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Farbenblind

von

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Dieses schmerzhafte, unruhige Gefühl einer nahenden Panikattacke setzte sich bereits in meinen Lungen fest, doch ich sagte mir selbst, dass ich atmen konnte und dass es keinen Grund dafür gab, wieder und wieder. Abermals folgte ich bunten Linien, und die gesamte Krankenhausatmosphäre, der Geruch, der Boden, ließen mich schon fast selbst krank werden. Ich fürchtete mich davor, dass wieder jemand dort war. Dass es Alexander war - oder dass ich auf Tatjana treffen würde. Ich wusste nicht, wie ich das überstehen sollte. Selbst mit Alexander war es leichter als mit ihr. Ob man ihren Bauch schon sah?

Alles in mir zog sich zusammen, der Schmerz in meinen Lungen wurde stärker. Ich wollte sie nicht sehen. Auf keinen Fall. Und alles war gut. Ich konnte atmen. Ruhig, Sasha, ruhig.

Abermals stand ich vor der Station, aber diesmal hielt ich nicht inne, sondern zwang mich selbst dazu, nicht stehen zu bleiben, einfach weiter zu laufen. Die Gänge entlang. Was, wenn ich zu spät war? Was, wenn ich sie nicht mehr sehen würde, nur, weil ich nicht damit umgehen konnte, was mein Bruder mir erzählt hatte? Ich würde es mein Leben lang bereuen. Es wäre mein größter Fehler gewesen. Der größte Fehler in einer langen Reihe großer Fehler.

Die Tür vor mir öffnete sich. Es war Alexander, erneut. War er zu jeden Besuchszeiten hier? Ich ertappte mich dabei, panisch nach Tatjana Ausschau zu halten, doch er schien allein zu sein.

"Sie schläft."

Das bedeutete, Mutter lebte. Ich war erleichtert, und dennoch fixierte ich Alexander misstrauisch. Seine Körperhaltung und sein Tonfall drückten aus, dass er mich nicht in dieses Zimmer lassen würde, das wurde mir sofort klar. Er schloss die Tür und stellte sich davor, die Arme verschränkt.

"Alexander - ich weiß nicht einmal, ob sie noch aufwachen wird. Ich will sie noch einmal sehen. Bitte, lass mich durch."

Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich von oben herab an. Alexander war schon immer größer gewesen als ich, sodass ich den Kopf in den Nacken legen musste, wenn auch ich ihn ansehen wollte.

"Du hast kein Recht sie jetzt zu wecken. Es ist immer gut, wenn sie schläft, dann hat sie wenigstens mal keine Schmerzen. Wenn du sie so dringend sehen willst hättest du auch gestern bleiben können." Natürlich ging es darum. Das würde er mir nicht verzeihen. Würde ich es tun, wenn er flüchten würde, sobald ich ihm sagte, dass er Onkel werden würde? Doch das Thema war einfach zu sensibel, als dass ich es ansprechen wollte.

"Okay. Hör zu, Alexander. Wir haben gesagt dass wir unsere Differenzen nicht in die Sache mit Mutter mit hineinbringen, dass die Situation an sich schon reicht. Also würdest du mich jetzt bitte in dieses Zimmer lassen? Ich möchte sie sehen."

"Du denkst du kannst es dir so einfach machen, oder?", zischte er und trat einen Schritt vor. Er wirkte fast schon bedrohlich auf mich, und ich trat etwas zurück. "Hör mir gut zu: ich werde nicht zulassen dass du mit deinem Egoismus auch noch Mutters Lage verschlimmerst! Lass sie schlafen, wenn sie es endlich geschafft hat, einzuschlafen. Du kannst dir nicht einmal vorstellen was sie durchmacht. Und was wir alle deswegen durchmachen. Also sag du mir nicht dass ich das hier aus meinen egoistischen Gründen mache. Ich denke dabei an Mutter. Und du könntest das zur Abwechslung auch mal tun! Du denkst du kannst hierher kommen wann es dir passt, hier herumtrampeln als wärst du der einzige Mensch auf Erden, ohne Rücksicht auf die Menschen, die hier seit Jahren die Stellung halten? Die sich seit Jahren um sie kümmern! Hm, das denkst du doch, oder?! ... was zur Hölle tust du da?!"

Ich hatte mich gebückt, und begonnen, meine Schuhe auszuziehen. Ich hätte nicht einmal rational begründen können, weshalb ich das tat, ich machte es einfach. Majas Worte klangen in meinem Kopf, dass ich nur auf meine Umwelt achten musste, und nichts würde geschehen. Ich würde auf keine Biene treten und sie zerquetschen. Ich hatte das Gefühl, es wäre leichter, aufzupassen, wenn ich barfuß war. Leichter, die Menschen in meiner Umgebung nicht zu verletzen. Nicht noch mehr Fehler zu machen. Ich hatte die Fehler satt, so satt.

