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Farbenblind

von

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Draußen zogen Lichter vorbei und das leichte Ruckeln und Rauschen der Straßenbahn schläferte mich nur noch weiter ein. Ich hatte mich kraftlos an Maja gelehnt, und die Augen nur noch halb geöffnet, während sie nach draußen auf die nächtliche Stadt sah.

"Ich hab meinen Bruder wieder ...", murmelte ich erneut und lächelte.

Auch auf Majas Gesicht war ein Lächeln, als sie mich anschaute. Ich konnte es sehen, als ich den Kopf doch wandte, die Wange noch immer an ihre Schulter gelehnt.

"Er wäre ein Idiot, wenn er nicht mit dir geredet hätte ..."

Eine ganze Weile ließ ich mich einfach weiter von den angenehm monotonen Geräuschen einlulleln, ehe sich eine Frage in meinen Kopf stahl, die da wohl schon die ganze Zeit gewartet hatte.

"Du hast mit ihm geredet, oder ... ? Deswegen der Wandel ..."

"Es ist nicht so als hätte ich recht viel mehr gemacht als ihn endlich auf den richtigen Pfad zu bringen. Die Entscheidung hat er selbst gefällt - ich hab nur versucht ihm die Augen zu öffnen."

Majas angenehme Stimme machte es mir fast noch schwerer wach zu bleiben. Ich lehnte mich wieder kraftlos an sie und schloss die Augen.

"Danke ...", murmelte ich verschlafen. "Danke für alles ... keine Ahnung ... was ich ohne dich wäre ... wo ich wäre ... danke, Maja ..."

Sie legte einen Arm um mich und hauchte mir einen Kuss auf die Schläfe.

"Ich mache es gerne, Sasha ... ich mache es wirklich gerne für dich ..."
 

Mir war fast nach Lachen zumute, als ich die Gänge entlang lief. Kein fröhliches oder glückliches Lachen - aber die ganze Situation erschien mir absurd genug, um ein heiseres Lachen zu unterdrücken. Gestern noch hatte mir der Gedanke Bauchschmerzen bereitet im Krankenhaus auf Alexander zu treffen, und jetzt war es das einzige Gute, was mir geschehen würde. Jetzt freute ich mich darauf mit einer Mischung aus flatterhafter Angst und fast schon naiver Euphorie. Es war als hätte ich meinen Bruder zurück bekommen.

Da war all die Zeit ein Loch gewesen, das sich jetzt wieder füllen würde - und dazu noch das Treffen mit Maja am Nachmittag ließ den Tag eigentlich sehr, sehr sonnig erscheinen.

Es war nicht so als hätte sich irgendetwas an der Krankenhausatmosphäre geändert - eigentlich war alles noch genau so wie bei meiner Ankunft, und doch war alles anders. Es war in diesem Moment, dass mir zum ersten Mal eine Veränderung in mir selbst bewusst wurde. Alles war wie anfangs, und dennoch anders, weil ich anders damit umging.

Es gab mir ein merkwürdig positives, optimistisches Gefühl. Ich konnte spüren, wie sich doch so etwas wie ein leichtes Lächeln auf meine Lippen stahl.

"Sasha! Sasha, bist du das?"

Überrascht drehte ich mich um, um zu sehen, wer mir nachgerufen hatte, und starrte blank die Person an, die vor mir im Gang stand.

"T-tatjana ...", formten meine Lippen, ohne dass meine Stimme wirklich funktionierte. Es war nur ein raues Flüstern, das in dem Raum zwischen der Frau und mir verhallte ohne gehört zu werden.

Unsere Blicke trafen sich, und irgendwie schien ich alles zu vergessen. Wie man lief, sprach, atmete. Hätte mein Körper sich nicht an letzteres erinnert, ich hätte ein verdammtes Problem gehabt. Tatjana. Sie war hier. Sie schaute mich an!

Ich schloss die Augen, ihr Bild noch klar vor mir. Sie hatte sich verändert, und doch erkannte ich in ihr noch das Mädchen von früher. Mir schoss viel zu viel durch den Kopf, um zu verstehen, was ich fühlte, als ich ihr jetzt plötzlich gegenüber stand. Aber eines war klar, ein Gedanke hämmerte in meinem Kopf lauter als all die anderen.

Weiß sie es? Weiß sie Bescheid? Weiß sie, dass ich sie liebe? Hat er es ihr gesagt?!

Ich wollte mich umdrehen und wegrennen, aber so hatte ich es doch immer gemacht. Und wenn ich meinen Bruder wieder in meinem Leben wollte, dann gehörte seine Frau auch dazu. Ich konnte nicht einfach verschwinden. Ich musste hier jetzt durch.

Ich atmete tief durch, und öffnete die Augen, hörte kaum noch die hastigen Schritte vor mir, als ich mich plötzlich in einer hysterischen Umarmung wiederfand. Ich schnappte nach Luft, blinzelte, versuchte zwischen Armen und Tatjanas wilder Haarmähne zu verstehen, was hier überhaupt los war.

"Oh, Maja! Maja, Maja, Maja ..."

Weinte Tatjana? Ihre Stimme klang so, und sie schniefte.

Vielleicht hätte ich sie trösten sollen, oder zurück umarmen. Irgendetwas tun. Aber mein Gehirn stolperte noch immer bei der Interpretation dieser ganzen Szene, und ich blieb einfach nur stocksteif stehen. Meine Arme fühlten sich fast ein bisschen nutzlos an, wie sie da einfach an mir herunter baumelten.

"Also hasst du mich nicht, oder? Du hasst mich nicht?", fragte Tatjana, und wenn ich mir vorher noch nicht sicher gewesen war, dass sie weinte, dann gab es jetzt keinen Zweifel mehr. Sie war völlig aufgelöst.

"N-nein ...", stotterte ich ungläubig, und es wunderte mich, dass sie es über ihr Schluchzen überhaupt hören konnte. Tatjana verstärkte ihren Klammergriff um mich, so sehr, dass ich das Gefühl hatte, sie würde mich demnächst zerquetschen. Zum Glück ließ sie einige Momente später wieder etwas lockerer.

Was war bloß in sie gefahren?

"Oh, Gott sei Dank!", schluchzte sie nur, dann ließ sie mich los und wischte sich verlegen lächelnd die Tränen ab, die ihr unaufhaltsam über das Gesicht strömten.

Ich reichte ihr nicht einmal ein Taschentuch, sondern starrte sie weiter an. Was geschah hier? Warum stand sie dort, warum weinte sie, warum ... warum ... ?

"Ich dachte immer du hasst mich -", erklärte sie mit zitternder Stimme. Sie wischte sich mit dem Handrücken erneut über die Augen, aber es brachte nichts. Ihre Tränen waren nicht zu stoppen. "Aber, aber wenn du mich nicht hasst ... ich bin einach so ... glücklich ..." Sie lächelte ein so glückliches Lächeln, dass ich mich fragte, ob sie mich nicht verwechselte.

"Bist du ... bist du denn nicht ... wütend?", fragte ich ungläubig.

"Wieso sollte ich wütend sein?" Tatjana kramte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch und versuchte dabei weiterhin mich anzusehen, und war dabei so zerstreut, dass letzten Endes doch ich es war, die eher welche gefunden hatte und ihr reichte.

"Danke", murmelte sie und schnäuzte sich, während ich nervös an einer meiner Haarsträhnen zu zupfen begann.

"Ich ... du ... ich bin doch einfach ... du hast allen Grund wütend zu sein", murmelte ich. Tatjana knüllte das Taschentuch in ihrer Hand zusammen und schüttelte heftig den Kopf.

"Mir reicht es zu wissen, dass du mich nicht hasst. Alexander hat mir gesagt, dass du mich nicht hasst, und dass du deine Gründe hattest - aber irgendwie ... konnte ich es nicht ganz glauben, aber wenn du es auch sagst ... wirklich, mehr brauche ich und will ich gar nicht."

Sie lächelte abermals durch ihre Tränen hindurch.

"Es ist gut, dich wieder zu sehen, Sasha ..."

"Es ... es ist auch gut, dich wieder zu sehen ...", murmelte ich und wurde erneut komplett überrascht davon, dass Tatjana mir um den Hals fiel, diesmal aber nur für einen Moment.

Meine Gefühle waren noch immer in völligem Aufruhr, und mein Verstand hinkte hinterher, konnte gar nicht glauben, was hier gerade alles passiert war. Aber irgendwie hatte ich wirklich das Gefühl, dass es nichts Schlechtes war. Eigentlich war ich davon ausgegangen sie zu sehen würde schmerzhaft sein, so schmerzhaft dass mein Herz es kaum ertragen konnte, gerade jetzt. Doch ich hatte mich getäuscht. Da war Schmerz, da war wirklich Schmerz in mir, aber er schien mir so leicht zu ertragen, ich konnte ihn kaum ernst nehmen nach all den Schreckensszenarien, die ich mir ausgemalt hatte, falls ich Tatjana begegnen sollte.

"Du bist unterwegs zu deiner Mutter, oder? Lass uns zusammen gehen!"

Ich konnte gar nicht fassen, wie sehr Tatjana strahlen konnte. Machte es sie wirklich so glücklich einfach nur zu wissen, dass ich sie nicht hasste? Es war ja wirklich fast eine lächerliche Situation. Immerhin war die Situation, wie sie war, weil ich sie eben nicht hasste, sondern das genaue Gegenteil der Fall war ...

"Alexander ist schon bei ihr, und ich hab ein paar Brote mitgenommen, weil er wieder nicht gefrühstückt hat ... für dich hab ich auch etwas dabei. Ich hatte gehofft, dich hier zu treffen."

Ich nickte nur stumm und murmelte ein leises "Danke". Aktuell war ich wirklich noch überfordert mit der ganzen Situation.

"Oh, das ist er ja, das nenn ich Timing!", meinte Tatjana fröhlich und wandte sich dem Mann entgegen, der in unsere Richtung kam. Vielleicht lag es daran, dass sie gerade so euphorisch war, dass Tatjana es nicht gleich bemerkte. Mir fiel sofort auf, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war an der Art, wie er sich bewegte. Den Kopf gesenkt, die Schritte schnell und fahrig, die Fäuste geballt. Mein Herz zog sich zusammen, während Tatjana ihm etwas entgegenrief. "Alexander, du hattest Recht, sie - !"

Jetzt fiel es auch ihr auf, und wir beide blieben stumm, während Alexander den Kopf hob, uns erst jetzt zu bemerken schien, und dann einfach zwei Schritte vorwärts in Tatjanas Arme taumelte. Er vergrub den Kopf an ihrer Schulter und lehnte sich an sie.

Ich konnte sehen, dass sie sich anstrengen musste, um ihn zu halten, aber sie tat es trotzdem und schloss fest die Arme um ihn. Hilflos sah ich zu, wie es ihn schüttelte, wie er zu schluchzen begann. Ich presste mir die Hand vor den Mund, schloss die Augen. Die Tränen waren schon da, bevor überhaupt irgendetwas fest stand. Irgendetwas in mir fiel und zerbrach, ohne dass Alexander auch nur ein Wort gesagt hatte.

Bitte, nein, bitte ... nicht ... bitte nicht, sie kann nicht, nein, bitte, sie ist doch meine Mutter, sie kann nicht ... sie kann nicht einfach ... nein, nein, nein, NEIN!

"Sie ... sie ist ...", würgte er. Alles in mir schrie auf.

Sag es nicht, sag es nicht, sag es nicht! Sprich es nicht aus! Tu es nicht! Bitte, bitte ... nicht ... bitte!

"Sie ist tot ...", schluchzte Alexander.

