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Wikingerblut

MIU-Trilogie 1
von

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Ghost Train

»Ihr habt ja wohl nicht mehr alle Frösche im Teich!«, schimpfte Dr. Saltz, als man ihm die schwer verwundete Frau auf den behelfsmäßigen Behandlungstisch legte. »Warum habt ihr keinen Krankenwagen geholt?«

»Weil ich Silvio mit der Erstversorgung betraut habe«, antwortete Eric, machte einen Schritt rückwärts und kreuzte, wie immer, die Arme vor der Brust, seine typische Verteidigungsposition, in der er unangreifbar war. »Wir haben uns entschieden, keine Ärzte und Polizisten zu alarmieren. Hätten wir das vorgehabt, hätten wir keine erste Hilfe leisten können.«

»Na, da bin ich anderer Meinung«, knurrte Bock und strich das Haar der Bewusstlosen vom Hals zurück, um das ganze Ausmaß der Zerstörung in Augenschein zu nehmen. »Zumindest die BfV-Leute wissen doch, wie wir arbeiten. Jetzt können sie uns erst recht drankriegen – vor allem dann, wenn ich diese hässliche Wunde nicht fachgerecht versorgen kann!«

»Ich bin überzeugt, dass du das kannst«, erwiderte Eric ungerührt.

Hinter ihnen trug gerade Lasterbalk die tränenüberströmte, wimmernde Freundin des Opfers in den Flur, die ihn umklammerte wie ein Koala und ihr Gesicht an seine Schulter presste. »Hätte Silvio hier net auch mal reinbeißen können?«

»Habe ich gemacht«, versicherte Sugar Ray kühl.

»Ach, raus mit euch, raus mit euch allen!«, befahl Bock verdrossen, als er beide Patientinnen auf den Tischen hatte. »So viel Beruhigungsmittel, wie hier nötig wäre, haben ja nicht alle unsere Vampire zusammen! Jesus Christus, Mann!« Mit einer übertriebenen Geste scheuchte er alle Männer aus dem Raum und schloss die Tür mit einem Fußtritt. Man hörte ihn weiterhin leise schimpfen, während er mit der Behandlung der beiden Frauen begann.
 

Buschfeldt, der an einem schwarzen Tee nippte und an einem Bericht der bisherigen Ergebnisse schrieb, war alles andere als erfreut über die Meldung.

»Ich muss mich doch sehr wundern«, sagte er zu Eric, »dass ausgerechnet du eine derart unangebrachte Maßnahme ergreifst. Enttäuscht mich ein wenig.«

»Tut mir Leid, Boss, es ging nicht anders.« Eric blieb unbeeindruckt.

Lasterbalk setzte sich mit an den Tisch und rieb sich die Stirn. »Es ist ja alles gut gegangen. Wir waren mit dem Dark Knight sofort da und haben die beiden Damen ganz schonend transportiert. Beide waren ruhiggestellt und es gab keine Zwischenfälle. Nach der Befragung können wir die zwei schon erstversorgt weiterreichen.«

Buschfeldt warf ihm einen herablassenden Blick zu. Dass er auf die Meinung von Vampiren wenig Wert legte, war bekannt. »Welche Teams sind jetzt noch in der Stadt unterwegs?«, fragte er mit mäßigem Interesse.

»Ähm …« Lasterbalk legte die Stirn in Falten. »Ingo und Simon … Lange und Flex … Fritz und Einhorn … und Asp.«

»Ich hoffe, dass zumindest einer von denen mit Ergebnissen zurückkommt.«

Eric sagte: »Schloss Oberwerries scheint ein altes Vampirversteck zu sein. Das heißt, schon bevor Fiacial Fhola ihren Unterschlupf in Wuppertal aufgegeben haben, sind einige da gewesen.«

»Das ist net so verwunderlich«, meinte Lasterbalk. »Wir haben in Wuppertal Vampire erledigt, die von den ersten dieser … Pseudo-Bissopfer angelockt worden sind. Das waren Bestien, aber für diese Show mit den aufgerissenen Hälsen konnten die nix. Das waren einfach nur … Mitläufer. Und wir müssen damit rechnen, dass es noch viel mehr von der Sorte gibt.«

Buschfeldt stellte die Tasse hin. »Na schön. Ich werde Yellow Pfeiffer und El Silbador bitten, das Vampirregister durchzusehen. Die beiden hängen mir sowieso zu viel nutzlos rum. Die Polizei in Wuppertal ist der Meinung, dass von den vier Vampiren, die ihr an diesem einen Abend exekutiert habt, keiner irgendwo registriert war.«

»Welche Bestie lässt sich schon registrieren?«, murmelte Lasterbalk.

