Zum Inhalt der Seite

Ein ungewöhnlicher Mitbewohner

von
Koautor:  Caracola

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

17. Kapitel

Das Café war wirklich nett. Es gab sowohl hohe Tische mit Barhockern, an denen man genauso essen konnte, wie in den kleinen Séparées mit den wuchtigen Ledersesseln in Rot, die aber unglaublich gemütlich waren. Draußen vor der offenen Fensterfront hatte man einen wunderschönen Blick auf den Park und einem riesigen Springbrunnen an dem einzelne Menschen saßen. Kinder spielten rund herum, es gab sogar eine Gruppe von modernen Musikern die für eine Spende recht gute Musik spielten. Doch das Beste an diesem Laden war das unglaublich köstliche Eis in den verschiedensten Sorten.

Die nette Kellnerin mit dem freundlichen Lächeln brachte gerade ihr Essen. Adrian hatte sich gebackene Putenstreifen auf Blattsalat und dazu noch einen frisch gepressten Orangensaft bestellt. Er wollte nicht zu viel zu Mittag essen, damit noch genügend Platz für die Eiscreme war, die er sich mit Garantie heute noch reinziehen würde.

„Gehst du eigentlich auch gerne abends schön Essen? Ich meine, nicht nur mit deinem Boss.“ Okay, das war jetzt nicht unbedingt zurückhaltend, da er den spitzen Unterton in seinem letzten Satz nicht ganz hatte verbergen können, aber er war noch immer nicht schlau daraus geworden, ob nun etwas auf dieser Reise passiert war, oder nicht. Zwar hatte Emily nicht den Eindruck gemacht, als würde sie ihn anlügen, doch es reichte immerhin schon völlig, wenn sie einfach Details wegließ und das wurmte ihn enorm.
 

Auf diese Fragen konnte Emily Adrian locker antworten, während sie ein Stück Rucola aus ihrem Sandwich zog. Sie hatte sich auf Adrians Tipp hin nur etwas Kleines bestellt. Ein vegetarisches Sandwich mit Ciabatta-Brot und eingelegtem Gemüse wie Auberginen und Zucchini darauf. Schon beim Anblick lief ihr das Wasser im Munde zusammen. Adrians Salat mit den Putenbruststreifen sah aber auch sehr lecker aus. Beinahe hätte sie in typischer Frauenmanier gefragt, ob sie ein Stück probieren durfte. Aber so gut waren sie nun auch wieder nicht befreundet, dass sie sich das getraut hätte. Außerdem konnte sie selbst schlecht etwas abgeben, denn er hätte einfach von ihrem Brot abbeißen müssen. Sie wollte ihm nichts wegessen.

„Hm… Na ja, das kommt ganz drauf an. Ich gehe schon gern essen, wenn die Begleitung und das Restaurant stimmen. Allerdings mag ich keine Nobelschuppen. Das Restaurant, in dem ich mit Richard war, hatte für meinen Geschmack schon zu viel von schicki-micki an sich. Da fühle ich mich immer wie auf dem Servierteller.“

Sie konnte sich noch lebhaft erinnern, wie sie das bei ihrem ersten Treffen mit Richard versucht hatte mit Wein zu übertünchen. Es war kein schönes Gefühl gewesen, als die Dame am Nebentisch die Nase über Emilys Sprachgebrauch gerümpft hatte. Nein, das brauchte sie wirklich nicht in regelmäßigen Abständen.

„Wie gesagt, wenn es nicht zu hochgestochen ist und ich mich normal verhalten kann, sehr gern. Wie ist das denn eigentlich bei dir? Du warst doch damals auch ziemlich geschniegelt. Da wirst du doch nicht hierher gegangen sein, oder?“ Sie schenkte ihm ein Lächeln und biss dann genüsslich von ihrem Sandwich ab. Es schmeckte großartig, in diese eingelegten Auberginen hätte Emily sich hineinlegen können.
 

Adrian nahm einen großzügigen Schluck des Orangensaftes, da er von der Sauna ganz durstig geworden war. Kein Wunder, er hatte vermutlich mehr Wasser ausgeschwitzt, als er heute zu sich genommen hatte. Danach schnitt er sich gründlich ein Stück von einem Putenstreifen ab, nahm es jedoch nicht in den Mund, sondern drehte die Gabel, um sich das Stück eingehend ansehen zu können. Obwohl er sich gar nicht dafür interessierte. Stattdessen ließ er sich Emilys Frage durch den Kopf gehen. Die Wahrheit konnte er ihr natürlich nie und nimmer sagen und um ehrlich zu sein, er wollte sich selbst auch nicht noch einmal daran erinnern. Rose war gut und nett, aber nichts weiter als ein weibliches Gesicht von Hunderten.

„Nein, ich war damals nicht hier.“ Er lächelte leicht. „In dem Aufzug hätte ich mich niemals hier herein getraut. Ich bin es zwar gewohnt, angestarrt zu werden, aber sicherlich nicht die Art, wie ich es auf diese Weise hervorgerufen hätte.“ Leise klirrend, legte er die Gabel auf dem Tellerrand ab, um noch einen Schluck zu trinken, ehe er Emily über den Tisch hinweg ansah. Seine blauen Augen verbargen nichts vor ihr. Das konnte sie garantiert deutlich sehen.