Da war keine Luft mehr zu atmen. Da war nichts mehr. Ich versuchte verzweifelt zu atmen, aber es ging nicht, egal wie schnell und wie viel Luft ich aufnahm, sie schien meine brennenden Lungen nicht zu erreichen. Der Schmerz in mir machte meine Lungen unfähig zu funktionieren, das Schluchzen raubte mir jeden Sauerstoff, den ich noch hatte. Die ganze Welt begann sich zu drehen, wurde dunkler.

Meine Knie gaben nach, ich hörte irgendjemanden rufen, aber ich konnte nichts tun, ich erstickte gerade, ich konnte nichts mehr tun. Irgendwo in mir wusste ich, dass ich eine Panikattacke hatte, dass ich hyperventilierte, aber ich konnte einfach nichts tun.

"Sasha! Sasha, beruhig dich!"

Ich fand mich in einer starken Umarmung wieder und krallte mich an das Shirt meines Bruders, der selbst nicht zu wissen schien, was er tun sollte.

"Tief durchatmen, Sasha, ganz ruhig, atme einfach ein und aus ..."

Er selbst atmete ruhig ein und wieder aus, immer wieder und wieder. Tatjana legte ihre Hand auf meine Schulter und passte sich ebenso seinem Atemrhythmus an, und allmählich tat auch ich es, atmete mit ihnen und ließ mich von ihren sanften Worten beruhigen, bis ich einfach nur noch kraftlos zwischen ihnen am Boden kauerte und stumm weinte.

Da war kein Funken Kraft mehr in mir, kein Funken Kraft mehr in uns.

Es war Tatjana, die als einzige keinen Nervenzusammenbruch hatte, und dafür sorgte, dass wir irgendwann aufstanden.

Und es war ihr zu verdanken, dass Alexander und ich, so wie wir aneinandergelehnt saßen, mit heißem Kakao in den Händen und leerem Blick in die Ferne, uns nicht ganz selbst verloren an diesem Tag.
 

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Hallo!

Erst einmal - vielen Dank fürs Lesen von Farbenblind!

Und vor allem - vielen Dank für die Geduld bislang. Das Projekt lag jetzt mehrere Monate lang flach dank Krankenhausaufenthalt und gesundheitlichem Zeug, aber jetzt geht es weiter und ich kann es kaum erwarten, Farbenblind jetzt endlich zu beenden. Die restlichen Kapitel werden ab sofort in regelmäßigen Abständen kommen! :-)



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  _t_e_m_a_
2013-02-22T16:39:14+00:00 22.02.2013 17:39
Schon lange hat mich keine Geschichte mehr so weit gebracht, dass mir die Tränen herunterfallen. Nicht nur in diesem Kapitel. Ein größeres Lob kann ich dir wohl nicht machen, ich bin in Erwartung auf die nächsten Kapitel.

Lg, tema
Von:  CruelEve
2013-02-13T16:46:05+00:00 13.02.2013 17:46
ach, geduld hat man immer :'DD
aba schön das es dir besser geht :D

trotz der langen pause ein sehr dramtaisches kapi.... aba schön, das sie wieder die hat, die sie verloren hatte, leider minus mutter, aba plus maja...

bin ma gespannt, wie es weiter geht :'DD
Von:  Renaki
2013-02-13T15:56:38+00:00 13.02.2013 16:56
Ich bin froh, dass es dir wieder besser geht und hoffe, dass du nie wieder dahin musst^^

Sasha hat wirklich eine tolle Person für sich gefunden, die sich um sie kümmert und beisteht. Am liebsten hatte ich Maja eigenhändig zu ihr ins Krankenhaus geschickt, nur damit sie wieder bei Sasha sein kann, besonders weil nun ihre Mutter gestorben ist. *heul*
Wenigstens kümmert sich ihr Bruder und Tatjana um sie. Schön das der Streit zwischen ihnen aus den Weg geräumt ist.

LG Renaki


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