»Ich will, dass wir das in Zukunft besser überschauen«, fuhr Buschfeldt scharf fort. »Wenn ein Vampir über die Bildfläche tanzt, will ich wissen, wer das ist. Erst recht dann, wenn ihr das Vieh kalt machen müsst. Ist das klar?«

»Ja, Boss«, sagte Eric gleichmütig, während Lasterbalk nur die Schultern hob.
 

Eine knappe Stunde später hatte sich die unverletzte der beiden Frauen so weit erholt, dass sie bereit war auszusagen. Scheu setzte sie sich an den Tisch, noch immer mit ganz zerwühlter Frisur und roten, verheulten Augen, und machte sich möglichst klein angesichts der vielen neugierigen Blicke. Falk, der zwischen Lasterbalk und Elsi saß, fragte sich, was Bock der Frau gegeben hatte, damit sie jetzt so ruhig war. Offensichtlich etwas, das länger vorhielt als Vampirgift.

Pfeiffer hielt schon alle fünf Finger über die Tastatur, bereit, jedes Wort mitzutippen. Der gemütliche Schievenhöfel stellte dem Gast ein Glas Wasser hin und großzügigerweise sogar die kläglichen Überreste der Nussplätzchen, die seine Frau gebacken hatte.

Die junge Frau kümmerte sich weder um das Getränk noch um die Naschereien, sondern begann stattdessen mit immer noch brüchiger Stimme zu berichten: »Also, da … da waren diese Typen … Mona und ich sind gerade aus dem Kaufhaus gekommen, Sie wissen schon, das türkische beim Bahnhof. Und die waren unheimlich charmant … Wollten wissen, ob wir von hier wären, ob wir das Schloss kennen würden. Ich sagte, nein, wir sind aus Unna … Und dann fragten sie, ob wir das Schloss nicht mit angucken wollen … Wir haben es dann auf dem Busplan gefunden, die Station heißt ja direkt so …«

Noch hatte Pfeiffer die Finger nicht bewegt. Er sah immer noch die Frau an, die nun zögerte.

»Ja?«, sagte Eric betont deutlich. »Bitte weiter.« Er nickte ihr aufmunternd zu, doch sein Blick blieb kühl und berechnend.

Der hätte echt Cop werden sollen, dachte Lasterbalk.

»Naja, wir sind hingefahren … Und da war niemand, alle Türen waren zu. Wir haben uns also alles nur von außen angeguckt. Bis der eine Typ plötzlich meinte, er hätte ’nen Schlüssel für den Stall.«

Pfeiffer begann zu tippen.

»Und wir sind reingegangen … Und drinnen …« Jäh von der Erinnerung überwältigt, presste die Blonde eine Hand auf den Mund. Wieder füllten ihre Augen sich mit Tränen, doch sie fuhr tapfer fort: »… haben uns vier Kerle gepackt … und gesagt ›Die sind gut‹ …« Sie schniefte. »Wir haben um uns getreten. Bis wir aus dem Stall raus kamen … Aber einer ist uns hinterher. Und hat Mona ein Messer in den Hals gestochen … so eins mit S-S-Sägezähnen.« Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Bock, der neben ihr saß, nahm ihre Hand und massierte gewissenhaft die kalten Finger.

»Holy Shit«, sagte Elsi laut.

»Muss passiert sein, kurz bevor Eric und ich angekommen sind.« Sugar Ray sah alles andere als glücklich aus. »Sind vielleicht unseretwegen aus dem Versteck geflohen.«

»Du hast gesagt, die Spur war alt«, erinnerte ihn Eric und hob eine Augenbraue.