„Ich war im Moondance. Ein Restaurant der Spitzenklasse mit einer Fünf-Sterne-Küche und mit Kellnern die aussehen wie langgezogene Pinguine.“ Sein Lächeln wurde breiter, als er sich an die Angestellten zurückerinnerte. Sie hatten fast die gleiche Erscheinung wie das Hauspersonal seiner Eltern gehabt.

„Weißt du, ich verleugne zwar gerne meine Herkunft, aber ich kann nicht abstreiten, dass ich es manchmal genieße, nobel Essen zu gehen. Obwohl, müsste ich mich zwischen ein Luxusrestaurant und deiner Küche entscheiden, würde ich lieber auf dem Sessel an unserem Tisch herum lümmeln.“ Allerdings nur, wenn Emily auch dabei war und sie sich gegenseitig mit ihrer Anwesenheit erfreuten.

„Nichtsdestotrotz will ich bei bestimmten Anlässen meine Erziehung überprüfen und ob ich noch alles so beherrsche, wie man es mir jahrelang eingetrichtert hat. Damals empfand ich die unzähligen Lernstunden als eine Qual und Strafe, doch heute bin ich dankbar dafür. Sie lassen mich nicht vergessen, woher ich wirklich komme.“ Er stammte aus einem verdammt guten Haus mit hohem Ansehen und nicht aus einer dreckigen Gosse die nur deshalb erträglich gewesen war, weil er sich tagtäglich mit Drogen vollgepumpt hatte, die er sich durch Prostitution herangeschafft hatte. Wieder und wieder und immer wieder.

Erst nach dieser Ankündigung senkte er wieder den Blick. Das Blau seiner Augen schien bei den letzten Sätzen eine Spur dunkler geworden zu sein. Es war ein Thema über das er normalerweise nicht so offen sprach. Doch irgendwie fiel ihm das bei Emily um Vieles leichter als bei Anderen. Solange er die wirklich harten Details wegließ, machte es ihm nichts aus, wenn sie mehr über ihn erfuhr.

Endlich schob er sich den mundgerechten Bissen zwischen die Lippen und kaute zufrieden. Der Geschmack war einfach köstlich und das, obwohl hier sicherlich keine Fünf-Sterne auf der Küchentür klebten.
 

„Du kommst aus Kreisen, in denen man Restaurants wie das Moondance regelmäßig besucht?“ Emily kannte den Laden von Erzählungen und Berichten in irgendwelchen Zeitschriften, war aber niemals dort hin gegangen und wollte es auch nicht. Das war genau die Klasse, die ihr zu hoch war. Viel zu teuer, viel zu steif und überhaupt einfach nicht ihr Ding.

„Da würden mich freiwillig keine zehn Pferde hinbringen. Ich kann mich einfach nicht entsprechend verhalten, ohne dass es mir unangenehm wäre oder ich etwas vorspielen müsste, das ich nicht bin.“ Die Begeisterung mit der sie von ihrem Sandwich abbiss, musste ihm zeigen, wie sehr sie es hingegen genoss, in kleinen Etablissements wie diesem zu sein. Das hieß ja nicht, dass sie sich nicht zu benehmen wusste, aber sie fühlte sich in einer Fünf-Sterne-Umgebung einfach nicht zu Hause.

„Das mag vielleicht eine ziemlich dreiste Frage sein, aber…“ Emily überlegte, wie sie es am besten formulieren sollte, ohne zu aufdringlich zu wirken. „Wenn deine Familie reich ist … warum tanzt du dann im Shadow?“ Sie wollte sich nicht sofort einen vernichtenden Blick einfangen, deswegen sprach sie schnell weiter.

„Ich habe verstanden, dass das auch normale, gute Arbeit ist. Und vor allem, dass dir das Tanzen Spaß macht.“ Sie suchte in seinem Gesicht nach Anzeichen von Wut, wie beim letzten Mal, als sie so ein Gespräch nach seinem Auftritt geführt hatten. Er musste sich nicht verteidigen, damit waren sie durch. Emily machte Adrian keinen Vorwurf oder Ähnliches. Sie war nur neugierig.

„Bitte versteh mich nicht falsch, aber hat deine Familie nicht von dir erwartet, dass du … ich weiß nicht … Arzt wirst oder Manager oder so was in der Richtung?“
 

„Anwalt, um genau zu sein.“ Adrian legte das Besteck weg, obwohl er noch etwas Salat und Pute übrig hatte. Im Moment war er jedoch nicht dazu in der Lage, etwas zu essen. Stattdessen umschlangen seine Finger das Glas mit dem Orangensaft und drehten es langsam im Kreis. Sein Gesicht war entspannt, er war garantiert nicht sauer, wegen Emilys Frage. Höchstens etwas nachdenklich. Doch da glitten seine blauen Augen auch schon wieder zu ihrem Gesicht, wo er deutliches Interesse erkennen konnte. Sie entlockte ihm damit ein sanftes Lächeln, ehe er wieder ernst wurde, sich zurücklehnte und sein Glas anstarrte.

