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Lebendig begraben

von

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Verbleichte Musik und verlorene Geständnisse

Sie gingen hintereinander die Treppen des Einganges hinauf. Gilbert beobachtete mit Interesse das alte Stiegenhaus. Er hatte immer schon die Altbauten in Wien gemocht. Sie erinnerten ihn an vergangene Zeiten, in denen er noch ein anderer gewesen war. Als er noch eine andere Rolle innerhalb der Gemeinschaft der Nationen eingenommen hatte und nicht so eine kleine Randfigur im Plan seines Bruders war.

Doch eines kam ihm fremd vor, denn obwohl die Wände und der Boden mit Marmor ausgetafelt worden waren, wunderte sich der Preuße, dass ausgerechnet der versnobte Aristokrat sich in einem solchen Haus einquartiert hat.

Er hatte nicht erwartet, dass der Braunhaarige, weiterhin in der Hofburg oder in Schloss Schönbrunn seine Zimmer hatte behalten können. Aber er wusste selber, dass es viel noblere Adressen in der Innenstadt gab als diese.

Plötzlich riss ihn das quietschende Geräusch einer Tür aus seinen Gedanken. Sie hatten eben den Aufgang zum engen Treppenhaus erreicht, da ging die Tür auf ihrer Rechten Seite auf und ein älterer Herr mit Knollennase sah heraus. Nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, schien er den Musiker zu kennen, doch zeigte er offenes Erstaunen über dessen Präsenz.
 

„Ach, sind’s wieder da.“

Die kleinen Schweinsäuglein glitten ohne Zurückhaltung über die sichtbaren blauen Flecken und dem kleinen Veilchen am linken Auge des Braunhaarigen.

„Die hab euch aba net lang behalten für das wie ihr ausschaut.“, meinte er dann abfällig und besann sich erst jetzt auf die Anwesenheit des Albinos. Nach kurzem Blick trat der Mann ganz aus der Tür, versteifte sich und hob die Hand zum Hitlergruß.

„Heil Hitler.“, salutierte er dann mit einer Lautstärke, mit der sich Gilbert sicher war das es sogar die Bewohner im dritten Stock mitbekommen haben mussten. „Ist der Herr mitgekommen, um Beweise gegen diesen Lump sicher zu stellen?“

Gilbert lächelte sein arrogantes Grinsen, er hatte ganz vergessen, dass er noch in Uniform unterwegs war.

Vor ihm begann sich Roderichs Gesicht zu einer Maske zu verziehen. Die scheinen sich ja komplett Spinnenfeind zu sein, dachte er noch still zu sich und sah dann aber den Mann vor ihn mit einem auffordernden Blick an.

„Und wer sind Sie den?“

„Herr Kreidengruber, meldet sich. Ich bin der Hauswart für diesen Bau und …“

„Und haben sie etwas zu diesem Mann zu sagen?“, unterbrach ihn Gilbert mit einer eindeutigen Spur an Arroganz in der Stimme.

Der Mann versuchte sich nun in seiner vollen Körpergröße aufzurichten.

"Hören sie, dieser Mann ist komisch und suspekt. Noch am Anfang hat er sich mitten in der Nacht ans Klavier gesetzt oder Geige gepielt. Na was glaubs, was das fürn Aufstand gemacht hat! Und... und manchmal im Sommer, wenns so heiß war hat er einen Kübel genommen und sich einfach über den Schädel gegossen, einfach so. Und den armen Seelen unter ihm hats auf Haupt getrofft! Außerdem… “, die kleinen Schweinsäuglein blitzten wissend zu Roderich, welcher versuchte an dem Mann so schnell wie möglich vorbei zu kommen. „… glaube ich, dass dieser nicht ganz parteitreu ist. Warum sonst hätten sie ihn vor net all zu langer Zeit abgeholt.“

„Danke das reicht. Wenn ich belastende Aussagen gegenüber meinem alten Militärkumpel Edelstein brauche, werde ich mich an sie wenden. Schönen Abend noch.“

Gilbert hob noch einmal mit einem breiten Grinsen die Hand und folgte, den Koffer schleppend, hastig dem Braunhaarigen, welcher schon die Treppen zu Mezzanin hochstieg. Dabei ließen sie den älteren Hauswart mit einem Ausdruck der Überraschung zurück.
 

Ein ganzes Stockwerk herrschte Schweigen, in denen sich Gilbert Bewunderung für Altbauten trübte, da ihm der Koffer langsam schwer wurde. Um sich abzulenken wendete er sich wieder an seinen „Gastgeber“.

„Roddy, hast du dir wirklich einfach so einen Kübel Wasser über deinen Sturschädel gegossen?", fragte Gilbert als er dem Braunhaarigen auf den Weg in die höheren Stockwerke folgte.

Der Musikliebhaber zuckte mit den Schultern.

„Und was soll schon dabei sein? Beethoven hat das schließlich auch getan.“ In seinen Ton lag eine Selbstverständlichkeit, die den Weißhaarigen schmunzeln ließ.

„Beethoven war auch dafür bekannt gewesen, es nie lange mit seinen Vermietern ausgehalten zu haben.“

Roderich drehte ihm halb das Gesicht zu, sodass der Albino sehen konnte, wie er erstaunt die Brauen hob.

Amüsiert lachte er leise auf.

„Was ist denn, Sissy? Erstaunt, dass ich so was weiß?“

Gilbert versuchte zum Braunhaarigen aufzuschließen und legte ihm den freien Arm um die Schultern.

