte ich jetzt geschrien, die Hand vor die Stirn oder gleich den ganzen Kopf auf die Tischplatte gehauen. So etwas Peinliches war mir nicht mehr passiert, seit meine Mutter mich mit zehn oder elf Jahren ins Ferienlager gebracht hatte und mich dort gleich dazu hatte bringen wollen, dass ich mich mit anderen Kindern anfreundete. Damals hatte ich wirklich geschrien und auch angefangen zu heulen, was mir natürlich erst recht den Spott der anderen eingebracht hatte. Wenigstens konnte ich mich jetzt genug zusammenreißen, meinen Unmut nicht gleich kundzutun. Und dafür würde ich Gackt hinterher ausnehmen wie eine Weihnachtsgans!

Ich lächelte ein wenig, hob die Hand, winkte ganz kurz in die Runde und sagte schlicht und ergreifend: „Hi.“ Danach wurde mir die komplette Runde vorgestellt, wobei ich die meisten Namen fast sofort wieder vergaß, weil alles so schnell heruntergerattert wurde: Kanako, Toru, Hatori, Hana, Hinako, Rei, Chiaki, Shinji, Nana, Miyuki, nochmal Hatori, Jeremy, Arina, Eiji und Kaoru. Und als wir dann mit allen Leuten durch waren (der Herr hinter und noch ein paar Leute am Tresen wurden auch noch mit einbezogen), wurde ich auch schon mit Fragen bombardiert: Wie ich Gackt kennengelernt hatte, wie alt ich war, in welchem Stadtteil ich wohnte, was ich beruflich machte, ob und was ich denn trinken wollte und so weiter und so fort. Wieder kam es mir wie ein Wasserfall vor, was allerdings in diesem Fall ganz gut war, denn so konnte ich mir die Fragen aussuchen, die ich zuerst beantworten wollte. Und das war im Moment die nach meinem Getränkewunsch: „Einen Cuba Libre, bitte.“

„Kannst du vergessen“, mischte sich Gackt auf einmal ein, zog sich einen Stuhl vom leeren Nachbartisch heran und ließ sich verkehrt herum darauf nieder. Offensichtlich hatte er einen Umweg über die Bar gemacht und sich dort ein Bier geholt.

„Was kann ich vergessen?“, hakte ich nach.

„Den Cuba Libre“, klärte er mich auf, „so was gibt’s hier nicht. Du kannst den Rum und die Cola einzeln haben. Genau wie Wodka, Sake, Whiskey, Gin, Wasser, Limonade oder jede Menge anderes, solange es nicht vorher zusammengemixt werden muss. Hatori kann das leider nicht und so selten wie es hier bestellt wird, brauch er das auch nicht.“

Ich sah ihn vollkommen verständnislos an: „Du bist Barkeeper, du kannst das machen.“

„Keine Chance, ich bin außer Dienst“, erwiderte Gackt darauf grinsend und hob entschuldigend die Hände. Dass ich ihm das nicht abnahm, versteht sich hoffentlich von selbst.

„Gackt, du bist ein Arsch.“

„Und du ein versnobter Idiot. Schon die ganze Zeit.“ Dabei grinste er mich noch breiter an und nahm dann einen kräftigen Schluck aus seiner Flasche. Er hoffte wohl, dass ich es richtig interpretieren und ihm keine reinhauen würde. Aber wenn ich so drüber nachdachte war es gerade sein Grinsen, was mich erst richtig in die Stimmung brachte, dies doch zu tun.

„Na, was willst du denn nun?“, schob er allerdings hinterher, bevor ich mich entscheiden konnte, sodass ich stattdessen nur ein reichlich grummeliges „Sake On The Rocks“ von mir gab.

„Sake kalt will er“, gab Gackt meinen Wunsch an die Dame des Hauses weiter, die dann auch gleich davonwackelte, um ihn mir zu erfüllen. Ich sah ihr für einen Augenblick nach, wandte mich aber dann wieder der Runde zu, die mich – abermals – gespannt anstarrte. Scheiße, die wollten ihre Fragen beantwortet haben! Und darauf hatte ich so gar keine Lust. Aber wenn nicht schnell etwas dazwischenkam, würde ich das tun müssen. Ein kurzer Blick zu Gackt sollte allerdings meine Rettung sein, denn er war schließlich dafür verantwortlich, dass ich überhaupt hier war.

„Und was erwartet mich nun?“, fragte ich möglichst grantig, um ihm zu signalisieren, dass ich von Spaß so weit weg war wie Tokyo von Paris.

„Immer schön locker“, sagte er jedoch nur und nippte wieder an seinem Bier, „geht in ungefähr einer halben Stunde los. Solange kannst du dich hier bekanntmachen.“

Ich ließ jedoch nicht davon ab: „Was geht in einer halben Stunde los?“

Auf seinen Lippen erschien ein fast schon dreckiges Lächeln, als er sich näher zu mir heranbeugte und mir zuflüsterte: „Tanzwettbewerb, Süßer, und ich hab uns als Pärchen angemeldet.“

„Du hast was?!“, echauffierte ich mich sofort. Ich wollte meinen Ohren nicht trauen. „Sag, dass das nicht dein Ernst ist! Es ist ja eine Sache, wenn du mir herschleifst, aber eine andere, wenn du-“

„Hat da jemand schlechte Laune?“, wurde ich allerdings von Miyako unterbrochen, als sie mir mein Glas Sake brachte und es auf einem Pappdeckel vor mir auf dem Tisch absetzte.

„Nein, er versteht nur keinen Spaß“, übernahm Gackt für mich dann auch noch das Antworten. „Ich hab ihm grad erzählt, was hier heute ist.“

„Aber da muss doch keiner schlechte Laune haben.“

„Sag das ihm.“

Hand hoch, wen wundert es nicht, dass meine Stimmung nicht besser wurde, als sich zwei mehr oder minder fremde Menschen gerade über meinen Kopf hinweg über mich unterhielten und dabei so klangen, als wäre ich ein Fünfjähriger? Mental hob ich meine Hand, während ich real mein Glas Sake in einem Zug leerte und es hart wieder absetzte, als ich den Alkohol ausgetrunken hatte.

„Das ist doch mal ein ordentlicher Zug“, kommentierte jemand aus der Runde dazu – Jeremy hieß er, das hatte ich mir merken können, weil er als einziger Ausländer weit und breit gut sichtbar herausstach.