„Zumindest war das der Wunsch meines Vaters und ist es vermutlich bis heute noch. Schon im Elitekindergarten wurde ich streng darauf gedrillt, einmal ein verdammt guter Anwalt zu werden, der vor Gericht knallhart verhandelt und unzählige wichtige Fälle gewinnt. Mit Beginn der Privatschule wurde es noch schlimmer. Denn zusätzlich zu den Privatstunden Zuhause, musste ich auch noch unzähligen ‚Hobbys‘ nachgehen. Schachspielen, Geigenunterricht, Golfen, Polospielen, Reiten und noch etliche Dinge mehr.“

Kurz blickte er zu Emily hinüber, um zu sehen, wie sie das bisher Gesagte aufnahm, danach senkte er seine Lider wieder. „Es gab keine Minute meines Tages, die nicht mit Aktivitäten verplant war. Egal wie sehr ich sie alle hasste. Zumindest bis auf Bälle, Galas oder hohe Besuche, bei denen ich mit am Tisch sitzen durfte und Opern. Ja, ich liebe tatsächlich Opern, wobei ich Musicals eigentlich schon fast lieber habe, da ich da meistens auch den Text verstehe. Auf jeden Fall kannst du mir glauben, es gibt in den hohen Kreisen meiner Familie keinen Gesellschaftstanz den ich nicht könnte, keine Benimmregel, die ich nicht schon tausendmal eingehalten hätte und absolut keinen Moment wo ich hätte einmal frei entscheiden können.“

Adrian ließ die Worte wirken, während er sich den trockenen Mund mit etwas Orangensaft benetzte und dann mit völlig anderem Tonfall fortfuhr. Bis hierher hatte er eher wie ein Berichterstatter geklungen. Emotionslos. So als ließe ihn all das vollkommen kalt. Jetzt wurde er zum Erzähler.

Adrian wusste, auf welch dünnem Eis er sich damit begab, aber irgendwie war er auch nicht dazu in der Lage, einfach aufzuhören, egal wie heftig sein Herz pochte und wie sehr sein Puls zu rasen anfing.

„Kurz nach meinem 16. Geburtstag bin ich von Zuhause abgehauen. Seit dem habe ich meine Eltern nie wieder gesehen und nur noch ab und zu mit meinem Vater telefoniert. Meine Mutter wollte nie mehr mit mir reden.“ Seine Hand, die bisher das Glas immer schneller und schneller gedreht hatte, blieb mit einem Mal ganz still. „Seit diesem Tag bin ich – zumindest meistens – mein eigener Herr gewesen. Ich verdiene mein eigenes Geld. Ich versorge mich selbst und ich tu was mir Spaß macht.“ Leider nicht immer.
 

Emily hörte wie immer aufmerksam zu, als Adrian ihr von seiner Vergangenheit berichtete. Sie war froh, dass er ihr so weit vertraute, ihr das alles zu erzählen. Dass er von zu Hause weggelaufen war, vertraute er wahrscheinlich nicht sofort jedem Menschen an.

Irgendwie konnte sie nachvollziehen, dass er sich abgesetzt hatte, um ein Leben ohne all diese Ketten zu führen.

„Das hört sich ganz schön heftig an. Ehrlich gesagt sind mir solche Situationen völlig fremd. Mir ging es in meiner Familie immer gut. Mal von meinem Großvater abgesehen.“

Aber das schien so gar nicht schwerwiegend zu sein, im Gegensatz zu dem Druck, dem Adrian vom Kindergartenalter an ausgesetzt gewesen war. Man konnte die Welt der High Society vielleicht verklären und sich denken, dass sie tatsächlich nur aus Banketts und Bällen bestand, aber was hinter dieser Fassade vor sich ging war offensichtlich kein Zuckerschlecken.

Sie senkte den Blick auf ihre Hände und die nächsten Worte kamen nur als Flüstern über ihre Lippen.

„Ich kann mir nicht vorstellen, wie es wäre, wenn ich meine Mutter nie wieder sprechen könnte.“

Wie wohl in fast jeder Familie hatte es Zeiten gegeben, in denen sich Emily gewünscht hatte, sie hätte andere Eltern. Weil sie sich eingebildet hatte, nicht alles zu bekommen, was sie sich wünschte. Aber das war auch nicht so einfach mit drei Kindern. Sie konnte sich aber auf keinen Fall darüber beschweren, dass sie zu wenig Liebe abbekommen hätte.

Mit viel Mitgefühl in den Augen sah sie Adrian an. Am liebsten hätte sie ihn umarmt, auch wenn er weder instabil noch besonders traurig aussah. Um ihn ein wenig aufzuheitern, lächelte sie ihn an und schob ihm die Eiskarte zu.

„Freut mich, dass du die Dinge tun kannst, die dir Spaß machen. Das Tanzen gehört wohl auf jeden Fall dazu, was? Ich mag Tanzen auch, aber mehr die Standard-Sachen. Da bin ich ganz annehmbar, denke ich…“
 

Nach Emilys Worten, musste Adrian erst einmal in sich hinein fühlen. Was empfand er eigentlich bei dem Gedanken, dass seine eigene Mutter nichts mehr von ihm wissen wollte? Ja, da war ein kleiner Stich, der kaum noch schmerzte, denn im Grunde war sie nie der Typ Mutter gewesen, den er in Tysons Mutter hatte entdecken können. Es war zwar schwer zu glauben, aber Tyson gehörte ebenfalls zu gehobenen Kreisen. Doch da seine Eltern lange nicht so verbohrt waren, wie die von Adrian, hatte er sein Leben selbst gestalten können. Wie sehr er ihn doch damals beneidet hatte. Ein Grund, wieso Adrian niemals Hilfe bei Tyson gesucht hatte, als er so tief abgerutscht war, dass jeder Tag sein letzter hätte sein können. Die Versuchung war da gewesen, aber er hatte es nicht geschafft. Selbst seinem besten Freund gegenüber, wollte er niemals in der Verfassung gegenüber treten, in der er damals gewesen war. Zwar hatte er seinem Freund viel von den erlebten Dingen erzählt und auch sicherlich keine zensierte Version von sich gegeben, aber man konnte es sich dennoch kaum vorstellen, wenn man es nicht selbst gesehen hatte.