„Ich erinnere dich nur daran, dass ich in diesen Zeiten, mehr als einmal in Wien war und ich kann mich noch gut an die Klatschküche erinnern.“

Das leise geflüsterte „Leider“ überging er geflissentlich, und ließ es zu, dass Roderich seinen Arm von seinem Oberkörper strich.
 

Leicht schnaufend erreichten sie den achten Stock und somit die Dachwohnungen des Gebäudes. Wieder machte sich in Gilbert Verwunderung breit. Er hätte eher erwartet, dass Roderich in einen der Wohnungen der Beletage wohnte oder sogar sich noch im zweiten Stock eingenistet hätte.

Aber, dass sich der Braunhaarige, wie ein Student aus der Mittelschicht, in einer Dachzimmerwohnung eingemietet hat, überraschte ihn ehrlich. Roderich zog einen Schlüssel aus der Tasche seines Gehrockes und drehte das Schloss auf.

Ohne sich nach Gilbert umzudrehen, betrat er die Wohnung, schaltete das Licht ein und räumte dem Preußen erst dann den Weg frei, als er sich die alten Lederschuhe ausgezogen hatte. Das kleine Vorzimmer, war gerade so groß, dass sich Gilbert, mit Roderich im Raum darin, mal umdrehen konnte.
 

An seiner rechten Seite führte eine Tür zu einem kleinen Küchenzimmerkabinett, das vom Mondlicht, welches durch ein längliches Fenster schien, erleuchtet wurde. Gerade aus, verschwand der Braunhaarige in einen weiteren Raum, nachdem er seinen ungebetenen Gast, „Zieh die Schuhe aus.“ zu geschnauzt hatte.

„Ja ja, blöder Affe.“, maulte der Weißhaarige mehr zu sich selbst, als zum anderen, welcher nun aus seiner Hörweite war.
 

Wieder hörte er einen Lichtschalter anknipsen und folgte seinem Gastgeber in den Wohnraum.

Der Raum war größer als es sich Gilbert vorgestellt hatte. Auf der, zum Hof gewandten Seite, befand sich in einer Fensternische ein einfaches Eisenbett, welches von einem farblosen Nachtkästchen begleitet wurde. Nur zwei Meter daneben befand sich eine weißgestrichene Tür mit Glaseinsatz, durch das man auf einen kleinen Balkon sehen konnte. Zwischen Fensternische und Balkon stand ein schwerer, klobiger Holzschrank.

Der Rest des Zimmers wurde noch eingenommen von einem Schreibtisch, einen Sofa, einigen Kästen, verschiedenster Art, und einem Klavier. Außer dem Fenster beim Bett, gab es noch ein kleines Dachfenster, welches offenbar ein wenig leck war, da mehre Fetzen in Ritzen gestopft worden waren.

Mit einem erstaunten Gesichtsausdruck ließ Gilbert seinen Blick durch den Raum schweifen.

Er hatte beinahe alle Unterkünfte des Österreichers der letzten 100 Jahre gekannt.

Für die Einblicke in die Villa im Wienerwald hatte er sich sogar Bleischrott ausgesetzt.

Doch obwohl in dieses Zeiten sich eine solche Wohnung mit samt Einrichtung sehr wohl in der Mittelklasse bewegte, war dies das ärmlichste Heim des Braunhaarigen, welches er je gesehen hatte.
 

Roderich verschwand in der Küche und ließ Gilbert alleine, welcher nun begann, sich das Zimmer genauestens anzusehen. Alles war so gepflegt wie er es von seinem Rivalen gewohnt war.

Der Zustand des Klaviers jedoch, verwirrte ihn. Nicht nur, dass es überseht war mit Büchern, Kleidungsstücken und anderem Kleinkram, auch schien es so als hätte der Braunhaarige seit einer Ewigkeit nicht mehr gespielt. Es lagen keine Notenblätter und Musikbücher in der Nähe herum, wie er es kannte. Auf den Pedalen konnte er sogar eine leichte Staubschicht ausmachen. Er runzelte die Stirn.

Wie sehr musste Roderich sich verloren haben, dass er nicht einmal mehr musizierte.

Schon als er in die Zelle getreten war, hatte er gespürt, dass der Mann, welcher vor ihm sich mit seinen Armen vor der Helligkeit schützen hatte wollen, nur noch ein Schatten der Nation war, welche ihm vor so vielen Jahren entgegengetreten war, als er Schlesien eingenommen hatte.

Seufzend stellte er seinen Koffer ab, zog sich seine Weste aus und legte sie mitsamt der Schirmmütze auf den Klavierschemel, auf dem sich schon die verschiedensten Kleidungstücke sammelten.

Nach den Geräuschen in der Küche war Roderich eine Zeit noch beschäftigt, also ging der Weißhaarige weiter zu einem Schubladenkasten, welche durch die Gegenstände darauf, seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

Der Kasten reichte ihm gerade bis zu Brust und war vollgestellt mit Fotos und Portraits. Es waren unter anderem Aufnahmen der Familie „Edelstein“ dabei, wie auch mehrere Fotographien anderer ihm bekannten Leuten.

In der Mitte standen zwei große Rahmen, welche die anderen ohne Probleme überschatteten.

Der linke, längsgestellte Rahmen, zeigte ein Familienfoto, welches nach der Kleidung zu schließen, kurz nach dem Krieg aufgenommen worden war.