»Vielleicht war vorher lange keiner da. Bin doch kein Spürhund.«

Die junge Frau fuhr sich mit dem Ärmel der freien Hand quer über das Gesicht und wimmerte: »Sie haben uns dann da gelassen und sind abgehauen … Die vier Kerle, und die beiden Typen auch. Sie wollten, dass Mona einfach verblutet.«

Einen kurzen Moment lang schwiegen alle Anwesenden. Dann sagte Lasterbalk leise: »Das ergibt keinen Sinn.« Falk fand, dass er durchaus Recht hatte. »Ich meine … Wenn jemand will, dass Vampire doof dastehen … Das mit dem abgelegenen Ort kann ja Absicht sein, na gut … Aber warum dann nur einen Menschen so übel zurichten und den anderen am Leben lassen, damit der später bezeugen kann, dass es keine Vampire waren?«

Bei dem Wort Vampir zuckte der Blick des Mädchens hoch und heftete sich ehrfürchtig an Sugar Ray, der bemüht emotionslos zurückschaute. Er hatte nur seinen Job gemacht.

»Die wollten mit mir das gleiche machen«, sagte sie schließlich, »da bin ich ganz sicher. Ihr …« Sie zeigte vage auf Eric und Silvio. »… Ihr habt sie gestört. Glaube ich.«

Pfeiffer drückte besonders fest auf die Enter-Taste. »Gut, ich will Beschreibungen. Von allen.«

Die blonde Frau gab sie ihm. Bei der Erwähnung von Sonnenbrillen horchten alle auf. Falk knirschte leise mit den Zähnen; es waren Vampire, die diese grausamen Dinge taten, und zwar ohne auch nur einen Tropfen Blut zu trinken. Das machte sie zu Schlimmerem als Bestien. Aber mit welchem Motiv? Weshalb versuchten sie, ihre eigene Art zu diskreditieren, indem sie Leichen mit zerfetzten Hälsen hinterließen?

»Danke«, sagte Boris schließlich. »Dann haben wir wohl alles.«

Schwankend erhob sich die Frau von ihrem Stuhl. Sie schien es eilig zu haben, von ihren Rettern wegzukommen. »Sie sagten, sie wollen streuen«, fügte sie mit gesenktem Blick an. »Ich weiß nicht, was das heißen soll.«

»Auf jeden Fall verlassen sie die Stadt«, folgerte Eric, »und diesmal müssen wir ihnen zuvorkommen.«
 

Buschfeldt selbst alarmierte die Polizei, nachdem sie die Befragung beendet hatten. Kurz darauf erschien diese mit einem Streifenwagen und einem Krankentransporter. Valerie Fink und Mona Hieper, wie die beiden unfreiwilligen Besucherinnen hießen, wurden mit zum Abschnitt respektive in die Klinik genommen. Über das eigenmächtige Aufgreifen der beiden durch die MIU wurde keine Kritik geäußert; gern nahmen die Beamten die bereits gemachten Aussagen entgegen, und über die tiefe Wunde äußerte der weiterbehandelnde Arzt, dass sie exzellent versorgt worden sei. Bock verkniff es sich mühsam, ihn darauf hinzuweisen, dass dies auf die hoch gerinnungsfördernde Wirkung von Vampirspeichel zurückzuführen war.
 

Keine fünf Minuten nach der Abfahrt der beiden Autos kehrten Fritz, Micha und Asp gemeinsam zum HQ zurück. Sie hatten die Stadtgrenze observiert und nichts gefunden, hörten sich aber staunend an, was dem Rest des Teams widerfahren war.

»Da hatte ich ja Glück«, war Fritz’ Kommentar, »dass wir nicht am Schloss waren.«

Kurz darauf erschienen auch Sebastian und Marco wieder auf der Bildfläche, und fast zeitgleich Simon und Ingo. Falk erzählte die Geschichte ein drittes Mal; Eric und Sugar Ray hatten dazu schon längst keine Lust mehr.