Gerade wollte Adrian Emily vorschlagen, einfach einmal ganz normal zum Tanzen zu gehen. Er würde gerne einmal Standarttänze mit ihr tanzen. Das würde sicher ziemlich viel Spaß machen, wenn es in einem ganz normalen Tanzlokal stattfand. Doch da klingelte auch schon ihr Handy und sofort verstummte er.
 

Mit einem entschuldigenden Blick zu Adrian, der ihr aber zunickte, hob sie ab. Allerdings mit gemischten Gefühlen, denn sie hatte bereits an der Nummer gesehen, wer dran war - Richard.

„Hallo Emily. Störe ich?“

„Hallo. Naja, ich bin gerade mit Adrian beim Essen. Wie geht’s dir?“

„Gut, danke, ich hoffe dir auch.“

„Klar, ich kann nicht klagen.“

„Ehm… Ich wollte nur fragen, ob du heute Abend schon etwas vorhast.“

Unwillkürlich sah sie Adrian an, riss sich aber zusammen, um keinen peinlich berührten Ausdruck auf ihrem Gesicht auftauchen zu lassen. Trotzdem schlug ihr Herz schneller, als sie sich die Antwort überlegte. Sie hatte Richard seit dem Flug nicht mehr gesehen. Sollte sie jetzt ablehnen? Dann würde sie nie herausfinden, was das zwischen ihnen war. Und außerdem hatte sie ja wirklich nichts vor.

„Nein, ich bin frei.“

„Schön.“ Sie konnte hören, dass er sich ehrlich freute, was ihr ein besseres Gefühl gab. „Ich habe zwei Einladungen für eine Vernissage, falls dich das interessiert. Es sind Glasobjekte.“

„Klar, sehr gern. Wann geht es denn los?“

„Ich kann dich wieder um halb sieben abholen. Die Vernissage fängt um sieben an. Aber du kennst ja diese Künstlerkreise. Da ist es chick, wenn man mindestens eine halbe Stunde zu spät kommt.“ Sein Lachen war ansteckend und Emily verabschiedete sich in echter Vorfreude auf den Abend. Glasobjekte hörten sich interessant an. Für so etwas hatte sie viel übrig.

Als sie das rote Mobiltelefon wieder verstaut hatte, widmete sie ihre volle Aufmerksamkeit wieder ihrem Tischnachbarn.

„Tut mir leid. Hast du schon einen Eisbecher ausgesucht?“ Sie erwähnte absichtlich nicht, mit wem sie gesprochen hatte und blätterte geschäftig in der Karte herum, um sich doch ihren Standard-Eisbecher auszusuchen. Einen mit vielen Früchten, Schokoeis und ohne Sahne.
 

Während sie redete und zu hörte, ließ er die Eiskarte durch seine Finger gleiten, fuhr verschiedene Überschriften mit seinem Finger nach und versuchte das seltsame Gefühl in seinem Magen zu ignorieren.

Mona konnte es nicht sein. Denn Emily hatte immer diesen gewissen Ausdruck im Gesicht, wenn sie mit ihrer Schwester sprach. Julie auch auf keinen Fall. Die hätte er bestimmt bis hier her gehört.

Irgendwie glaubte er ohnehin nicht, dass es sich hierbei um eine Frau handelte, was ihm gleich noch viel mehr zu nagen gab. Doch er drängte all seine Gedanken zur Seite und stellte für einen Moment auf absoluten Durchzug. Er wollte gar nicht wissen, mit wem sie sich da verabredete. Zumindest versuchte er, sich das einzureden.

„Ja, hab ich.“ Adrian winkte die nette Kellnerin zu sich heran und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, was diese prompt erröten ließ. Irgendwie half das etwas gegen das frustrierende Gefühl des Nicht-Wissens in seiner Brust. „Ich hätte gerne einen Hauch von ‚Heißer Liebe‘ und bitte nicht mit den Himbeeren sparen.“ Er verfluchte sich selbst für den Tonfall, den er bei seiner Bestellung verwendet hatte. Es klang beinahe zweideutig. Doch noch ehe die Hormone der Kellnerin so richtig zu arbeiten anfangen konnte, entließ er sie aus seinem Lächeln und wartete, bis Emily ihren Wunsch abgegeben hatte. Danach brauste die junge Frau davon.

Adrian trank seinen Orangensaft leer und starrte wieder das Glas an. Kein Lächeln lag auf seinem Gesicht, dafür verbiss er sich wie wild die eine Frage, die ihm regelrecht im Kopf herum hämmerte: Wer war das?

„Ich habe gestern deine Nachbarin Mrs. Jenkins kennen gelernt.“, wechselte er so unvermittelt und prompt das Thema, dass er selbst nicht ganz den Zusammenhang verstand, da es ja keinen gab. Aber es war ein Thema, das unschuldig und unverfänglich wirkte. Genau das, was er jetzt brauchen konnte. „Die alte Dame hat es nicht gerade leicht, jedes Mal wenn sie die Wohnung verlässt, die vielen Treppen zu meistern. Ich habe mir daher überlegt, ob ich ihr unter der Woche nicht etwas zur Hand gehe. Da ich sowieso nichts Besseres zu tun habe.“
 

Die Kellnerin war von Adrians Lächeln derart gefesselt, dass sie beinahe vergaß Emilys Bestellung aufzunehmen. Allerdings fand Emily die Sache eher lustig. Wenn die Hübsche wüsste… Bei den Namen, die die Eisbecher hier hatten, kam sie bestimmt öfter mal ins Schleudern, wenn ein gut aussehender Mann bestellte.