Gilbert erkannte Adelheid und Agnes, welche im Hintergrund standen. Vor ihnen saß Katharina, die Älteste dieser Runde, auch wenn man es ihr äußerlich nicht anmerkte. Auf ihrer rechten Schulter ruhte eine Hand der Tirolerin.

Neben der Kärntnerin saß die hellhaarige Hedwig und hielt ein kleines Kind auf ihren Schoß.

Gilbert musste blinzen.

Auch wenn es eine Schwarz-weiß Photographie war, so war ihm der Gesichtsausdruck dieses Kindes wohl bekannt. Das Mädchen konnte körperlich nicht älter sein als drei oder vier Jahre und doch erkannte er Ungarns Lebensfreude in den Augen dieses Wurmes.

So hatte ihn Elizabeth während ihrer jahrhundertandauernden Freundschaft und Beziehung, mehr als einmal angelächelt. Nach einem kurzen Blick der Verwunderung, glitt sein Blick zu den letzten Gestalten des Fotos.

Roderich stand hinter Hedwig und nahm somit in der hinteren Reihe einen zentralen Platz ein. Sein Gesichtsausdruck war ernst und verschlossen.

Salvatria hatte sich an ihren Bruder geschmiegt und schaute von der Seite, das Kinn leicht auf die Schulter des Braunhaarigen gelegt, auffordert, wie auch misstrauisch zum Fotographen.

Nachdem Gilbert das Foto noch einmal in seiner Gesamtheit betrachtete, fiel ihm auf, dass dieser kleine Wurm, auf dem Schoß der Steierin, die einzige Person war, welche lächelte. Tirol hatte ihren üblichen grantigen Gesichtsausdruck aufgesetzt, während die Vorarlbergerin völlig in sich gekehrt schien. Katharina warf Gilbert mit ihrer gleichgültigen Mimik schon immer ein wenig unheimlich gewesen und selbst Hedwig, welche seit je her der Sonnenschien dieser verkorksten Familie war, blickte traurig und müde in die Kamera.

Langsam ließ er seinen Blick weiterschweifen. Auf einer etwas kleineren Fotographie konnte der Preuße Roderich und Theodor auf einer Gamsjagd erkennen.

Der Bayer stand etwas erhöht auf einem steinernen Weg und hatte das Jagdgewehr ganz locker geschultert, wobei er mit einem kecken Grinsen in die Kamera lugte. Genau wie Roderich, war er in eine, für ihn landestypische, Lodentracht gekleidet. Der Braunhaarige stand unter ihm und sah mit einem gelangweilten Blick zum Fotographen.

Die weiße Stirn des Albinos legte sich in Falten.

Er hatte seinen Rivalen nie in einer langen Lederhose mit Gehrock gesehen. Doch irgendwie musste er zugeben, dass es dem ehemaligen Kaisertum gut stand, bei weitem besser als die übliche Kleidungauswahl, die er von ihm gewohnt war. Überhaupt fiel erst jetzt auf, dass er den anderen, im Gegensatz zu seinen großmauligen Bruder, nie in Tracht gesehen hatte oder auf der Jagd in den Alpen.

Dabei hatte ihn Roderich schon oft auf solche Vergnügungen begleitet. Schließlich war es über Jahrhunderte eine Art der Zeitvertreibung gewesen, um die an sich anstrengenden politischen Verhandlungen jeglicher Natur ein wenig aufzulockern.

Sein Blick wanderte über die nächsten Rahmen. Er erkannte Vash, Sachsen und Hessen, die Italienbrüder mit ihrem älteren Bruder, der Personifizierung des Vatikan und ihrer älteren Schwester Venedig, Antonio mit einem Korb Tomaten in Händen, und viele weitere ihm bekannte Nationen.

Doch nun glitt seine Aufmerksamkeit zu dem größten aller Aufnahmen. Das Bild stand auf der kurzen Seite und zeigte ein, ihm nur allzu geläufiges, Gesicht. Vorsichtig nahm er es aus der Ansammlung der Fotorahmen hoch und betrachtete es aufmerksam.

Sie saß im Profil zu Kamera, hatte aber den Kopf zum Fotographen gewandt und ein helles Lächeln zierte ihre Gesichtszüge. Die langen haselnussbraunen Haare, was hier nicht zu sehen war, da es sich ebenfalls um eine schwarzweiß Fotographie handelte, fielen ihr frei vor die Brust und hinter den Rücken, wobei sie die zierlichen Rüschen des Kleides versteckten.

Nach dem wenigen, was Gilbert an Modewissen besaß musste diese Aufnahme noch aus den Zeiten des vorletzten Kaisers stammen. Er erkannte dieses Kleid. Es war keines ihrer aufwendigeren gewesen, sondern eines, in dem sie sich ebenso elegant wie anmutig bewegen konnte, wie damals als sie sich für einen Jungen hielt. Roderich näherte sich von hinten, ohne, dass er was davon mitbekam.

„Ich glaube das wurde zu dem Zeitpunkt aufgenommen, als sie mich mit dir betrogen hat.“, meinte er nur freudlos lächeln, als der Albino das Bild eingehend studierte.

Gilbert hob verwundert eine Augenbraue.

„Wie, du hast es gewusst?“

Roderich lachte eisig auf.

„Nein, am Anfang hatte ich nur einen Verdacht. Bis Anges,… oder war es Salvatria? Ach ist doch egal, einige spitze Bemerkung fallen hat lassen. Ich habe Nachforschung angestellt und euch dann einmal im Stall beobachten können.“

Ruhig und kühl sah er auf den Albino herab.

Das freundlose Lächeln zierte noch immer seine Züge. Irrte sich der Braunhaarige oder konnte er einen leichten rosa Schimmer auf seinen weißen Wangen ausmachen. Mit einer Geste winkte er ab. Die Sache gehörte für ihn in das Land der Vergangenheit.

„Elizabeth gestand mir eure kleine Affäre, nachdem ich über Wochen nur Chopin und Beethoven gespielt habe.„

Nicht ganz so feinfühlig wie sonst, nahm er seinem Gegenüber das Bild ab und stellte es zurück an seinem Platz. „Die Wochen welche ich darauf hin mit ihr verbracht habe, gehörten zu den besten unserer Beziehung in diesen sechzig Jahren.“

Den Ostdeutschen beschämt hinter sich lassend, verschwand Roderich wieder kurz aus dem Zimmer. Doch kehrte er schnell wieder zurück und schmiss lieblos einen Stapel Decken und Bettwäsche auf das Sofa. Gilbert, welcher gerade aus seiner Starre erwachte, starrte ihn ungläubig an.

„Äh, Sissy…?“, versuchte er einmal zögerlich.

„Was denn?“, zischte ihn dieser an. „Ist meine Garnitur, dem großartigen Preußen etwa nicht gut genug?“

„Äh… Nein… natürlich nicht.“ Verhaspelte Gilbert sich. Roderich warf ihm nur einen miesgelaunten Blick zu.

„Gut, dann hilf mir doch gefälligst beim Überziehen von dem Zeug.“

Ein wenig steif in den Bewegungen, schmiss ihm der Braunhaarige eine Bettdecke, mit samt ausgebleichtem gelben Überzug zu, welche nur deswegen nicht auf dem Boden landete, weil Gilbert einen kurzen Satz nach vorne sprang um sie aufzufangen, wobei er sich halb in ihr verhedderte.

Ein wenig verstimmt beutelte er den Überzug auf und begann mit dem Überziehen der Decke. Dabei beobachtete er seine Nemesis aus den Augenwinkeln.

Nach seinen Bewegungsabläufen und seinen Schwierigkeiten, ordentlich das Leintuch in die Ritzen zu stopfen, musste er noch immer, unter den Auswirkungen seines Verhöres, leiden. Nach dem er die Decke genügend in den Überzug geschüttelt hatte und er sie auf die Lehne des Sofas gelegt hatte, besann er sich, Roderich ein wenig zu Hand zu gehen.

„Hast du Verbandszeug hier?“, fragte er ganz nebensächlich. Roderich erhob sich und sah ihn verständnislos an.

„Wozu?“

Gilbert wedelte mit der Hand Richtung seines Rivalen.

„Na wozu denn? Muss ich dir erst die Kleidung vom Leib reißen, um dich an deine Mitbringsel aus der Haft zu erinnern?“

Mit Genugtuung stellte der Ostdeutsche fest, wie auf den bleichen Wangen seines Lieblingsopfers eine verräterische Röte sichtbar wurde. Verlegen drehte er sich weg und schritt auf sein Bett zu.

„So was ist nicht nötig.“, nuschelte der Braunhaarige und zog ein Polster unter der Tagesdecke hervor.

„Nicht nötig… Verdammt Roderich, selbst ein Blinder würde mitbekommen, in was für einem Zustand du dich befindest.“

Roderich wurde trotzig und die Röte im Gesicht intensivierte sich.

„ Und wenn, so hat es dich nicht zu interessieren, oder?“

Langsam reißte auch Gilberts Geduldsfaden. Die Idee, den störrischen Esel dort einfach mit Gewalt zu entkleiden und ihn zu seinem Glück zu zwingen, gefiel ihm plötzlich immer mehr.

„Hör mir zu Sissy, ich habe vor hier ein paar Tage zu verbringen und möchte nicht meinen ganzen Tag dabei verschwenden, dir beim Leiden zuzusehen. Dafür hätte ich mich nicht hier her bemühen müssen.“

Er versuchte so viel Beherrschtheit wie möglich in der Stimme zu behalten. Doch Roderich kreuzte nur die Arme vor die Brust, und warf ihm einen giftigen Blick zu.

„Es hat dich ja niemand gebeten hier her zu kommen! Außerdem, sehr zuvorkommend von dir, mich einfach zu zwingen dich bei mir aufzunehmen.“

Würde Roderich nicht so einen erbärmlichen Eindruck vermitteln, hätte der Preuße sich beinahe in frühere Zeiten zurückversetzt gefühlt.

Doch aus irgendeinem Grund war es nicht so wie früher. Vielleicht, weil so vieles vom früheren Roderich, sich irgendwo in den tiefsten Winkel seiner musikverliebten Seele verkrochen hatte. Vielleicht lag es auch einfach an seinen jüngsten Erfahrungen an der Front.

Er wusste es nicht und war auch eindeutig nicht in der Stimmung, sich damit auseinander zu setzen. Genervt schloss Gilbert die Augen und begann bis 10 rückwärts zu zählen. Als er wieder die Augen öffnete und den anderen fixierte, hatte seine Stimme einen kühlen drohenden Unterton angenommen.

„Hör mir zu! Wenn du mir nicht innerhalb der nächsten Augenblicke, Erste-Hilfe-Sachen holst und dich auf dieses Sofa mit entblößtem Oberkörper vor mir setzt. So verspreche ich dir, Roderich Edelstein, dass du schneller als dir lieb ist, nackt und gefesselt mir dabei zusehen wirst, wie ich deine Bude auf der Suche nach den Sachen auseinander nehme. Haben wir uns verstanden?“

Roderichs Sicherheit begann zu wanken, aber noch nicht aufzugeben.