"Das würdest du nicht verstehen." Ich nahm die beiden Schuhe in die linke Hand und richtete mich wieder auf. Alexander starrte auf meine nackten Füße als wäre ich verrückt geworden. Ich wusste, dass er nach Worten suchte, dass er noch immer wütend war und es nicht so einfach akzeptieren würde, und deswegen ergriff ich das Wort, bevor er weitersprechen konnte.

"Ich verstehe wirklich, dass du wütend bist. Aber bitte - bitte, hör auf mich zu behandeln, als hätte ich hier nichts zu suchen. Sie ist noch immer meine Mutter. Und du bist noch immer mein Bruder."

"So behandelst du mich aber nicht! Und wer garantiert mir, dass du ihr nicht genauso weh tust wie mir?!"

"Das ist etwas ganz anderes, Alexander, es-"

"Ach, tatsächlich?!", schnitt er mir mit bebender Stimme das Wort ab. "Ist es das? Ich verdiene es also, oder habe etwas getan, um das zu verdienen, oder wie soll das gemeint sein?"

"Hör auf mir die Worte im Mund herumzudrehen, das meine ich gar nicht, ich -"

"Lass es einfach, Sasha, ich will gar nicht wissen, was ich dir getan habe. Was Tatjana dir getan hat. Ich wüsste es nämlich nicht. Ich weiß wirklich nicht was dich dazu gebracht hat uns aus deinem Leben schneiden zu wollen. Ich weiß nicht, warum du meine Frau hasst, ich weiß nicht, warum du mich hasst, aber du hast sicherlich Gründe, die gut genug sind, um nach Hamburg abzuhauen und jeden Kontakt zu unserer Familie abzubrechen. Und wenn du jetzt zu weinen anfängst, dann brauchst du ganz sicher nicht auf Mitleid zu hoffen, das zieht bei mir nicht."

Ich presste mir die Hand auf den Mund und versuchte mit aller Macht die Tränen zurückzuhalten. Er hatte doch keine Ahnung, wovon er sprach. Ich wollte ihm die Ironie aus der Stimme prügeln und ihn zum Schweigen bringen. Aber ich wollte ihn auch nicht noch mehr verletzen. Ich hatte das alles nie gewollt. Aber ich hatte es auch nie abstellen können. Es ging nicht, es war immer da, ein Teil von mir. Und vor sich selbst konnte letzten Endes niemand je flüchten, und nicht, wenn er die ganze Welt bereiste.

"Ich hatte meine Gründe!", stieß ich hervor. Alexander sah mich herablassend an.

"Ach, tatsächlich? Was waren denn bitte schön deine Gründe? Dass sie dasselbe Abschlussballkleid hatte? Dass ich dir deine beste Freundin angeblich geklaut habe? Fandest du uns einfach kein hübsches Paar? Warst du traurig weil du keinen abgekriegt hast? Sag, was war es, Sasha? Was waren deine tollen Beweggründe?"

Ich schluchzte auf.

"Sei still!", schrie ich. "Sei still, sei still!"

"Ich sag dir was: nein. Ich werde nicht still sein. Ich habe es satt! Mir steht es bis hier, und ich habe keinen Nerv mir deine kindischen Gründe anzuhören deine Familie zu hintergehen! Was soll das denn bitte gewesen sein? Wieso konntest du es nicht ertragen dass deine beste Freundin die Liebe meines Lebens ist?"

"Sei still ..." Diesmal flehte ich fast, während ich noch immer bebte.

"Weißt du, wie traurig du sie gemacht hast mit deinem Hass? Wieso musstest du sie dafür hassen mich zu lieben?"

"Hör auf!"

"Wieso musstest du mich dafür hassen sie zu lieben?"

"Hör auf!"

"Wieso wirst du auch unser Kind hassen? Sag es mir Sasha, sag es mir! Was sind denn deine tollen Beweggründe?!"

Ich stand vor ihm und zitterte am ganzen Körper, und ich spürte, wie es hochkam. Wie alles hochkam. Und es war mir egal, was er denken würde, es war mir egal, was er sagen würde. Ich würde mich nicht länger lächerlich machen, verletzen lassen. Er demütigte mich, mitten in diesem Gang, er ließ mich nicht zu meiner Mutter, und dann sagte er all diese Sachen. Ich wollte es ihm um die Ohren hauen. Ich wollte den Schock in seinem Gesicht sehen und dann die Erkenntnis und meinetwegen sollte er angewidert sein von mir. Nichts zählte mehr. Ich schluchzte auf, und dann schrie ich ihn einfach an.

"Weil ich sie liebe! Ich habe sie schon geliebt bevor ihr euch kanntet! Ich habe sie immer geliebt, und ich liebe sie noch immer! Also sei endlich still, wenn du keine Ahnung hast, wovon du redest!"

Meine Stimme brach, und ich stand einfach vor ihm, und ich weinte mit der rechten Hand über den Augen. Alexander sagte kein Wort. Dann trat eine Schwester zu uns, die uns bat, unseren Streit an einen anderen Ort zu verlegen und die Station zu verlassen. Ich nickte nur und eilte ohne ein weiteres Wort davon. Ich konnte es nicht ertragen noch länger hier zu sein, und ich wollte Alexander nicht in die Augen sehen müssen. Nein, plötzlich wollte ich nichts mehr sehen.

Ich konnte es nicht mehr zurücknehmen. Es war vorbei. Jetzt war es raus, jetzt wusste er, dass ich Tatjana niemals gehasst hatte.

Ich konnte einfach nicht ertragen, dass die Frau, die ich liebte, sich in meinen Bruder verliebte. Ihn heiratete. Und jetzt ein Kind von ihm erwartete. Ich konnte es einfach nicht ertragen. Ich hatte den Abstand gebraucht, um meinen Liebeskummer zu vergessen, um sie nicht jeden Tag um mich zu haben, um nicht immer lächeln zu müssen, während ich innerlich weinte.

Doch nun musste ich zurückkehren, nun wollte ich zurückkehren, um meine Mutter wiederzusehen. Und jetzt würde ich sie vielleicht nie mehr sehen können, weil ich erst geflohen war, und dann Alexander so lange angeschrien hatte, bis man uns aus der Station warf. Ich spürte wie die Panikattacke mich überrollte, wie meine Lungen sich schmerzhaft zusammenzogen. Ich konnte nicht mehr atmen.

Nein, nein, ich konnte atmen. Es ging. Ich zwang mich dazu regelmäßig zu atmen, noch immer wurde ich von Schluchzern geschüttelt. Neben mir war die Damentoilette. Ich stolperte hinein, atmete weiter gleichmäßig, spritzte mir Wasser ins Gesicht. Alles war gut.

Nein, nein, nichts war gut! Doch ich erstickte nicht. Ich konnte die Panik bekämpfen. Ich blieb so lange in dem gekachelten Vorraum, bis ich mich beruhigt hatte, und mich bereit fühlte, ins Hotel zu kommen. Oder zu Maja. Ich brauchte sie, ich brauchte sie unbedingt. Ich musste ihr endlich sagen, was los war. Ich wollte, dass sie erfuhr, was ich getan hatte, und warum. Ich wollte, dass sie wusste, dass ich meine Familie hintergangen hatte, und dass meine Gründe dafür egoistisch waren, aber dass sie da waren. Damit Maja nicht dasselbe denken würde wie Alexander, damit ich mir niemals wieder anhören müssen würde, dass ich nur alberne Gründe hatte, dass es um Kleider ging, oder darum "keinen abzukriegen". Natürlich ging es nicht darum! Wie könnte es je um so etwas gehen?!

Ich war in Tatjana verliebt gewesen. Seit ich 12 Jahre alt war stellte ich mir vor, wie es wäre, sie zu küssen. Doch damals hatte es mir gereicht, meine Freundin nur bei der Hand nehmen zu können und ihr nahe zu sein. Irgendwann, als ich älter wurde, da war das nicht mehr genug. Mir wurde mehr als klar, was ich wollte, doch ich hatte solche Angst, Tatjana zu verlieren, dass ich nie irgendetwas tat. Es blieb dabei, dass ich still litt, während meine beste Freundin um mich herum war, es reichte mir nicht, dass wir nur normale Freundinnen waren.

Dann lernten sich Tatjana und Alexander irgendwann wirklich kennen. Sie waren beide zu Besuch, beim einzigen Mal, dass ich selbst im Krankenhaus gelandet war. Ich war auf dem Weg zu Tatjana gewesen, um ihr zu sagen, was ich fühlte. Ein regnerischer Tag, und weil ich kein Licht am Rad hatte und in der Dämmerung dunkle Sachen trug, hatte mich ein Autofahrer nicht gesehen, der aus einer Einfahrt fuhr. Und auch ich hatte nicht auf ihn geachtet, weil mir das Herz bis zum Hals schlug und ich solche Angst hatte, dass ich nur geradeaus starrte, mit schreckensgeweiteten Augen. Und so nahm er mich mit beim Ausparken, und ich flog vom Rad. Dies war mein erster Fehler, einer, der mein ganzes Leben prägen sollte.

Es war nichts Schlimmes. Ein paar Schürfwunden und Prellungen, und dazu ein Schock. Aber natürlich, als alle benachrichtigt wurden, da kamen sie. In Alexanders Nähe wollte ich auf keinen Fall Tatjana mein Herz ausschütten, und so hielt ich mich zurück. Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, entschied ich mich dazu, es noch einmal zu versuchen. Ich glaubte nicht an Schicksal und daran, dass "man mir hatte sagen wollen, es mache keinen Sinn", nur weil ich unachtam gewesen war und mich von einem Autofahrer hatte mitnehmen lassen.

Doch Tatjanas einziges Gesprächsthema war Alexander. Sie gestand mir, dass sie ihn toll fand und sich in ihn verschossen hatte. Ich wurde daraufhin wütend und schrie sie an.

Statt die Situation je zu klären hielt ich mich von ihr fern und ignorierte sie. Alexander versuchte mit mir darüber zu reden und mich dazu zu bringen, zu sagen, was los sei. Oder wieder mit Tatjana zu reden. Doch ich weigerte mich, ich würde es nicht aushalten, sie zu sehen, und zu wissen, dass es nicht ich war, der sie nahe sein wollte, sondern mein Bruder, ausgerechnet mein Bruder. Und es wurde nur noch schlimmer, als sich herausstellte, dass es auf Gegenseitigkeit beruhte. Mutter war ganz aus dem Häuschen, alle waren glücklich. Nur ich war diejenige, die sich ungerecht benahm, launisch war, Alexander anschrie und Tatjana ignorierte. Und ich fühlte mich schuldig, aber gleichzeitig raste ich vor Eifersucht, Scham und Liebeskummer. Ich wusste einfach nicht wohin mit all den Emotionen. Ich wusste nicht wohin mit mir. Und so ergriff ich die erstbeste Gelegenheit, aus München wegzukommen. Eine räumliche Trennung schien das einzige, was mich retten konnte. Mich von allem abzutrennen. Von niemandem etwas zu hören. Einfach ein neues Leben beginnen. Mich entlieben.

Doch es gab nie eine andere. Es gab immer nur sie, die große Liebe meines Bruders, in die ich mich verliebt hatte. Und nach der ich mich sehnte.

Ich wollte ihnen ihr Glück ja gönnen, aber ich konnte nicht. Ich war nur ein egoistisches Etwas. Und so hatte ich die Situation so weit gebracht, dass weder mein Bruder, noch meine ehemals beste Freundin nachvollziehen konnten, weshalb ich sie so ungerecht behandelt hatte, weshalb ich es noch immer tat. Weshalb ich sie hasste.

Ich hatte es so weit getrieben, dass meine Mutter nichts mehr von mir gehört hatte, und ich tatsächlich so lange fort gewesen war, bis ich zurückkehren musste, weil es zu spät war. Und sie gehen würde, und ich all die Zeit verloren hatte, die ich mit ihr hätte haben können. Ich sah in den Spiegel über mir und verabscheute die Fratze des Wracks, das mir entgegen sah.

Ich wünschte mir, wieder das Mädchen zu sein, das Tatjana nie geliebt hatte. Aber das war so weit weg, ich konnte mich kaum noch erinnern. Tatjana war mehr als ein halbes Leben lang alles gewesen, was ich wollte, und was ich nie erreichen konnte. Ich glaubte nicht, dass es jemals etwas anderes geben konnte. Ich stolperte aus der Damentoilette und wankte die Gänge entlang zum Ausgang. Ich brauchte frische Luft. Ich brauchte Gefühl. Es reichte nicht, diesen ekelhaften, glatten, sterilen Boden zu spüren.

Ich musste zurück. Ich musste raus. Ich brauchte Farben. Ich brauchte Maja.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  CruelEve
2012-10-17T14:35:01+00:00 17.10.2012 16:35
himmel o.O ich hätte nie gedacht, das es solche gründe wären, die sie aus münschen gezogen hatten O.O
aba ich hoffe doch ma, das maja die tata wegstumt ;P

auf jeden hast dus gut beschrieben und man kann sich super gut in sasha rein versetzten^^

freu mich schon aufs nächste kap^^
Von:  Renaki
2012-10-17T13:23:17+00:00 17.10.2012 15:23
Ich würde gerne dem Alexander eine reinhauen, so welche Brüder braucht man einfach nicht...Erst die Sache mit Tatjana und dann will er sie noch nicht mal zu ihrer Mutter lassen!!

LG Renaki


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