„Oh, tatsächlich? Ja, sie ist wohl ein bisschen überfordert. Ihr Mann ist vor einem halben Jahr mehr oder weniger plötzlich an einer Lungenentzündung gestorben und seitdem scheint sie immer weiter abzubauen.“

Emily hatte sie nach dem Tod ihres Mannes ein paar Mal besucht und auch ein wenig aufgeräumt, wenn sie in der Wohnung der alten Dame gewesen war, aber sie hatte einfach nicht genug Zeit, um sich wirklich um sie zu kümmern.

„Ich habe Mrs. Jenkins schon öfter ins Gewissen geredet, sich doch beim Sozialdienst anzumelden, damit jeden Tag jemand bei ihr vorbei schaut. Aber sie weigert sich. Die Dame ist ziemlich dickköpfig, wenn es darum geht, sich etwas abnehmen zu lassen. Daher wünsche ich dir schon mal viel Glück bei dem Vorhaben. Aber schön, dass du ihr helfen willst. Sie ist wirklich recht nett, wenn auch speziell in ihrer Art.“

Sie wurden durch die Kellnerin unterbrochen, die schon die Eisbecher vor ihnen abstellte. Emily nahm sich eine Kirsche, die ganz oben auf der Kugel Schokoeis lag und steckte sie sich genüsslich in den Mund, bevor sie weiter sprach.

„Mrs. Jenkins hat dich doch bestimmt gleich gefragt, ob du mein neuer Freund bist.“ Sie grinste zu ihm hinüber, in dem Glauben, dass er das total lächerlich fand. „Meiner Großmutter ähnlich, ist sie immer besorgt, ich könnte niemanden mehr abbekommen. Ich glaube, wenn ich vor dreißig nicht heirate, werden sich die beiden zusammen tun und mir einen Mann suchen.“

Wäre eigentlich ein spannendes Experiment gewesen. Zumindest der Traummann der beiden Damen hätte Emily bestimmt auf die eine oder andere Art aus den Latschen gehauen.
 

„Ich glaube, das war sogar die zweite oder dritte Frage, gleich nach dem ich ihr das erste Mal begegnet bin.“ Er schob sich einen Löffel Vanilleeis in den Mund. Wie gerne er doch diese Frage mit ‚Ja‘ beantwortet hätte, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf.

Der Gedanke war so neu und zu gleich so geballt, dass er sich beinahe verschluckt hätte. Immerhin fiel ihm daraufhin sofort wieder die Szene in der Sauna ein und wie sehr sie ihm gefallen hatte. War es wirklich das, was er glaubte, das es war? War Adrian tatsächlich gerade dabei auf diese neue, fremde und doch aufregende Art und Weise seine Gefühle für Emily zu entdecken?

Kurz blickte er ihr ins Gesicht und sofort lief ihm ein Kribbeln das Rückgrat hinab. Ja, das musste es sein. Nur wieso beruhigte ihn das kein Bisschen?
 

***
 

Nach dem Eis gingen sie noch eine Runde im Park spazieren und fuhren dann gemütlich nach Hause. Inzwischen war es fast fünf und Emily wusste nicht genau, was sie mit der Stunde anfangen sollte, die sie noch zur Verfügung hatte, bevor sie sich für die Vernissage fertig machen musste. Und was sollte sie bloß anziehen?

Ihr Lieblingskleid kam nicht in Frage, denn das hatte sie im Restaurant getragen. Vielleicht einfach ein Rock und eine Bluse? Ein bisschen auffälligen Schmuck hatte sie auch. Das würde schon gehen. Außerdem würde sie sich überlegen müssen, ob sie Zahnbürste und andere Sachen einpacken sollte, die sie für eine eventuelle Übernachtung brauchte.

Sollte es dazu kommen, würde sie das Ganze zumindest vor Adrian nicht mehr geheimhalten können. Sie grübelte eine Weile darüber nach, ob sie ihm gleich sagen sollte, dass sie vielleicht nicht nach Hause kommen würde. Sie hatte nicht vor, Richard mit in die Wohnung zu bringen. Irgendwie passte ihr Chef nicht hierher. So weit war sie einfach noch nicht.

Am Ende entschied sie sich doch dagegen, Adrian irgendwas zu sagen. Er schlief wahrscheinlich sowieso bis zum Nachmittag und es würde ihm gar nicht auffallen, wenn sie nicht in ihrem eigenen Bett schlief. Außerdem wusste sie es ja noch nicht sicher.
 

Nach dem sie zuhause angekommen waren, schnappte Adrian sich eine Packung Kekse aus dem Küchenschrank und ging zu Mrs. Jenkins Wohnung hinüber, um dort nach dem Rechten zu sehen. Sie hatte nichts dagegen, bot ihm sogar Tee an, weshalb er erst um sechs Uhr wieder von ihr wegkam.

Schon bevor er in den Flur trat, bemerkte er, dass etwas anders war. Emily schien sich für irgendetwas zurecht zu machen, was Adrian unweigerlich an das Telefonat von heute Nachmittag erinnerte.