„Ich kann mich auch selbst versorgen.“

„Ich habe dich gefragt ob wir uns verstanden haben, Roderich?“

Diesmal brach die letzte innerliche Verteidigung des Braunhaarigen und er verschwand aus dem Zimmer, nachdem er den Polster auf das Sofa geschupft hatte, um dann in kürzester Zeit, wieder mit einem kleinen Körbchen wiederzukommen.

Während er sich wortlos sein Halstuch aufknotete und das schmutzige Hemd aufknöpfte, inspizierte Gilbert das Mitgebrachte. Er fand Verbandsrollen und Tücher aller Größen, wie auch mehrere Tiegeln und Fläschchen. Auf jedem Salbentopf und auf jeder Flasche befand sich ein sauberes Etikett, welches mit einer engen, aber lesbaren Handschrift beschrieben war.

Aus den Augenwinkeln fiel dem Weißhaarigen auf, wie schwer sich der andere tat aus seinem Kleidungstück zu schlüpfen. Mit einem Seufzen wendete er sich Roderich zu und ließ Hausapotheke, Hausapotheke sein.

Ein wenig genierend ließ sich der Braunhaarige helfen, was dem Albino sein übliches Grinsen zurückbrachte. Welches im nächsten Moment wieder verblasste, als er den zerschundenen Rücken betrachtete. Das sich bis jetzt nichts entzündet hatte, war wohl auf die Natur als Personifizierung zurück zu führen.

Roderich drehte seinen Kopf leicht nach hinten.

„Bist du jetzt fertig meinen nicht ganz so großartigen Rücken zu begaffen?“, fragte er in fast dem gleichen Tonfall, welchen Gilbert benutzt hatte, keine Stunde zuvor.

Ein leichtes Lächeln zierte seine Lippen.

Gilbert seufzte erhaben, manchmal verstand er den Österreicher nicht. Normalerweise war dieser nicht so launenhaft und wechselte auch nicht so schnell zwischen den unterschiedlichsten Gemütszuständen. Doch dann kehrte auch seine gewohnte Selbstsicherheit zurück.

„Nun ich kann zwar nicht behaupten dass mich kleinere Sado-Maso-Aktionen sexuell nicht erregen, aber ich würde deinen Körper beim ersten Mal in einem unberührteren Zustand bevorzugen. Und…“

Weiter kam er nicht, denn Roderich hatte sich wieder umgedreht. Außerdem war er ganz sicher, dass er spöttisch das Wort „Trottel“ gemurmelt, vernommen hatte. Eine kleine Stille entstand, während Gilbert das Hemd auf seine Decke legte.

„Kannst du auch selber… Und mit welchen Mitteln, will der Herr bitte seine Wunden am Rücken versorgen, wenn er nicht einmal in der Lage ist ordentlich ein Hemd auszuziehen?“, fragte der Rotäugige spöttisch, als er mit einem Kopfnicken auf das Sofa deutete. „Setz dich endlich hin.“

Ungewöhnlich gehorsam und ohne Wiederrede setzte sich Roderich auf die Kante der Sitzfläche und drehte Gilbert seinen Rücken zu, während dieser das Körbchen nahm, um sich hinter ihn zu setzen.

Leise fluchend, suchte er unter all dem Zeug das Passende. Der jemand, welcher dies alles beschriftet hatte, war auch noch so schadenfreudig gewesen seine Etiketten auf Latein zu verfassen.

„Findest du nicht was du suchst?“

Mit leichtem Spott, drehte sich der Braunhaarige halb zu seinem ostdeutschen Pendant um.

„Oder sind deine Lateinkenntnisse schon so eingerostet? Oh, großartiges Ex-Land des Deutschen Ordens?“

„Ach sei still.“

„Stimmt, ich Dummerchen, vergaß! Um Heiden mit Schwert und Feuer zu bekehren, sind ja Lateinkenntnisse nicht dringend notwendig.“

Gilbert überging den Spott und versuchte das Geschriebene zu entziffern.

„Als wärst du zu dieser Zeit ein Unschuldsengel gewesen.“, murmelte er mit gerunzelter Stirn.

Vorsichtig entkorkte der Deutsche ein Fläschchen und roch daran.

„Wie willst du das beurteilen? Du hast mich zu der Zeit nicht gekannt!“

„Mag sein. Aber dafür Ungarn. Sie hat so einiges aus deinen wilden Jahren zu berichten gewusst.“

Ein starker Alkoholgeruch mit der scharfen Note von irgendwelchen Kräutern stach ihm in die blasse Nase. Schnell stöpselte er die Flasche wieder zu.

„Wie viele Leute hast du bitte nach meiner Vergangenheit ausgefragt?“

„Wer zum Kuckuck hat das überhaupt geschrieben und zamgepanscht?“, fragte der Preuße entnervt, ohne auf die vorige Frage einzugehen.

„Bedanke dich bei dem Miststück, wie du sie vorhin so liebevoll genannt hast.“

In Roderichs Stimme schwang ein leichter Hauch Amüsement.

„Ich dachte, für gemeine Arbeit wären die Hände deiner Schwester zu gut dafür.“, antwortete der Preuße bissig zurück. „Außerdem, seit wann kennt sie sich in der Medizin aus?“

Roderich musste schmunzeln.

„Salva wurde von Nonnen und Mönchen aufgezogen, Gilbert. Und nachdem sich Klöster auch oft der Pflege Bedürftiger verschrieben haben, so darf es dich auch nicht wundern, wenn meine liebe Schwester sich nicht davon abhalten konnte, ihre Nase in Apothekerkram zu stecken. Es stimmt, sie kann virtuos die schwierigsten Fugen von Bach spielen, einen Gegner gesellschaftlich matt setzen, aber du hast sie noch nie mit Mörtel und Stößel gesehen. Komm gib her, ich werde dir das richtige raussuchen.“

Roderich griff nach dem Korb und wühlte sich durch den Inhalt. Kurz Zeit später überreichte er Gilbert zwei Tiegel und eine Flasche, wobei er dazu die passenden deutschen Bezeichnungen nannte. Dann stellte er den Korb neben sich ab.

Als Gilbert begann, vorsichtig die offenen, wie auch schon schlecht verschlossenen Stellen mit einer Jodlösung abzutupfen, was nicht im mindesten angenehm war für den Geschundenen, konnte dieser keinen Schmerzensstöhner unterdrücken.

„Reiß dich zam, Sissy. Du sahst schon schlimmer aus.“

„Wir können gerne tauschen.“, nörgelte der Braunhaarige, während seine Hände sich im Stoff des Leintuches vergruben. Eine angenehme Stille senkte sich über den Raum, während in seinem Schädel begannen, die Gedanken einen fragwürdigen Reigen zu tanzen.

Warum war das ehemalige Preußische Königreich nur so fürsorglich zu ihm?

Natürlich auf seine Art fürsorglich, was nicht gerade der Norm entsprach. Dennoch beunruhigte ihn das Verhalten Gilberts. Da pflegten sie über Jahrhunderte eine innige Feindschaft und nun saßen sie gemeinsam auf seinem Sofa, wobei der Weißhaarige ihm vorsichtig, und mit, eine für ihn ungewöhnliche Feinfühligkeit, Verbände anlegte, mit einer Fertigkeit bei der jeder Feldhescher vor Neid erblasst wäre.

Ach ja, stimmt Gilbert hatte in den letzten Epochen mehr auf den Schlachtfeld gestanden als er.

Dennoch, das plötzliche Erscheinen des Albinos, und die seltsame Spannung, welche sich zwischen ihnen im Auto aufgebaut hatte, gaben seinen Gedankengängen keinen Frieden. Irgendwas lag in der Luft, nur konnte Roderich es weder fassen, noch einordnen. Die ganze Situation befremdete ihn, wie vieles, in der letzten Zeit.

Es kam ihm vor, dass die schlanken, bleichen Finger, einfach über seine strapazierte Haut getanzt wären, vorsichtig um ihm nicht zusätzliche und unnötige Schmerzen zuzufügen. Seltsamerweise waren ihm die Berührungen nicht unangenehm oder lästig. Er rügte sich selber.

Offenbar hatte er sich schon zu lange von anderen ferngehalten, wenn er sich schon nach der körperlichen Nähe seines ehemaligen Feindes sehnte oder sich mit den Zärtlichkeiten eines Phantomkindes zufrieden gab.

Schnell verdrängte er die Gedanken an seinen geisterhaften Begleiter. Nein, an ihn wollte er jetzt nicht denken.

Und was Gilbert anging…

Nun ja, auf das, wusste er im Moment auch keine, ihn befriedende, Antwort. Eine leichte Röte staute sich um seine bleichen Wangen auf, als ihm die Sache im Auto einfiel.

Warum hatte er nicht schnell reagiert und diesen Kretin einfach von sich abgeschoben, oder ihm wenigsten eine gescheuert. Stimmt, der Deutsche hatte sich ja mit seinem ganzen Gewicht auf ihn gelehnt.

Doch selbst, wenn er den Weißhaarigen gebissen hätte, wäre das für ihn eine akzeptablere Reaktion gewesen, als Nichts zu tun.

Hatte nur dagesessen und sich nicht gerührt, wobei er sogar ein leichtes Prickeln in der Magengrube empfunden hatte. Nochmals gab er sich einen Tritt im Geiste.

Nein, er musste sich einmal gedanklich ordnen. Diese Spannung zwischen ihnen hatte ihn nur deswegen gefangen gehalten, weil er schon lange niemand in seine Nähe gelassen hatte.

Punkt, Komma und Aus.

Doch wie wäre es weiter gegangen, wenn dieser Jemand, welcher sich dann sowieso in den Gassen verkrümmelt hatte, nicht aufgekreuzt wäre. Hätte ….

Nein er brach den Gedanken ab und versuchte seine Aufmerksamkeit auf eine Falte vor ihm zu lenken.

Es war nichts passiert, also unnötig, sich darüber Gedanken zu machen. Aber was ihn wirklich interessierte, waren die wahren Beweggründe seines Rivalen, mir nichts dir nichts in sein Leben reinzuplatzen.

Er hing so noch eine ganze Weile seinen Gedanken nach, bis der Grund seiner momentanen Verwirrung fertig war, die Unannehmlichkeiten seines kurzen Fortbleibens ordnungsgemäß zu versorgen und ihm einen leichten Klapps auf die Schulter gab.

Roderich stöhnte dabei erneut kurz auf. Die ganze Zeit, wo er mit nackten Oberkörper, nun vor seinem alten Rivalen saß, war ihm im Flug vergangen, obwohl der Preuße sicher über eine Dreiviertelstunde gebraucht hatte, um jede seiner zahlreichen Schürfungen, kleineren Wunden und blaue Flecken, fachmäßig zu versorgen und zu verbinden.

„Fertig. Kannst dich wieder anziehen, obwohl…“, trällerte der Preuße leicht ausgelassen, betrachtete stolz sein Werk und wollte eben die nicht mehr gebrauchten Sachen zurück in den Korb räumen, da wurde er von seinem „Patienten“ unterbrochen.

„Verdammt Gilbert warum tust du das?“, flüsterte dieser, leise, dennoch gut hörbar.

„Was meinst du?“

Ein ehrliches Erstaunen zeichnete Gilberts Gesicht, doch irgendwie hatte er das Gefühl, dass die folgenden Momente nicht zu seiner Annehmlichkeit verlaufen würden.

„Das alles… das Rausholen aus der Zelle, das Herbringen, die Sache im Auto...“

Roderich hielt inne. Es war das erste Mal, seitdem Gilbert die Zigarette fertig geraucht hatte, dass er den Annäherungsversuch im Auto zur Sprache brachte.

„Die Versorgung meiner Wunden. Verdammt Preußen, warum der ganze Aufwand? Wir waren über Jahrzehnte hinweg Feinde, über Jahrhunderte politische Rivalen… aber nie Freunde, nicht einmal gute Bekannte.“

Vorsichtig strichen die Fingerspitzen des Weißhaarigen über die Verbände, und der Hausherr konnte beinahe spüren wie sich die roten Augen auf ihn richten. Mir in die Augen schauen, konnte er, schoss es dem Braunhaarigen durch den Kopf, aber die Wahrheit versuchte er immer zu umgehen.

Ein leichter Zorn stieg in ihm auf. Er hatte das alles langsam satt.

Seine eigene Unsicherheit über seine persönliche Situation, die Leere, welche ihn nun schon seit Jahren begleitete, das verstörende Verhalten des Preußen ihm gegenüber, die Spannung, welche zwischen ihnen die Luft elektrisierte, und die ganzen unbeantworteten Fragen.

Er wollte endlich dieses Chaos beseitigt wissen, doch gleichzeitig wusste er nicht, wo er damit anfangen sollte.

„Über Jahre hinweg, war es dir doch immer egal gewesen, in welchen Zustand ich mich befunden habe, vor allem, nachdem du meistens hinterhergeholfen hast damit es mir erst so richtig schlecht ging.“

Roderich spürte, wie Gilbert die Hände von seinem Rücken nahm. Seine Hände ballten sich. Er war einfach mit der Situation überfordert.

„Also sag mir, Gilbert Beilschmidt, warum bist du hier?“

„Vielleicht…“

Zögerlich versuchte der Weißhaarige sich die Wörter zu Recht zulegen.

Sollte er die Wahrheit aussprechen oder sich heraus reden mit irgendeiner kecken Ansage?

Er atmete tief durch und fixierte einen Punkt, wo sich zwei Verbände kreuzten.

„Vielleicht, weil mir bewusst wurde, wie wichtig du in meinem Leben geworden bist…“

So jetzt war es raus, dachte sich Gilbert und starrte angespannt auf den Rücken des Mannes vor ihm. Dieser war ganz still und ruhig geworden, als hätten die Worte für ihn die Zeit einfrieren lassen.

Plötzlich drehte sich der Aristokrat zu ihm um und Gilbert versuchte dem auffordernden Blick seines Gegenübers nicht auszuweichen. Für einen kurzen Moment, verlor er sich in den violetten Augen, doch dann versuchte er erneut, sich zu einer Antwort zu bewegen.

„Du bist seit dem Schlesienkrieg immer präsenter in meinen Leben geworden und somit Teil meiner Vergangenheit. Der Vergangenheit, wo ich das war was ich sein wollte. Wo ich das geworden bin, was ich mir gewünscht habe. Als ich immer mehr aus meiner Rolle, seit dem Niedergang des Kaiserreiches gedrängt worden bin, habe ich begonnen, mich an mein altes Ego zu klammern, wollte die Zeit von damals festhalten, die Vergangenheit aufleben lassen. Und als Teil dieser, bist du mir immer mehr ins Gedächtnis gerückt. Ich…“

Innerlich schmunzelte Gilbert über sein Geständnis.

Es fühlte sich so an, als würde ein anderer für ihn reden und er, neben Roderich, diesem Jemand dabei zuschauen.

Warum musste er genau in diesem Moment gegenüber seinem alten Rivalen so ehrlich sein?

Erneut versuchte er den Blick des anderen zu erhaschen, doch dieser sah ihn nur mit ausdrucksloser Miene an.

„Doch als ich dich sah, in diesem Zustand, zusammengekauert in diesem Drecksloch, ist mir erst bewusst gewesen das es nie wieder so werden wird wie früher. Wie sehr wir uns beide verrannt haben… Wie sehr wir an der Vergangenheit kaputt gegangen sind, wie immer, jeder auf seine Weise.“

Gilbert lachte leise auf und strich sanft die Konturen einer der Verbände nach. Er spürte wie Roderich sich unter den zahlreichen Schichten Verband anspannte. Vorsichtig zog der Ostdeutsche den Braunhaarigen zu sich.

Dieser ließ es geschehen und wehrte sich nicht einmal gegen die Annäherung. Sanft begann Gilbert ihm über den Rücken zu streicheln und diesmal vermittelte Roderich nicht das Gefühl eines vom Scheinwerfer erfassten Hasen, sondern entspannte sich merklich unter seinen Berührungen. Gilbert wurde wieder selbstsicherer, woraufhin er weiter sprach.

„Wir waren Feinde, Rivalen und unsere Beziehung zu einander war seit jeher angespannt und konfliktreich. Doch gerade deswegen hat Sie mir Sicherheit gegeben. Solange wir mit einander stritten, war alles in Ordnung, gleichgültig wie sehr die Welt auseinander brach. Doch als dein Gekeife immer leiser wurde, bin ich mir der Leere bewusst geworden, welche Einzug in mein Reich genommen hat.“

Er legte eine Sprechpause ein und drückte den anderen ein wenig stärker an sich, wobei er Rücksicht auf die Wunden nahm.

„Alles ist verändert. Mir ist die Welt, in der ich jetzt lebe, so fremd geworden. Weißt du wie es ist, nur noch zu einem Teil des Planes seines kleinen Bruders zu gehören? Ich war doch derjenige, welcher ihn großgezogen hat und nun soll ich in der hintersten Reihe sitzen und zuschauen, wie er sich ins Verderben stürzt? Wie er die anderen ins Verderben stürzt?“

Gilbert wartete auf eine Antwort Seitens Roderichs, doch dieser schwieg nur.

Es war für ihn das erste Mal, dass er sich diesem so schutzlos und verletzlich zeigte. Seine Fassade fallen ließ und auf sein, ansonsten so aufgeblasenes Ego, verzichtete. Nicht einmal seinem Bruder hatte er jemals diese Seite seines Ich gezeigt. Auch nicht Antonio und Francis, wobei der Erste in den letzten Jahren höchst mit sich selbst beschäftigt war und der letztere wahrscheinlich nicht so schnell wieder mit ihm reden würde. Auf diese Gedanken hinauf, merkte er, dass seine Augenwinkel nass wurden. Um sich rasch davon abzulenken nahm er den Faden wieder auf.

„Weißt du wie es ist, seinen Verbündeten, Freunden und Feinden entgegen zu treten und die Blicke erdulden zu müssen, welche mir zu schreien, dass sie mich dafür verantwortlich machen wie er geworden ist? Dabei bin ich nur noch ein Schatten auf dem politischen Bankett, der versucht mehr von seiner einstigen Größe zu zeigen, als was von Diesem übrig geblieben ist.“

Roderich hob leicht den Kopf und schaute zu ihm hoch. Wieder fragte Gilbert sich, warum ausgerechnet er, sich Roderich anvertraute. Er hatte nie vorgehabt dem ehemaligen Kaiserreich einen sehr tiefen Teil seiner Gedankengänge der letzten Jahre zu offenbaren, doch irgendwie war seine Zunge schneller gewesen, als seine Gedanken. Doch er sah all den Schmerz und die Verzweiflung über die Entwicklung ihrer beider gemeinsamen Lage, in den violetten Augen und spürte auch seinen Teil dazu.

Sie waren sich so unterschiedlich und doch waren sie beide am gleichen Grund zerbrochen.

Plötzlich spürte er, wie Roderich sich zögerlich, mit roten Wangen an ihn schmiegte und überrascht nahm er ihn in die Arme. Es hatte etwas Tröstliches an sich, ihn bei sich zu haben, ohne, dass von Seite des Braunhaarigen Worte fielen. Abermals fragte sich der Preuße, warum er gerade dem Braunhaarigen sich anvertraut hatte und nicht einer Nation, mit der er freundschaftliche Bande unterhielt. Vielleicht lag da der Grund, dachte Gilbert in der Stille seinen Gedanken zu Ende, ich vertraute ihm das an, weil er mein Rivale ist und nicht mein Freund. Noch wusste er nicht, wie sich sein Geständnis auf ihre Beziehung auswirken würde, doch in diesem Moment, wollte er es dem anderen sagen und seine Angst, welche ihn die letzte Zeit gequält hatte, als er von der Verhaftung Roderichs hörte ,in Sätze fassen.

Er wollte einfach, dass dieser darüber Bescheid wusste, auch wenn es völlig untypisch für ihn war, es zuzugeben.

„Ich wollte …dich, jetzt auch nicht zusätzlich zu all dem Mist hier, verlieren,… der Gedanke daran hat mir auf der Fahrt nach Wien Angst gemacht.“, flüsterte der Albino, Roderich ins Ohr und strich vorsichtig eine braune Strähne aus dem Gesicht.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Geschichtlicher Kontext:

Beethoven hatte wirklich arge Probleme mit seinen Vermietern. Nicht nur, dass der Komponist, gar keine Rücksicht auf seine Mitbewohner nahm (das mit dem Kübel Wasser hatte er mehr als einmal gemacht, außerdem setzte er sich öfters mitten in der Nacht ans Klavier um zu spielen und vor allem zu Komponieren), auch brachte er alle Nachteile ein, die eintraten, wenn man eine Persönlichkeit unter seinem Haus beherbergte (Einmal wurden die Fensterländen gestohlen, weil er darauf irgendwelche Noten gekritzelt hatte und so weiter). Fakt ist, dass der gute Mann zigmal umgezogen war und eigentlich nie wirklich Frieden halten konnte mit seinen Vermietern.

Gut das wars so weit,

bis zum nächsten Mal,

lg, Sternenschwester Komplett anzeigen

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