»Da wir jetzt alle wieder hier sind«, wandte sich Buschfeldt später an die Versammelten, »schlage ich vor, dass wir weitere Schritte planen. Ich bin strikt dagegen, dass die Bande uns noch mal entwischt.«

»Wir wissen jetzt, dass Fiacail Fhola für so ziemlich alles, was hier so passiert, verantwortlich sein müssen«, erinnerte Lasterbalk. »Die haben in Wuppertal rumgebissen, was das Zeug hält, und sie sind es auch, die diese … diese Gräuel begehen. Nur unsere Musikleichen passen da noch net rein, aber die kriegen wir auch noch unter.«

»Vergiss nicht Alea«, knurrte Falk. »Wenn die jetzt mit ihm das Weite suchen, und wir wissen nicht, wohin … dann gute Nacht!«

»Ihr wisst, was wir machen können«, sagte Eric schneidend. »Was wir machen sollten. Sie hat uns schon so oft das rettende Ass zugespielt.« Eindringlich sah er vom einen zum anderen.

»Wer?«, kam es prompt von Fritz.

»Er spricht von Frau Schmitt«, erklärte Falk, »Silke Volland. Sie ist unsere erste Wahl, wenn es um V-Jobs geht.«

»Was … Eine Frau

»Ja, eine Frau!«, sagte Eric, vermutlich schärfer als beabsichtigt. »Sie ist so taff wie zehn von deiner Sorte, davon bin ich überzeugt!«

»Auf Frau Schmitt lassen wir nix kommen«, schloss sich auch Lasterbalk an. »Das Weib hat schon an die hundert Mal bis zum Hals in Gefahr gesteckt und uns trotzdem unbeirrbar mit Informationen versorgt, bis wir die Schurken drangekriegt haben.«

»Du weißt, was ein V-Job bedeutet, Fritz, oder nicht?«, fragte ihn Boris.

Fritz tat gekränkt: »Natürlich weiß ich das, ich war auch mal V-Mann! Allerdings … nur einmal.«

Falk scheiterte daran, sich Fritz als Spion in einer feindlichen Gruppierung vorzustellen. Konnte das wirklich gut gehen? Er glaubte es nicht. Da war Frau Schmitt ohne Zweifel eine verlässlichere Wahl.

Leise sagte Sugar Ray: »Das wird mit Abstand das Gefährlichste, was sie je gemacht hat.«

»Das weiß sie«, versicherte Eric sofort, »und trotzdem: Wenn wir sie bitten, Fiacail Fhola zu infiltrieren, dann wird sie es machen.«

Die Entscheidung hing wie ein bleiernes Tuch über dem Raum. Es war praktisch egal, was jetzt noch jemand einwenden würde.

»Dazu müssen wir Eff Eff aber erst mal lokalisieren«, stellte Falk fest. »Und das schleunigst.«

Zu aller Überraschung meldete sich nun Pfeiffer mit unerwarteter Euphorie zu Wort: »Lasst mich das machen, Leute, ich hab ’ne Idee. Ja, ich denke, damit erwischen wir sie, wenn sie türmen wollen. Wenn. Vorher nicht. Ach, lasst mich einfach machen.« Ohne auf Einwände zu horchen, fing er eilig an zu tippen, und den anderen blieb kaum etwas anderes übrig, als staunend die Gewandtheit seiner Finger zu bewundern.
 

Klaus-Peter Schievenhöfel übernahm den eher unbeliebten Küchenjob und kochte eine Gemüsesuppe. Fritz war nach dem langen Aufenthalt in herbstlicher Frische mehr als dankbar dafür. Diese Mahlzeit wurde wieder von allen gemeinsam eingenommen; da Alea nicht mehr da war, war es für die Vampire nicht nötig zu essen, aber sie taten es dennoch, wenn auch sehr wenig. Fritz sah ein, dass auch sie etwas Warmes in den Bauch bekommen wollten, und es war ja genug da.