Leicht zerknirscht, da er heute Abend arbeiten musste, während sie mit wem auch immer wegging, verzog er sich in sein Zimmer. Er wollte nicht eingeschnappt wirken, darum schnappte er sich einfach wahllos ein Buch, drehte leise Musik auf und setzte sich auf sein Bett. Es durfte ihn einfach nicht interessieren, was Emily heute vor hatte und er würde seine Neugierde darüber auch nicht stillen, in dem er sie einfach auf die offensichtliche Tatsache ansprach. Dennoch bekam er kein einziges Wort von dem mit, was seine Augen da lasen. Er las ein und dieselbe Seite wieder und wieder, ohne den Inhalt zu erfassen, bis es um kurz vor halb Sieben an der Tür läutete.

Adrian versteifte sich unwillkürlich und hob das Buch nur noch höher vor sein Gesicht. Nein, er würde jetzt nicht aufstehen, um nachzusehen, wer das war!
 

Emily hatte sich für das kleine Schwarze entschieden. So was hatte sie für Notfälle im Schrank und mit einer langen Kette mit bunten Steinen daran und einer leichten Strickjacke passte das auf jeden Fall. Das hoffte sie zumindest.

Sie schnappte sich noch ihre größere schwarze Handtasche und warf einen Slip, Zahnbürste und Abschminkzeug hinein. Alles Andere würde Richard schon in der Wohnung haben.

Diesmal war sie darauf vorbereitet, dass er früher als verabredet erscheinen würde. Sie wollte nicht, dass er in die Wohnung kam und Adrian begegnete. Dem wäre es bestimmt aufgefallen, dass sie schon wieder an einem Samstag mit Richard ausging. Vielleicht interessierte es ihn auch gar nicht, immerhin hatte er sich in sein Zimmer gesetzt, während sie zwischen Bad und Schlafzimmer hin und her gelaufen war, um sich fertig zu machen.

Als es klingelte, steckte sie daher nur den Kopf durch Adrians offene Zimmertür.

„Ciao, ich bin dann weg. Viel Spaß bei der Arbeit.“ Sie war eigentlich schon weg, lehnte sich dann aber doch noch einmal zurück, um noch etwas anzufügen. „War schön heute mit dir.“ Mit einem kleinen Zwinkern verabschiedete sie sich noch einmal, schnappte sich dann ihren Mantel und fing Richard vor der Wohnungstür ab.

Sie schuldete ihm für ihr Verhalten keine Erklärung, immerhin wollte sie gleich los und sie war fertig angezogen. Kein Grund noch in ihrer Wohnung Zwischenstation zu machen. Richard begrüßte sie diesmal mit einem Kuss auf die Lippen, was Emily ein wenig rot anlaufen ließ. Hoffentlich hatte keiner der Nachbarn irgendetwas mitbekommen. Hier sprach sich alles ziemlich schnell herum. Deshalb schob sie Richard mehr oder weniger zurück auf die Straße, wo sie in sein Auto stieg und beide zur Vernissage in die Innenstadt fuhren.
 

Als die Tür hinter Emily ins Schloss fiel, gefror das Lächeln auf seinen Lippen, bis es vollkommen verschwand. Das Buch glitt ihm aus den betäubten Fingern, die wie der Rest seines Körpers wie erstarrt waren.

Sein Herz pochte spürbar heftig gegen seinen Brustkorb und mit jedem Mal, schien sich mehr und mehr eine dünne Nadel hinein zu bohren. Unerklärlicherweise tat es weh.

Adrian ließ sich auf die Seite fallen, zog seine Beine wie ein Fötus an seine Brust, umschlang sie mit seinen Armen und schloss die Augen.

Alles in der Wohnung war vollkommen ruhig. Wie von weiter Ferne hörte er Straßenverkehr, eine Uhr tickte, der Kühlschrank sprang an, aber ansonsten war es unheimlich still.

„Ich bin so blöd.“
 

***
 

Die Galerie war groß und fast menschenleer. Entweder waren Glasskulpturen gerade nicht der Publikumsmagnet oder die Künstlerin hatte die falschen Leute eingeladen. Jedenfalls kam sofort jemand auf Richard und Emily zu und drückte jedem ein Glas Champagner in die Hand, als hätte man nur verzweifelt auf ein paar Gäste gewartet.

Emily gefiel bereits die erste Skulptur, die mitten im Eingangsbereich stand. Es war ein milchig weißer Glaswirbel, der sich in etwa zwei Metern Höhe verzweigte und in einer Art Baumkrone endete, die in grün und blau erstrahlte.

„In der kleinen Broschüre steht, das Werk verkörpere den Gleichklang von Wasser und Erde auf unserem Planeten.“

Richard zog eine Augenbraue hoch und sagte nichts dazu. Allerdings konnte Emily seine Meinung an seinem Gesicht ablesen. „Sag bloß, du hast schon mal einen normalen Namen für ein modernes Kunstwerk gehört. Die müssen sich doch immer was besonders Tolles ausdenken… Die Skulptur ist aber recht schön, finde ich.“

Sie konnte gar nicht sagen, wie sie dazu kam sich bei Richard unter zu haken. Das Programm des Abends gab sie an ihren Begleiter, behielt aber die Broschüre, in der die Namen der Kunstwerke und kleine Beschreibungen enthalten waren. Außerdem hielt sie sich ein wenig an ihrem Champagnerglas fest.