„Hm“ und ein Nicken waren meine Reaktion dazu.

Er war jedoch noch nicht fertig: „Wenn du nachher beim Billard auch so loslegst, könntest du sogar Gaku schlagen.“ Wie bitte? Billard? Ich drehte mich 'Gaku' wieder zu und starrte ihn, eine Augenbraue verächtlich in die Höhe gezogen, an. Er musste meine Mordgedanken hören können, denn sein Grinsen wackelte beträchtlich, er stand blitzartig auf und vermeldete, dass er dann mal beim Aufbau helfen würde.

Gut für dich, schoss es mir durch den Kopf, halt dich bloß von mir fern, denn ich kann für nichts garantieren!
 

Während Gackt und noch ein paar seiner Freunde die Bar fast komplett umräumten, indem sie die Tische zur Seite schoben und stattdessen einen Billardtisch, den sie auf klappbaren Rollen aus einem Hinterzimmer holten, dort platzierten, bewegte ich mich keinen Millimeter, sondern drehte mich nur auf meinen Stuhl herum. Dazu kam noch eine ziemlich alt aussehende Tafel, auf der eine der Frauen begann, Namen zu notieren.

„Hyde, machst du auch mit?“, fragte sie mich, als die Tafel beinahe voll war. Ich warf noch einmal einen kurzen Blick darauf, entschied mich aber doch dagegen. Sie zuckte mit den Schultern und legte das Stück Kreide, das sie in der Hand hatte, erst einmal weg. Ich blieb schön auf meinem Platz sitzen, von dem aus ich alles sehen konnte, und bestellte mir noch einen Sake. Und ich wunderte mich auch ein wenig darüber, dass Gackt samt seiner Hartnäckigkeit es sich doch tatsächlich nehmen ließ, mich selbst noch einmal zu bequatschen und zu versuchen, dass ich doch mitmachte.

Stattdessen stürzte er sich zusammen mit drei seiner Freunde sofort in die erste Runde. Sie wurden von den Umstehenden beobachtet, angefeuert und in Gackts Fall möglichst gut abgelenkt. Die wollten ihn wohl tatsächlich verlieren sehen, so laut wie sie buhten und lästerten. Und dennoch wirkte er vollkommen konzentriert. Immer wenn er an der Reihe war, fixierte die Kugeln, die er anpeilte, ganz genau und versenkte sie in den meisten Fällen auch. Meinen Respekt, ich musste zugeben, dass er in der Tat nicht schlecht spielte! Dass sein Team die Partie kurz darauf gewann und Gackts Partner keinen allzu großen Beitrag dazu hatte leisten müssen bzw. können, war dann auch keine Überraschung mehr. Genau wie die Tatsache, dass er sich nach dem Sieg mit offenen Armen, erhobenem Haupt und mehr als nur selbstsicherem Blick dastand und sich feiern ließ. Man könnte glatt glauben, er wäre ein arroganter Bastard. Oh Moment, das war er auch!

Nun ja, zumindest wollte er sich feiern lassen – der Rest der Gruppe machte da nämlich nicht ganz mit. Sie zogen ihn nur auf, die beiden Frauen, die das Gegnerteam gebildet hatten, traten die Queues an das nächste Team ab und es ging auch schon weiter mit Runde zwei. Und die ging recht ähnlich aus und so auch die Runden drei bis acht, bis jedes Paar einmal sein Fett weg bekommen hatte und geschlagen worden war. Ein paar Mal sah es auch ganz hoffnungsvoll für sie aus, doch dann drehte Gackt den Spieß wieder um und versenkte als Erster erfolgreich die letzte Kugel im richtigen Loch. Manche von ihnen taten sich das sogar zwei- oder dreimal an, behielten dabei ihre Partner bei oder wechselten sie – je nachdem, wie sie lustig waren. Nur ich hielt mich da raus und schaute zu.

Das änderte sich jedoch, als Gackts Freunde wohl keine Lust mehr auf Niederlagen hatten und nicht mehr mitmachen wollten, solange Gackt im Spiel blieb. Der hingegen schien dem noch lange nicht müde zu sein, denn er fragte in die Runde: „Will denn wirklich keiner mehr? Ach, kommt schon, so lange spielen wir doch noch gar nicht.“

„Halt dich zurück und ich mach mit“, kam es von irgendwem.

„Was wäre doch langweilig“, war Gackts Reaktion darauf.

„Dann musst du wohl mit dir selber spielen.“

„Ach, Leute, das könnt ihr mir nicht antun! Ihr dürft einfach keine Angst vor der Niederlage haben, dann habt ihr vielleicht eine kleine Chance, auch mal zu gewinnen. Oder wenigstens mehr als vier Kugeln einzulochen. Haha.“ Ich war erstaunt über all diese Sprüche von ihm. Ja, er war selbstsicher, das hatte ich bereits gemerkt – aber das hier ging schon eher in Richtung Arroganz, eventuell sogar mit einer Spur Sadismus. Und ich fragte mich, ob wir uns vielleicht gar nicht so unähnlich waren, wie ich bisher gedacht hatte. Gackt und ich, der Moralapostel und das Luxuskind.

„Findest du das nicht ein bisschen großkotzig?“, rief ich daraufhin zu ihm hinüber, lehnte mich nach hinten an die Tischkante und stützte mich mit den Ellenbogen auf der Platte ab.

„Bist du auch nur einen Deut besser?“, lautete seine Gegenfrage. Da, schon wieder!

„Jep, bin ich.“ Das stimmte im Grunde nicht wirklich, aber sei es drum. Ich war nicht auf den Mund gefallen und Schwindeleien gehörten schließlich zu meinem Lebensstil.

Und dann kam auch schon die Herausforderung: „Dann zeig's mir, wenn du dich traust! Oder kannst du nicht?“

„Billard?“ Ich zog eine Augenbraue hoch. Das hatte ich eigentlich nicht gemeint.

„Was sonst?“

„Wenn du unbedingt willst“, stimmte ich ihm ohne Umschweife zu. Das würde ihm noch mächtig leidtun. Er wusste ja gar nicht, was ihn erwartete – ich hingegen hatte genau gesehen, wie er spielte. Das würde der Denkzettel des Jahres werden!
 

Ich erhob mich zum ersten Mal, seit wir hier waren, und nahm den Queue entgegen, den einer der beiden Hatoris mir reichte. Gackt sammelte währenddessen die Kugeln ein und platzierte sie auf ihrer Ausgangsposition, damit wir die Partie gleich fortsetzen (oder beginnen – je nachdem, wie man es sehen wollte) konnten.

„Na los, dann zeig mal, was du kannst!“, forderte er mich in einem neckenden Tonfall auf, als er das Plastikdreieck wegnahm und das Spiel so freigab.

„Und du bist dir sicher, dass du den Anstoß an mich abgeben willst?“, hakte ich nach, „es könnte dein Verhängnis sein.“ Es war alles Strategie – auch diese Frage schon. Ich war zwar wirklich kein Profi im Billard, aber um Gackt auf Trab zu halten, würde es allemal reichen. Ich hatte einiges an Übung, da ich vor einigen Jahren mal eine Zeit lang in einer Poolhalle gearbeitet hatte. So viele Leute hatte ich spielen sehen, darunter auch einige, die mehrmals die Woche gekommen waren – mein größtes Talent war daher eindeutig die Analyse der Lage. Und wenn man wusste, wie es stand, dann konnte man seine Chancen ganz genau nutzen. So würde ich Gackt gnadenlos alle machen!

„Mach dir da mal keine Sorgen um mich“, entgegnete Gackt schließlich, „ich denke, den Vorsprung kann ich dir gönnen. Die Runde soll schließlich ein bisschen länger dauern als die letzten paar.“

„Wenn du meinst.“ Ich zuckte mit den Schultern und wanderte dann einmal um den Tisch herum, um zum Ausgangspunkt zu gelangen. Dort lehnte ich mich nach vorne, die Fingerspitzen der linken Hand solide auf der grünen Spielfläche aufliegend, während ich mit der Rechten den Queue locker hielt und nach dem richtigen Anstoßwinkel suchte. Erst einmal musste ich möglichst viele Kugeln einer Sorte versenken, den Rest würde ich auch später noch erledigen können. Nach ein paar Sekunden, in denen ich meine Möglichkeiten abschätzte, kam ich zu dem Schluss, dass ich das Dreieck aus Kugeln wohl am besten mit einem Drall nach links anspielte. So würden die beiden Halben, die auf der rechten Seite lagen, idealerweise nacheinander ins Loch rollen oder zumindest knapp davor zum Erliegen kommen, sodass es einerseits ein Kinderspiel sein würde, im Anschluss mit ihnen zu punkten, und andererseits auch Gackt nicht mehr an das Loch herankam, ohne dass es mir nutzen würde. Ja, so war es sicher am besten. Wenn ich bei diesem Stoß allerdings gar nichts riss, hätte Gackt den Vorteil und ich wäre gleich zu Beginn mächtig am Arsch … besser nicht dran denken, sonst-

„Gehen wir nachher noch ins Kino?“, wurde ich auf einmal gefragt, „zur Zeit laufen haufenweise Filme in der Nachtvorstellung.“

Ich zuckte ein bisschen zusammen, weil ich das nicht hatte kommen sehen und drehte mich zum Besitzer der Stimme um. Als ich Gackt dicht neben mir erblickte, zog ich eine Augenbraue hoch: „Und das fällt dir ausgerechnet jetzt ein? So plötzlich, dass du mich unterbrechen musst?“

„Jep. Also, Kino, ja oder nein?“

Ich richtete mich wieder voll auf und ging erneut zum Angriff über, als ich mich wieder voll gefangen hatte: „Da hat doch nicht etwa jemand Angst, dass er verliert, und muss zu unfairen Mitteln greifen?“

„Wer ist denn hier unfair? Du hast doch noch gar nichts gemacht. Und nochmal: Kino?“

„Meinetwegen“, willigte ich ein und zuckte abermals mit den Schultern, „du bist schließlich für die Abendplanung verantwortlich. Wo ist das nächste Kino?“

„Weiß nicht genau, aber das wird schon was.“

„Okay“, nickte ich Gackts Worte ab, „würdest du mich dann bitte wieder entschuldigen? Ich muss dir ne Abreibung verpassen.“

„Du bist also immer noch der Meinung, dass du gegen mich ankommst? Dass du dich da mal nicht irrst, Hyde“, stichelte Gackt weiter, nachdem die Kinosache abgehakt war und ihm wohl nicht so viel gebracht hatte wie erhofft. Trotzdem trat er brav beiseite, damit ich meinen ersten Zug machen konnte. Und der saß: Die weiße Spielkugel traf das Dreieck links und die beiden Halben, die ich anvisiert hatte, rollten brav in die hintere rechte Tasche. Nummer 9 und 15 waren damit versenkt. Leider auch die volle grüne Kugel mit der 6. Natürlich lag ich noch immer eine Kugel vorn, aber es wäre schöner gewesen, zwei Vorsprung zu haben.

„Halbe“, sagte ich an, selbst wenn es eigentlich jeder sehen sollte. Aber wer wusste schon, ob Gackt – entgegen seiner Beteuerungen – nicht vielleicht doch zu miesen Tricks greifen würde, um sich vor einer Niederlage zu drücken. Wir spielten hier immerhin ein Ansagespiel und da konnte einem praktisch alles vorgeworfen werden, was man nicht deutlich machte, selbst wenn das hier kein Turnier von Profis, sondern nur die harmlose Kneipenversion davon war. Für den nächsten Treffer musste ich um den Tisch herumgehen – oder ich hätte über zwei Banden spielen müssen, aber darin war ich nicht allzu gut. Gackt hingegen sehr und ich konnte mir jetzt schon vorstellen, dass mir das noch Bauchschmerzen bereiten würde. Also würde ich keine Chancen riskieren, indem ich Dinge tat, von denen ich genau wusste, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit schiefgingen. Jedenfalls stützte ich mich auf der anderen Seite wieder auf den Rand, ging tief herunter, um mit dem Auge auf einer Höhe mit dem Queue zu sein und visierte die violette halbe Kugel an. Trotz der veränderten Ausgangslage musste ich sie seitlich treffen, um sie auf den richtigen Weg zu bringen. Ich stieß an, die Spielkugel berührte berührte Nummer 12 so wie ich es geplant hatte und die wiederum rollte zielstrebig in die – von mir aus gesehen – hintere linke Tasche. Zufrieden richtete ich mich wieder auf und hielt nach dem nächsten Ziel Ausschau.

Um die Geschichte etwas abzukürzen: Das tat ich noch zwei weitere Mal, sodass auch die Kugeln 11 und 14 ihren Weg nach unten fanden und ich meinen Vorsprung auf vier Kugeln ausbauen konnte. Gackts Freunde gratulierten mir dabei auch sehr laut und je mehr Kugeln ich versenkte, desto mehr stieg ihre Laune. Und meine natürlich auch, sodass ich mich irgendwann tatsächlich doch dazu hinreißen ließ, mich in meinem momentanen Ruhm zu sonnen, auch wenn ich das vorhin an Gackt kritisiert hatte. Aber hey, er hatte es ja nicht anders haben wollen! Und dazu noch die Tatsache, dass sich seine Freunde so gegen ihn verschworen hatten, dass sie sogar den Feind anfeuerten und ihm teilweise sogar schon zum Sieg gratulierten. Das würde mächtig auf sein Ego gehen.

Doch genauso wenig wie man vorträglich zum Geburtstag gratulieren sollte, sollte man dies auch nicht mit einem Sieg tun, den man noch nicht sicher in der Tasche hatte. Vor mir lagen noch schließlich zwei halbe Kugeln und selbstverständlich die schwarze 8! Trotzdem schmeichelte es mir natürlich, dass ich so angefeuert wurde, aber wem wäre es nicht so gegangen?

Und genau an dieser Stelle haperte es dann auch, wobei ich noch nicht einmal Gackt die Schuld in die Schuhe schieben konnte. Er spielte vollkommen fair, hatte seit seiner Frage bezüglich des Kinos großartig nichts mehr gesagt und hielt sich auch solange schon aus dem Spiel wie ich bereits dran war. Als ich für den nächsten Stoß Position bezogen hatte, schaute ich sogar noch einmal auf, um zu prüfen, ob er auch wirklich nichts Linkes versuchen würde – wie zum Beispiel am Billardtisch zu wackeln, während ich gerade meinen Zug spielte. Nein, er stand mir genau gegenüber und locker anderthalb Meter neben dem Tisch, das Kinn auf den Händen und die Hände auf dem Queue abstützend. Das einzige, was er dabei tat, war zu lächeln. Aber nicht einfach nur so, sondern unbeeindruckt und vollkommen selbstsicher. Er schien Spaß an dem Spiel zu haben, das er scheinbar gerade verlor. Selbst die Sticheleien seiner Freunde schienen ihm nichts auszumachen. Okay, ich hatte gesehen, wie er das auch bei den anderen vor mir abgezogen hatte, aber bei denen hatte er sich auch mehr oder minder sicher sein können, dass er am Ende tatsächlich gewinnen würde. Und ich wusste ziemlich genau, was er bei mir damit vorhatte: Er wollte mich schlicht und einfach nur verunsichern. Aber das würde nicht klappen, ich hatte Nerven wie Drahtseile. Mit Engelsgeduld widmete ich mich wieder dem Spiel, versetzte dem weißen Ball einen kräftigen Stoß … und schoss damit mächtig über das Ziel hinaus. Ganz einfach war die Kugel ohnehin nicht gewesen, da ich sie an einer der übrigen Vollen vorbei ins Loch hineinmanövrieren wollte und das auch nur tat, um ein bisschen mehr Eindruck zu schinden. Hätte ich eine einfachere Tasche als Ziel ausgewählt, wäre es mir garantiert nicht passiert.

„Vorne rechts“, hatte ich noch sehr selbstbewusst gesagt, bevor ich angestoßen hatte. Aber es war zu viel Kraft gewesen, sodass die weiße Kugel die blau-weiß gestreifte 10 zu schnell über das samtene Grün rollte und die violette 4, die direkt vor dem Loch lag, auch genau dort hineinbeförderte. Sie selbst prallte an der Bande ab und bewegte sich zielstrebig wieder zur Mitte der Spielfläche. Mir blieb dabei nichts weiter als ein „Mist“, das mir unwillkürlich entkam.

„Ohhhh!“, kam es dafür wie im Chor von den Umstehenden, von denen mir zwei oder drei auf die Schulter klopften und beschwichtigende Worte wie „Macht nichts, danach ziehst du ihn aus!“ murmelten.

„Ach, Hyde“, stieg Gackt selbst auch gleich mit ein und er machte sich nicht einmal die Mühe, dabei nicht schadenfroh zu klingen, „ach, Hyde … jetzt bist du fällig.“

Und so kam es auch – fast. Ich war wirklich ganz gut im Poolbillard, aber Gackt eben auch. Er war nicht in Panik geraten, als ich eine Kugel nach der anderen hatte einlochen können, denn er hatte nur auf diese eine Gelegenheit gewartet, wenn er an der Reihe sein würde. Denn nun zog er so ziemlich die gleiche Nummer ab und spielte mich halb an die Wand. Rot 3, violett 4, gelb 1, purpur 7 und schließlich blau 2 landeten souverän eine Etage tiefer. Und dabei zog er sogar noch ein paar heiße Manöver – teilweise über drei Banden – ab, wie ich sie nie und nimmer hinbekommen würde, wenn ich nicht gerade nochmal in einer Poolhalle anfing, um wieder regelmäßig zu üben. Ich konnte auch nicht leugnen, dass mich das Ganze ein wenig nervös machte, weil ich wirklich befürchten musste, dass er das Spiel in den nächsten zwei Zügen für sich entscheiden würde. Schließlich war Gackt nur noch zwei Stöße vom Sieg entfernt, wenn er keine Fehler mehr machte. Und in dem Fall wäre sein größter Fehler tatsächlich nur der gewesen, mich anfangen zu lassen, was dann im Endeffekt ja doch hinfällig gewesen wäre. Natürlich wollte ich das ums Verrecken nicht hinnehmen müssen, aber was konnte ich tun, um es nicht so weit kommen zu lassen? Es lagen neben der weißen nur noch vier andere Kugeln auf dem Grün: zwei orangene, eine blaue und natürlich die schwarze 8 – alles sehr übersichtlich und genauso offensichtlich war auch, dass der Weg für Gackts orangene 5 weitestgehend frei war. Er müsste sie nur an einer Bande abprallen lassen und sie umlief meine blaue 10, um direkt danach im Loch zu landen. Ich musste das verhindern, ich musste zu Tricks greifen. Wenigstens zu einem kleinen, der ihn hoffentlich genug aus dem Konzept bringen würde, um mich wieder an die Reihe zu bringen und mir eine letzte Chance auf den Sieg zu geben. Aber wie nur, wie?

Auf die Schnelle sah ich nur eine Lösung des Problems: nicht nur Tricks, sondern miese Tricks zu verwenden. Ich trat an Gackts Seite, beugte mich zu ihm hinunter und legte dabei meine rechte Hand bewusst auf seinen Rücken.

„Sag mal“; raunte ich ihm dann ins Ohr und sorgte dafür, dass meine Stimme schön rauchig klang, „wieso machst du das hier eigentlich? Wieso gibst du dir so viel Mühe bei einem blöden Abend, der dir sowieso nichts bringen wird? Du versuchst doch nicht etwa, mich auf diese Weise rumzukriegen, hm?“ Dann legte ich verspielt den Kopf schief, wovon ich wusste, dass ndere sonst immer darauf ansprangen. Ich konnte zwar nicht hören, was Gackt in diesem Augenblick dachte, aber ich konnte sehen, wie seine Lippen sich zu einem Grinsen verzogen. Dann drehte er den Kopf etwas in meine Richtung und sah mich aus dem Augenwinkel an.

„Hyde, du machst mir doch nicht etwa gerade ein Angebot, um mich vom Gewinnen abzuhalten?“, fragte er glucksend.

Ich spielte mit, stieg darauf ein: „Hmmm, wer weiß. Du kannst mir auch nicht erzählen, dass du keine Hintergedanken hierfür hast.“

„Ach, du willst also wirklich wissen, wieso ich dich zu diesem Abend überredet habe?“

„Ich in superscharf drauf.“ Okay, okay, wenn er jetzt nicht wusste, dass diese Wortwahl Absicht war, um ihn tatsächlich vom Gewinnen abzuhalten, dann wäre er schon extrem dumm – was er allerdings nicht war.

„Weil ich Herausforderungen liebe, ich allgemein an Menschen interessiert bin und ganz besonders an denen, die genau wie du mit einer Leck-mich-am-Arsch-Attitüde daherkommen und denken, die Welt würde sie nichts angehen. Die Sorte kennt sich nämlich selbst meist am wenigsten. Und du bist eine herrliche Mischung aus allem. Sieh dich einfach als meine persönliche Jungfrau in Nöten an.“

„Aha.“ Etwas anderes blieb mir nicht übrig. Tatsächlich hätte ich jetzt nicht erwartet, dass er mir eine ehrlich Antwort – denn genau danach klang es – geben würde. Ich hätte erwartet, dass er noch etwas weiter mitspielte, damit ich ihn irgendwann genug ablenken könnte, um seinen Stoß zu versauen. Doch Gackt wandte sich nur wieder dem Spiel zu und setzte zu seinem nächsten Zug an. Währenddessen geisterten mir noch immer seine letzten Worte im Ohr herum: Ich war seine persönliche Jungfrau in Nöten. Und er war dann also mein Ritter in glänzender Rüstung? Ich verschob die Gedanken auf später, denn einerseits würde es mich wahrscheinlich nur aufregen und andererseits hatte ich jetzt dringendere Probleme: Es sah ganz danach aussah, als ob Gackt das Spiel aus eigener Kraft nicht versauen würde und dass ich deshalb mit noch mieseren Tricks dafür sorgen musste: Ich ließ meine Hand so schnell wie möglich an Gackts Rücken hinuntergleiten und kniff ihn einfach in den Hintern.

Seine Reaktion darauf war tatsächlich ein überraschtes „Hey!“, worauf er den Stoß vergeigte. Die Spitze des Queues schrammte an der weißen Kugel vorbei und stieß stattdessen die an, die er eigentlich hatte versenken wollen. Ein klares Foul, auch wenn es nicht seine Schuld gewesen war. Gackt fixierte mich auch gleich mit einem Blick, der – berechtigterweise natürlich – mich für sein Versagen verantwortlich machte, während ich nur entschuldigend die Hände hob.

„Was kann ich dafür, wenn du nicht sagst, dass du weitermachen willst?“, wollte ich mich aus der Affäre ziehen, „ist schließlich ein Ansagespiel.“

„Schlitzohr“, lautete Gackts Antwort darauf erst einmal nur, während er dabei den Kopf schüttelte, wenigstens aber auch schmunzelte, „na, dann mach mal und versuch dein Glück.“ Er trat darauf geduldig zurück und gestikulierte mir mit einer Armbewegung, dass der Billardtisch nun ganz mir gehörte. Es wunderte mich schon etwas, dass er nicht protestierte. Selbst seine Freunde waren lauter gewesen, weil sie mich sofort, noch bevor er überhaupt einen Ton hatte sagen können, verteidigt hatten. Alles, um ihn verlieren zu sehen. Sie waren schon eine lustige Truppe. Aber ich nahm es so hin, auch wenn ich mir vornahm, vorsichtig zu sein und auf alles zu achten, was Gackt tat. Denn diesmal blieb er neben mir, anstatt mir gegenüberzustehen. Ich erwartete fast schon eine Attacke, während ich gleich die weiße Kugel ins Rollen bringen würde, um auch noch meine verbleibenden beiden Kugeln einzulochen.

Doch er blieb wieder ganz locker und versicherte mir sogar, dass er keine krummen Spielchen treiben würde: „Du wirst sowieso verlieren. Guck dir doch nur mal an, wo meine 5 eben hingerollt ist, und du merkst es auch.“

„Was?“, meinte ich ganz überrascht, denn ich konnte mir gerade nicht vorstellen, wie seine Kugel über meine Niederlage entscheiden sollte. Aber nur einen Moment später sah ich es tatsächlich: Ich hatte jetzt schon verloren, obwohl ich noch gar nichts weiter gemacht hatte. Eigentlich hatte ich jetzt die orangene 13 anvisieren wollen, die knapp vor einem Loch gelegen hatte. Ich hätte sie nur noch sanft anschubsen müssen und sie wäre wie von allein in die Tasche gerollt. Die schwarze 8 hatte vor Gackts letztem Stoß einen halben Meter daneben gelegen, aber urplötzlich lag sie direkt dahinter – zwischen der 13 und dem Loch. Mist! So ein Mist! Ich wusste, dass Gackt nichts am Tisch gemacht hatte und seine Freunde waren auch alle gegen ihn. Also konnte seine verbleibende 5 nur so gerollt sein, dass sie die 8 angestoßen und dorthin befördert hatte. Ein Eigentor, ein verdammtes Eigentor! Ich hatte mit der Aktion gewinnen wollen und mich gerade damit ins Aus geschossen – diese Kugel konnte auch ich nicht mehr retten, ohne die schwarze 8 einzulochen und das würde meine unweigerliche Niederlage bedeuten. Mein Pech, Gackts Glück im Unglück. Uh, dieser …!

„Na, na, nicht so miesepetrig“, neckte Gackt mich daraufhin auch schon, weil ich anscheinend ein Gesicht machte als … na, als hätte ich mir gerade selbst das dümmste Bein überhaupt gestellt. Was ich ja auch hatte. Großartig gemacht!

Auf einmal wurde mir dann ein Arm um die Schulter gelegt und ich wurde an jemanden gezogen. Die Person, die mich da in den Arm genommen hatte, sagte dann auch: „Ach, komm schon, Hyde, ist doch alles nicht so wild. Los, wir trinken noch einen und du darfst mich weiter verfluchen, dass ich dich erst hergebracht hab und du nicht verloren hättest, wenn ich das nicht gemacht hätte.“ Natürlich war Gackt diese Person, das hatte ich schon an der dichten Wolke aus Parfum bemerkt, und er grinste mich dabei breit an. Und was tat ich? Ich ließ mich anstecken. Zwar grummelte ich noch ein leises „Hm“, aber … keine Ahnung. Alle waren so guter Laune und im Endeffekt war ich ja selber schuld an meiner Niederlage. Ich gab Gackt zwar nicht die Genugtuung, ausgiebig mit ihm zu lachen, aber ein breites Schmunzeln konnte ich mir trotzdem nicht verkneifen.

Arm in Arm steuerten wir die Bar an, während die anderen uns die Queue bereits aus der Hand genommen hatten und sich jetzt wieder ans Spielen machten. Witzig war es schon, denn nun, da Gackt nicht mehr dabei war, wollten wieder alle auf einmal dran sein.
 

Vorne bei Hatori an der Bar war meine miese Laune dann komplett verraucht – ganz so, als ob sie nie da gewesen wäre. Gackt gab mir noch einen Sake On The Rocks aus, bestellte sich selbst ein weiteres Bier und wir witzelten etwas über seine und meine Begabungen, was Billard und Ablenkungsmanöver anging.

„Ich frage mich wirklich, wie du so viele Leute aufreißen kannst, wenn du selbst fürs Billard miese Tricks brauchst“, meinte Gackt scherzend.

„Tja, wer sagt denn, dass ich da sonderlich ehrlich bin“, lautete meine äußerst aufrichtige Antwort darauf, worauf Gackt kurz die Augenbrauen hochzog, dann aber mit den Schultern zuckte und noch einen Schluck Bier nahm.

„Hab ich mir schon denken können, dass es ohne nicht geht“, stimmte er schließlich ein. So in der Art unterhielten wir uns, bis sich eine von Gackt Freundinnen kichernd zu uns setzte.

Ich weiß nicht, ob sie immer so war oder einfach nur zu viel getrunken hatte, aber auf alle Fälle begrüßte sie mich mit folgenden Worten: „Na, Süßer, wie wäre es mit uns beiden?“

„Das brauchst du erst gar nicht zu versuchen, Hana. Hyde interessiert sich nicht für Frauen“, riss Gackt das Wort aber schon an sich, bevor ich den Mund aufmachen oder auch nur ihr Angebot realisieren konnte. Es dauert ein paar Sekunden, ehe ich voll drin war.

„Das stimmt so nicht“, wandte ich dann endlich ein, „ich nehme, was grad kommt oder worauf ich Lust habe. Und selbst wenn es ein Mann ist, was soll's? Ich bin sowieso nicht scharf auf eine Familie, Kinder und den ganzen Rattenschwanz.“

„Das ist traurig“, kommentierte diese Hana dazu und sah aus, als würde sie gleich ganz sentimental werden.

„Ach, komm. Ist doch meine Sache.“

„Sie hat Recht“, warf Gackt auch noch ein und verbrüderte sich damit schon irgendwie gegen mich, „es ist traurig, wenn du auf eine Familie und Bindungen pfeifst. Sonderlich viele Freunde scheinst du auch nicht zu haben. Zumindest hab ich dich nie mit welchen gesehen.“

„Kann ja nicht jeder so ein Gesellschaftstier sein wie du. Ich wette, du bist perfekt in allem, was du bist und tust.“

Darauf lachte er, jedoch klang es ein wenig bitter.

„Ganz sicher nicht“, versuchte er mir weißzumachen, „um ehrlich zu sein, ich hab ziemliche Probleme, mit meiner Familie vernünftig auszukommen.“

„Oh~ wie unerwartet. Der große Gackt hat doch Fehler“, zog ich das ganze ins Lächerliche, schätzte die Situation dabei aber vollkommen falsch ein. Denn ich hatte nicht erwartet, dass er mir darauf ernsthaft antwortete.

„Ich hab nie behauptet, dass ich keine hätte“, gab Gackt zu, „die Bande, die sich meine Familie schimpft, ist mir einfach suspekt. Wir haben keinen Draht zueinander, weil sie allesamt ziemlich verstockt sind. Also bin ich da ausgestiegen, als es mir zu bunt wurde. Seitdem gebe ich mich nur noch mit ihnen ab, wenn ich wirklich muss. Ich hab mir dafür andere Leute gesucht – Leute, mit denen ich wesentlich besser auskomme.“

„Aha.“ Ich war etwas perplex, dass er mich damit jetzt überfuhr.

„Mein Vater hat bald Geburtstag“, sagte er darauf. Nur das, nur eine Feststellung, ohne Erklärung oder Frage.

„Und?“, übernahm ich das daher.

„Ich hab dir doch gesagt, dass ich zu meiner Familie keinen guten Draht habe.“

„Äh …“, so langsam hatte ich das Gefühl, dass ich dazu irgendwas sagen sollte. Das Problem war nur: Was? Ich kannte seine Familie nicht und im Grunde ging mich die auch gar nichts an. Vielleicht sollte ich es auch genauso handhaben. Hm … ich antwortete daher erst einmal so, wie ich es nehmen würde: „Trotzdem: Und? Wenn du keinen Draht zu ihnen hast, dann brauch es dich ja nicht zu kümmern.“ Für mich war der Fall klar, für Gackt aber natürlich nicht. Wieso denn einfach, wenn es auch kompliziert ging?

„Das kommt mir falsch vor. Ich fühle mich schlecht, wenn ich mich nicht wenigstens blicken lasse. Meine Mutter würde sich sicher sehr darüber freuen – sie ist die Einzige, der ich nicht komplett den Rücken gekehrt habe. Nur wegen ihr tauche ich regelmäßig auf Familienfeiern auf. Aber der Rest der Bagage bringt mich einfach zur Weißglut. Man kann sie noch nicht einmal begrüßen, ohne dass sie die Gelegenheit nutzen, schon wieder irgendwelchen …“

Ich seufzte. Er war ein elender Moralapostel. Und damit machte er es sich nur selbst schwerer, als er es haben musste. Machte er mit seiner Art zu leben sowieso, aber das hier war noch einmal etwas anderes … eine Stufe höher. Und er belastete mich damit, indem er es mir erzählte, weil er wohl darauf hoffte, dass ich ihm dabei helfen würde. Ich roch es förmlich. Dabei sollte er doch mitgekriegt haben, dass das nicht mein Ding war. Zumal ich mit meiner Familie im Grunde wunderbar klarkam, sie aber einfach nicht so oft besuchte, weil ich schlichtweg nicht das Bedürfnis danach verspürte, sie alle naselang zu sehen.

„Ich weiß nicht, was ich da jetzt tun kann“, sagte ich daher ehrlich und vielleicht auch ein bisschen hölzern. Aber hey, mir hatte niemand gesagt, dass ich heute den Seelenklempner spielen sollte. Warum ausgerechnet ich? Er hatte doch bestimmt Freunde, die mit so etwas besser umgehen konnten.

„Ist ja auch alles nicht so einfach, Hyde“, meinte er leicht abwesend und es gleichzeitig beendend, indem er einen Schluck von seinem Bier nahm und dann selber davon ablenkte.

„Und du?“, fragte er.

Ich zuckte mit den Schultern und meinte nur: „Was soll schon sein? Meine Eltern leben, seit ich denken kann, in demselben Nest, ich bin ausgezogen und sehe sie ab und an. Ganz normal eben.“

„Also … keine dunklen Geheimnisse, schlimme Kindheit oder sonstige Gründe, wieso du so geworden bist?“

„Nope, nichts davon. Du solltest dir also wirklich jemand anderen dafür suchen.“

„Schon gut, schon gut“, stimmte Gackt zu und leerte seine Bierflasche. Begeistert schien er von dem Ende der Unterhaltung zwar nicht zu sein, aber sein Ton wurde während der nächsten Worte schon wieder hoffnungsvoller: „Lass uns dann auch gehen, sonst läuft nirgendwo mehr ein Film.“

„Das ist doch mal ein Wort.“
 

„Zwei bitte!“, sagte Gackt zu einem Mann mit einem tragbaren Stand, wo es irgendwas zu essen zu geben schien. Ungefähr eine viertel Stunde nachdem wir uns von seinen Freunden verabschiedet und die Bar verlassen hatte, hatte er diesen Typen auf dem Weg zum Kino erblickt und mich kurzerhand hingeschleift.

„Was ist das?“, fragte ich und lehnte mich ein wenig zur Seite, um an ihm vorbeispähen und erkennen zu können, was der Kerl ihm da gab. Ich musste jedoch warten, bis er seine Geldbörse wieder weggesteckt, was auch immer entgegengenommen und sich zu mir umgedreht hatte. Und selbst dann reichte er mir wortlos eins von den in Servietten gepackten Teilen, die er in den Händen hielt. Ich hob es an die Nase und roch kurz darauf, wobei mir ein starker Geruch von Salz in die Nase stieg.

„Was ist das nun?“, hakte ich weiter nach.

„Kennst du das nicht?“

„Würde ich sonst fragen?“

„Das ist eine Laugenbrezel“, erklärte Gackt mir, trennte ein Stück von seiner Brezel ab und steckte es sich in den Mund. Als er es runtergeschluckt hatte, fuhr er fort: „Die kommen ursprünglich aus Deutschland, aber es gibt sie mittlerweile so ziemlich überall. Nur an dir scheinen sie vorbeigegangen zu sein. Allerdings muss ich zugeben, dass ich auch erst drüber gestolpert bin, als ich für eine Weile in England war.“

„Bist ja weit gekommen“, sagte ich beiläufig, roch noch einmal an der Laugenbretzel und überlegte immer noch ernsthaft, ob ich da wirklich reinbeißen wollte. Zur Überbrückung stellte ich Gackt noch eine Frage: „Warst du sonst noch irgendwo?“

„Ein Stückchen war es schon“, antwortete er beiläufig, während er munter aß, „ich war auch noch in Frankreich, Italien und Spanien, allerdings nur für zwei Wochen. Nach Deutschland direkt wollte ich auch noch, aber es ist leider was dazwischengekommen. In den USA war ich noch recht lange und hab da auch einen Abstecher nach Mexiko gemacht. Und bevor ich wieder nach Hause bin, war ich für ein paar Tage in Brasilien.“

„Klingt nach Weltreise.“

„War es auch irgendwie. Davor bin ich schon durch die umliegenden asiatischen Länder gereist, ehe Europa und Amerika dran waren.“

„Und das kann man sich als popeliger Barkeeper leisten?“, hakte ich nach, weil es mich doch ziemlich wunderte.

„Ähm … nicht wirklich. Ist schon Jahre her und ich hab die Reise quasi geschenkt bekommen.“

„Papi?“

„Nein, gewonnen. Ich löse für mein Leben gern Rätsel in Frauenzeitschriften, musst du wissen.“ Sein Tonfall verriet mir, dass ich den letzten Teil nicht allzu ernst nehmen sollte. Ich kam jedoch trotzdem nicht umhin, sein Gesagtes für mich auszunutzen.

„Ich wusste doch, dass du im Inneren ein Mädchen bist“, spöttelte ich, grinste ihn an und beäugte dann wieder das Brezelding in meiner Hand. Wirklich eklig schien es nicht zu sein, Teig und Salz eben, aber ich war eher für japanische Küche zu haben.

„Jetzt hör auf zu schnüffeln und beiß endlich rein!“, forderte Gackt mich schließlich auf und knuffte mich in die Seite. Ich verzog die Lippen ein wenig und tat dann, was er verlangte. Wenigstens würde er dann aufhören, mich mit den blöden Ding zu nerven, wenn er sah, dass ich es probierte. Und wie zu erwarten …

„Viel zu salzig!“, kommentierte ich, noch bevor mein Mund wieder leer war, und kaute weiter auf dem Teig herum. „Und bitter ist es auch irgendwie.“

„Banause“, nannte Gackt mich darauf und biss selbst wieder von seiner Brezel ab.

„Und du hast keinen Geschmack!“, schoss ich zurück, nachdem ich den Bissen endlich heruntergewürgt hatte. Dann hielt ich ihm den Rest der Brezel entgegen, damit er ihn mir abnahm.

Er schüttelte allerdings nur den Kopf und entgegnete rotzfrech: „Vergiss es, das ist deine.“

„Es schmeckt mir nicht.“

„Ist mir egal. Iss sie einfach, ich hab auch ein bisschen gebraucht.“

Ich grunzte darauf leise und verzog den Mund, als ich die Brezel in meiner Hand wieder zu beäugen begann. Ein leises Glucksen verriet mir, dass Gackt mich dabei schon wieder beobachtete.

„Was?!“, sagte ich.

„Wenn es nicht extravagant ist, kannst du damit nichts anfangen, oder?“

„Das stimmt so nicht!“, lautete meine Antwort. „Und selbst wenn: Was wäre so schlimm dran?“

„Dass du die einfachen Dinge des Lebens nicht mehr zu schätzen weißt.“

„Ich weiß das zu schätzen, was mir gefällt. Und das Zeug da“, ich warf der Brezel in meinen Händen einen abschätzigen Blick zu, „ist einfach nicht nach meinem Geschmack.“

„Na, ich glaub dir das mal“, entgegnete Gackt, wieder einmal von dem Gebäck abbeißend. Es hatte es mittlerweile fast geschafft – da hätte er mir auch wirklich meine abnehmen können!

„Solltest du auch, schließlich-“, setzte ich gerade an, als Gackt mir jedoch einfach dazwischenredete.

„Weißt du was? Bis zum Kino ist es zu weit zum Laufen, ich ruf uns ein Taxi.“

„Au jaa~ Luxus!“, jubelte ich gespielt und legte zur Perfektion des Theaters noch einen kleinen Hüpfer und ein strahlendes Lächeln drauf. Letzteres verschwand aber sogleich wieder, als ich die Miene verzog, um Gackt zu demonstrieren, dass ich es nicht ernst meinte.

Der lachte allerdings nur und aß in aller Seelenruhe weiter. War ja klar.
 

tbc.
 


 

~~~ ++ * ++ ~~~
 

Puh, das war lang. Keine Ahnung, wie das passieren konnte, denn das war eigentlich eines der schlimmsten Kapitel. Um in der Geschichte voranzuschreiten hatte ich bei Hängern immer eine Lücke gelassen und einfach an der nächsten 'festen' Stelle weitergemacht, sodass ich, nachdem ich mit dem Epilog fertig war, trotzdem noch ne ganze Menge Arbeit hatte, um die Fic komplett zu kriegen. Das Billard-Match zwischen G und Hyde war die letzte Lücke, die ich hatte füllen müssen … und es war ein Graus. Ich mag die Szene nicht und sonderlich spannend finde ich sie auch nicht. Man sollte eben doch nur über das schreiben, wo man sich wirklich auskennt ^^ Aber vllt sehe ich das ja auch schlimmer als es tatsächlich ist? Feedback und Kritik sind immer willkommen :3
 

Außerdem hätte ich da noch ein Anliegen in anderer Fic-technischer Hinsicht: Ich kann ja auch nicht ohne und selbst, wenn ich jetzt erstmal hier hochlade, arbeite ich schon wieder am nächsten Projekt. Lest ihr euch diesen Testlauf mal kurz durch und sagt mir dann eure Meinung dazu? http://desu.de/wbl_251359_645856 Dürfte nur 10 Minuten dauern und wäre sehr, sehr lieb <3



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  DraySama
2013-05-26T13:02:21+00:00 26.05.2013 15:02
Man könnte meinen du spielst selbst gut Billiard....Ich fand die erzählung so gut das ich als absoluter Leihe verstanden gab was da vor sich ging. Die Bemühung von Gackt ust schon sehr süss, wenn ich auch das Gefühl habe da lauert moch etwas tief tieeef in ihm.
Von:  Kimiko02
2012-12-16T23:14:31+00:00 17.12.2012 00:14
Hm, also ich hab selber nicht viel Ahnung von Billiard, von daher fand ich es ziemlich beeindruckend, wie ausführlich das Spiel beschrieben war.
Ich dachte mir da auch schon, dass das bestimmt voll schwer zum Schreiben war. Von daher Hut ab, dass du das geschafft hast. Ich hätt das nicht hingekriegt.
Auch wenn der Teil durchaus ein wenig mühsam zum Lesen war (eben weil ich kaum Ahnung von dem Spiel habe), fand ich es trotzdem sehr spannend, ob Hyde nun gewinnen würde oder nicht.

Insgesamt hat mir das erste Kapitel zwar besser gefallen, aber wenn es tatsächlich an irgendeiner Stelle langweilig gewesen wäre, hätte ich es nicht in einem Rutsch durchgelesen. War also immer noch spannend genug ^^

Achja, diesmal waren deutlich mehr Flüchtigkeitsfehler drin, aber es waren nicht soo viele, dass es wirklich beim Lesen gestört hätte.

Ich bin trotzdem sehr gespannt, wie es weiter geht!
Vor allem, eigentlich hatte Hyde doch jetzt schon einiges an Spaß ... ob er das später wohl ableugnen wird? xD


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