Eine halbe Stunde später wurde Fritz genötigt, erneut das Pfählen zu üben. Er fand, dass er seit der letzten Übungsstunde Fortschritte gemacht hatte. Wieder durfte er sich an Micha versuchen, danach auch an Falk, der ihm vor allem durch körperliche Kraft Paroli bot, und zuletzt sogar an Sugar Ray – den Fritz im Übrigen noch viel unheimlicher fand als Asp –, der ihm ohne große Mühe mit geschmeidigen Bewegungen auswich und somit Fritz’ gezielte Attacken einfach ins Leere laufen ließ.

»Naja, naja«, räumte Ingo schließlich ein. »Wenn man bedenkt, dass unsere Vampire lange Erfahrung darin haben, sich nicht töten zu lassen, bist du gar nicht so schlecht.« Er gestattete Fritz, die Übung zu beenden. »Aber«, fügte er hinzu, »wenn du noch lernen willst, wie man am besten mit der Natron-Kanone zielt, dann geh zu Eric, solange wir noch Zeit dafür haben. Der zeigt dir, wie du ’ne Bestie auf fünfhundert Meter Entfernung blind schießt. Sein Eisen heißt nicht umsonst Sonnenauge.« Er lachte dröhnend.

Fritz hatte längst mitbekommen, dass jeder der nicht-vampirischen MIU-Agenten eine besondere Qualität mitbrachte. Genauso wusste er, dass er selbst keine besondere Qualität hatte – jedenfalls bisher. Vielleicht war Schießen gar nicht so schlecht. In der Grundausbildung hatte er dabei wirklich gut abgeschnitten. Allerdings war das Jahre her, und hinzu kam, dass Fritz sich von Erics selbstbewusstem Auftreten eingeschüchtert fühlte. Er wusste, dass er den Mann mit den ständig gekreuzten Armen, dem stechenden Blick und der kühlen Stimme nie mögen würde – ganz egal wie kompetent und erfolgreich er war. Da hielt er sich doch lieber an Micha, doch der konnte ihm außer Sprücheklopfen nicht viel beibringen.
 

Währenddessen saß Yellow Pfeiffer bis in die späten Stunden hochkonzentriert an seinem Rechner und holte sich über das BfV-Netz die Zugriffserlaubnis für sämtliche Verkehrsnetze. Als es dunkel wurde, war er noch immer mit Tippen beschäftigt, betriebsam und unermüdlich. Wie sich herausstellte, war er mittlerweile nicht mehr empfänglich für äußere Reize: Als Micha sich neben ihn setzte und versuchsweise ein wenig plauderte, bekam er nur gemurmelte Antworten mit unerhört wenig Vokalen. Daraufhin war Micha still und holte seinem Bandkollegen stattdessen eine Tasse Kaffee. Boris nahm das zur Kenntnis, beachtete das Heißgetränk aber nicht. Schließlich holte Micha die Keksdose. Er nahm eines der Nussplätzchen heraus und hielt es provokant zwischen Pfeiffer und den Bildschirm. Als noch immer nichts passierte, beugte er sich an Boris’ Ohr und sagte laut: »Keks!«

»Mann, Micha«, murmelte Pfeiffer endlich, tippte aber unbeirrt weiter. »Ich kann so nicht arbeiten.«

»Doch, kannst du, du machst es ja gerade«, gab Micha vorwurfsvoll zurück und bewegte den Keks auf und ab.

»Wenn du darauf bestehst, dass ich dieses blöde Plätzchen esse, dann krümel es in den Kaffee und lass mir den intravenös geben. Ich hab zu tun.«

Micha ächzte ein leises »Ich fass es nicht« und ließ den Keks wieder in die Dose fallen.

Als Fritz dazu kam, war der Sänger allerdings dabei, das Plätzchen selbst zu essen.

»Warum machst du das?«, fragte Fritz erwartungsgemäß in tadelndem Ton. »Wieso isst du Kekse?«

»Nur aus einem Grund, Fritz: Weil ich’s kann.« Unbeeindruckt warf Micha den letzten Krümel des Plätzchens hoch und fing ihn mit den Zähnen.

»Ha!«, schrie Boris plötzlich, und beide Männer fuhren herum. »Ich hab sie! Ha, die moderne Technik können sie einfach nicht austricksen, diese Steinzeitler!«

Neugierig beugten sich Fritz und Micha über den Monitor. »Was ist denn passiert?«

»Na jaaah, ich dachte, ich kriege sie über das Verkehrsnetz. Ich hab die Polizei gebeten, auf dem Weg zu den Autobahnauffahrten Kontrollen durchzuziehen, und die Überwachungsvideos aus den Bussen durch den Filter gejagt, den das Vampir-Registrationsbüro bereitgestellt hat. Bisher nichts gefunden. Aaaaaaber jetzt habe ich mich gerade in das Bahnnetz reingehackt. Und siehe da: ein außerplanmäßiger Zug. Ein DB-Intercity-Express, der keine Nummer hat und im offiziellen Fahrplan nicht erscheint.«

»Wow«, staunte Fritz.

Micha blieb skeptisch. »Das könnte was-weiß-ich für Gründe haben.«

»Denke ich nicht, Micha. Guck mal.« Boris deutete auf eine Kette aus Zahlen, Buchstaben und Sonderzeichen, die für Fritz keinen Sinn ergaben. »Der Zug ist quasi dazu angemeldet, den Bahnsteig zu befahren, aber diese Anmeldung, wenn man’s so nennen will, wurde ohne den zugehörigen Sicherheitscode eingeschleust. Also nicht von den Leuten, die das normalerweise autorisieren müssten.«

»Du meinst …«

»Ja, das Bahnhofspersonal wird den Zug erkennen und durchfahren lassen, weil er auf der Tafel steht, aber offiziell gibt es ihn gar nicht. Das wird aber erst auffallen, wenn er längst über alle Berge ist. Ideal, um schnell und unauffällig aus der Stadt zu verschwinden!« Triumphierend sah Pfeiffer in die Runde.

Micha murrte unwillig. »Oh, Scheiße. Wie hält man denn einen Zug auf? Wenn man sich nicht gerade davor schmeißen will.«

»Tja, darüber sollten wir uns noch Gedanken machen, bevor …« Boris klickte erneut irgendwo herum. »… oh, Mist, der Zug fährt in einer knappen halben Stunde! Hätte mir gleich einfallen müssen, dass nachts die beste Zeit ist! Micha, Fritz, schnell, krallt euch die anderen und macht eine Karre mobil! Ihr müsst sofort zum Bahnhof!«
 

»Ein gecharterter Zug?«, wiederholte Ingo Hampf ganz verdattert. »Na, die sind ja geil!«

»Beeilen wir uns«, zischte Eric. »Wer kommt alles mit?«

Die Wahl fiel auf Falk, Lasterbalk, Fritz, Micha und Flex. Sie nahmen den Dark Knight und Fritz’ eigenes Auto. Inzwischen war es kurz vor zwei, die Straßen waren kaum noch befahren.

Der Bahnhof war viel größer, als Fritz erwartet hatte; die Eingangshalle wölbte sich wunderschön und geradezu gigantisch über ihre Köpfe und war kein Vergleich zum Bahnhof in Wuppertal.

»Beeilt euch!«, knurrte Micha, als sie durch das leere Gebäude zu den Gleisen sprinteten. »Es ist gleich zwei! Ich glaube, der Zug hat keine Verspätung!«

Als die sieben – wieder einmal waren sie sieben, dachte Fritz verblüfft – den Bahnsteig 12/13 erreichten, fuhr der Zug gerade aus der Dunkelheit ein. Auf den Tafeln leuchtete die Ansage ICE XXX von XXX nach XXX. Bitte nicht einsteigen.

Ein Geisterzug, dachte Fritz beklommen, als das dreiäugige Ungetüm zischend zum Halten kam.

Keine Menschenseele war zu sehen. Der ICE stand nun stumm am Gleis. Es war ganz still.

Unschlüssig blieben die Männer stehen; Fritz sah, wie alle ihre Waffen zückten und dann begannen, sich in verschiedene Richtungen wieder zurückzuziehen.

Micha packte Fritz an der Schulter und zog ihn mit. »Schnell, die sind noch nicht da! Wir lauern ihnen auf!«

Sich auf einem verlassenen, schlecht beleuchteten Bahnsteig zu verstecken war nicht allzu schwierig. Menschen und Vampire verteilten sich über die Haltebereiche A bis F, jeweils in der Nähe der Treppenaufgänge und Aufzüge.

»Ich will endlich Alea wiederhaben!«, hörte Fritz Lasterbalk wispern.

»Pscht!«, machte Eric aus einer anderen Richtung. Fritz sah dort, wo er stand, die Lichtreflexion auf seiner Natron-Kanone. Eric hielt die Waffe so ruhig wie die Freiheitsstatue ihre Fackel.

Minutenlang passierte nichts. Der Zug stand nach wie vor unbeweglich da; weder hatte es ein Signal gegeben, noch hatte sich eine Tür geöffnet.

Micha stand dicht hinter Fritz, und unerwartet sagte er leise und beunruhigt: »Die werden uns riechen … Die wissen ganz genau, dass wir hier sind … Das wussten sie damals auch …«

Dann hörten sie ein Rumoren.

Es kam aus dem Untergrund, war erst leise und schwoll dann an wie eine herannahende Welle. Die Treppen begannen unter unzähligen Schritten zu hallen …

… Und plötzlich stürzte das wimmelnde Leben nur so herein über Gleis 12 und 13. Scharenweise Leute stürzten auf den Bahnsteig, aus allen Zugängen gleichzeitig, und ein Chor aus wilden Rufen flutete die kalte Abendluft. Instinktiv versuchte Fritz, vor den vielen Rennenden zurückzuweichen, doch schon war er mittendrin in ihrem Getümmel, und alle gleichzeitig stürzten sie sich auf die stummen Beobachter, die mit der gewaltigen Anzahl völlig überfordert waren.

»Menschen!«, rief Micha dicht an Fritz’ Ohr, laut genug, dass alle ihn Umzingelnden es hören konnten. »Los, Fritz, Abendbrot!«

Fritz verstand erst gar nicht. Dann schaltete er. Menschen!

Als die Menge an lärmenden Frauen und Männern, die scheinbar zusammenhanglose Rufe ausstießen, sich um sie schließen wollte, setzten Fritz und Micha beinahe zeitgleich zum Sprung an, um sich mitten zwischen sie zu werfen. Mit aller Macht versuchte Fritz, das anzuwenden, was er gelernt hatte, packte den Erstbesten in seiner Nähe – einen jungen Mann Mitte zwanzig – mit dem so gründlich einstudierten Bissgriff und warf ihn schwungvoll auf den glänzenden Steinboden. Sobald er den Mann in der Position hatte, um ihn zu beißen, wichen die anderen Leute, die zuerst um ihn herum gewesen waren, aufschreiend zurück. Fritz hatte sie überzeugt. Um diesen Anschein noch zu unterstreichen, warf er den Kopf zurück und fauchte die Leute an – das hatte er zwar bei noch keinem Vampir gesehen, aber in Filmen taten sie das immer, und auch jetzt machte es Eindruck. Micha, das sah Fritz jetzt aus dem Augenwinkel, hatte tatsächlich zugebissen; Blut lief ihm aus den Mundwinkeln. Dies täuschte über die Tatsache hinweg, dass Fritz keine eigenen Fangzähne besaß. Wer welche besaß und wer nur so tat, war der manipulierten Menschenmenge herzlich egal; sie hatten nicht mit feindlichen Vampiren gerechnet und rangen nun darum, von Fritz und Micha schleunigst wegzukommen. Kreischend drängten sie nach rückwärts, doch es waren so viele, dass kein Platz zum Ausweichen da war.

Micha ließ ihnen keine Chance. Mit gebleckten Hauern und hochgezogenen Lippen biss er sich durch die Mauer aus Körpern einfach hindurch. Wie ein Kampfhund warf er einen nach dem anderen nieder, und Massen kleiner Blutstropfen beschrieben hohe Bögen, ehe sie sich überall verteilten. Fritz musste sich zwanghaft einreden, dass er ihnen nichts Schlimmes antat, dass er all diesen Menschen zwar eine Wunde beibrachte, die aber gut heilen würde, und ansonsten nur einschläferndes Gift in ihre Körper injizierte, damit sie nicht im Weg waren. Schließlich teilte sich die Menge vor ihm und gab wieder den Blick auf den Zug frei.

»Da!«, schrie Micha. »Vampire!« Eine klebrige Mischung aus Blut und Geifer troff von seinem Kinn, während er die verbliebenen Menschen einfach beiseite stieß, um auf die anderen Personen zuzuhalten, die sich gerade in übermenschlichem Tempo an der Seite des Zuges entlang bewegten, um in einer der nun geöffneten Türen zu verschwinden.

Fritz war warm gelaufen. Blitzschnell hatte er seine UV-Lampe in der Hand und fuchtelte damit herum. Von den Vampiren, die Micha zu erwischen versuchte, war er zu weit entfernt, doch als ein weiterer an ihm vorbeihuschte, traf ihn der schwarze Schein mitten ins Gesicht, und der Mann heulte laut auf, ziellos taumelnd, geblendet. Fritz wusste, dass er keine Zeit zu verlieren hatte, und sprang den Vampir mit voller Kraft an. Da dieser ihn nicht mehr sehen konnte, hatte Fritz ihn rasch am Boden, riss den Pflock aus seinem Gürtel und hob ihn gerade über den Kopf, als der gepeinigte Vampir ihm jäh mit beiden Händen einen heftigen Stoß in den Unterbauch versetzte – offensichtlich ein zufälliger Treffer, doch Fritz blieb die Luft weg, und der Pflock kullerte aus seiner Hand.

Ein leises Sirren durchschnitt die Luft, dann bäumte sich der Körper des Vampirs noch einmal heiser brüllend auf, um danach zuckend liegen zu bleiben. Fritz wusste auch ohne hinzusehen, dass er Flex und dessen Armbrust wohl sein Leben verdankte, und beeilte sich, auf die Füße zu kommen. Immer noch tat ihm alles weh.

Das Gedränge war von ihm abgerückt; die Kämpfenden waren reduziert auf seine Kollegen, die nahe der Zugtüren um die Oberhand rangen, und eine Überzahl an vampirischen Gegnern. Fritz konnte Lasterbalk sehen, anhand seiner Größe unverkennbar, der eine magere Vampirin mit beiden Händen packte und ihr dann, die Fangzähne in ihre Kehle schlagend, einfach die Gurgel herausriss. Der Geruch von Blut war nun so übermächtig, dass auch Fritz’ Kampfinstinkt nicht mehr dagegen ankam. Ihm wurde schwindelig. Schon sackte er auf die Knie wie zehn Kilo Kartoffeln.

Wieder durchschnitten Geräusche die Luft, die denen der Armbrüste nicht unähnlich waren, die aber eher wie losgelassene Schießgummis klangen und von denen Fritz nun wusste, dass es schallgedämpfte Schüsse waren. Er konnte nichts mehr unternehmen, um sich nach ihnen umzusehen, und hoffte, das Gerangel möge schnell vorbei sein.

Das war es jedoch nicht. Sekunden später konnte er wieder den Kopf heben und sah den Zug neben sich; im erleuchteten Fenster erkannte er Gestalten, Vampire und Menschen, die es geschafft hatten, den Zug trotz des Angriffs zu besteigen, geschützt durch die aufgebrachte Menschenmenge. Fritz sah auch Alea. Der auffällige Mann lag reglos quer über zwei Sitzen. Erst einen Moment später verarbeitete Fritz diese Wahrnehmung.

Alea?, dachte er verwirrt. Aber wir haben ihn nicht gesehen! Die anderen hätten um jeden Preis verhindert, dass er in diesen Zug gezerrt wird! Wie haben sie – ?

Er konnte den Gedanken nicht zu Ende führen. Nur einen Sekundenbruchteil später traf seine Schulter ein so stechender Schmerz, dass ihm schwarz vor Augen wurde.



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