Die Ausstellungsstücke gefielen ihr wirklich ausnehmend gut, was sie Richard auch sagte. „Vielen Dank, dass du mich mitgenommen hast. Auf diese Ausstellung wäre ich sicher nicht von allein aufmerksam geworden.“ Sie schenkte ihm ein Lächeln und nippte noch ein wenig am Schaumwein, bevor sie vor einem kleinen Objekt stehen blieb. Es war ein präzise geformter Würfel aus Glas, in dessen Innerem sich ein Wirbel aus Gold zu drehen schien. Das Gebilde erinnerte Emily an die Kette, die Mona ihr geschenkt hatte. Automatisch musste sie an die Worte und den Rat ihrer großen Schwester denken. Es veranlasste Emily dazu sich kurz an Richard zu wenden und ihm einen kleinen Kuss auf die Lippen zu hauchen. Bis jetzt war es ein schöner Abend gewesen.
 

Wäre Richard alleine zu der Vernissage gegangen, hätte er sich garantiert zu Tode gelangweilt. Was aber nicht an den Skulpturen lag, die fand er sehr schön und interessant, sondern an der öden Atmosphäre. Kein Wunder, dass hier nur so wenig Gäste waren. Doch er hatte immerhin Glück, so eine hervorragende Begleitung wie Emily zu haben. Sie steckte ihn mit ihrer Begeisterung regelrecht an und ließ ihn Dinge in den Skulpturen sehen, für die er keinen Blick gehabt hätte. Alles schien durch sie, einen gewissen Zauber zu besitzen, was er äußerst faszinierend fand. Aber nichts zu der Tatsache, dass sie ihm in aller Öffentlichkeit zärtlich einen Kuss auf die Lippen hauchte. Sein Herz schlug höher, als sie sich wieder von ihm löste. Er lächelte sanft. „Womit habe ich das denn verdient? Du bist es doch, die dieser ganzen Veranstaltung für mich erst so richtig Leben einhaucht.“

Richard nahm ihre Hand und strich ihr zärtlich mit dem Daumen darüber. „Ich freue mich sehr darüber, dass du mich heute begleitet hast.“ Danach zog er sie an seine Seite und umschlang ihre Taille mit seinem Arm.

Später, als sie schließlich beim letzten Kunstobjekt – Die Liebenden – angekommen waren, fragte er sich, ob sie heute Nacht bei ihm bleiben würde. Mit großem Interesse verfolgte er die Linien des Glasobjektes, um sich ein vollständiges Bild davon machen zu können. Es war nicht leicht, etwas in dem Gebilde zu erkennen, wenn man keine Fantasie hatte, doch schließlich erkannte er zwei sich umschlingende Glaskörper. Es half etwas, dass ein Körper aus angerautem Milchglas bestand und der andere durchsichtig glatt war.

„Hättest du Lust noch auf einen Schlummertrunk zu mir zu kommen?“, fragte er schließlich einfach frei heraus. Immerhin konnte sie immer noch 'Nein' sagen und der Abend wäre trotzdem sehr schön gewesen.
 

Lächerlich. Gab es so ein Stück nicht in jeder Ausstellung? Wahrscheinlich erhoffte sich jeder Künstler damit eine große Anzahl von Käufern auf sein Werk aufmerksam zu machen. Von Liebe fühlte sich jeder besonders angesprochen und betroffen. Da machte man den Geldbeutel etwas lockerer, um sich die entsprechende Figur in seine Wohnung zu stellen…

Warum klang das sogar in ihren eigenen Ohren so verbittert, dass ihr beinahe der Atem ausging? Vielleicht, weil sie nicht mehr daran glaubte, dass es so etwas wie echte Liebe gab. Entweder nutzte man aus oder man wurde ausgenutzt. Keiner liebte einen Menschen um seiner selbst willen. Am liebsten hätte sie ihre Champagnerflöte gegen die Glasskulptur geworfen, um das Splittern von Glas auf Glas zu hören.

Sie musste gerade in diesem Augenblick vor sich selbst zugeben, dass sie noch nicht so weit war. Zach war immer noch in ihrem Kopf. Vielleicht nicht mehr in ihrem Herzen, aber sie hatte ihn und was er ihr einmal bedeutet hatte noch nicht vergessen. War sie so schlimm wie er?

Am liebsten hätte sie losgeheult, als Richards Frage endlich in ihrem, mit seltsamen Gedanken angefülltem Gehirn ankam. Ob sie mit ihm gehen wollte? In seinen Augen versuchte sie zu lesen, ob er nur Sex wollte. Emily wollte nicht wieder auf der Couch sitzen und auf Anrufe mitten in der Nacht warten, um sich dann im Regen aufzumachen, den Mann zu wärmen, dem sie keinen Pfifferling wert war.

So viele gegensätzliche Gefühle tobten gleichzeitig in ihr, dass sie ihn lange auf ihre Antwort warten ließ. Wollte sie mit ihm gehen? Immer noch sah sie ihm in die Augen, doch es lag nichts Abschätziges darin. Die andere Frage war: Wollte sie nach Hause? In ihr leeres Bett, wo niemand auf sie wartete, der sie im Arm halten wollte? Der neben ihr einschlafen wollte, den Arm um sie gelegt und mit einem kleinen Lächeln auf dem Gesicht, weil sie bei ihm war.

„Ja, möchte ich. Lass’ uns gehen. Oder hast du etwa vor dieses hässliche Ding da zu kaufen?“ Der letzte Kommentar war nur halb ironisch gemeint und triefte in ihren eigenen Ohren vor Selbstmitleid.

„Als würde ich mir jemals so etwas kaufen, wenn du bei mir bist.“
 

***
 

Richards Wohnung war in etwa so, wie Emily sie sich vorgestellt hatte. Ein Apartement mit schwarzer Ledercouch, viel Glas und viel Metall. Aber die Aussicht war wirklich großartig. Emily stand an der Balkontür und konnte über die ganze Stadt sehen, mit ihren Lichtern und den Geräuschen der selbst um diese Uhrzeit hektischen Metropole. Ihr gefielen der Blick und die kalte Luft, die ihr die Haare aus dem Gesicht wehte. Zwar fröstelte sie leicht in ihrer Strickjacke, aber sie genoss die Situation viel zu sehr, um sich daran zu stören. Ein leichtes Lächeln legte sich auf ihre Lippen und sie schlang ihre Arme um sich, während sie ganz in die kühle Nacht hinaus trat.

Sie konnte Richards Schritte zuerst auf den Fliesen und dann auf dem Balkon hören, bevor er hinter sie trat und seine Arme um ihre Hüften schlang. Emily lehnte sich an ihn und freute sich über die Wärme, die von seinem Körper ausging. So konnte sie es noch länger hier draußen aushalten.

„Du hast eine tolle Aussicht.“, sagte sie nur in feststellendem, aber gleichzeitig bewunderndem Tonfall.

„Ja, nicht? Ein Grund, aus dem ich die Wohnung gekauft habe.“

Sie gehörte ihm sogar? Wow, anscheinende verdiente er sehr viel mehr, als Emily gedacht hatte oder war auf irgendeine andere Art zu Geld gekommen. Wobei… Richard arbeitete sehr viel und gab das Geld wahrscheinlich wenig in seiner Freizeit aus. Vielleicht hatte er den Großteil seines Vermögens in diese Wohnung gesteckt.

„Du solltest dir ein wenig mehr Zeit nehmen, hier zu sein. Das würde ich zumindest an deiner Stelle tun.“

Sie wollte ihm nicht sagen, dass er zu viel arbeitete. Immerhin war es seine Entscheidung und Emily konnte verstehen, dass man sich in der Arbeit vergrub, wenn man niemanden hatte, der zu Hause auf einen wartete.

Richard zog sie noch enger an sich und verbarg sein Gesicht in Emilys Haaren. Sie sanfte Geste veranlasste sie dazu, über seinen Arm zu streicheln, der sie immer noch festhielt.

„Möchtest du was trinken?“, fragte er schließlich, als Emily schon davon überzeugt gewesen war, dass sie für immer hier zusammen stehen bleiben würden. Sie hätte in diesem Moment nichts dagegen gehabt.

Aber der Wind frischte immer weiter auf und ihr kurzes Kleid würde ihr auf Dauer so wenig Schutz davor bieten wie Richards Körperwärme. Also sagte sie ja und folgte ihm ins Wohnzimmer, wo er zuvor ein Feuer in dem kleinen, modernen Kamin angezündet hatte. Diese Wohnung war ein echtes Prunkstück des Junggesellentums. Eine einzige Pflanze fristete ihr Dasein neben der Balkontür und sah eher schlecht als gesund aus. Alles war blank geputzt und Emily wettete, dass Richards Kühlschrank, den er gerade öffnete, um die Milch für den Tee heraus zu holen, nur deswegen voll war, weil er eine Haushaltshilfe bezahlte, damit sie sich darum kümmerte.

Sie saßen auf einem der dunklen Sofas, Emily an Richard gelehnt, beide mit ihrer Teetasse in der Hand und unterhielten sich über antike Kunstschätze. Wie die Mumie mit dem Sarkophag ausgestellt werden sollte, welche Stücke Emily besonders interessierten, was Richard geplant hatte für die Sammlung anzukaufen. Es war ein angenehmes Gespräch, bei dem Emily immer gelöster wurde und sich langsam aber sicher richtig wohl fühlte.

Gerade als Emily auf die Uhr sah, die bereits weit nach Mitternacht anzeigte, streichelte Richard ihren Arm hinauf und fing an ihren Hals zu küssen. Sanft strich er ihr die Haare nach hinten und beugte sich über sie, während Emily einfach die Augen schloss und versuchte das Ganze zu genießen.

Das war das Schöne an Richard. Emily hatte nie das Gefühl, dass er etwas von ihr forderte. Er küsste sie nicht in der Erwartung, dass sie sich umdrehen und ihn von seinen Kleidern befreien würde. Wahrscheinlich hoffte er darauf, aber Emily war sich sicher, dass er jederzeit ein ‚Nein’ akzeptiert hätte.
 

Am nächsten Morgen duschte Emily, putzte sich die Zähne und zog sich die Kleider an, in denen sie gekommen war. Eigentlich wollte sie gleich nach Hause. In dem kurzen schwarzen Kleid kam sie sich so vor, als hätte sie etwas Verbotenes getan und müsste nun schnell nach Hause, um ihre Spuren zu verwischen. Auch wenn es nicht so war, wollte sie in diesem Aufzug nicht mit Richard frühstücken gehen.

„Wenn wir nicht mit der Queen frühstücken, fühle ich mich overdressed.“

Also brunchten sie auf dem Balkon, dessen Aussicht Emily bei Tageslicht nicht weniger den Atem raubte, als bei Nacht und anschließend fuhr Richard sie nach Hause.

Adrian war nicht da, weswegen Emily sich mit einem dicken Wälzer und einer Kanne Tee ins Wohnzimmer setzte. Bereits zehn Minuten später war sie in der Welt des Romans versunken.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück