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Dark Night's Kiss

von

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Prolog

Cayden konnte ihr Parfum bereits riechen, nachdem sie den Fahrstuhl verlassen hatte. Die Zentralheizung machte es möglich und die Tatsache, dass er in der inzwischen leicht gereizten Erwartung auf ihr Erscheinen die Tür zu seinem Büro offengelassen hatte.

Es war kaum noch jemand hier. Hinter den einzelnen Trennwänden der offenen Arbeitsplätze herrschte schon seit einiger Zeit gähnende Stille. Bis auf Stella natürlich, die bereits ihre Sachen gepackt und ihren Computer heruntergefahren hatte, um sich einen verfrühten schönen Abend mit ihrem Mann zu machen und nun alle fünf Minuten fragte, ob er denn wirklich nichts mehr brauchte, obwohl sie eigentlich schon längst hätte, gehen können.

Man mochte es vielleicht für überführsorgliche Bemühungen halten, tatsächlich war es aber nur eine gut getarnte Methode, um sicherzugehen, dass er sie nicht doch noch wegen irgendetwas zurückrief. Was bisher durchaus gang und gäbe war. Aber nicht so heute. Nicht an diesem Tag. Meist der einzige Tag in der Woche, an dem seine Assistentin fast genauso pünktlich wie alle anderen Mitarbeiter nach Hause gehen konnte.

Der Tag, an dem seine Frau einen Termin bei ihm im Büro hatte, um wichtige Dinge zu 'besprechen'. Zu dem sie übrigens schon viel zu spät kam.

Für Außenstehende wirkte das vielleicht wie eines der Geheimnisse, mit denen man auch noch nach zehn Jahren Ehe die Langeweile vertreiben konnte. Zumindest glaubte jeder Angestellte in seiner Firma, dass hinter seiner geschlossenen Tür mehr vor sich ging, als eine gewöhnliche Besprechung.

Ja, man redete sogar hinter seinem Rücken darüber, dass der heiße Bürosex für seine knisternde Ehe verantwortlich sei.

Cayden unternahm nichts, um dieses Gerücht aus der Welt zu schaffen, das bisweilen völlig daneben lag. Er pflegte es sogar.

So wie er es auch heute tat, als er durch seine offene Bürotür trat, um seine Frau Vanessa mit einem hungrigen Lächeln auf den Lippen zu begrüßen.

Oh und wie hungrig er war!

Vanessa kam mit den eleganten Schritten eines top ausgebildeten Supermodels auf ihn zu. Dabei schwangen ihre langen Gold- und Silberkettchen mit den großen Anhängern über ihre Chirurgenbrüste, die eng in ein marineblaues Top gepresst waren und fast aus dem Ausschnitt springen wollten. Dazu trug sie ein schwarzes Nadelstreif-Jackett für Frauen und einen farblich identischen Minirock, der solange halbwegs züchtig aussah, bis sie sich setzen würde.

Ihre meterlangen Beine steckten in schwarzen Nylonstrümpfen und dazu passenden Riemchenschuhen mit mörderisch hohen Absätzen, womit sie es sogar schaffen sollte, fast seine Größe zu erreichen.

Mit ihrer blonden Mähne, die sie heute einmal hochgesteckt und in Korkenzieherlocken trug und den veilchenblauen Augen sah sie aus, wie ein angezogenes Covergirl, das direkt dem Titelblatt des Playboys entsprungen war.

Männer würden töten, um diese Frau ins Bett zu kriegen und bestimmt gab es tausende davon, die sich direkt auf eines ihrer zahlreichen Fotos einen runterholten.

Welch Ironie, dass es ihm nie so ergangen war. Weder mit dem einen und erst recht nicht mit dem anderen.

Es gab zwischen ihnen kein „Hallo“ oder „Wie ich mich doch freue, dass du es endlich geschafft hast!“ Stattdessen warf Vanessa sich glücklich in seine Arme und küsste ihn so intensiv, dass jede Anstandsdame daneben in Ohnmacht gefallen wäre. Stella hingegen wandte lediglich lächelnd ihren Blick ab und ließ ihnen die Zeit.

Sie wusste ja, dass er seine Frau ganze zwei Wochen lang nicht gesehen oder persönlich getroffen hatte und vermutlich nahm sie an, dass die Besprechung heute in seinem Büro lediglich das Vorspiel für den späteren Zeitpunkt sein würde, wenn sie es endlich bis nach Hause geschafft hatten.

Vanessa rückte nach der überschwänglichen Begrüßung nur so weit von Cayden ab, damit sie ihm freudestrahlend in die Augen sehen und ihm etwas durchsichtigen Lipgloss von den Lippen wischen konnte, während er besitzergreifend einen Arm um ihre Wespentaille schlang.

„Es tut mir so leid, Schatz, dass ich nicht früher kommen konnte“, beteuerte sie mit ihrem besten reumütigen Püppchen-Schmollmund ihre Verspätung. „Ich habe es wirklich versucht.“

Daraufhin konnte er nur nachsichtig lächeln.

„Hauptsache, du hast es noch geschafft, Ness. Wie war dein Flug?“, verlangte er sanft zu wissen.

Seine Frau legte ihre Hand an seine Krawatte und richtete sie, wo es selbst nach so vielen Arbeitsstunden nichts zu richten gab.

„Ach, es war die Hölle. Ich bin so froh, endlich wieder zuhause zu sein!“

Darum roch sie auch so, als käme sie gerade aus einem Beautydepartment. Zudem hatte sie – wenn er richtig informiert war – mehrere Stunden Zeit gehabt, nach dem Flug sofort hierherzukommen, um pünktlich ihren Termin einzuhalten. Was sie nicht getan hatte. Sie brauchte ihm also nichts von Hölle oder Stress zu erzählen. Trotzdem strich er ihr mitfühlend ein paar verirrte Locken aus dem Gesicht.

„Ich bin auch froh, dass du endlich da bist“, schnurrte er leise, während er sich näher zu ihrem Ohr vorbeugte, so dass ihm noch intensiver ihr Parfum in die Nase trat.

Ihr Puls beschleunigte sich bei dieser Geste merklich, was sie wesentlich verführerischer machte, als die Art, wie sie sich anzog.

Die Stimme an seine Assistentin gerichtet, meinte er leicht abwesend, während er Vanessa keine Sekunde lang aus den Augen ließ: „Das wäre dann alles für heute, Stella. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“

Ohne seine Assistentin noch weiter zu beachten, die ihm überflüssigerweise ein mehrdeutiges „Ihnen auch“ hinterher schickte, schloss er hinter seiner Frau und sich die Bürotür.

Endlich waren sie allein.

Cayden ließ Vanessa bei der Tür stehen und setzte sich in seinen Bürosessel.

„Du kommst spät“, stellte er mit einem frostigen Unterton in der Stimme fest, dem plötzlich alle Liebe abhandengekommen war, die man gerade eben noch darin mit jedem Buchstaben hatte mitschwingen hören können.

„Ich weiß, es tut mir leid“, entschuldigte sie sich sanft und vorsichtig, als könne er sie jeden Moment anfallen. Vanessa kam zu ihm und platzierte ihren Po mit dem Briefmarkenrock auf seinem massiven Kirschholzschreibtisch.

Cayden schenkte ihr nur einen kurzen zweifelnden Blick, ehe er langsam ein paar Prospekte unter ihrem Hintern hervorzog und sie sorgfältig auf der anderen Seite des Tisches schlichtete. Dabei schwieg er sehr nachdrücklich.

Eigentlich handelte es sich bei den Prospekten um Werbung für Bürobedarf, die er bereits durchgesehen, aber noch nicht weggeworfen hatte. Im Grunde ging es ihm hier ja auch nicht um irgendeine Werbung und das wusste Vanessa ganz genau.

„Bitte, es tut mir wirklich leid. Aber ich kam dort einfach nicht weg und dann auch noch das Wetter und der Flug und“, begann sie erneut, ehe er ihr das Wort abschnitt und sie plump den Mund wieder schloss.

„Genug.“

Seine Stimme war so ruhig und glatt, wie sein Gesichtsausdruck unleserlich war und zusammen mit der Gelassenheit, mit der er seine Manschettenknöpfe langsam abnahm, um die Hemdärmel ein Stück hochkrempeln zu können, war sie viel schärfer, als es irgendein Tonfall hätte sein können.

Seiner Frau gegenüber hatte er noch nie die Stimme erhoben, oder ihr Leid zugefügt, obwohl sie bisweilen seine Geduld stark überstrapazierte. Vor allem, nachdem sie seinen Hunger zwei Wochen lang hatte anwachsen lassen. Was ihn von Natur aus gereizt machte. Doch das war nichts zu ihren billigen Ausflüchten.

„Ich habe nicht von deinem Beruf, den Flug oder der letzten Woche ohne dich gesprochen.“

„Aber was-?“

Erneut schnitt er ihr das Wort ab, doch dieses Mal mit nur einem kurzen Blick seiner stechend grünen Augen, die erst ohne die getönte Brille richtig zur Geltung kamen, welche er sicher in ein schwarzes Lederetui verstaute.

Vanessa begann zu schwitzen und schien sich merklich unwohl in ihrer Haut zu fühlen. Was sie bei weitem nicht mehr so selbstsicher und unerreichbar erscheinen ließ, wie sie auf den Rest der Männer- und auch bestimmt der Frauenwelt wirken musste.

„Ich habe davon gesprochen, dass du mich wegen eines anderen Mannes hast warten lassen.“

Er hob die Hand, um ihre Einwände im Keim zu ersticken und sich dann die Krawatte zu lockern.

„Glaub nicht, dass eine Dusche und dein widerlich intensives Parfum mich täuschen können. Du hattest vor schätzungsweise einer Stunde Sex und du schwitzt den Gestank dieses Kerls aus jeder deiner Poren.“

Cayden zog ein Ende seiner Krawatte aus dem Knoten und nahm sie dann ganz ab. Er öffnete auch noch die ersten zwei Hemdknöpfe, ehe er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und seine Frau musterte.

Betroffen und mit geröteten Wangen saß Vanessa auf seiner Schreibtischkante. Ganz und gar nicht mehr die hinreisende Sexgöttin und der feuchte Traum aller beziehungsweise fast aller Männer. Viel mehr wirkte sie wie ein schöner geprügelter Engel, der seinen Stolz schon längst aufgegeben und stattdessen Unterwürfigkeit Platz gemacht hatte.

Er konnte wirklich nicht mehr sagen, was ihn damals so sehr an dieser Frau hatte täuschen können. Vielleicht waren es ihr überhebliches Auftreten und der hochnäsige Stolz in ihren Augen gewesen, den sie selbst jetzt noch anderen gegenüber zur Schau stellte. Wie eine eitle Raubkatze hatte sie damals gewirkt, aber inzwischen wusste er, dass es nur eine Fassade war. Zumindest eine, die sie bei ihm nicht aufrechterhalten konnte. Was unendlich schade war. Denn für ihn gab es nichts Langweiligeres als etwas, das er viel zu einfach haben konnte.

Kein Wunder, dass der Sex zwischen ihnen nur noch sporadisch stattfand.

„Im Grunde ist es mir egal, wen du dir fürs Bett suchst. Aber dass du mich dafür warten lässt, lässt mich daran zweifeln, ob dir unser Vertrag noch wichtig ist. Vielleicht sollte ich ihn beenden? Ich bin mir sicher, dass ich die Scheidung bis morgen durchbringen könnte.“

Auch wenn ihm die schlechte Presse gar nicht gefallen würde.

Obwohl er seiner Frau gerade erklärt hatte, dass er sehr wohl wusste, wann sie ihn betrog, waren es die letzten beiden Sätze, die ihr schönes Gesicht in blankes Entsetzen verwandelten.

„Nein! Bitte, ich … Das kommt nie wieder vor. Ich verspreche es dir!“, jammerte sie fast atemlos vor Schock.

Überraschend schnell war sie direkt vom Tisch auf seinen Schoß gerutscht und hielt sich nun an seinen breiten Schultern fest. Verzweifelt und mit Tränen in den Augen, die bei ihr absolut filmreif aussahen, obwohl sie echt waren und ihr das Make-up verschmierten.

Cayden wusste, wie wichtig ihr dieser Vertrag war. Sie würde alles tun, um ihn aufrechtzuerhalten. Sogar ihre Seele dafür verkaufen, wenn ihr das möglich gewesen wäre und er damit auch nur irgendetwas hätte anfangen können.

Aber nein, es war nicht ihre Seele, nach der es ihm verlangte und das wusste sie ganz genau. Gerade jetzt, während sie sich ihm so schutzlos an den Hals warf, wusste sie darum.

„Bitte. Was muss ich tun, damit du …“ Ihre kaum hörbare Stimme brach.

Es wunderte Cayden kaum, dass sie wegen seiner Worte so aufgelöst war, immerhin hatte er bisher nie von einem vorzeitigen Ende ihres Vertrags gesprochen. Oder gar damit gedroht.

Doch nachdem er es nicht länger hinnehmen wollte, dass sie so locker mit der Verbindung zwischen ihnen beiden umging, hatte er sie einmal an den Ernst ihrer Lage erinnern müssen.

Sie brauchte ihn, mehr als er sie je brauchen würde.

Lediglich die lange Leine, die er ihr ließ, hatte Vanessa das vergessen lassen. Doch hoffentlich erinnerte sie sich jetzt wieder daran.

„Sorg dafür, dass du mich nächstes Mal keine zwei Wochen warten lässt, und pass auf, dass deine Affären geheim bleiben. Schadest du mir, schadest du auch dir. Hast du das verstanden?“, ermahnte er sie kühl.

„Ja.“ Sie nickte unterwürfig, doch von seinem Einlenken schon wieder etwas beruhigt, da er ihr nicht noch einmal mit der Scheidung gedroht hatte und sofort war erkennbar, dass ihre Stimmung umschwang.

Ihr Gesicht war zwar immer noch tränennass, aber das hinderte sie nicht daran, ihm noch weiter die Hemdknöpfe zu öffnen und dadurch schwarze tätowierte Linien und Muster freizulegen.

„Gut.“ Cayden berührte sie lieblos im Nacken und schlang seinen Arm um ihre Taille, um sie auf seinem Schoß zu halten.

Bereitwillig schmiegte sie sich ihm stumm entgegen und neigte den Kopf so zur Seite, wie seine Hand es ihr vorgab. Sie beugte sich weiter vor, so dass ihre falschen Brüste sich gegen ihn pressten, und verharrte dann in gespannter Erwartung.

Obwohl nach zehn Jahren Ehe mit dieser Frau ihn nichts mehr an ihr reizte, war es letztendlich die Natur, die dafür sorgte, dass sein Körper seinem inzwischen stark angewachsenen Hunger gerecht wurde und sich bereitmachte.

Dafür brauchte es nicht viel. Lediglich ein sachtes Streichen seiner Lippen über die weiche warme Haut ihres Halses. Das Pulsieren in ihren Adern, das er darunter spüren konnte.

Ihm lief vor Hunger das Wasser im Munde zusammen, während er den sanften Druck des Zahnfleisches an seinen Eckzähnen spürte.

Wie zu einem Kuss legten sich seine geöffneten Lippen direkt auf Vanessas Haut. Ihr Puls raste inzwischen wie wild, ob der freudigen Erwartung, was er gleich mit ihr tun würde.

Angst hatte sie dabei nie gehabt und das aus einem guten Grund. So wenig er sie auch leiden konnte, das hier sollte niemandem Angst machen, war es für ihn doch das Natürlichste der Welt.

Ein letzter Atemzug, der ihm dank des Parfums in den Augen brannte, bevor Cayden seine Fänge tief in ihr Fleisch trieb.

1. Kapitel

Irgendwann nach einem Moccacchino mit zwei Marshmallows – einem Weißen und einem Rosa – einem Einkauf bei Borders – diesmal nur ein Buch – während des Nachhausewegs in Richtung Mount Vic klingelte ihr Handy.

Emma blieb nicht direkt neben der Ampel stehen, um den Fahrer des blauen Wagens nicht vollkommen nervös zu machen, der bestimmt darauf wartete, dass sie ohne Vorwarnung einfach bei Rot die Straße überquerte.

Kramend schob sie das viele Zeug in ihrer Handtasche hin und her und zog schließlich mit einem triumphierenden Lächeln das Handy an dem kleinen, klimpernden Anhänger heraus.

„Hi, Rob.“

„Hi, Em. Ich bin gerade auf dem Nachhauseweg. Hab heute noch nichts Richtiges gegessen. Hast du Lust auf –“

„Dominos? Klar!“

Emma grinste in den Hörer, schlang sich den Schal über die Schulter und ging dann ordentlich bei Grün über die Ampel.

„Nimmst du Salami? Dann möchte ich vegetarisch.“

„Oh man. Na gut, besser als Schinken und Ananas.“

„Das nennt sich Hawaii.“

„Sollte aber keine Pizza sein.“

„Stimmt.“ Emma schmunzelte. „Bis gleich, Rob.“

„Bis gleich.“

Es waren nur noch zwei Straßen, bis der ansteigende Part losging. Und Emma konnte glücklicherweise abbiegen, bevor es richtig ungemütlich und anstrengend wurde. Nicht, dass sie das gestört hätte, noch näher an Mount Vic zu wohnen, aber jeden Tag diese Steigung? Da war ihr das Haus, in dem sie sich vor zwei Monaten mit Rob und Kathy eine Wohnung gemietet hatte, schon sehr viel lieber.

Über eine Holztreppe kam man auf die obere Veranda und zu der grünen Wohnungstür, die es Emma von Anfang an angetan hatte. An ein paar Stellen splitterte zwar schon der Lack ab, aber das tat dem einladenden Eindruck überhaupt keinen Abbruch. Erst recht nicht, wenn sie im Frühling eine Pflanze neben die Tür auf die kleine Veranda stellen konnten, um die Wohnung auch von außen bewohnt aussehen zu lassen.

Innen hatten sie schon ganz schön etwas geschafft.

„Hallo?“

Eigentlich blödsinnig, nach jemandem zu rufen. Rob war schon immer ziemlich lange in der Arbeit, da konnte man noch nicht einmal erwarten, dass Kathy bald nach Hause kam. Sie schuftete sich in diesem Reisecenter wirklich den Arsch ab und das auch noch für den bescheuertsten Chef, den das Erdenrund je gesehen hatte. Warum Kathy nicht einfach kündigte, war Emma ein Rätsel. Da konnte die Bezahlung noch so gut sein. Für so einen Idioten würde sie niemals so viele Überstunden machen!

Wobei ihr selbst dieser Job im Moment ganz gelegen gekommen wäre.

Emma stellte ihre Schuhe in der winzigen Garderobe ab, nahm ihre Jacke und den Schal aber mit in ihr Zimmer, um die Sachen dort hinter der Tür aufzuhängen.

Wow, die Wohnung war immer noch unglaublich! Drei Zimmer, von denen sie sich noch das kleinste ausgesucht hatte und trotzdem absolut glücklich damit war. Nette Wohnküche, ein Wohnzimmer und Bad und Toilette extra. Die Traum-WG!

Und inzwischen sah es auch nicht mehr so aus, als würden hier noch die grasrauchenden Hippies wohnen, deren ganzer Einrichtungsstolz in einer Wand voll Bierdosen bestanden hatte.

Emma ging in die Küche, holte zwei große Teller des bunt zusammen gewürfelten Geschirrs heraus und deckte den Tisch, während sie auf Rob wartete. Wenn er immer noch Coupons für Dominos Pizza hatte, würde es ein bisschen länger dauern. Dafür waren die Pizzen größer. Und Kathy würde dann später auch noch etwas davon haben.

Es dauerte noch eine halbe Stunde, in der Emma das Geschirr vom Frühstück spülte, dabei Musik hörte und ein bisschen durch die Kanäle des Fernsehers zappte, den sie gebraucht von den Hippies übernommen hatten.

Emma hätte nie gedacht, dass es noch Fernseher gab, die tatsächlich über die kleine Antenne oben drauf funktionierten. Aber mehr als drei Kanäle brauchten sie ohnehin nicht. Allerdings war sich Emma sicher, dass der Fernseher sich durch den nigelnagelneuen DVD-Player, den ihr ihre Mom zum Einzug geschenkt hatte, ein bisschen runtergekommen fühlte. Deshalb hatte sie dem großen, braunen Kasten auch eine Plastiksonnenblume aufs Gehäuse geklebt, die Rob jedes Mal entfernte, wenn sie einen Actionfilm sahen. Er meinte, das Blümchen zerstöre total die Stimmung.

„Hey! Wer da?“

Emma stellte grinsend den Fernseher aus.

„Ich. Und der Tisch ist schon gedeckt.“

Sie steuerte durch die Küche zur Garderobe und nahm Rob die Kartons ab, damit er seine Jacke ausziehen konnte. Unter der Wollmütze sahen seine langen, schwarzen Haare hervor und Rob wirkte wirklich unglaublich niedlich. Was Emma ihm nur über ihre eigene Leichen sagen würde.

Seitdem sie mit ihrem jüngeren Mitbewohner letztes Silvester im betrunkenen Zustand ein paar Küsse ausgetauscht hatte, hielt sie sich sehr genau an die ungeschriebenen Regeln einer Männerfreundschaft. Auch wenn Rob ab und an zu entfallen schien, dass sie beide nur Kumpels waren.

Emma hoffte einfach darauf, dass er bald seine Traumfrau finden würde – oder zumindest eine, die er mit in sein Bett nehmen konnte. Dann wäre sie aus dem Schneider.

„Und?“, fragte Rob beim Hinsetzen. „Was Neues bei der Jobsuche?“

Emma zerschnitt die Pizzen in hübsche Ecken und legte dann das Messer weg, bevor sie antwortete.

„Nichts. Absolut gar nichts. Entweder sie bezahlen einen Hungerlohn oder gar nicht. Soweit ich zumindest gehört habe. Das Goblin braucht im Moment niemanden und alles andere hängt noch in der Warteschleife.“

Sie ließ den Kopf hängen und nahm sich ein Stück Pizza. Es war bloß gut, dass sie noch genug Ersparnisse hatte, um die Miete und Lebensmittel für ein oder zwei Monate mehr zu bezahlen. Wenn sie allerdings weiterhin so viel Bücher kaufte, würde sich die Zeitspanne extrem verkürzen.

„Das wird schon. Ich hab zum Beispiel bei dem Fahrradladen ein Schild gesehen, dass sie jemanden suchen. Allerdings keine Ahnung, was du da machen müsstest.“

Zu kauen und gleichzeitig zu seufzen hatte schon einmal dazu geführt, dass Emma sich so stark verschluckt hatte, dass sie dem Tod näher als dem Leben gewesen war. Also unterließ sie die Theatralik und nickte lieber. Bald war sie so weit, dass sie auch Fahrräder verkaufen würde. In einer Stadt wie Wellington.

„Wann hast du zuletzt jemanden auf einem Fahrrad gesehen?“

Rob überlegte.

Er überlegte lange.

„Vielleicht solltest du es doch weiter bei den Cafés versuchen.“

 
 

***

 

„Nein, Mica. Es geht nicht anders.“

Er drehte seinen schweren Bürosessel aus schwarzem Leder zu der Fensterfront herum, so dass das Panorama der Stadt Wellington die gesamte Wand vom Boden bis zur Decke einfing.

Es war noch relativ früh und der Morgendunst hatte sich noch nicht ganz verzogen, dennoch pulsierte bereits das Leben draußen vor seinen Fenstern. Die Hektik hatte schon längst begonnen, zumindest was die fliegende Tierwelt anbelangte.

„Ganz einfach. Weil der Sänger mit einer Lungenentzündung im Bett liegt und da ich nicht vorhabe, eine ganz neue Stilrichtung in Sachen Singen bis zum bitteren Ende zu erfinden, muss ich momentan umorganisieren.“

Außerdem könnte Dan ihn dann vermutlich wegen Sklaventreiberei verklagen.

Das Papier in seinen Händen raschelte leise, als er es aus dem dicken Umschlag nahm, um sich die neuen Eventplaner und –flyer für das 'The Run' Konzert anzusehen, während Mica – einer seiner Bandmanager – ihm unaufhörlich per Headset ins Ohr jammerte.

Cayden warf nur einen kurzen Blick auf die Bilder mit den völlig überzogenen Texten, die – wenn schon nicht das Headset am Ohr – auf jeden Fall für Kopfschmerzen hätten sorgen können. Er warf die Papiere auf den Tisch und griff stattdessen nach der noch dampfenden Tasse Kaffee, ohne jedoch davon zu trinken.

„Ich weiß, es ist kurzfristig. Aber ich will die Tonstudios voll besetzt haben, und da du mein vollstes Vertrauen besitzt …“ Zumindest, was das Geschäftliche anging. „… habe ich keine Bedenken, wenn du den Termin mit Bradleys Band tauschst. Deine Girls sind auf Zack. Die schaffen das.“

Nachdem das gesagt war, um die Moral seines ohnehin etwas unsicheren Bandmanagers zu stärken, gönnte er sich einen kleinen Schluck seines Kaffees und setzte die Tasse sofort wieder ab. Sein Seufzen blieb stumm und ungehört.

„Mica, lass dir eins gesagt sein. Es ist nicht gut fürs Geschäft, über einen Kollegen herzuziehen. Das wirft am Ende nur ein schlechtes Licht auf einen selbst, so sehr man auch Konkurrenzdenken für eine gute Sache halten mag.“

Wobei in diesem Fall der Ärger auf Brad durchaus gerechtfertigt wäre, trotzdem blieb seine Stimme ruhig und angenehm.

Der Kerl hatte es einfach verabsäumt, ihm wegen Dans Krankheit Bescheid zu geben, und zwar rechtzeitig.

Einer seiner Bandkollegen hatte zum Glück noch einmal seine Assistentin angerufen, um zu fragen, ob sie den letzten Songtext von ihnen überhaupt bekommen und an ihn – den Boss – zur Absegnung weiter gegeben hatte.

Dabei waren sie auf Dans Lungenentzündung zu sprechen gekommen. Woraufhin Stella ihm sofort die schlechte Nachricht überbracht hatte. Wenigstens war auf diese Frau Verlass, wenn auch nicht hundertprozentig in letzter Zeit. Ob sie überhaupt schon wusste, dass sie schwanger war und es ihm nur noch nicht sagen wollte?

Micas aufgebrachte Stimme brachte ihn wieder zum Thema zurück.

Gedanklich notierte er sich noch rasch, dass er für Brads Band einen neuen, zuverlässigeren Manager suchen musste, da sie Potential hatten und er das nicht wegen eines Alkoholikers absaufen lassen wollte. So gern er Brad auch hatte und dessen Situation verstand, das ging einfach zu weit.

Himmel noch mal, wo hatte der Kerl sich bloß schon wieder die Kante gegeben, so dass man ihn einfach nicht erreichen konnte?

„Ja, ich bin noch dran. Also wenn du das für Dienstag einfädeln kannst, hast du was gut bei mir. Gib mir am Freitag einfach noch mal Bescheid. … Gut, danke. Bis dann.“

Mit einer kurzen Umdrehung saß Cayden wieder gerade vor seinem Schreibtisch und nahm das Headset von seinem Ohr. Die Kaffeetasse immer noch in der Hand lehnte er sich gemütlich zurück und starrte die unbrauchbaren Flyer an, während er an Brad dachte.

Kurz darauf erlöste seine Assistentin ihn von seinem zeitverschwenderischen Tun, in dem sie kurz an der Tür klopfte und auf sein knappes „Herein“ vor seinen Schreibtisch trat.

Heute trug sie silberne Kreolen passend zu der Halskette, die sie von ihrem Mann zum Hochzeitstag geschenkt bekommen hatte. Ihr braunes Haar hatte sie mit einer Spange hochgesteckt und sie war dezent geschminkt, in Farben die ihr professionelles Auftreten, sowie den Ausdruck ihrer braunen Augen unterstützten. Genau das, was er in seiner Firma und von seiner Belegschaft sehen wollte. Professionalität und der Ausdruck von Qualität.

„Was gibt es?“ Cayden hielt sich nicht lange mit Umschweifen auf, sondern kam lieber gleich zur Sache. Eine Eigenschaft, die er an seiner Assistentin übrigens auch sehr zu schätzen wusste.

„Ihre Frau hat soeben angerufen. Ihr Flug von Miami wurde nun doch nicht gecancelt. Sie kann ihren Termin für Mittwochabend einhalten. Soll ich den Termin bestätigen?“

Er überlegte nur kurz.

„Ja, tun Sie das.“

Stella nickte, wartete aber ab, als wüsste sie bereits, dass er noch mehr zu sagen hatte und da lag sie wie so oft richtig.

„Versuchen Sie noch einmal Bradley zu erreichen und geben Sie mir sofort Bescheid, wenn Sie etwas von ihm hören. Außerdem können Sie Nick Tompson die Entlassungspapiere schicken.“

Cayden stellte den Kaffee beiseite, griff nach den Flyern und steckte sie zurück in den Umschlag.

„Seine Arbeiten sind nicht das, was wir in dieser Firma suchen. Ich hab mir das jetzt lange genug angesehen. Sollte er also nach Referenzen fragen, können Sie ihm sagen, dass, wenn er irgendwo auf dieser Insel noch einen Job in dieser Branche haben will, er besser auf die Referenzen verzichten sollte.“

Mit diesen Worten reichte er den Umschlag an seine Assistentin weiter, die ihn sich unter den Arm klemmte, um sich etwas in ihrem Notizbuch zu notieren.

„Soll ich das für Sie entsorgen?“, wollte sie mit einem Fingerzeig auf den Umschlag wissen.

„Füttern Sie am besten den Papierschredder damit, so dass wenigstens einer etwas davon hat.“

Cayden schenkte seiner Assistentin ein charmantes Lächeln, das seine Augen nicht die Spur erreichte, und schob sich die leicht rötlich getönte Brille auf der Nase zurecht.

„Soll ich für Mr. Tompson Ersatz suchen?“, erkundigte sie sich rasch, als sie merkte, dass ihr Chef bereits wieder in seinen Gedanken zu anderen Geschäften abdriftete.

„Ja, bitte tun Sie das. Und sagen Sie Bea, dass sie deshalb keine Überstunden machen muss. Ich werde derweil selbst dort vorbeischauen. Das wäre dann soweit alles, danke.“

Mit einem letzten Nicken schloss Stella ihr Notizbuch wieder und eilte zielstrebig aus Caydens Büro. Erst als er sie auf ihrer Tastatur klappern hören konnte, setzte er sich sein Headset wieder auf und drehte sich erneut zu der Aussicht seines Büros herum. Er musste Helen anrufen und ihr absagen, nun, da seine Frau doch beschlossen hatte, zu kommen.

 
 

***

 

„Hi!“

In der Garderobe schepperte es, als Kathy die Tür schwungvoll zuzog und dann ihre Schuhe in die Ecke pfefferte, bevor sie in die Küche kam.

„Hi!“, kam es zeitgleich aus Robs und Emmas Mund, während Kathy sich von ihrer Jacke befreite und sie über den Stuhl hängte, auf den sie sich anschließend fallenließ.

„Ey, ich sag’s euch, was für ein Scheiß!“

„Dein Chef?“, fragte Emma.

„Das Kollegen-Miststück?“, half Rob mit hochgezogenen Augenbrauen weiter.

„Oder doch alles zusammen?“

Mit einem Lächeln, das heißen sollte, dass sie es bestimmt nicht böse meinten, schob Emma den Karton mit den drei übrigen vegetarischen Pizzastücken quer über den Tisch. Kathy verzog die Mundwinkel so, dass sich ihre Grübchen kräuselten.

„Schon wieder Domino’s? Habt ihr zwei schon mal was von gesunder Ernährung gehört.“

„Jepp.“ Emma grinste zufrieden, als Kathy sich anscheinend ausgehungert auf ihr erstes Stück Pizza stürzte und gleich darauf anfing, mit noch halbvollem Mund von ihrem Tag zu erzählen.

„Der Typ hat echt einen an der Schraube. Mir knallt er den Schreibtisch mit Aufgaben zu, obwohl er genau weiß, dass ich an dem großen Ding von Tui arbeiten muss und was macht er?“

Was er machte, würden sie erst erfahren, sobald ihre blonde Mitbewohnerin fertiggekaut und runtergeschluckt hatte.

„Er kommt um fünf in unser Büro und wünscht uns einen schönen Abend noch. Er hat Karten für ein Konzert. Der ist so ein ...“ Die Beschreibung war ein wütender Laut, den Emma mit „Vollidiot“ ergänzte, bevor sie ihre Beine so auf den Stuhl zog, dass sie im Schneidersitz sitzen konnte.

„Hast du schon wegen des Urlaubs mit ihm gesprochen?“

Diesmal klang das Geräusch aus Kathys Mund eher wie ein Grummeln, das ein Bär von sich gab, wenn man ihn zu früh aus dem Winterschlaf weckte. Eindeutig falsche Frage.

Emma bekam sofort ein winziges, schlechtes Gewissen. Auch wenn ihr mehr Gefühle sagten, dass Kathy sich endlich für sich selbst einsetzen und vor allem die zwei Wochen freinehmen sollte, in denen sie mit einer Freundin über die Südinsel touren wollte. Immerhin gab es dort unten Schnee zum Skifahren!

„Geht ihr eigentlich heute mit?“ Rob zog die Aufmerksamkeit, aber auch fragende Blicke auf sich, als er so abrupt das Thema wechselte. Wobei das vielleicht gar kein schlechter Schachzug war, wenn man bedachte, dass Kathy sich mit all ihrem Stress vielleicht in naher Zukunft ein Magengeschwür verursachen könnte.

„Ich hab doch heute diesen Fotoauftrag. Ein paar Bilder von einer Band knipsen. Im San Francisco Bath House.“

Rob machte wirklich gute Fotos. Zwar meistens nur zum Privatvergnügen, aber manchmal bekam er auch solche Aufträge, wie den für diesen Abend. Bands in gutem Licht erstrahlen lassen und dabei noch ein bisschen was verdienen. Außerdem mindestens ein kostenloses Bier. Was für Rob eigentlich schon Grund genug war.

„Ja, klar. Warum nicht? Ich hab sonst nichts vor.“

Aus den Augenwinkeln schoss Emma ihrer Mitbewohnerin einen Blick zu, bevor sie sich schnell zu ihr umdrehte, mit dem Finger auf sie zeigte, und versuchte sie unter ihrem Pony hinweg anzufunkeln. Das mit dem Funkeln hatte Emma leider noch nie drauf gehabt, aber zumindest gab es bei dem Versuch meistens was zu lachen.

„Du wirst es nicht wagen, mich da mit Rob allein hingehen zu lassen! Er wird mit wichtigen Künstler-Foto-Shoots beschäftigt sein. Und weißt du, was dann passiert? Wenn ich allein an der Bar sitze, in mein Bier lächle und meine Augen über die Menge schweifen lasse?“

Um die Stimmung zu verdeutlichen, in der sich Einiges anschleichen konnte, hatte Emma die Stimme gesenkt und ihren Kopf ein wenig zwischen die Schultern gezogen.

„Einer wird mich finden.“

Kathy grinste bereits und hatte das angebissene Pizzastück zurück in die Schachtel gelegt.

„Das ist mein Ernst! Er wird Jeans und ein Hemd tragen, vielleicht auch einen Ringelpulli und ... jetzt kommt’s: einen coolen Hut! Ich werde verloren sein, ohne dich!“

Theatralisch griff Emma sich ans Herz und warf die Haare zurück, während sie weiter ihr Schicksal in schlimmsten Farben ausmalte.

„Er wird mich anbaggern, mir einen Drink spendieren und am Ende gehen wir zusammen zu ihm in eine Wohnung, die nach Bier und Schimmelpilz riecht. Er wird ein lausiger Liebhaber sein und ich –“

„Schon gut!“

Emma sah mit einem Grinsen, das ihr beinahe von einem Ohr zum Anderen reichte, wieder Kathy an.

„Alles klar, dann schmeißen wir uns in Ausgehklamotten. Und los!“

Im 'San Fran' war es wie immer, bevor die erste Band loslegte. Dunkel und zugig.

Da man hier keinen extra Raucherraum eingerichtet hatte, gingen die Leute auf die Terrasse. Und selbst wenn nicht jeder Zweite die Tür offen gelassen hätte, wäre es an der Bar, die direkt neben dem Ausgang zum Balkon lag, kalt geworden.

Da war es gut, wenn man sich ein bisschen auskannte. So hatte sich Emma unter ihre kurzärmelige, gelbe Bluse ein schwarzes Top angezogen, das nicht nur den Vorteil hatte, ein bisschen Rüschen im Ausschnitt zu zeigen, sondern sie auch warmzuhalten. Wie sie solche praktischen Klamotten doch liebte.

Mit einem charmanten Grinsen nahm sie die zwei Biergläser entgegen und schob sich zwischen zwei Touristen hindurch, um zu Kathy und Rob an einen der kleinen, runden Stehtische zu gelangen.

„Und du willst wirklich keins?“, wollte sie wissen und sah sich einmal kurz gegenüber im Spiegel an. Nicht, weil sie sich Sorgen machte, dass sie die Frisur oder irgendetwas Anderes richten müsste, aber das Gelb ihrer Bluse sprang im Kontrast zu dem ganzen Schwarz, Silber und Pink um sie herum doch ziemlich hervor. Und es brachte sie dazu, sich mit einer vorgehaltenen Hand zu Kathy hinüber zu lehnen und zu fragen, ob sie hier wohl doch auf der falschen Veranstaltung gelandet waren.

Rob, der drei Jahre zum Studium in Schottland verbracht hatte, mochte eindeutig andere Musik als seine beiden weiblichen Mitbewohnerinnen. Ab und zu spielte er auch selbst Bassgitarre in der einen oder anderen Hinterhofband, aber Emma konnte sich ganz ehrlich nicht für seine Vorlieben, was Musik anging, begeistern. Immerhin liebte sie die lockeren neuseeländischen Bands, die Rob – wie er selbst sagte – einfach zu 'fröhlich und gut gelaunt' waren.

„Nachher bekomm ich eh eins. Ich schau mal hinter die Bühne. Vielleicht kann mir da einer sagen, wann die wirklich anfangen. Eigentlich hätte es schon ...“

Was er sagen wollte, verlor sich im Getümmel, durch das er sich in Richtung Bühne quetschen musste. Vor dem schwarzen Glitzervorhang wurde er allerdings von einem breiten Kerl aufgehalten, der Rob von oben bis unten musterte, dann durch ein Walkie-Talkie irgendjemanden kontaktierte, bloß um Rob dann weiter warten zu lassen. Na, das konnte ja heiter werden.

„Im Mighty spielen sie heute –“

„Nicht!“ Emma riss entsetzt die Augen auf und sah Kathy so an, als hätte sie ihr gerade angeboten, ihr erstgeborenes Kind ins Feuer eines Vulkans zu werfen.

„Du kannst mir doch jetzt hier nicht erzählen, was heute im Mighty los ist. Willst du, dass ich jammernd an deinem Ärmel zupfe und dauernd nörgle, ob wir nicht lieber rübergehen wollen?“

„Nein, danke. Das hatte ich bei meinem Ex zu genüge.“

Sie lachten und prosteten sich zu, auch wenn Kathy nicht so wirkte, als wäre das ein Ich-bin-über-ihn-hinweg-Scherz gewesen. Emma hoffte es trotzdem.

Der Kerl war wirklich eine Nulpe gewesen und sie hatte nie verstanden, warum Kathy sich diesen Klotz ans Bein hatte binden können. Nichts war diesem Typen rechtgewesen. Immer hatte er genörgelt und Kathys Freunde und vor allem, sie selbst schlecht gemacht. Schon allein bei dem Gedanken an den Typen lief es Emma kalt den Rücken runter. Was sich leider wiederholte, als die Band anfing zu spielen.

„Sollen wir gehen?!“

„Oh bitte, bitte, ja!“ Kathy hatte ihren Kopf auf Emmas Schulter abgelegt und sah sie mit einem Hundeblick an, den Disney hätte teuer vermarkten können.

„Okay. Ich verabschiede mich nur noch kurz!“

Während Emma sich vorlehnte und dem Mann, mit dem sie sich seit einer Stunde sporadisch unterhalten hatte, auf den Unterarm tippte, zog Kathy ihr Handy aus der Tasche ihrer engen Jeans.

„Hey, wir gehen jetzt!“ Es war nicht nur deshalb unerträglich, weil man sich bei diesem Brüllen, das der Sänger da fabrizierte, anschreien musste, um sich zu unterhalten. Aber das genügte, um Emma sich ihr Bett herbeisehnen zu lassen. Und das so schnell, wie möglich.

„Okay.“ Der Typ – war sein Name Chris? – grinste und hob einen Daumen zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Zu Emmas Erstaunen hatte er allerdings noch etwas zu sagen und schob ihr einen gelben Zettel hin.

„Nicht vergessen! Schick deinen Lebenslauf an die E-Mail-Adresse. Ich sag dort Bescheid. Du hast bestimmt Chancen! Am besten gleich Morgen!“

„Danke!“

Das war wirklich genug des Herumschreiens und Emma schnappte sich ihre Tasche und die müde Kathy, bevor sie kurz an Rob dachte. Bloß um von Kathy das Handy vor die Nase gehalten zu bekommen, auf dessen Display sie Folgendes lesen konnte: 'Total cool! Hab vielleicht Chancen bei einer von der Band. Kommt ihr heim?“

Da Emma wusste, was es bedeutete, grinste sie nur und stieg vor Kathy hastig die Treppen hinunter, verabschiedete sich vom Türsteher, der den Ladys einen guten Nachhause-Weg wünschte, und freute sich bei jedem Schritt mehr auf ihr Bett. Den kleinen Zettel mit der E-Mail-Adresse faltete sie zusammen und steckte ihn sich in die Hosentasche.

2. Kapitel

„Danke, Stella.“

Seine Assistentin stellte den frischen Kaffee neben seinen Akten ab, von denen er noch nicht einmal hochblickte, so vertieft war er in seine Arbeit. Daher bemerkte er zunächst nicht, dass Stella immer noch neben seinem Tisch stand. Offenbar auf etwas wartend.

Nun sah Cayden doch hoch und schob sich dabei seine Brille wieder weiter die Nase hinauf.

„Sonst noch etwas?“, wollte er höflich wissen und nahm es wie immer schätzend zur Kenntnis, dass seine Assistentin wartete, bis er Zeit für sie hatte, anstatt ihn zu unterbrechen. Die letzte Assistentin hatte diese Angewohnheit leider nicht gehabt. Was auch ein Grund war, wieso sie nicht mehr für ihn arbeitete.

Er konnte es nicht ausstehen, wenn man seine Gedankengänge unterbrach, sobald sie zu fließen begonnen hatten.

Er als Boss einer großen Firma war zwar selbst kein Künstler, aber er wusste sehr wohl, wie es war, wenn die Inspiration frei floss und wie schnell man diesen Zustand wieder zerstören konnte. So manche Ideen waren dadurch von seiner alten Assistentin förmlich im Keim erstickt worden, bevor er sie richtig hatte fassen können. Etwas, das weder gut fürs Geschäft, noch seine Stimmung war.

„Ich habe eine erste Bewerberin für die freigewordene Stelle von Nick Tompson gefunden.“

Cayden entging das aufgeregte Blitzen in Stellas schokoladenbraunen Augen nicht. Offenbar war sie froh, so schnell jemanden organisiert zu haben. Er wusste ja, wie schwer es war, auf die Schnelle gutes Personal zu finden, oder zumindest Annehmbares, ohne dabei eine Stellenausschreibung ausgehängt zu haben.

Er hätte nicht so schnell mit jemandem gerechnet, womit ihn seine Assistentin auf jeden Fall überrascht hatte.

„Meinen Sie, sie kommt in Frage?“, wollte er ihre Meinung wissen, da Stella seinen Geschmack in Sachen Personal kannte und er ihr daher die erste Auswahl auf jeden Fall überlassen konnte.

Nun breitete sich ein winziges Lächeln auf ihren Lippen aus, ehe sie ihm ein paar zusammengeheftete Zettel reichte.

Cayden nahm sie und überflog kurz den Lebenslauf, während er die beigelegten Arbeiten gründlicher studierte.

„Geben Sie ihr einen Termin“, meinte er schließlich, ehe er die Zettel langsam beiseitelegte.

„Montag. 8:00 Uhr. Ich werde die Bewerbung persönlich übernehmen.“

Offensichtlich verdutzt über die Tatsache, dass er das Bewerbungsgespräch einmal selbst durchführen wollte, nickte Stella schließlich zögerlich und ging dann zurück an ihren Arbeitsplatz, als er sich ohne weitere Erklärungen für seine sehr ungewöhnliche Entscheidung wieder seiner eigenen Arbeit widmete.

Noch einmal schweifte sein Blick kurz zu der ausgedruckten Bewerbung neben seinem Kaffee, ehe er die Tasse in die Hand nahm und seine Gedanken zu Zahlenkolonnen und Statistiken abschweiften.
 

***
 

Als der Wecker um halb sieben anfing in wechselnden Farben zu leuchten und schließlich auch ein leises Summen von sich zu geben, öffnete Emma ein Auge. Sie betrachtete das Farbenspiel eine halbe Minute lang und schob dann ihre Hand aus der mummelig warmen Decke hervor, um den Wecker abzustellen.

Kurz überlegte sie, ob die Zeit zum Aufstehen doch noch verhandelbar war, entschied sich dann aber trotz ihrer müden Augen dagegen. Sie hatte ohnehin nicht richtig schlafen können. Da machten jetzt zehn Minuten hin oder her auch nichts mehr aus.

Sie setzte sich im Bett auf, zog sich die Decke noch einmal bis zu den Schultern hoch und sah zum Fenster hinüber, wo dunstiges Licht wieder einmal Regen erahnen ließ. Also keine Haarspray-Frisur.

Mit einem missmutigen Ton schwang Emma die Beine aus dem Bett, schüttelte die hochgerollten Aufschläge der Pyjamahose nach unten und stieg in ihre Hausschuhe, bevor sie an den Schreibtisch ging.

Ihr Herz klopfte schon jetzt aufgeregt und ihre Fingerspitzen fühlten sich seltsam an, als sie die Unterlagen noch einmal durchblätterte, die sie zum Bewerbungsgespräch mitnehmen wollte.

Es schien alles da zu sein und mit einem unangenehmen Glucksen im Magen machte Emma sich auf den Weg unter die Dusche. Im Bad sah sie am herumliegenden Föhn, dass Kathy schon wach sein musste.

Oh man. Wenn dieser Job auch in derartig häufige Frühschichten ausarten sollte ...

„Vielleicht geh ich lieber gleich wieder ins Bett.“

Sie hatte den Job ja eigentlich auch gar nicht wirklich gewollt. Beworben hatte sie sich nur aus einer Mischung aus Langeweile und Neugier heraus. Und weil sie nicht im Geringsten daran geglaubt hatte, eine Antwort, geschweige denn eine Einladung zum Gespräch zu bekommen!

Grummelnd argumentierte Emma mit sich selbst hin und her, während sie duschte, sich die einzigen Klamotten anzog, die für so etwas Offizielles geeignet waren und sich die Haare machte. Ein ordentlich gewundener Knoten, der weder schlampig, noch zu aufgesetzt aussah. Kombiniert mit einer kleinen Spange, die ihren Pony im Zaum hielt, konnte sich das ganz gut sehen lassen. Genauso, wie das Augen-Make-up, das heute nicht ganz so dunkel ausfiel und den Hauch von Lipgloss. Der sowieso gleich wieder verschwinden würde, wenn sie es schaffte, etwas zu frühstücken.

Sie schaffte es zwar, musste sich selbst aber mit der Vorstellung dazu zwingen, wie peinlich ein knurrender Magen oder Mundgeruch bei ihrem Gespräch sein würde.

An der Bushaltestelle prüfte Emma zum dritten Mal, ob sie alles dabei hatte, schaltete ihr Handy auf lautlos und versuchte nicht so auszusehen, als würde sie zu ihrer eigenen Beerdigung fahren. Mein Gott, wenn es nicht klappte, war das auch okay. Schließlich war das eher ein Überfall gewesen, als eine geplante Jobsuche.

Wobei die Firma und die Stelle zugegeben ziemlich cool klangen. Musik, kreatives Gestalten, Verantwortung ... Und noch dazu vermutlich nicht schlecht bezahlt. Wenn alles passte und die Stundenzahl nicht zu hoch und nicht zu niedrig ausfiel, hätte Emma sich durchaus damit anfreunden können. Was ihre feuchten Handflächen leider nur zu stark bezeugten.

Verdammt, hoffentlich machte das nicht sofort einen schlechten Eindruck. Auf wen auch immer.

Denn Emma hatte in der Mail nur gesagt bekommen, dass sie um 8 Uhr im Foyer sein und sich dort bei der Rezeption anmelden sollte.

Fünf Minuten zu früh wünschte sie dem Mann, der dort im Anzug saß und auf kleine Schwarzweißmonitore starrte, einen guten Morgen.

„Guten Morgen. Mein Name ist Emma Barnes. Ich habe einen Termin.“
 

Stella wartete bereits am Aufzug auf Ms. Barnes. Paul hatte sie vom Foyer aus angerufen und sie angekündigt, wie er es bei den wichtigeren Kunden und Terminen machte.

Obwohl sie nicht glaubte, dass diese Bewerberin besonders wichtig war, wartete sie trotzdem auf die Frau, denn es kam nicht oft vor, dass ihr Boss ein Bewerbungsgespräch selbst durchführen wollte.

Eigentlich nur bei sehr wichtigen Posten innerhalb der Firma und dazu gehörte die Grafikabteilung mit den Printmedien nur insofern, wie es brauchte, um das Rad am Laufen zu halten.

Als die Fahrstuhltüren aufglitten, setzte Stella ein professionelles Lächeln auf, während sie beiläufig die mögliche Kandidatin musterte.

Hoffentlich hatte der beste Freund von Sean nicht total daneben gegriffen, aber das war anhand der Bewerbungsunterlagen nur schwer zu deuten gewesen. Wenigstens war sie pünktlich. Das war sie Nick Tompson schon einmal meilenweit voraus.

„Guten Morgen. Sie sind sicher Emma Barnes. Mein Name ist Stella Hopkins. Ich bin die persönliche Assistentin von Mr. Calmaro. Er erwartet Sie bereits.“

Stella schüttelte der Frau die Hand und führte sie aus dem Fahrstuhl den Flur entlang an den ganzen Arbeitsplätzen mit den Trennwänden vorbei.

Hier wirkte es mehr wie in einem Bienenstock, wenn alle zu ihrer Schicht erschienen, doch momentan war es dafür noch zu früh und man konnte auf den ersten Blick erkennen, dass jeder seinen Arbeitsplatz sauber hielt, und es nicht vollgestopft wirkte. Ganz im Gegenteil, seit der Komplettrenovierung und diverser Umbauten hatte man dank der riesigen Fenster am Ende des großen Raumes das Gefühl, endlich wieder Luft zu bekommen.

Ihr eigener Arbeitsplatz war durch eine Pflanzengruppe von den anderen getrennt, so dass offensichtlich wurde, dass sie nicht einfach nur zu den Arbeitsbienen gehörte, sondern einen gehobeneren Status besaß.

Ihr Schreibtisch, der gegenüber von Mr. Calmaros Bürotür stand, war im Gegensatz zur Fabrikware der anderen aus Edelholz und bekam am meisten Licht von allen ab, da er fast direkt neben dem Fenster stand. Die Aussicht war auf alle Fälle fantastisch, wenn sie mehr Zeit dazu gehabt hätte, sie zu genießen.

Keine zehn Schritte weiter befand sich eine kleine Küche, wo sie in regelmäßigen Abständen für den Koffeinhaushalt ihres Bosses sorgte. Natürlich konnten sich dort auch alle anderen Mitarbeiter Kaffee holen und sich zwischen den Arbeitszeiten Essen aufwärmen. Sie hatten sogar eine kleine Kochstelle dort.

Das allerdings würde Ms. Barnes nie erfahren, sollte aus dem Bewerbungsgespräch doch nichts werden und außerdem sah es in der Grafikmedienabteilung ohnehin etwas anders aus als in der Chefetage.

Vor der Tür mit dem eingravierten Messingschild, auf dem C. Calmaro stand, ohne klar zu definieren, wer das genau war, blieb sie mit der Kandidatin stehen, klopfte einmal kurz an und wartete auf das „Herein“.
 

Mit geschlossenen Augen polierte sich Cayden noch einmal mit seinem Brillentuch die rötlich getönten Gläser, ehe er sie sich wieder aufsetzte und sich einmal kurz in seinem prächtig ausgestatteten Büro umsah.

Die Farben des Parkettbodens, der weichen Perserteppiche, Kunstgegenstände an den Wänden und Blumen auf diversen Holzregalen und –schränken waren so, wie sie sein sollten, bis auf die Ränder seines Sichtfeldes, die von den Gläsern nicht abgedeckt wurden und in hellen, bis fast stechend weißen Pastelltönen erstrahlten. Doch das machte nichts, solange er das grelle Licht nicht in direktem Winkel in die Augen bekam.

Am Fahrstuhl konnte er die beiden Frauen hören, also legte er das Brillentuch zurück in sein Etui und legte die Tourneepläne von Blue Laguna zur Seite, unter denen sich die Bewerbungsmaterialien von Ms. Barnes befanden.

Als die beiden Frauen den Raum betraten, stand er mit einem freundlichen Lächeln auf und kam ihnen entgegen, um seine Bewerberin mit einem warmen Händedruck zu begrüßen.

„Guten Morgen, Ms. Barnes. Ich bin Cayden Calmaro. Der Kopf dieser Firma.“

Er deutete auf einen der beiden gemütlichen Stühle vor seinem breiten Schreibtisch.

„Setzen Sie sich doch bitte.“

Cayden setzte sich ebenfalls und schenkte seiner Assistentin einen kurzen Blick, damit sie noch blieb.

An Ms. Barnes gewandt, fragte er höflich. „Kaffee oder Tee, vielleicht?“
 

Immer noch kam sich Emma so vor, als würde sie nicht zu einem Bewerbungsgespräch, sondern zu etwas sehr viel Erschreckenderem gehen, während sie neben der perfekt gestylten Dame herlief. Die Frau mit den wohl perfektesten Fingernägeln der Welt hatte sich als Stella Hopkins und Assistentin von Mr. Calmaro vorgestellt. Und Emma bereute schon jetzt, dass sie nur wusste, dass dieser Name eines der beiden Cs war, die in der Abkürzung der Firma vorkamen. Sie bekam weder die tolle Aussicht noch irgendetwas Anderes mit, außer, dass der Teppich hellgrau und bestimmt unpraktisch war, weil er bei so vielen Angestellten schnell dreckig wurde.

Dann stand Emma vor einer Tür, was ihr hauptsächlich dadurch auffiel, dass die Präsenz von Mrs Hopkins an ihrer Seite auf einmal verschwunden war und auch nicht wieder zurückkehrte. Leider auch nicht, als sie in das etwa Turnhallen große Büro getreten waren und Emmas Hände nun wirklich zu schwitzen begannen.

Was bloß noch unangenehmer war, weil sie sonst am liebsten angefangen hätte zu schlottern. Bestimmt war es nicht kalt im Gebäude, aber ihre Nervosität fraß sich allmählich bis in ihre Knochen und wollte erst recht nicht weichen, als ihr Mr. Calmaro die Hand reichte.

„Guten Morgen. Freut mich, Sie kennenzulernen.“

Emma blieb bei der Tür stehen, bis der Boss ihr einen Stuhl angeboten hatte, und setzte sich erst anschließend hin, um dankend das heiße Getränk abzulehnen. Ein bisschen Wärme im Magen hätte ihr vermutlich gar nicht schlecht getan, aber sie wollte weder in die Verlegenheit kommen, sich die Lippen oder die Zunge zu verbrennen, noch wollte sie bei ihrem überdrehten Herzschlag noch Koffein in ihr Blut mischen.

Eigentlich wäre es ihr ganz lieb gewesen, wenn sie gleich wieder hätte gehen können.

Mr. Calmaro musste doch schon sieben Meilen gegen den Wind riechen, dass Emma hier nicht hineinpasste. Sie war ... irgendwie zu klein. Für das riesige Büro, für den Hünen von Boss und vermutlich auch für den Job, auf den sie sich in einem Anfall von Wahnsinn einfach beworben hatte.
 

Caydens erster Eindruck war, dass Ms. Barnes nicht in diese Abteilung passte. Zumindest kam es ihm so vor, dass schon allein der Stuhl für seine Gäste sie schlucken könnte, da das aber weder von Belang noch für eine gute Arbeit wichtig war, sah er darüber hinweg.

Immerhin sah sie nicht aus wie ein kiffender Student, der seine Kleidung aus der Wühlkiste hatte, so wie Nick Tompson. Was eine erfreuliche Verbesserung darstellte.

Nach dem er Stella mit der Bitte – er wolle nicht gestört werden, es sei denn Mr. Goldman meldete sich – weggeschickt hatte, richtete er seine ganze Konzentration auf die kleine Frau in der blauen Bluse, die farblich zu dem Steinen in ihren Ohrringen passten.

„Vielen Dank, dass Sie sich so früh für mich Zeit nehmen konnten“, begann er in unverfänglichem Tonfall, da er mit einem zitternden Nervenbündel nichts anfangen konnte und erst einmal ein bisschen das Eis brechen wollte. Was ihm aber vermutlich nicht wirklich gelingen würde.

Er war es natürlich gewöhnt, dass Leute in seiner Nähe und vor allem bei Bewerbungsgesprächen nervös waren. Was nicht hieß, dass es ihm vollkommen entging, wie sehr der Puls dieser Frau dicht unter ihrer Haut raste, oder der Geruch ihrer Nervosität vermischt mit einem pudrigen Duft seine Nase erfüllte.

Wenigstens badete sie nicht in Parfum und der Duft ihres Haarshampoos darunter war sehr angenehm.

„Um ganz offen zu sein, wir suchen dringend jemanden, der das Grafikteam in unserer Medienabteilung unterstützt, da wir derzeit voll ausgelastet sind.“

Cayden nahm die Bewerbungsunterlagen zur Hand und überflog sie noch einmal rasch, obwohl er schon längst alles Wichtige daraus gezogen hatte, was er so an Informationen erhalten konnte.

„Ihrer bisherigen Berufslaufbahn kann ich entnehmen, dass Sie offenbar sehr flexibel sind, was verschiedenste Arbeiten angeht. Da wir aber eine längerfristige Stelle als Vollzeitkraft anstreben, können Sie mir vielleicht sagen, weshalb Sie so oft die Stelle gewechselt haben?“

Denn wenn sich herausstellen sollte, dass sie mit den Kollegen nicht zurechtkam, oder einfach keine Ausdauer besaß, wäre das schon einmal ein herber Minuspunkt. Aber er wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen. Mehrmaliger Berufswechsel konnte vielerlei Gründe haben.
 

Mit dieser Frage hatte Emma gerechnet. Denn ihre Jobwechsel waren einfach zu auffällig, um darüber hinwegzusehen.

Kein Arbeitgeber wollte jemanden einstellen, der sich dann drei Wochen später wegen irgendetwas Banalem wieder verabschiedete. Was sie auch nicht vorhatte, wenn ihr die Arbeit bei C&C zusagen sollte.

Im – wenn auch sehr geringen – Vorfeld zu diesem Gespräch hatte man ihr verschiedene Dinge geraten, wie sie mit diesem 'Schwachpunkt' in ihrem Lebenslauf umgehen konnte. Emma entschied sich für die Variante, die ihr am meisten entsprach. Augen zu und durch.

„Es gab unterschiedliche Gründe dafür. Die letzten Male lag es hauptsächlich an meiner Zielsetzung, die sich im Laufe der Jahre verändert hat. Vor ungefähr einem Jahr habe ich mich entschieden, einen Abendkurs für kreative Medien und Gestaltung an der Universität zu belegen. Das hat zunächst wegen der Kosten den Job im Café ausgeschlossen, weshalb ich mich umorientiert habe. Zwar war die Bezahlung in der Restaurantküche etwas besser, hat aber auf Dauer auch wegen der Arbeitszeiten nicht gepasst. Bei meiner letzten Anstellung im Callcenter war ich sehr zufrieden, aber das Büro ist dem Outsourcing zum Opfer gefallen und niemand wurde in die neue Firma in Australien übernommen.“

Das entsprach alles der Wahrheit. Da Emma nicht vorhatte, dreckige Wäsche vor ihrem möglichen neuen Boss zu waschen, ließ sie die Tatsachen aus, dass man ihr in der Küche Geld für die 70 geleisteten Stunden in der Woche unterschlagen hatte und sie selbst für den letzten Monat überhaupt kein Geld gesehen hatte.

Emma sah den Mann mit einem freundlichen aber immer noch nicht wirklich aufgetauten Lächeln an. Wenn er sich jetzt schon gegen sie entschieden hatte, dann tarnte er es gut. In seinen Augen, die hinter einer getönten Brille steckten, konnte Emma überhaupt nichts lesen.
 

Das war interessant.

Cayden lehnte sich zusammen mit den Papieren in seinen Händen gemütlich in seinem Sessel zurück und dachte kurz darüber nach, ob das was Ms. Barnes ausstrahlte, sich mit dem deckte, was sie gesagt hatte.

Lügen durchschaute er für gewöhnlich sehr schnell, weshalb er sich sicher war, dass es der Wahrheit entsprach. Es würde auch ihre Musterarbeiten erklären.

Dass sie sich offensichtlich für genau diese Richtung interessierte, in die er sie brauchen könnte, war schon anhand ihres Tonfalls zu hören. Natürlich klang es ein bisschen auswendiggelernt, als spontan erzählt, aber das gehörte eben zu der Vorbereitung für ein Bewerbungsgespräch.

Ohne jedoch erst einmal laut ihre Worte zu analysieren und zu kommentieren beziehungsweise mit seiner Meinung zu versehen, legte er die Zettel beiseite und nahm seinen Kaffee zur Hand.

Er wusste, dass er dadurch nicht so wirkte, als würde er gleich das Gespräch beenden wollen und genau deshalb tat er es auch. Und weil er gerne heißen Kaffee mochte.

„Denken Sie denn, Sie könnten den Abendkurs mit einem Vollzeitjob bewältigen? Dazu muss ich sagen, dass Überstunden keine Seltenheit sein werden, aber natürlich alles mit Maß und Ziel und es gibt keinen Zeitausgleich, sondern die Stunden werden ausbezahlt.“

Zeitausgleich konnte er sich einfach nicht leisten. Sonst würde er schließlich keine Überstunden von seinen Mitarbeitern verlangen. Dafür hatte er einfach zu viel Arbeit.
 

Ja, das war das Risiko gewesen. Entweder hatte sie mit ihrem Interesse in genau die Richtung des Jobangebots argumentieren und sämtliche Fragen totschlagen können. Oder ... eben nicht.

„Da die Kurse nur dreimal die Woche stattfinden und das erst gegen 20 Uhr, sollte das kein Problem sein. Außerdem dauern die Semesterferien jeweils drei Monate, in denen ich Hausarbeiten nach freier Zeiteinteilung bewältigen kann.“

Als er nach einem Schluck Kaffee das mit den Überstunden erwähnte, wollte Emma schon zurückschrecken. Eigentlich hatte sie wenig Lust, sich nach Kathys Vorbild bis an die Grenzen zu schuften. Andererseits versprach der Job auch etwas für ihre Qualifikation, die sie später ihrem Abschlusszeugnis hinzufügen konnte.

Da sie schon ziemlich lange überlegte und dabei auch vergessen hatte, immer wieder Blickkontakt mit Mr. Calmaro zu halten, sah sie jetzt auf und konzentrierte sich wieder auf ihn. Immerhin hatte er sie indirekt etwas gefragt.

„Ich bin durchaus bereit, mehr zu arbeiten, wenn es erforderlich ist.“

Vielleicht ließ es sich ja so hinbiegen, dass sie die Überstunden flexibel anhäufen konnte. Immerhin war der Chef auch schon eine Stunde vor den Mitarbeitern hier.

„Wenn Sie erlauben, würde ich gern etwas zu der Stellenausschreibung fragen. Mrs. Hopkins war so freundlich mir eine kurze Liste, der generellen Voraussetzungen zu mailen. Allerdings war darauf nicht angegeben, ob es sich hauptsächlich um Print- oder auch um andere Medien handelt.“

Mit dem Aufbau von Internetseiten kam Emma zwar im Kleinen zurecht, aber die Website für so eine große Firma zu programmieren traute sie sich bei Weitem nicht zu. Wenn das zu den Anforderungen gehörte, würde sie Mr. Calmaro nicht anlügen, sondern einfach passen müssen.
 

Während sie nachdachte, nutzte er die Zeit, um sie gründlich und doch unauffällig erneut zu mustern.

Ihre Kleidung war sauber, auch wenn man erkannte, dass sie ganz bestimmt nicht von einer teuren Marke stammte, was natürlich auch bestätigte, dass sie in ihren letzten Jobs nicht sehr viel verdient haben konnte. Es war Cayden im Grunde egal, ob jemand Markenartikel am Leib trug.

Solange man sich zu präsentieren wusste, zählte das Budget nicht. Im Gegenteil war er sogar der Meinung, dass es ein nicht zu verachtendes Talent war, aus wenig mehr zu machen. Und in der Grafikabteilung wäre es ohnehin nicht von Bedeutung, ob man ein aufgemotztes Püppchen oder ein legerer Durchschnittstyp war. Ganz allein die Arbeit zählte. Für Präsentationen, Geschäftsessen, Festivitäten und derlei Dinge waren andere Leute zuständig.

„Die Überstunden können frei gestaltet werden. Solange die Abgabetermine fristgerecht eingehalten werden, ist das absolut kein Problem“, versicherte Cayden Ms. Barnes schließlich, damit sie nicht gleich das Gefühl hatte, er wäre ein eiskalter Sklaventreiber, der seine Mitarbeiter zu Tode schindete. Einzig und allein sein persönlicher Personalkreis, den er oft in Anspruch nahm, musste sich sehr stark ranhalten. Aber dafür gab es schließlich Urlaube, Boni und nützliche Weihnachtsgeschenke, um die Mühen auszugleichen.

Als sein Gegenüber ihm einmal direkt eine Frage stellte, richtete sich sein Blick interessiert und aufmerksam auf die hellbraunen Augen von Ms. Barnes. Er hatte noch nie Probleme damit gehabt, den Blickkontakt zu halten. Eigentlich war es meistens so, dass die anderen zuerst wegsahen, so sehr er das bei Gesprächen manchmal als unhöflich empfand. Aber gerade dann, wenn er seine Brille nicht aufhatte, konnte er es nur allzu gut verstehen.

„Selbstverständlich würden Sie eine gründliche Einschulung in die Arbeitsmethoden unserer Abteilung bekommen und ihren Fähigkeiten entsprechend auch weiter geschult werden, sollte es nötig sein. Anhand ihrer Musterarbeiten dürfte das allerdings kein Problem werden.“

Es war ein getarntes Lob, das er selbst nicht so ganz mitbekam, aber vielleicht lag es auch nur daran, dass er immer noch diese unzumutbare Arbeit von Nick Tompson im Kopf hatte. Dagegen sah alles andere einfach nur gut aus. Und zugegeben, ihre Arbeit war noch etwas holprig, aber da er sich selbst damit auskannte, sah er durchaus Potential, mit dem man arbeiten konnte.

„Wären Sie denn bereit, Ihre Fähigkeiten auch über die Printmedien hinaus auszuweiten?“
 

„Sicher, natürlich.“

Das war so schnell aus ihrem Mund gekommen, wie sie auf dem tiefen Bürostuhlmonster ein Stück nach vorne gerutscht war. Emmas Augen blickten kurz etwas schuldbewusst, bevor ihr Lächeln sie endlich auch erreichte.

„Ich meinte, natürlich lerne ich gern etwas dazu. Mit Print kann ich schon umgehen. Zumindest bin ich fähig das umzusetzen, was ich mir vorstelle. Aber ich würde mich freuen, wenn ich hier die Gelegenheit bekäme, mehr kennenzulernen.“ Und dabei auch noch Geld zu verdienen.

Etwas entspannter legte Emma ihre Handflächen auf die Oberschenkel, rutschte aber nicht wieder in den Sessel zurück, da sie nicht wollte, dass ihre Euphorie als Schauspiel gedeutet wurde. Denn das war sie keinesfalls gewesen. Es würde sie wirklich freuen, dazuzulernen. Dann konnte sie diesen Job mit den Kursen an der Uni ergänzen und bei beidem besser werden. Immerhin würde sie dann den Großteil des Tages sozusagen mit Üben verbringen.

Das erste Mal betrachtete Emma den Mann mit der rot getönten Brille ohne allzu große Scheu.

Er sah ... wie der Boss aus. Ganz eindeutig. Die Haltung, die Art, wie er die Hände auf der Tischplatte gefaltet hatte. Irgendwie passten die rot getönten Gläser seiner Brille nicht ganz zum Image des Saubermanns, aber sie lenkten ein bisschen von dem scheußlichen Gestell ab. Was auf jeden Fall ein Pluspunkt war.
 

Jahrelange Selbstdisziplin trug dazu bei, dass er nicht einfach seine Überraschung damit zeigte, in dem er eine Augenbraue fragend hochzog. Aber das hieß nicht, dass er nicht trotzdem über Ms. Barnes plötzlicher Reaktion überrascht war, zumal sie auch noch vollkommen echt gewirkt hatte.

Das anschließende Lächeln bestätigte es ihm nur noch, denn dieses Mal erreichte es auch die hellbraunen Augen seines Gegenübers.

Etwas, das er selbst schon so lange nicht mehr zustande gebracht hatte, dass man den Unterschied nicht einmal mehr bemerkte, da ihn dafür keiner gut genug kannte.

Eigentlich sollte er sich noch nicht festlegen, da er noch nicht einmal andere Kandidaten getroffen hatte, aber der süße, prickelnde Duft von Endorphinen in seiner Nase, der den bitteren Nervositätsgeruch langsam zu vertreiben schien, ließ ihn glauben, dass er die richtige Wahl treffen würde.

Trotzdem wog er in stummer Betrachtung die Vor- und Nachteile ab, die sein Gegenüber ihm bringen würde.

Sie hatte noch keine ersichtliche berufliche Erfahrung in dieser Tätigkeit oder gar seiner Branche. Keiner konnte ihm garantierten, dass ihr die Überstunden am Ende nicht doch zu viel sein würden, da nur wenige Menschen bereit waren, so viel zu arbeiten, wie er es tat. Auch wenn er das natürlich nicht in diesem Umfang verlangte.

Ihrem Erscheinen nach passte sie zwar nicht in die Chefetage, aber in die Medienabteilung würde sie reinpassen. Dort lief so gut wie jede Sorte von Kleidung und Menschenschlag herum, den man sich in so einer Firma vorstellen konnte.

Trotzdem … er war sich nicht sicher.

Nachdenklich nahm er noch einmal einen Schluck von seinem Kaffee, ließ die Flüssigkeit über seine Zunge rollen, ehe er den Blick wieder hob und Ms. Barnes durchdringend anblickte. Normale Menschen hätten dabei vielleicht über den Rand der Brille hinweggeblickt, doch er hob stattdessen das Kinn weiter nach oben, um sie direkt ansehen zu können.

„Können Sie mir ein bisschen etwas von sich erzählen? Wie würden Sie sich selbst beschreiben? Ihren Charakter, Interessen und Vorlieben?“
 

Wie sie sich selbst beschreiben würde?

Sowas fand Emma schon bei normalen Gelegenheiten wir Barbecues oder Geburtstagsfeiern doof.

Zu erzählen, was man so machte, kam nur gut rüber, wenn man es von der Leber weg aussprach und nicht, wenn man auf eine Frage besonders gut antworten wollte. Sich selbst positiv darzustellen hatte Emma noch nie gut draufgehabt. Hätte sie gestern nicht noch ein bisschen geübt, wäre das vermutlich jetzt der Sprung ins Klo gewesen.

„Ich würde sagen, dass ich ein sehr aufgeschlossener Mensch bin“, fing sie an und rutschte dabei ein bisschen weiter in den Besucherstuhl zurück, unterbrach aber den Augenkontakt mit Mr. Calmaro nicht noch einmal.

„Menschen sind mir wichtig. Einerseits als Freunde, andererseits kann man fast von jedem Menschen etwas lernen. Und wenn es nur über sich selbst ist.“

Vermutlich hatte sie sich die kurze Veränderung in seinen Augen nur eingebildet, aber Emma war auch wirklich auf der Hut, wenn sie so etwas offen aussprach. Die Meisten hielten sie für eine Esoterik-Spinnerin oder Schlimmeres, wenn sie so etwas zur Sprache brachte. Oder noch schlimmer mit Kräften der Natur und Symbolen anfing. Aber das gehörte zum Glück ohnehin nicht hierher.

„Außerdem bin ich gern kreativ. Vor Kurzem bin ich mit zwei guten Freunden in eine WG gezogen und wir arbeiten fast jeden Tag an kleinen Details, um die Wohnung herzurichten. Mir machen auch handwerkliche Sachen Spaß. Ich denke, man könnte mich vielseitig nennen. Ich probiere gern Neues aus.“

Was aber nicht hieß, dass sie wankelmütig war. Nur neugierig. Und man konnte sie unheimlich schnell –

„Ich mag Herausforderungen.“

Jetzt hatte sie sich das kurze Glitzern in der – vermutlich grünen – Iris ihres Gegenübers auf keinen Fall eingebildet. Emma reagierte mit einem Lächeln darauf.

„Das hören Sie bestimmt von jedem Bewerber. Ich gebe zu, dass ich es gerade auch deshalb laut ausgesprochen habe, weil es sich gut anhört. Aber außerdem ist es treffend für mich. Geben Sie mir ein Puzzle und sagen Sie mir, dass es in einer bestimmten Zeit nicht zu lösen ist. Und sofort erwacht meine Neugier und ich will es zumindest versuchen.“

Teilweise, um ihm zu beweisen, dass er Unrecht hatte. Aber das machte ja im Endeffekt keinen Unterschied.
 

Wie von selbst erschien ein kleines charmantes Lächeln auf seinen Lippen. Seine antrainierte Art auf etwas zu reagieren, das ihm in der Geschäftswelt an anderen Menschen gefiel.

Zugleich war es ein Ausdruck eines vielleicht etwas verdrehten Humors, den Ms. Barnes niemals nachvollziehen könnte. Denn sie konnte nicht wissen, dass sie mit ihren offenen Worten nur das bestätigte, was er anhand ihres Geruchs, ihrer Mimik und Gestik ohnehin erfahren konnte.

Dass sie zugab, sich einfach gut verkaufen zu wollen und dennoch die Wahrheit sprach, sagte vermutlich mehr über sie aus, als sie dachte.

Auf jeden Fall fiel ihm seine Entscheidung bezüglich ihrer Bewerbung immer leichter.

Nick Tompson war ein Stümper ohne Charakter und Anstand gewesen, der auch noch nie so etwas wie Verantwortungsgefühl gehabt zu haben schien.

Diese Frau hier konnte vielleicht noch nicht mit der nötigen Berufserfahrung aufwarten, aber zumindest war für ihn deutlich zu erkennen, dass sie sich reinhängen würde, egal wie schwer es am Anfang war und das war für ihn am Ende der ausschlaggebende Punkt.

„Es wird vielleicht kein Puzzle sein, das ich Ihnen aufgeben werde, aber wenn Sie an der Stelle interessiert sind, dann ...“

Sein Blick huschte zu seinem Telefon hinüber, wo ein kleines Lämpchen neben der Eins zu blinken begonnen hatte.

„Entschuldigen Sie bitte kurz.“

Cayden nahm den Hörer ab, ohne weitere Erklärungen abzugeben, dass es wichtig war.

„Ja?“

Wie erwartet, war Stella in der Leitung, die sofort und ohne um den heißen Brei herumzureden zur Sache kam.

„Soeben hat die Polizei hier angerufen. Es geht um Mr. Goldman. Er liegt mit einer Alkoholvergiftung im Southern Cross Hospital. Er gab Ihren Namen und die Nummer des Büros an.“

„Ich verstehe.“

Brad, du verdammter Idiot. Wenn du dich schon umbringen willst, dann mach es wenigstens richtig.

Cayden warf einen kurzen Blick zu Ms. Barnes hinüber.

„Übernehmen Sie bitte hier für mich, Stella. Ich werde mich um die Sache kümmern.“

Er legte auf.

„Entschuldigen Sie mich, bitte. Meine Assistentin wird Ihnen noch gerne die Medienabteilung zeigen und Sie mit der Abteilungsleiterin dort bekannt machen. Danach liegt es bei Ihnen, ob Sie die Stelle annehmen möchten. Von meiner Seite her würde ich Sie gerne für mindestens einen Probemonat bei uns an Bord wünschen.“

Er stand auf und ging zu seinem kleinen Garderobenschrank hinüber, um dort sein Jackett vom Kleiderbügel zu nehmen, hineinzuschlüpfen und es sich mit raschen Fingern zuzuknöpfen.

Gerade als er sich mit einem Händeschütteln von Ms. Barnes verabschiedete, kam Stella zur Tür herein.

„Ihr Wagen steht bereit“, war alles, was sie sagte, ehe er ihr dankend zunickte und auch schon aus dem Büro verschwand.
 

„Wenn Sie mir bitte folgen würden. Die Medienabteilung liegt ihm sechsten Stock.“

Stella war nichts von dem Notfall anzusehen, der einen langjährigen Bandmanager dieser Firma betraf. Stattdessen hielt sie ruhig ihre Materialien in der Hand, die ohnehin direkt in Beas Abteilung gebracht werden mussten. Da traf es sich, dass das genau ihr Ziel war.
 

„Oh. Okay.“

Vollkommen überrumpelt von der aufgekommenen Hektik, stand Emma vom Stuhl auf, zog sich die Bluse glatt und schüttelte dann Mr. Calmaros Hand, bevor er aus dem Zimmer rauschte. Nicht einmal ihr „Vielen Dank. Ich ... freu mich.“ bekam er noch mit. Aber dafür lächelte ihr Mrs. Hopkins freundlich zu und bat sie mit einer Handbewegung aus dem Büro, die so elegant wirkte, wie in einer Werbesendung.

Emma hätte sie zu gern gefragt, wie sie ihre Nägel machte. Denn sie sahen nicht so billig und aufgeklebt aus, wie das gerade in Mode war, sondern waren so kurz, wie die von Emma, aber eben ... verdammt toll.

Im Fahrstuhl stand Emma ruhig neben der Privatsekretärin und fragte sich, wie deren Tag wohl aussehen musste. Ob sie – wie in Hollywoodfilmen – immer schon vor ihrem Chef im Büro war, seinen Terminkalender auswendig kannte und zur rechten Zeit mit einer Tasse perfekt temperierten Kaffees in seinem Büro stand?

Ihr kleiner, forschender Seitenblick misslang, weil die Fahrstuhltüren auseinanderglitten und sie zusammen in ein weiteres Großraumbüro traten, wo gerade die ersten Angestellten ihre Plätze einnahmen. Hatte das Gespräch denn wirklich eine Stunde gedauert?

Eine Uhr an der Wand zeigte, dass dem nicht so war. Vermutlich waren das also Leute, die ihre Überstunden vor die eigentliche Arbeitszeit legten. Oder welche, die einfach früher nach Hause gingen.

Im Vorbeigehen grüßte Emma freundlich mit einem Lächeln oder Nicken und folgte Mrs. Hopkins vor ein kleineres Büro, wo gerade eine Asiatin ihren Mantel über einen Garderobenhaken hängte. Wow, hier schienen alle bei anderen Läden einzukaufen, als Emma es gewohnt war. Zumindest, was die Damen der höheren Posten anging.
 

„Guten Morgen, Bea“, begrüßte Stella, die Abteilungsleiterin, welche sich daraufhin sofort zu ihnen herumdrehte und freundlich lächelte, als sie Caydens Assistentin erblickte.

„Morgen, Stella. Na, wen hast du mir heute mitgebracht?“

„Das ist Ms. Emma Barnes. Cayden hatte gerade ein Vorstellungsgespräch mit ihr wegen des ehemaligen Postens von Nick Tompson. Wir sind hier, um ihr die Abteilung näher zu zeigen.“

Die braunen Augen der Asiatin wurden groß, ehe sie mit einem breiten Lächeln Ms. Barnes die Hand schüttelte.

„Freut mich Sie kennenzulernen. Wirklich. Ich bin Beatrix Anderson, aber Sie können ruhig Bea zu mir sagen. Tun ohnehin alle hier.“

Stella musste über Beas Offenheit schmunzeln. Aber nach Nick Tompson war das überhaupt kein Wunder. Sie war vermutlich über die Maßen froh, so schnell Ersatz gefunden zu haben, vorausgesetzt Ms. Barnes wollte die Stelle auch wirklich haben.

„Kann ich euch beide alleine lassen? Ich muss noch ein paar Botengänge erledigen und –“

Bea winkte ab, bevor Stella noch weitere Ausführungen vorbringen konnte.

„Kein Problem. Ich weiß schließlich, für wen du arbeitest. Dass du immer noch nicht das Handtuch geschmissen hast, wundert mich wirklich.“

„Ach, so schlimm ist es nun auch wieder nicht“, erwiderte Stella nachdrücklich, wirkte aber selbst nicht recht von ihren Worten überzeugt.

Bea zog lediglich ihre dünn gezupfte Augenbraue in die Höhe, verkniff sich aber jeden weiteren Kommentar.

„Na, dann lass dich nicht länger aufhalten. Sind das seine Notizen?“

„Ja. Viel Spaß beim Durchackern.“ Stella drückte der Asiatin den Papierstapel in die Hand und wandte sich an Ms. Barnes.

„Bea wird Ihnen alles zeigen. Sie haben natürlich Bedenkzeit, wenn Sie das wünschen, aber wir würden uns alle über eine rasche Antwort freuen. Sie haben ja meine Nummer, falls Sie noch einmal eine Nacht drüber schlafen wollen, ansonsten wird Bea alles Weitere erklären. Ich wünsche Ihnen noch alles Gute.“

Die Verabschiedung war kurz und bündig, ehe Stella genauso wie ihr Boss davon rauschte.

„Man wird’s kaum glauben, aber sie ist in Wellington geboren.“

Bea schüttelte den Kopf über die Hektik, die Stella bisweilen ständig umgab. Aber es war unvermeidlich, wenn man direkt mit Cayden zusammenarbeitete, dass etwas von ihm auf einen selbst abfärbte.

Kurz betrachtete sie das Papierbündel in der Hand, ehe sie Ms. Barns ansah.

„Kommen Sie, Emma – ich darf Sie doch so nennen? – wollen wir Ihnen doch mal den Mediendschungel schmackhaft machen.“
 

Es war wirklich etwas gewöhnungsbedürftig, dass hier alle immer davonzurennen schienen. Auch von Mrs. Hopkins hatte Emma sich nur ganz kurz und keinesfalls der Situation angepasst verabschieden können. Etwas unsicher, aber mit einem Lächeln wandte sie sich daher an die Person, die ihr als Nächstes vorgestellt worden war.

„Natürlich können sie mich Emma nennen. Das ist mir sogar sehr recht. Aber darf ich fragen, was Mrs. Hopkins genau gemeint hat? Kann ich einfach Ihnen sagen, ob ich den Job nehme? Will Mr. Calmaro meine Antwort nicht ... selbst?“

Okay, vermutlich war es ihm nicht ganz so wichtig, sie noch einmal zu sprechen. Die Stelle konnte nicht so groß sein, dass sich der Boss des gesamten Unternehmens um jeden Vorgang kümmerte. Andererseits hatte er sie auch selbst interviewt.

Irgendetwas schien hier gerade zu laufen, von dem Emma im besten Falle den Ansatz mitbekam. Aber das ging sie auch nichts an. Wenn sie Bea sagen konnte, ob sie die Stelle wollte, war das für Emma okay.

3. Kapitel

„Ich hab einen Job!“

Quietschend hopste Emma einmal im Kreis und stellte sich dann wieder neben Kathy an den Herd. Dabei wippten ihre Hüften im Takt der Musik, die sie aufgelegt hatten und hin und wieder stieß sie ihre Mitbewohnerin vor Begeisterung mit der Hüfte an.

„Ich weiß. Und noch dazu einen Schreibtisch“, meinte Kathy mit einem Grinsen, das genau zeigte, welche Reaktion sie von Emma erwartete. Die Gleiche, die schon fünf Mal gekommen war, wenn jemand ihren neuen, eigenen Arbeitsplatz erwähnte.

„Ja!“, erklang es, gepaart mit einem Hüpfen, das den Sekt in Emmas Glas fast zum Überschwappen brachte.

„Einen Schreibtisch, einen Mac und einen Eingangs- und Ausgangskorb! Ich bin so wichtig!“

Sie quietschte noch einmal und rannte ins Wohnzimmer hinüber, wo Rob vor dem Fernseher saß und gerade die Sonnenblume vom Gehäuse zupfte.

„Sag mir, wie wichtig ich bin!“

Der Dunkelhaarige sah kurz irritiert auf und räusperte sich dann, bevor er antwortete. „So wichtig, dass du einen Eingangs- und Ausgangskorb hast!“

„Richtig! Oh man, ich sag’s euch, ich brauch noch irgendwas, mit dem ich den Platz ein bisschen aufmotzen kann. Ist alles in Grau. Vielleicht nehm ich ein paar Postkarten mit.“

Noch überlegend schlenderte sie wieder in die Küche, machte einen Abstecher in ihr Zimmer und kam mit einer Karte zurück, auf der ein Comicfrosch zu sehen war, der die Zunge herausstreckte.

„Ob du so wichtig bist, dass du dir das erlauben kannst, weiß ich aber nicht.“ Rob war in die Küche gekommen und stand etwas unschlüssig herum, da nichts mehr zu tun war. Daher schnappte er sich einfach ein frisches Bier aus dem Kühlschrank.

„Warte mit der Karte noch bis nächste Woche.“
 

***

 

Cayden beendete das Telefonat und ging wieder zurück an Brads Krankenbett.

Eigentlich sollte es für Geschäftsmänner erlaubt sein, direkt im Krankenzimmer zu telefonieren, da dieses ganze Hin und Her genauso lästig wie unnötig war. Vor allem wenn man alle fünf Minuten angerufen wurde.

Dieses Mal blieb er jedoch für einige Minuten von weiteren Anrufen verschont, so dass er sich ans Fenster stellen und hinausblicken konnte.

Hinter sich hörte er Brads tiefen Atem und die geschäftigen Schritte vor der Zimmertür im Flur.

Er selbst konnte Krankenhäuser nicht ausstehen und war ganz froh, dass er es bisher nicht nötig hatte, sich in eines zu legen. Aber wenn es um Brad ging, zwang er sich sogar dazu seine Geschäfte vom Korridor aus zu führen.

Warum Cayden das tat, wusste er nicht wirklich. Bradley war nur ein weiterer Mensch in seinem Leben, dem er begegnet war. Den er von Anfang an sympathisch gefunden hatte und bei dem es ihm nur allzu leicht fiel, so etwas wie eine lockere Freundschaft aufrechtzuerhalten.

Bei Gott, er suchte wirklich keine Freunde, aber keiner konnte ihm nachsagen, dass er sich nicht um die wenigen kümmerte, die er dann doch irgendwie hatte, ohne es bewusst zu wollen.

Trotzdem scherte es ihn kaum, dass Brad hier lag und sich beinahe zu Tode gesoffen hatte. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen und würde es auch immer bleiben.

Nicht nur bei Brad, sondern bei allen, denen er begegnete.

Sterben taten sie so oder so. Ob früher oder später. Es war unvermeidlich.

Aber in manchen Fällen, so wie bei dem von Brad, ließ es Cayden nicht vollkommen kalt, stattdessen fühlte es sich für ihn mehr wie eine Verbindung zu verblassenden Erinnerungen aus seiner Vergangenheit an.

Auch er hatte um Ehefrauen getrauert. Mehr als ein Mann jemals in einem Leben haben konnte, und doch bei weitem nicht so intensiv, wie Brad es schon seit zwei Jahren tat.

Letztendlich war alles vergänglich, und wenn man nicht loslassen konnte, landete man am Ende vermutlich genau dort, wo sein Freund nun lag.

Dort wo Cayden selbst niemals liegen würde.

„Ich vermisse sie“, kam es schwach vom Bett herüber.

„Ich weiß“, antwortete er mit angemessener Schwere in der Stimme.

Cayden warf noch einen letzten Blick aus dem Fenster, ehe er zur Tür ging und im Rahmen noch einmal stehenblieb, ohne sich umzudrehen.

„Du wirst dir Urlaub nehmen und du wirst dir darüber Gedanken machen, was du eigentlich willst. Willst du sterben, um bei ihr zu sein? Dann tu es, aber richtig. Willst du leben, um deine restlichen Jahre und Talente zu nützen und ihr Andenken und alles, was sie sich für dich gewünscht hat, zu ehren? Dann mach es. Aber hör auf, den Mittelweg zu nehmen. Den gibt es nicht. Und bevor du nicht trocken bist, brauchst du erst gar keinen Fuß in mein Büro zu setzen. Machs gut, mein Freund.“

Cayden verließ das Krankenhaus, ohne zu wissen, ob er je wieder etwas von Brad hören würde, doch so war es nun einmal. Also schob er das dumpfe Gefühl in seinem Magen zur Seite, setzte sein Headset wieder auf und organisierte einen neuen Bandmanager, der vorerst für Brads Klienten sorgen würde, bis dieser sich endgültig für einen Weg entschieden hatte.
 

***

 

Einen Stöpsel im Ohr, der ihr die Musik der Band Banana Orange näher brachte, an deren Stickern sie gerade arbeitete, schob Emma mit ihrem Stift das Logo über das GT auf dem Bildschirm herum. Sie war fast fertig.

Banana Orange war die letzte Band, deren Schriftzug sie noch so setzen musste, dass er auf die Stickervorlage passen würde und dann konnte sie –

„Hey!“

Zuerst riss sie sich den Stöpsel aus dem Ohr, bevor sie sich mit den Fingerkuppen darüber rubbelte und genervt den Monitor anstarrte. Darauf war kurz eine Art Blitz zu sehen, der sich durch die Benutzeroberfläche schoss und dann wurde alles blau. Blau, wie das Blau, das bei Computern nie ein gutes Zeichen war.

Emma lehnte sich in ihrem Stuhl so zurück, dass die Lehne nachgab und sie an der Trennwand vorbei zu den nächsten Schreibtischen sehen konnte. Allerdings poppte ihr gleich ein weiterer verwirrt dreinblickender Kopf entgegen.

„Ist dein Mac auch tot?“

Emma nickte und ließ die Lehne dann wieder hochschnellen, während sie auf der Tastatur herumklickte, den Mac neu startete und dann ganz aufstand. Die Kollegen schienen alle das gleiche Problem zu haben, denn alle sahen sich entweder verwirrt nach jemandem um, der ihnen sagte, was passiert war oder hämmerten auf ihre Tastaturen ein.

„Scheiße.“

Mit einem Blick auf die Tasche, in der ihr privater Laptop und die Unterlagen für den Unikurs ruhten, schickte Emma ein Stoßgebet zum Himmel. Dabei war ihre Probezeit bis jetzt so gut gelaufen!

Cayden war natürlich wie immer noch in seinem Büro gewesen, als der Notruf aus der Medienabteilung gekommen war.

Computerabsturz. Schon der Zweite in diesem Jahr und das wieder einmal zu einem perfekten Zeitpunkt, in dem sie ohnehin schon bis zum Hals in Aufträgen steckten. Noch dazu dürften die meisten Mitarbeiter schon nach Hause gegangen sein.

Wäre Zeitdruck nicht schon gang und gäbe für ihn, wäre das vermutlich der perfekte Zeitpunkt gewesen, um eine ausgewachsene Krise zu bekommen. Aber wenn man die Geduld hatte, tagelang in einer einzigen Bewegung starr in einem Baum zu sitzen, vom Wetter, schmerzenden Muskeln und Insekten gepeinigt, nur mit einem Messer bewaffnet, um reglos darauf zu warten, seinem eigenen Tod gegenüberzustehen, war das hier dagegen nur noch ein Klacks.

Auf dem Weg in den sechsten Stock rief Cayden noch bei der IT-Abteilung an, damit sie das Problem so rasch wie möglich behoben.

Schnell stellte er fest, dass Bea ausgerechnet heute einen Tag Urlaub hatte und somit die ganze Abteilung oder zumindest der Rest, der davon übriggeblieben war, mehr oder weniger kopflos herumlief. Was bei weitem nicht so schlimm war, wie es sich anhörte, denn auf die Mitarbeiter konnte man zählen. Trotzdem lagen merklich Nervosität und Spannung in der Luft, die fast greifbar wurde, als auch noch der oberste Boss erschien.

Kurz wurde ihm von Beas Assistentin Kim die Notlage erklärt und dass sie die Abgabefrist für das anstehende große Konzert nicht schaffen würden, wenn nicht noch ein paar Mitarbeiter dazu bereit waren, Überstunden zu machen. Wobei sie hier von den verbleibenden noch vorhandenen Mitarbeitern sprach, die noch anwesend waren. Cayden ließ Kim die übrigen Mitarbeiter zusammenrufen, damit er an ihr Engagement appellieren konnte.

„Die Sache sieht folgendermaßen aus …“, begann er ruhig zu erklären, ganz so, als säße ihm nicht der Druck im Nacken. Aber es half nichts, Panik zu schieben und das an seinen Mitarbeiter auszulassen. Vor allem, da es nur noch mehr Stress und Hektik gefördert hätte und gerade das schlechte Arbeit hervorrief, wenn man damit nicht umgehen konnte.

„Anhand der ausgedruckten Unterlagen müssen die nötigen Gestaltungen der Plakate, Flyer, Eventplaner, Sticker usw. noch einmal zusammengestellt werden, da derzeit kein Zugriff auf unsere Server möglich ist und die IT-Abteilung nicht sagen kann, wie lange das noch dauert. Also muss alles, was an extern gespeicherten Daten, Zetteln, Notizen, etc. zu finden ist, zusammengetragen werden. Damit der Druckerei so bald wie möglich etwas Greifbares in die Hand gegeben werden kann. Dazu bräuchte ich so viele Freiwillige wie möglich.“

„Dazu bräuchte ich so viele Freiwillige wie möglich.“

Mr. Calmaro war keine zwanzig Minuten später bei ihnen im Büro aufgetaucht und sah so aus, als hätte er die Sache auch ohne sie alle locker im Griff.

Emmas Blick glitt einmal über sein Gesicht, aber erstaunlicherweise konnte sie keine einzige Falte finden, die auf so etwas wie eine Reaktion auf solchen Stress schließen ließ. Vielleicht hatte der Mann keine Nerven im Leib.

Erst als sich immerhin zwei der noch anwesenden fünf Mitarbeiter meldeten und die anderen beiden – außer Emma – mit einer sehr guten Entschuldigung aufwarteten, schien der Augenwinkel von Calmaro kurz zu zucken.

Sein Blick, der trotz der Dämmerung draußen, immer noch hinter den getönten Gläsern versteckt war, richtete sich auf Emma. Es war nicht so, dass sie zusammenzuckte. Aber es bereitete ihr schon Bauchschmerzen, dass sie zu entscheiden hatte, ob sie den Kurs heute Abend ausfallen lassen sollte, um hierzubleiben. Andererseits konnte für so einen Serverabsturz niemand etwas. Das war höhere Gewalt. Etwas, gegen das man nur im Team ankam.

„Ich müsste nur kurz in der Uni anrufen.“

Was so viel hieß wie: Ich bleibe.

Denn Calmaro nickte nur kurz und stieß sich dann von dem Schreibtisch ab, an dem er gelehnt hatte, um zum nächsten Telefonhörer zu greifen und die IT-Abteilung noch einmal ein bisschen zur Eile anzutreiben. Oder ihnen Feuer unterm Hintern zu machen, was der Tonfall eher vermuten ließ.

 

Natürlich musste so etwas immer dann passieren, wenn Mitarbeiter knapp waren und man die restliche Belegschaft nicht mehr stören konnte.

Cayden hätte natürlich trotzdem stören können, aber seine Mitarbeiter waren nicht dazu verpflichtet, von Zuhause extra herzukommen, wenn er es ihnen auftrug. Was das anging, war die Firmenpolitik unter den einzelnen Abteilungen sehr eindeutig.

Trotzdem wusste er, dass dafür die restlichen drei Mitarbeiter sich vermutlich die halbe Nacht um die Ohren hauen mussten. Von ihm selbst ganz zu schweigen. Aber das wäre nichts Neues.

Er war dankbar, dass sich überhaupt jemand dazu bereit erklärt hatte, und konzentrierte sich daher lieber auf eine effiziente Arbeitseinteilung, anstatt sich wegen der unzuverlässigen Technik zu ärgern.

Als er vorhin noch einmal in der IT-Abteilung angerufen hatte, konnte ihm noch nicht einmal jemand sagen, wo das Problem lag, also würde es vermutlich noch Stunden dauern und die hatten sie nun einmal nicht, um einfach darauf zu warten, dass ein Wunder geschah.

Da Kim ebenfalls gegangen war, teilte Cayden persönlich die Arbeit auf die verbliebenen Mitstreiter auf, nachdem sie alles Erdenkliche, was sie für dieses Banana Orange Konzert zusammenkratzen konnten, auf einem großen Zeichentisch angehäuft und grob sortiert hatten.

Dabei spannte er die Neue ebenso voll ein, wie die langjährigen Mitarbeiter und für die restliche Arbeit zog er sich in Beas Büro zurück, um dort allein arbeiten zu können.

Es war nicht so sehr der Drang nach Ruhe und Konzentration, der ihn dorthin trieb, sondern viel mehr das verminderte Risiko, dass jemand bemerkte, wie schnell er arbeitete.

Caydens Finger konnten, wenn er überhaupt nicht mehr darauf achtete, sondern tief in seiner Arbeit versunken war, so schnell über die Tastatur oder das GT fliegen, dass kein Mensch sie mit bloßem Auge mehr sehen konnte und auch die Hochleistungsrechner kaum mitkamen.

Leider waren die hohen Reflexe und die übernatürlich schnelle Auffassungsgabe gerade bei Computerarbeiten äußerst anstrengend.

Trotzdem, die Arbeit musste getan werden, also biss Cayden sich eine ganze Weile lang durch, bis das Bild langsam vor seinen Augen zu verschwimmen begann und es Zeit für eine Pause wurde.

Irgendwann war Emma zur Toilette gegangen. Allerdings nicht, um dort das Übliche zu tun. Sie brauchte nur ein bisschen Bewegung und vor allem Abstand zu ihrem Schreibtisch.

Da Not am Mann war, hatte man ihr mehr Aufgaben übertragen, als sie bisher hatte durchführen müssen. Und wie es Emmas Art war, hatte sie mit dem, was ihr am Schwierigsten erschien, angefangen. So konnte sie am meisten Konzentration darauf verwenden und wusste, dass zum Ende hin noch etwas Luft blieb, da sie den Rest leicht hinbekommen würde.

Als sie dort allerdings mit gesenktem Kopf, die Hände neben dem Waschbecken abgestützt in der Toilette stand, hätte sie nur noch schreien wollen.

Schon dreimal war ihr der Flyer misslungen, da sie den Befehl im Programm nicht fand, mit dem sie das Logo der Band in die Stadtansicht einfügen konnte, ohne dass es wie der Angriff des Killerobstkorbs auf Wellington aussah.

Man hatte ihr einmal gezeigt, wie sie die beiden Hintergrundebenen an einer bestimmten Achse trennte, um dann einen Teil in den Vordergrund zu ziehen. Aber sie hatte den dummen Button zwar gefunden, aber irgendein Detail vergessen, weshalb es immer die gesamte Skyline aus dem Fenster löschte, sobald sie das Logo einsetzte.

Mit den Fingerspitzen zählte Emma die Schritte einzeln auf dem Waschtisch ab. Irgendwo musste der Fehler liegen, den sie immer wieder machte und der das Ganze dann gehörig versaute. Natürlich hätte sie irgendjemanden fragen können, aber gerade jetzt hätte sich das wirklich schlecht gemacht und außerdem hatten die Anderen schon Stress genug. Emma wollte nicht auch noch den Klotz am Bein des Teams mimen. Schon gar nicht, wenn der Oberboss im Büro nebenan saß.

Da hätte sie ja gleich zu ihm reinspazieren und ihm sagen können, dass sie für den Job im Allgemeinen zwar geeignet war, aber unter Druck gar nichts hinbekam. Worauf ein 'Dann machen Sie’s gut. War nett sie hier gehabt zu haben', folgen musste.

Emma sah hoch und in die Augen ihres Spiegelbilds, das wirklich zum Stein erweichen aus der Wäsche guckte.

„Oh bitte. Nimm dir 'nen Keks und stell dich nicht so an, Emma“, ermahnte sie sich selbst und ging zurück ins Büro.

Leider hatte sie keine Kekse, aber zumindest wieder einen freien Kopf, mit dem sie ihr Problem von einem anderen Winkel her angehen konnte.

Emma löschte ihre bisher erstellten Ebenen im Programm, sodass sie nur noch die Stadtansicht über dem Ankündigungstext sehen konnte, und fing dann noch einmal von vorne an. Als sie an den Punkt kam, an dem beim letzten Mal die Killerfrüchte Wellington zermatscht hatten, legte sie den Stift auf ihr GT, schob ihren Stuhl ein Stück zurück und betrachtete das Ganze. Vorhin hatte sie es so gemacht ...

„Der Button, dann reinziehen und ... hm.“

Ihr Finger, mit dem sie aus der kleinen Entfernung die Maus nachgeahmt hatte, streifte die Menüleiste und Emmas Augenbrauen zogen sich zusammen. Was passierte eigentlich, wenn sie ...?

„HA!“

Erschrocken zog Emma den Kopf ein und sah sich kurz um. Ihre Fingerspitzen lagen auf ihren Lippen und sie wedelte kurz damit, während ihr ein breites Grinsen im Gesicht baumelte und sie sich gerade so beherrschen konnte, eine Runde mit ihrem Bürostuhl vor dem Schreibtisch zu drehen.

Leise kichernd sicherte sie die Datei auf den USB-Stick, überprüfte noch einmal alles, änderte noch winzige Details, bevor sie noch einmal speicherte und den USB-Stick dann abzog, um ihn auf das Vorlagenblatt des Flyers zu legen. Fertig.

„Fertig, fertig, fertig!“

Diesmal jubelte sie in angemessenem Murmeln und schob den nächsten USB-Stick in den Slot, um die Sticker anzufangen. Das war zwar viel Kleinkram, musste aber auch gemacht werden. Und wenn sie damit fertig war, konnte sie jemand anderem helfen. So es denn dann überhaupt noch etwas zu tun gab. Irgendwie hoffte Emma ja doch, dass sie vor Mitternacht nach Hause kam.

Es war schon längst dunkel, als er aus dem Büro trat und direkt auf die kleine Küche zusteuerte, die es in jedem Stockwerk und für jede Abteilung gab.

Der letzte Kaffee war schon längst kalt, also machte er neuen und füllte ihn in vier Tassen, mit dem C&C Firmenlogo darauf.

Bei Kent und Thalia wusste er, wie sie ihren Kaffee mochten, da sie sich schon öfters gemeinsam die Nächte um die Ohren gehauen hatten. Ms. Barnes oder besser Emma, war in dieser Hinsicht ein Geheimnis für ihn. Also nahm er die vier Tassen an den Henkeln in eine und ein paar Päckchen Zucker und Sahne in die andere Hand.

Thalia war die Erste, der er einen Koffeinkick spendierte, während er mit ihr ihre bisherigen Fortschritte durchging, das eine oder andere anmerkte und hinzufügte, da er sich noch sehr genau an Details erinnern konnte, die sie bei den ganzen Notizen und Daten nicht hatten finden können. Zum Glück hatte er sich in den letzten Tagen nicht nur mehrmals mit der Band, sondern auch mit den Medien beschäftigt, dadurch war einiges hängen geblieben.

Auch Kent kam gut voran und ließ Cayden hoffen, dass sie hier noch fertig wurden, bevor sie sich ein Matratzenlager auf dem Teppichboden bauen mussten.

Sie unterhielten sich kurz darüber, ob eigentlich das Angebot noch stand, dass jeder Mitarbeiter von C&C bei der Putzkolonne angefangen bis hin zur Chefetage, Freikarten für jedes Konzert oder für jeden Auftritt auf Anfrage bekommen konnte, bei denen die Firma mitwirkte.

Natürlich stand das Angebot noch. War sogar gern gesehen, denn die Bands, die Caydens Firma vertrat, waren meistens noch nicht sehr populär und umso mehr Karten an den Mann oder die Frau gebracht wurden, umso mehr Werbung war es. Billige Werbung noch dazu. Weshalb man gleich mehrere Karten auf einmal bekommen konnte.

Zum Schluss trat er hinter Emma und blickte über ihre Schulter auf den Bildschirm vor ihr und begutachtete ihre Arbeit.

Bevor sie sich dabei unwohl fühlen konnte, da er es ja selbst hasste, wenn er jemanden so direkt in seinem Rücken stehen hatte, stellte er schließlich ihre Tasse mit dem Kaffee neben der Hand mit dem Stift und dem GT ab und legte die verbliebenen Zuckerpäckchen und den kleinen Sahnebecher dazu. Löffel stand bereits in ihrem Kaffee. Sein eigenes Getränk behielt er in der Hand und nippte kurz daran.

„Ich wusste nicht, wie Sie ihn trinken“, meinte er nur und musterte erneut eingehend ihre Arbeit, ehe er seufzend seinen Kaffee abstellte, die Brille abnahm und mit Daumen und Zeigefinger in seine Nasenwurzel kniff.

Manchmal hasste er die modernen Errungenschaften wirklich, obwohl sie einem das Leben auch sehr angenehm gestalten konnten. Trotzdem war er froh, dass wenigstens die Sonne untergegangen war und er seine Brille schließlich nachlässig in die Brusttasche seines Hemdes stecken konnte, ehe er seinen Kaffee wieder zur Hand nahm. Das war schon besser. Viel besser, da seine Sicht nicht mehr vom Rand seiner Brille eingeengt wurde.

Oh man, sie hoffte nur, dass derjenige, der da gerade Kaffee kochte, genug für alle machte. Vorhin war sie noch an der halbvollen Kanne vorbeigelaufen, da sie normalerweise um diese Zeit keinen Kaffee mehr trank. Aber als jetzt der Geruch aus der kleinen Teeküche herüberwehte, wusste Emma, dass sie nicht würde widerstehen können.

Um den Kaffee dann aber auch heiß trinken zu können, stand sie von ihrem Platz auf, tauchte aber sofort wieder ab, als sie Calmaro mit vier Tassen aus der Küche kommen sah.

Er kochte Kaffee für seine Mitarbeiter?

Emmas Brauen hüpften nach oben und sie spitzte die Lippen zu einem tonlosen Pfiff, bevor sie sich wieder an ihren Mac setzte und die ersten Sticker erstellte.

Nicht schlecht, dass der oberste Boss der Firma nicht nur bei so einem Notfall aushalf, sondern auch noch Kaffee kochte. Das war irgendwie ... ziemlich schwer einzuschätzen.

Genauso, wie seine Geste, wortlos hinter ihr stehenzubleiben und ihr über die Schulter zu sehen, während sie arbeitete.

Wie sie das hasste! Da konnte man doch nur Fehler machen. Wussten Chefs das denn nicht? Eigentlich sollte es verboten –

„Ich wusste nicht, wie Sie ihn trinken.“

Emma sah über ihre Schulter zu ihm hoch.

„Vielen Dank. Das ist nett.“

Zu ihrer Gewohnheit, was Kaffee anging, sagte sie nichts, sondern schüttete sich die restliche Sahne und ein Päckchen Zucker in die Tasse, bevor sie klingelnd umrührte.

Dass Calmaros Seufzen mit der Betrachtung ihres Bildschirms zusammenfiel, war vielleicht nur ein Zufall, aber es machte Emma nervös. Sie nippte an ihrem Kaffee und warf ihrem Chef einen Seitenblick zu.

Ach. Sie waren grün. Ziemlich grün sogar.

Die Augen des Rothaarigen hatten hinter den roten Gläsern seiner Brille immer einen leichten Schlammton, der sich schlecht zuordnen ließ. Und so nah wie jetzt war Emma ihm sowieso noch nicht gekommen und hatte daher noch nicht näher über die wirkliche Farbe seiner Augen nachgedacht. Jetzt fiel ihr aber auf, dass sie ziemlich blutunterlaufen und fertig aussahen mit den kleinen Pupillen.

„Ich wusste nicht, dass Sie selbst auch Gestalter sind“, meinte Emma ehrlich. Stille lag ihr nicht besonders. Vor allem nicht in der Gegenwart von Leuten, bei denen sie nicht wusste, wie sie diese einschätzen sollte.

„Privates Interesse“, war seine kurze Antwort. Denn er war nicht wirklich bereit dazu, zu erklären, dass er sich vor einer Firmengründung jahrelang mit den unterschiedlichsten Fachgebieten diesbezüglich beschäftigte, um alles verstehen und wenn nötig auch kontrollieren zu können.

So wäre er zum Beispiel auch in der Lage, im Tonstudio, der Buchhaltung oder sogar in der Druckerei zu arbeiten.

Auf diese Art konnte ihm keiner so schnell etwas vormachen und er sammelte im Laufe der Jahrhunderte ein umfangreiches Wissen in den verschiedensten Gebieten, ohne – wie so viele seiner Artgenossen – den Anschluss an die moderne Zivilisation zu verlieren. Die sich ständig mit riesigen Schritten weiter entwickelte. Vor allem in den letzten 150 Jahren.

Zudem hatte er durchaus Spaß am Gestalten und dem Colorieren am Computer, trotz der anstrengenden Bildschirmarbeit.

Es war schließlich ein weiteres Medium, um künstlerisch kreativ zu sein und Cayden malte für sein Leben gern. Zumindest in den Jahren der Ruhe und Zurückgezogenheit.

Vielleicht verbrachte er auch deshalb so gerne seine knapp bemessene Zeit in der Grafikabteilung, um so seinen Drang nach einem seiner liebsten Hobbys etwas zu beruhigen. Obwohl es nur selten half.

Das waren allerdings alles Dinge, die nie jemand erfuhr und erst recht keine Mitarbeiterin, die sich noch im Probemonat befand. Obwohl sie es bald hinter sich hatte.

„Und Sie?“, fragte er schließlich höflich, aber ehrlich interessiert.

„Konnten Sie sich schon einigermaßen in der Abteilung einleben?“

Cayden zog sich vom nebenanliegenden Büro einen Stuhl heran, da er seinen Kaffee genauso gut hier trinken und nebenbei auch noch etwas über seine neueste Mitarbeiterin erfahren konnte.

Das machte sie nicht unbedingt zu etwas Besonderem, denn diese Art des Gesprächs führte er mehr oder weniger mit allen Leuten, die er längerfristig behalten wollte.

Es war schließlich immer gut, seine Mitarbeiter zu kennen. So wurden viele Probleme, vor allem die internen, schon im Vorfeld geklärt.

Cayden wusste so ziemlich über alles Bescheid, was er über die einzelnen Abteilungen wissen musste. Selbst wer es mit wem zur Mittagspause in der Behindertentoilette trieb.

Wobei das eher unfreiwillig erlangte Informationen waren. Denn bei seinem feinen Geruchssinn war es fast unmöglich, solche Details nicht mitzubekommen.

Solche pikanten Dinge musste man einfach ignorieren. Immerhin war er selbst in der ganzen Firma als derjenige bekannt, der es am häufigsten in seinem Büro trieb und keiner erwähnte es auch nur mit einem Wort, wenn er in der Nähe war.

Cayden lehnte sich in dem Stuhl gemütlich zurück, rieb sich etwas den verspannten Nacken und nippte an seinem Kaffee, während er herauszufinden versuchte, was genau ihn an Emmas derzeitiger Arbeit störte.

Es konnte nicht viel sein, sonst käme er sofort darauf, denn an sich passte alles bisher Erarbeitete, aber sie war mit den Stickern ja auch noch nicht fertig. Vielleicht verschwand die Irritation, sobald alles komplett war.

Emma hielt sich an ihrer Tasse fest und bemerkte erst jetzt, dass das typische Phänomen der kalten, rechten Hand sich wegen des langen Arbeitens am Computer bei ihr breitgemacht hatte. Umso mehr spürte sie die Wärme des Getränks nicht nur im Magen, sondern auch in ihren Fingern.

Die Gegenwart ihres Chefs machte sie innerlich ein wenig unruhig. Das merkte sie, als er sich einen Stuhl heranzog und sich neben sie setzte. Was bedeuten musste, dass er vorhatte, länger als nur dieses abgehakte Abwiegeln ihrer Frage hier zu bleiben.

Die Nervosität war nicht schlimm, aber spürbar. Emma ärgerte sich hauptsächlich darüber, da Calmaro ja nichts getan oder gesagt hatte, was diese Anspannung gerechtfertigt hätte. Außer, dass er ihr eine Frage gestellt hatte.

Emma wandte ihren Bürostuhl so, dass sie schräg zu ihrem Schreibtisch saß und ihren Boss besser ansehen konnte, während sie sich die Antwort überlegte.

Vermutlich war es kein Test. Denn so, wie Calmaro aussah, wollte er sich nicht auch noch mit einem Mitarbeitergespräch auseinandersetzen. Ein paar Minuten den Kopf frei zu bekommen, ein bisschen an der frischen Luft zu sein, hätten ihm wahrscheinlich besser getan.

„Ja, doch. Es gefällt mir. Die Arbeit ist interessant und macht mir Spaß. Die Kollegen sind nett.“

Okay, wenn sie ehrlich war, gab es natürlich auch hier im Büro jemanden, den ihre Mom als 'Trainingseinheit' bezeichnet hätte – Bryan, der aussah wie ein zu klein geratener Bodybuilder und den emotionalen Quotienten eines störrischen Vierjährigen hatte.

Er schrie und maulte Leute gern am Telefon an und dachte, dass er die Weisheit mit Löffeln gefressen hätte. Aber da Emma nicht oft mit ihm zusammenarbeiten musste, konnten Kopfhörer und gute Musik wahre Wunder wirken.

Als Emma ihren Chef wieder ansah, die angestrengten Augen musterte, hatte sie das Gefühl, dass ihm die Antwort nicht genügte. Er selbst war nicht gerade der Plauderer, aber er konnte einem auch ohne Worte zeigen, dass er mehr von einem wollte, als ein kurzes Ja oder Nein.

„Ehrlich gesagt bin ich sehr froh, dass die Leute hier so freundlich sind, mir ab und zu Sachen zweimal zu erklären. Trotz des ganzen Stresses haben alle immer Zeit und ein offenes Ohr. Die Abteilung ist wirklich toll.“

Das war nicht gelogen. Das Team machte es jedem Neuankömmling einfach, sich hier einzuleben und wohlzufühlen. Allein Emmas persönlicher Drang immer alles richtig zu machen und ihre Fehler allein auszubügeln, standen ihr manchmal ein bisschen im Weg. Aber bis jetzt war sie gut zurechtgekommen.

Cayden nickte zustimmend. Dass diese Abteilung so angenehm war, hatten sie hauptsächlich auch Bea zu verdanken. Die Frau konnte die reinste Glucke und zugleich der fieseste kleine Teufel sein. Man respektierte sie, fühlte sich zugleich aber auch in ihrer Nähe wohl.

Da er mit ihr im Übrigen auch schon über Ms. Barnes gesprochen hatte, wusste er, dass Emma sich bisher gut in das Team eingefügt hatte, sich mit den Leuten verstand und ernsthaft und mit gutem Gewissen ihrer Arbeit nachging. Genau das, was sie in seiner Firma gebrauchen konnten.

„Das freut mich, zu hören.“

Das klang mehr nach einer höflichen Floskel, aber er war immer noch zum Teil auf den Bildschirm konzentriert, während die Stelle zwischen seinen Augenbrauen sich schon daran machte, eine winzige Falte zu bilden.

Was war das nur, was ihn störte?

„Bisher habe ich nur Gutes über Sie gehört. Aber sollten Sie irgendwelche Wünsche, Beschwerden oder Anregungen haben, melden Sie sich einfach bei Bea. Probleme zwischen den Mitarbeitern oder irgendwelche Unzufriedenheiten besprechen wir gerne, so früh als möglich, um entsprechend handeln zu können.“

Der letzte Mitarbeiter, der einen anderen gemobbt hatte, flog unverzüglich. Wer nicht im Team arbeiten, als Team handeln und für das Team einstehen konnte, hatte hier nichts zu suchen.

Gerade wollte Cayden dazu ansetzen, noch einen Schluck von seinem Kaffee zu nehmen, als ihm endlich einschoss, was ihn die ganze Zeit gestört hatte.

„Moment ... darf ich?“

Ohne überhaupt auf eine Antwort abzuwarten, stellte er seine Tasse weg, nahm den Zeichenstift in die Hand und begann in wenigen kurzen Schritten, den Farbwert des Banana Orange-Schriftzugs zu ändern.

Es war nur um zwei Punkte, die kaum einen Unterschied in der Farbe ausmachten, aber so sah es für ihn endlich richtig aus. Immerhin sollten sie auf jedem Plakat, Flyer oder eben Sticker denselben Farbwert für den Schriftzug haben.

Vermutlich war es nur ein Versehen gewesen oder was auch immer. Mit Sicherheit wäre es noch nicht einmal aufgefallen, wenn er nicht so lange draufgestarrt hätte. Aber manchmal konnte sein Hang zur Perfektion einfach ziemlich akribisch sein.

Zufrieden nahm er wieder seine Tasse zur Hand und widmete sich nun vollkommen seinem Gegenüber.

„Im Übrigen muss ich Ihnen danken, dass Sie noch hier geblieben sind trotz ihres Kurses.“

Emma rutschte nur ein Stück in ihrem Stuhl vom Schreibtisch weg und hatte trotzdem nicht das Gefühl, schnell genug aus dem Weg gekommen zu sein.

Oh, Calmaro konnte nur froh sein, dass er der Boss des Ladens war. Denn sonst hätte Emma den selbstverständlichen Übergriff auf ihr GT als Kriegserklärung gewertet.

Sie mochte es nicht, wenn man davon ausging, dass ihre Sachen auch allen Anderen gehörten. Normalerweise hatte Emma überhaupt kein Problem, was das Teilen, Beschenken oder Ähnliches anging. Aber wenn jemand es sich erlaubte, in ihrer Arbeit oder einem Projekt herumzumalen, dann wurde es schnell ernst.

Was in diesem Fall aber Calmaros Glück war, denn Emma konnte verstehen, dass er bei einer Mitarbeiterin, die gerade knapp einen Monat hier arbeitete, einfach davon ausging, dass er mit seiner Erfahrung das Recht hatte, etwas zu ändern. Auch wenn Emma beim besten Willen nicht feststellen konnte, dass es jetzt besser aussah, als zuvor.

Trotzdem war es faszinierend, dass ihr Gegenüber die Farbwerte wohl alle im Kopf hatte und ihm aufgefallen war, dass sie nicht mit Emmas Vorlage übereinstimmten. Davon konnte man sich neidlos ein bisschen beeindrucken lassen.

„Naja, ich hoffe, dass Sie mich auch dafür bezahlen, anstatt mir nur zu danken.“

Am liebsten hätte sie sich an ihrem eigenen Lachen verschluckt, und zwar richtig. Dann hätte sie in diesem Moment, da ihr aufging, was sie sich gerade erlaubt hatte zu sagen, einfach tot umfallen können. So aber nahm sie einfach noch einen großen Schluck aus ihrer Tasse und versuchte ein wenig ihren Scherz zu überspielen, der vollkommen ins Leere gelaufen war. Calmaro hatte noch nicht einmal mit der Wimper gezuckt.

„Nein, ich meine ...“ Sie sah ihn an und lächelte ein bisschen entschuldigend.

„Kein Problem. Hab ich gern gemacht.“

„Ich halte mein Wort. Sollte es dennoch einmal Probleme mit der Abrechnung geben, dürfen Sie sich gerne an die Buchhaltung wenden. Die können Ihnen dort auch genau erklären, wie Ihr Lohnzettel aufgebaut ist.“

Der Schluck, den Cayden dieses Mal von seinem Kaffee nahm, war deutlich größer, als das bisherige Nippen daran.

Er hatte den Scherz zu spät als das erkannt, was er war. Weshalb er seinen Mangel an Humor auch gleich mit einer weiteren Erklärung übertünchte und schließlich auf die Uhr blickte.

Es war Zeit, die Pause zu beenden und Emma wieder arbeiten zu lassen. Also stand er auf und stellte den Sessel wieder ins Büro nebenan zurück, ehe er den leeren Sahnebehälter und die restlichen Zuckerpäckchen nahm.

„Hat mich gefreut, ein wenig mit Ihnen zu plaudern, Emma. Wenn Sie damit fertig sind, können Sie gerne gehen. Danke noch mal für die Hilfe.“

Sein Lächeln war charmant wie immer, aber leer, da es nicht bis zu seinen Augen vordrang.

Mit einem kurzen Abstecher zur Kaffeeküche, wo er alles entsorgte und den Rest seines Kaffees wegschüttete, ging er wieder in Beas Büro, um weiterzuarbeiten. Im Gegensatz zu den anderen hatte er noch viel zu tun. Daher war es unwahrscheinlich, dass er dieses Mal vor zwei ins Bett kam. Aber er war ohnehin ein Nachtmensch. Auch wenn er sich Besseres vorstellen konnte, das er hätte tun können.

Seine Nerven waren schon leicht überreizt und die Anspannung wollte einfach nicht mehr aus seinem Nacken weichen. Vanessa war in der Toskana. Vielleicht sollte er Helen morgen Nacht einmal einen Besuch abstatten.

Sobald Calmaro den Stuhl weggestellt, seinen Kaffeebecher eingesammelt und sich von ihr verabschiedet hatte, um in der Küche zu verschwinden, knallte sich Emma die flache Hand vor die Stirn.

„Scheiße“, zischte sie leise und rubbelte sich mit den Fingerknöcheln über die Schläfe, so dass diese ein bisschen rot wurde, bevor sie sich ihrem Mac zuwandte.

„Mir den Lohnzettel erklären. Alles klar.“

War der Kerl so humorlos oder spielte er nur verdammt gut den harten Brocken?

Wenn man sich als Chef schon dazu herabließ, seinen Mitarbeitern Kaffee nicht nur zu kochen, sondern ihn an den Schreibtisch zu bringen und dann auch noch für einen kurzen Plausch zu bleiben ... konnte man dann einen kleinen Scherz nicht vertragen? Das konnte sich Emma wirklich fast nicht vorstellen.

Allerdings wollte ihr Hirn genauso wenig begreifen, dass jemand keinen Funken Humor im Leib hatte. Vielleicht hatte Calmaro auch irgendeine schreckliche Muskelkrankheit, die es ihm nicht möglich machte, zu lachen?

Mit einem Kopfschütteln verscheuchte Emma die peinliche Szene von eben aus ihrem Kopf und schob sich lieber den Kopfhörer über die Ohren und drehte Banana Orange ziemlich laut, während sie sich wieder ihrer Arbeit widmete.

4. Kapitel

Die Balkontür war nur angelehnt und in der Erwartung auf nächtlichen Besuch nicht verschlossen.

Natürlich hätte Helens Besucher auch einfach durch die Vordertür kommen können, doch Cayden zog es vor, nicht einmal den kleinsten Gerüchten eine Chance zu geben. Außerdem genoss er es, einmal nicht im vollen Lichte der Aufmerksamkeit zu stehen, sondern viel mehr mit den Schatten der Nacht zu verschmelzen.

Daher trug er auch Turnschuhe, grauschwarze Trainingssachen, und er hatte ausnahmsweise die Krawatte weggelassen. Auch seine Sehkrücke musste ihren Abend zuhause verbringen, denn die Nacht war sein Element. Dafür war er geboren.

Nur ein sehr aufmerksames Mitglied seiner eigenen Art hätte ihn in dieser Nacht durch die Straßen huschen sehen können. Doch selbst dann nur als flüchtigen Schatten, der rasch wieder mit allen anderen um ihn herum verschmolz.

Die Tür glitt ebenso lautlos auf, wie er auf dem Balkon im 3. Stock gelandet war.

In Helens Wohnzimmer brannte kein Licht. Es schien, als würde sie bereits schlafen. Doch Cayden wusste es besser.

Es war weniger die Rücksicht auf seine empfindlichen Augen, als viel mehr der Umstand, dass auch Helen kein Licht brauchte, um sich im Dunklen zurechtzufinden.

Wo seine Sehfähigkeit absolute Perfektion erlangte, wäre es für sie nur reine Geldverschwendung gewesen.

Helen war blind und das von Geburt an.

Ein Grund, warum ihr treuer Gefährte Skipper von seinem Platz neben ihrem gemütlichen Ledersessel hochsah und in die Luft schnüffelte.

„Du kommst früh“, stellte Helen mit sanfter Stimme fest.

Sie klappte das Buch für Blinde auf ihrem Schoß zu und legte dem Goldenredriver beruhigend eine Hand auf den massigen Kopf.

Dabei sah sie mit ihren fast weißblauen Augen direkt in seine Richtung, verfehlte jedoch sein Gesicht um gut dreißig Zentimeter, als würde sie ihn kleiner einschätzen, als er in Wirklichkeit war.

Sie konnte es nicht besser wissen.

„Soll ich wieder gehen?“

Es klang nicht überzeugt, sondern so wie es vielleicht gemeint war. Neckend.

Helen lachte leise. „Nein, wenn du dir schon die Zeit nimmst, dann halte dich nicht unnötig zurück. Du wärst nicht hier, wenn du es nicht brauchen würdest.“

Wie Recht sie doch hatte und wie wenig sie dennoch über ihn wusste.

Trotzdem genug, um keine Angst vor ihm zu haben und ihn stets willkommen zu heißen.

Nicht des Geldes wegen, sondern vielleicht wegen ihrer beider Andersartigkeit, die sie beide zu etwas Besonderem machte.

Dennoch zögerte er kurz, schenkte Skipper einen Blick und ging dann zu Helen hinüber.

Der Blindenhund wurde nicht mehr – wie zu anfangs noch – nervös, wenn Cayden in der Nähe war. Trotzdem würde er erst vollkommen ruhig sein, wenn er den Vampir gründlich beschnuppert hatte.

Also hielt Cayden ihm seine Hand hin, bis der Hund sie abzulecken begann und er ihm das Ohr kraulen konnte.

Erst dann kniete er sich neben Helens anderer Seite auf den Boden.

„Komm“, forderte sie ihn auf und legte ihren Arm mit der Handinnenseite nach oben auf die Lehne des Sessels.

Cayden verharrte in reglosem Schweigen.

Er brauchte das Zögern, das Auffordern und Herantasten. Denn sonst würde ihm das hier nichts bedeuten.

Helen wäre nicht mehr als nur eine Zwischenmahlzeit, würde er einfach ihr Blut nehmen und das hätte ihn dann zu einem von Vielen seiner Art gemacht, die die Menschen weder respektierten, noch ernstnahmen. Dabei fühlten, dachten und lebten sie ebenso intensiv, wie Vampire es vermochten.

Schließlich nahm Cayden doch ihren Arm zwischen seine Hände und neigte den Kopf.

Der Duft ihres Blutes stieg ihm in die Nase. Lediglich getrennt von einer dünnen Hautschicht, unter der Helens Leben berauschend pulsierte. Mehr brauchte es nicht, um seine Fangzähne hervorzulocken und seinen Speichelfluss anzuregen.

Schnell und sauber biss er zu.

Helen gab keinen Ton von sich, begann sich jedoch relativ schnell zu entspannen, als die Wirkung seines Speichels in ihrem Blutkreislauf einsetzte.

Sein Körper produzierte eigens nur für die Nahrungsaufnahme einen bestimmten Stoff, der reichlich produziert wurde, sobald eine Blutmahlzeit in Aussicht stand und bei dem es sich um ein leichtes, aber wirkungsvolles Schmerzmittel handelte. So dass die Wunden unmittelbar nach dem Biss keinerlei Schmerzen ans Gehirn weiterleitete, sondern ganz im Gegenteil sogar dafür sorgte, dass der Gebissene sich gut zu fühlen beginnt.

Nicht süchtigmachend gut, aber Endorphine wurden dabei reichlich ausgeschüttet.

Für Cayden war im Gegenzug Helens heißes Blut einfach nur köstlich und belebend.

Sie lebte gesund, weshalb ihr Blut auch mit ihren 45 Jahren immer noch äußerst delikat war, trotz der Giftstoffe, die jeder in bestimmten Mengen im Laufe seines Lebens in sich ansammelte.

Vermengt mit seinem Speichel schmeckte es auch nicht einfach nur nach Eisen.

Viel mehr bekam es einen süßlichen Beigeschmack und zudem konnten seine Geschmacksknospen auch sehr viel mehr herausfiltern, als es einem Menschen möglich gewesen wäre.

Helen schmeckte regelrecht nach Leben.

Sie speicherte viele gute Emotionen in sich, war meist fröhlich und fühlte sich leicht und wohl in ihrer Haut.

Helen führte ein gutes, ausgeglichenes Leben, was für ihn bedeutete, dass ihr Blut sehr viel kraftvoller als das von Vanessa war. Da konnte noch nicht einmal die Jugend der einen, das Leben der anderen wettmachen.

Das war auch ein Grund, warum Vampire sich nicht von totem Blut aus Konserven ernähren konnten. Es schmeckte nicht nur ekelhaft, sondern spendete zu dem auch überhaupt keine Energie. Da wäre man selbst mit Wasser besser bedient.

Cayden trank sich satt, was nicht länger als friedliche zehn Minuten dauerte, da er es nicht eilig hatte.

Nachdem er seine Mahlzeit beendet hatte und gestärkt genug war, zog er seine Fangzähne aus Helens Armbeuge, ohne seine Lippen von ihrer Haut zu lösen, biss sich selbst in die Zungenspitze und verschloss die kleinen Wunden gründlich mit seinem eigenen Blut.

Was das anging, glich der Lebenssaft eines Vampirs für Menschen einem reinen Wundermittel. Fast explosionsartig wurde die Zellerneuerung angeregt, so dass schon nach wenigen Momenten, nur noch gesunde, junge Haut zu sehen war.

Als er schließlich seinen Mund ganz von Helen nahm und sich aufrichtete, war da nur noch eine gerötete Stelle. Schon in ein paar Stunden würde gar nichts mehr zu sehen sein, was ein weiteres Geschenk der vampirischen Evolution darstellte.

„Danke, Helen.“

Cayden strich sich mit dem Daumen über die Lippen, um auch keinen Blutstropfen zu übersehen, aber wie üblich, war nichts danebengegangen.

Sauber zu trinken, war eine Kunst, die man lange üben musste. Aber inzwischen beherrschte er sie im Schlaf.

„Nein“, murmelte Helen schläfrig. „Ich danke dir.“

Sie seufzte wohlig und stand offenbar kurz davor, einzunicken.

Cayden konnte es verstehen, wenn auch nicht vollständig nachempfinden. Sein Speichel sorgte in ihr für Wohlbehagen, während der geringe Blutsverlust ihren Körper erschöpfte.

„Gute Nacht, Cayden.“ Sie kuschelte sich mit geschlossenen Augen tiefer in ihren Sessel.

Cayden nahm ihr das Buch aus der Hand und legte es auf das kleine Tischchen ganz in der Nähe. Dann zog er die bunte Wolldecke von der Couch und breitete sie über Helen aus.

„Gute Nacht, Helen. Skipper.“

Er kraulte dem Blindenhund noch ein letztes Mal über den Kopf, ehe er die beiden wieder alleine ließ.

 
 

***

 

Regen klatschte auf die Straße und Emma konnte kaum die Hand vor den zusammengekniffenen Augen sehen, als sie über die Kreuzung hechtete und gerade noch rechtzeitig über eine riesige Pfütze sprang, um ihre Schuhe nicht vollkommen zu durchnässen. Auf den Kachelsteinen, die teilweise wohl den Bürgersteig verschönern sollten, rutschten die Sohlen der Stiefel so stark, dass Emma Gefahr lief, zu fallen, hätte sie sich nicht ohnehin nah an den Häusern gehalten, um wenigstens so weit trocken zu bleiben, wie es bei diesem Sauwetter überhaupt möglich war.

In ihrer Manteltasche hatte sie ihre klammen Finger um den eingeschweißten Firmenausweis gelegt, der heute mit einem Sticker versehen worden war, der nicht nur hübsch glitzerte, wenn man ihn ins Licht hielt, sondern außerdem dafür sorgen würde, dass sie kostenlos auf das Konzert kam.

Hoffentlich kommt überhaupt jemand.

Der Vorverkauf war ganz gut gelaufen. Aber bei dem Regen konnte es sein, dass die Kurzentschlossenen ausblieben und viele Tickets von der Abendkasse einfach nicht abgeholt wurden.

Emma hatte sich schon zu Hause das schlimmste Horrorszenario ausgemalt: Leere Räume, eine quietschende Rückkopplung von der Band, die verloren auf der Bühne stand und in ein Publikum von ungefähr drei Angestellten der Firma C&C blickte.

Es schauderte sie und Emma wusste nicht, ob es von der Vorstellung oder der Kälte kam. Aber als sie die Bar erreichte, an die ein kleiner Konzertsaal angrenzte, konnte sie bereits von außen erkennen, dass die Veranstaltung nicht schlecht besucht war.

„Hi. Ich gehöre zu C&C.“

Der junge Mann am Eingang sah sich den Ausweis nur kurz an und wünschte ihr dann viel Spaß.

Drinnen überkam Emma dann ein echtes Zittern, das sie sich aus den Armen klopfte, bevor sie ihren Mantel und die Mütze auszog. Beides hängte sie klatschnass, wie es war, an die Garderobe, bevor sie einen Abstecher in die Waschräume machte, um sich die Haare zu ordnen. Anschließend trat sie neben die Bar, die Eingangstür im Rücken und sah sich ein wenig um.

Die Wahrscheinlichkeit, dass sie jemanden traf, den sie zumindest flüchtig kannte, war gar nicht einmal so gering. Wellington war diesbezüglich ein Dorf. Was Emma bei solchen Gelegenheiten geradezu liebte.

 

Es war voll und laut, als die Band zu spielen begann und er sie das allererste Mal bemerkte.

Sie stand in der Nähe der Bar, war sogar ganz dicht an ihm vorbeigegangen, als sie aus den Waschräumen kam und da war ihm ihr Duft in die Nase gestiegen. Ein Duft, der seinen Hunger schürte und zugleich auch Lust auf mehr machte.

Sie war perfekt. Die Gelegenheit bot sich förmlich an.

Ihr Körper klein und weiblich. Ideal, um sie sich rasch packen zu können und offenbar war sie alleine. Er konnte keinen Begleiter ausmachen. Niemand, der länger bei ihr blieb oder sie vermissen würde.

Sein Hunger trieb ihn näher an sie heran. Der Lärm der Musik schmerzte in seinen Ohren, doch er schlich unbeirrt an den Lautsprechern vorbei.

Näher. Immer näher.

Die Menschen um ihn herum beachteten ihn nicht. Wichen zum Teil sogar instinktiv vor ihm zurück, da ihr Verstand es zwar leugnen konnte, ihre Natur sie aber vor solchen wie ihn warnten. Als wüssten sie, dass ein hungriges Raubtier zwischen ihnen wandelt. Auf der Suche nach frischer, junger, üppiger Beute.

Er stand nun dicht hinter ihr. Geschützt von Schatten, die lediglich ab und zu von den herumwirbelnden Lichtern im Raum durchbrochen wurden.

Sie bemerkte ihn nicht.

Ein Schweißtropfen perlte ihm über die Schläfe.

Seine Fänge pochten wie wild hinter seinen geschlossenen Lippen.

Hunger ...

Er streckte die Hand langsam nach ihr aus … und packte blitzschnell zu.

Ein einziger Laut der Überraschung entkam ihren Lippen, wurde aber so rasch von seiner Hand gedämpft, dass niemand der Umstehenden bemerkte, wie er sie übernatürlich schnell immer tiefer in die Schatten zerrte. Zurück zu den Waschräumen der Männer.

Ihre Füße strampelten in der Luft. Sie versuchte ihn zu treten, schlug, kratzte und biss ihn.

Er spürte es nicht. Nur die aufkeimende Vorfreude auf sein gefangenes Mahl.

Mit einem endgültigen Laut schlug die Tür zu den Männertoiletten zu und sperrte den Großteil des Lärms aus, den diese Nichtskönner dort oben auf der Bühne fabrizierten.

Ein kurzer Blick. Niemand war hier. Dennoch stieß er sie mit voller Wucht in eine der Kabinen und schlug die Tür hinten ihnen beiden zu.

Dann packte er sie an der Kleidung und riss sie zu sich herum.

Jetzt gab es kein Entkommen mehr.

 

Die Bierflasche, deren Hals in ihrer Hand langsam warm wurde, war bis jetzt noch Emmas einzige Gesellschaft. Vorhin glaubte sie zwar einen Ex ihrer Freundin erkannt zu haben, war sich aber nicht sicher genug gewesen, um hinüberzugehen und „Hallo“ zu sagen. Und zwei Sekunden später war derjenige auch schon in der Menge verschwunden und Emma hatte sich wieder auf den Auftritt konzentriert. Ihr Ring klackerte auf dem Glas der Flasche, wenn sie leicht im Takt dagegen klopfte, stockte aber im Laufe bereits der ersten paar Songs immer häufiger.

Mr. Calmaro sollte hier sein, um sich das anzuhören. Oder vielleicht war es sogar besser, dass er nicht hier war. So konnte er sich damit begnügen, dass die Band sehr gute Musik auf CDs brachte, auch wenn sie Live-Auftritte noch ein bisschen üben mussten.

Der Sänger hatte bis jetzt noch kein einziges Mal Blickkontakt mit dem Publikum aufgenommen. Das mochte bei anderen Musikrichtungen üblich sein, aber an diesem Abend wäre ein bisschen Geplauder oder eben ein Lächeln für die Gäste sehr nett gewesen. Zumal man sich bei den Wellingtonias normalerweise auf eine positive Antwort verlassen konnte.

Emma leerte ihre Bier und stellte die Flasche auf der Bar ab. Es war wirklich ziemlich voll und sie hatte nur Glück, dass sie nicht – wie normalerweise üblich – genau in der Durchgangsschneise stand, wo immer jemand sie zur Seite schob, um nach vorn oder nach draußen zu kommen. Bloß jetzt, da sie sich wieder auf ihren Platz stellte, kribbelte ihr etwas im Nacken, sodass sie leicht und instinktiv die Schulter hochzog.

Vielleicht war eine Gruppe gekommen und hatte die Tür zu lange aufgerissen. Oder jemand der Angestellten dachte daran, Sauerstoff in die vollgestopften Räume zu lassen?

Emma drehte sich nicht um, sondern sah lächelnd der Band dabei zu, wie sie zumindest zueinander Kontakt hielten, miteinander die Stücke spielten, die teilweise selbstgeschrieben waren und Spaß dabei hatten.

Als ein Arm sie packte, war Emmas erste Reaktion einfach zur Seite auszuweichen. Bestimmt wollte jetzt doch jemand weiter nach vorn.

Doch das war es nicht.

Sie schrie auf, doch eine Hand legte sich fest über ihren Mund und sie wurde von den Füßen nach hinten gerissen und verlor das Gleichgewicht.

Adrenalin explodierte in ihre Adern und ließ die Welt sich verlangsamen, wie bei einem schrecklichen Unfall, bei dem man die Gefahr auf sich zukommen sieht, die eigenen Reflexe aber nicht schnell genug sind, um irgendetwas zu verhindern. Aber wehren konnte sie sich.

Sie biss, kratzte und trat um sich.

Wer immer sie festhielt, hatte unglaubliche Kraft, mit der er sie einfach mit sich schleppte, anstatt sie durch die Menge zu ziehen. Gott, sah sie denn niemand!?

Emma fing an um sich zu treten, nicht um den Angreifer, sondern irgendjemanden zu erwischen, auf sich aufmerksam zu machen, wenn schon das Schreien nicht half.

Im nächsten Moment wurde sie durch eine Tür gestoßen, knallte mit den Schienbeinen gegen etwas Hartes und erkannte nur kurz die Toilettenschüssel, bevor wieder harte Hände nach ihr grapschten und sie herumdrehten. Emmas Absätze verloren auf dem Boden kurz den Halt, Schmerz schoss durch ihren Knöchel und Tränen in ihre Augen.

„HILFE!!!“

Ihr Kopf knallte so schnell gegen die Seitenwand der Klokabine, dass der Schmerz erst Augenblicke später einsetzte, als der Kerl seine Fingernägel aus ihrer Kopfhaut zog und ihr dabei ein paar Haare ausriss.

Alles verschwamm kurz und Emma konnte nicht sagen, ob sie in der düsteren Kabine, im Schummerlicht des Waschraums noch aufrecht stand oder schon in die Knie ging. Aber als er ihr erneut in die Haare griff, machte etwas in ihr 'klick'.

Emma schrie so laut um Hilfe, wie sie nur konnte. Ihre Finger mit den kurzen Nägeln suchten das Gesicht ihres Angreifers, seine Augen, seinen Mund, alles, was sie finden konnte, um ihm wirklich wehzutun. Außerdem trat sie um sich, versuchte dem Kerl das Knie zwischen die Beine zu rammen und irgendwie an ihm vorbeizukommen.

Dass sie etwas erwischt hatte, merkte sie nur an dem Ton, der mehr etwas Animalischem, als einem menschlichen Laut gleichkam. Etwas riss kurz an ihrem Handgelenk, bevor ihr Kopf wieder gegen die Wand gedonnert wurde.

Diesmal spürte Emma ihre Knie einknicken.

 

„Sie sind gut.“

Er musste schreien, um die schwarzhaarige Frau im schwarzen Hosenanzug auch damit erreichen zu können.

„Sie sind nervös“, gab Mary – die Bandmanagerin der Gruppe – zurück, schenkte Cayden aber von der Seite her ein zufriedenes Lächeln und nippte an ihrem Zitronenwasser.

Sie standen direkt vor der Bar, denn egal wo sie hier hingingen, die Musik würde immer bis in seinen Schädel gehen. Das war in einem so kleinen Raum unvermeidlich. Trotzdem war er hier, um zu sehen, ob sich die ganze Mühe mit den Flyern, Plakaten, Stickern und Karten gelohnt hatte.

Und soweit er das an der großen Menschenmasse erkennen konnte, war es schon mal ein voller Erfolg. Da konnte man ein paar nervösen Fehlern rasch verzeihen, zumal die Lieder selbst einwandfrei gesungen und gespielt wurden.

„Das wird nie aufhören.“

Bei dem ganzen Geschrei musste auch er von seinem Wasser trinken, um seine Kehle zu befeuchten. Eigentlich wäre er lieber einfach nur da gestanden, mit Stöpseln in den Ohren und hätte der Band gelauscht. Doch wenn er schon einmal hier war, wollte er sich auch gleich mit der Bandmanagerin unterhalten. Es gab schließlich immer viel zu besprechen.

„Ja, ich weiß.“

Marys Lachen ging in einem langen Gitarrenspiel unter.

„Sie ...“

Cayden hörte ihr nicht mehr zu, sondern versteifte sich für einen Moment, als er glaubte, etwas über den Song der Band hinweg gehört zu haben. Es war nicht das Quietschen der Fans gewesen, sondern mit anderer Tonlage und am Ende hin gedämpft, als hätte eine Hand oder etwas anderes den Laut unterbunden.

„Entschuldige mich bitte kurz.“

Bevor Mary ihn fragen konnte, was los war, war er auch schon von ihrer Seite verschwunden, um sich wieder mehr unter die Leute zu mischen und auf ungewöhnliches Verhalten zu achten.

Normalerweise würde er so einem Laut, den er sich durchaus eingebildet haben könnte, nicht nachgehen. Aber das war der tief vergrabene Jäger in ihm, der den Laut klar analysiert und sofort reagiert hatte.

Trotzdem, er konnte nichts Außergewöhnliches entdecken. Alles war so, wie es sein soll–

Sein Kopf ruckte in die Richtung, aus der er einen gedämpften Schrei hörte.

Wäre er ein Mensch, so wie all die anderen hier, hätte er das Geräusch niemals über die Musik hinweg hören können, aber sein feines Vampirgehör zog ihn regelrecht mit fliegenden Schritten auf die Männertoiletten zu und je näher er kam, umso deutlicher wurde der Laut, bis er erneut abrupt abbrach.

Cayden stieß die Tür nicht auf, sondern glitt viel mehr nur durch einen Spalt hindurch, um die Szenerie, die sich keinen Moment später vor seinen Augen abspielte, nicht zu stören.

Gerade sackte jemand – vermutlich eine Frau – in einer der Kabinen zu Boden, während ein wütender Vampir sich mit einem Ruck über den Mund fuhr und dann die Tür mit seiner blutigen Hand offen hielt, um erneut auf die Frau loszugehen, nur dieses Mal mit mehr als Hunger in den Augen.

Er wollte den Menschen tot sehen.

Cayden dachte keine Sekunde lang darüber nach, einfach wieder umzudrehen und zu gehen, da er sich grundsätzlich aus Vampirangelegenheiten heraushielt. Denn das da draußen war seine Band. Sein Abend und somit vorübergehend auch seine Männertoilette. Wenn der junge Vampir dort Blut sehen wollte, dann würde er es gefälligst wo anders tun müssen.

Außerdem verabscheute er vampirische Gewalt gegen die sehr viel schwächeren Menschen. Das war weder fair noch edel und schon gar nicht einer Frau gegenüber.

Die Tür fiel den letzten Zentimeter hinter ihm ins Schloss, woraufhin der Vampir herumwirbelte und sich auch schon mit dem Rücken an die Wand gepinnt wieder fand.

Caydens Hand grub sich tief in dessen Wangen, während er ihm auf diese Weise den blutigen Kiefer zu hielt und das drohende Zähnefletschen unberührt an ihm abprallte.

„Du kleiner Scheißer, was glaubst du, was du hier tust?“, knurrte er so leise, dass nur ein Vampir es hören konnte, während seine eigenen Fangzähne bedrohlich aber immer noch halb hinter seinen Lippen verborgen hervorblitzten.

Der Vampir hatte Caydens Handgelenk umschlossen und an ihm gezerrt, ohne auch nur eine Antwort zu erwägen. Stattdessen besann er sich schließlich wegen des Mangels an Erfolges eines Besseren und wollte nach ihm treten.

Der dunkle Haarschopf knallte so heftig gegen die Wand, dass Putz bröckelte und die Füße des Vampirs einen Moment lang kraftlos in der Luft baumelten, ehe seine Benommenheit wieder nachließ.

Cayden zog ihn noch weiter die Wand hoch, als er einen Schritt auf den anderen zu trat und über den Rand seiner getönten Brille hinweg, den Kerl mit seinen Augen fixierte. Seine eigenen Pupillen waren vor lauter Adrenalin so winzig wie Stecknadelköpfe, was sein raubtierhaftes Naturell deutlicher denn je hervorbrachte.

„Ich warne dich. Solltest du den Menschen gebissen haben, reiß ich dir persönlich jeden Fangzahn einzeln raus. Dann die Schneidezähne. Die Eckzähne. Deine Backenzähne. Solange bis du froh sein wirst, dass du wenigstens noch an einem blutigen Steak lutschen kannst. Haben wir uns verstanden?“

Der Vampir antwortete nicht, was dank Caydens Hand – die immer noch fest um dessen Unterkiefer lag – schwer sein dürfte. Trotzdem wollte er eine Antwort. Also drückte er zu, bis es vernehmlich knackte und der Kerl zwischen zusammengebissenen Zähnen wimmerte und ihm Tränen in die Augen schossen. Danach ein verzweifeltes Winseln, das wohl so etwas wie ein 'Verstanden' sein sollte.

Cayden kam noch näher, so dass er nur noch die großen angstgeweiteten Augen des anderen sehen konnte, und knurrte leise und bedrohlich: „Sollte ich deine Visage je wieder sehen, wirst du dir wünschen, nie geboren worden zu sein.“

Kurz musterte er die Wunde am Mundwinkel des Vampirs und entschied, dass dieser seine Zähne für dieses Mal noch behalten durfte.

Ohne mit der Wimper zu zucken, stieß er ihn von sich, bis dieser auf den Boden knallte und noch einmal zu ihm aufsah, dann zu der zusammengesunkenen Gestalt hinüber spähte und schließlich aufstand.

„Die wäre sowieso ungesund gewesen.“ Noch einmal berührte der Jüngere mit seinen Fingern den blutigen Mundwinkel, bis er sich auf das angeknackte Kieferngelenk besann und zusammenzuckte.

Ein einziges Knurren reichte und der Vampir nahm seine Beine in die Hand, um so schnell wie möglich von Cayden wegzukommen.

Diese verdammten Zecken wurden auch immer jünger!

Erst nachdem Cayden sich sicher war, dass der Vampir – lebensmüde wegen seines verzehrenden Hungers – nicht doch noch einmal zurückkam, hockte er sich vor die kleine Gestalt in der Toilettenkabine. Zum Einen, um nachzusehen, ob bei der Frau noch alles dran war und zum Anderen, um herauszufinden, was die kryptische Botschaft des Vampirs bedeuten sollte.

Doch das alles war plötzlich vergessen, als er das Gesicht der Frau zu sich herumdrehte und Emma erkannte.

„Emma, was –?“, begann er überrascht. Fing sich aber schnell wieder und achtete jetzt umso mehr darauf, dass seine immer noch voll einsatzfähigen Fangzähne nicht beim Sprechen sichtbar wurden. Solange er noch voller Adrenalin war und der Geruch von Menschenblut ihm in die Nase stieg, würden sie sich auch nicht so schnell zurückziehen.

„Sind Sie in Ordnung?“

Eine dumme Frage, angesichts des Blutes, das ihr über die Schläfe lief, aber ihm wollte momentan einfach nichts Besseres einfallen.

 

Die Panik wand sich wie lebendige Fesseln um Emmas Arme und Beine. Die Welt schien in lauter scharfkantige Ecken und Splitter zu zerfallen, die drohten, alles in Fetzen zu reißen, wenn Emma es wagen sollte, sich zu bewegen. Ihr Herz schien immer langsamer, aber dafür nachdrücklicher zu schlagen. Wie ein Gong in ihrem Brustkorb, der Kälte und nur immer mehr Furcht in ihre Adern pumpte.

Ihre Pupillen sahen geweitet in die Schatten, die immer näherzukommen schienen und die ihr doch lieber waren, als das, was da vor der kleinen Kabine vor sich ging.

Emma konnte die Aura der Raubtiere fast auf der Zunge schmecken. Es roch nach Dominanz und Wut. Vermischt mit etwas, das Emmas Schläfe unangenehm pochen ließ, aber für sie absolut keinen Sinn ergab. Das Einzige, was sie wusste, war, dass sie in der Falle saß.

Deshalb waren ihre Augen groß und rund, die mehr denen eines gehetzten Tieres ähnelten, als denen eines Menschen.

Sie nahm eine Bewegung wahr, einen Schatten, der vor ihr aufragte, sich zu ihr hinunter beugte. Ihre Atmung fing an sich zu überschlagen, wie kurzes Keuchen rang es sich über ihre Lippen und ließ Emmas Kopf leicht werden, während allein die Berührung an ihrem Kinn und die Bewegung ihr Schwindel verursachte. Sie wagte nicht einmal, zu blinzeln.

„Emma ...“

Bei ihrem Namen fuhr sie zusammen.

Ihr Herz riss sich aus der Umklammerung sämtlicher natürlicher Reflexe und polterte los, wie auch der Rest ihres Körpers endlich aus den Fesseln loskam und es noch einmal mit Flucht versuchte. Raus, RAUS!

Halb wimmernd, halb keuchend kam sie auf die Knie – auf die Füße. Sie quetschte sich an die andere Wand, um endlich aus diesem Gefängnis und an dem Mann vorbeizukommen, der –

„AAAH!“

Sie schrie.

Wie eine Wildkatze stemmte sie sich gegen die Brust, an die sie gedrückt wurde, kratzte nach den Armen, die sie hielten, und wäre, ob ihres sich immer noch überschlagenden Atems, beinahe ohnmächtig geworden.

Sie wollte nicht! Sie wollte nicht sterben!

 

Er hätte von Anfang an damit rechnen müssen. Schon als er ihre Augen gesehen hatte, hätte er wissen müssen, dass sie nicht bei klarem Verstand war. Augen wie die einer Maus in der Falle, um die bereits die Katze mit leckendem Maul schlich.

Der Geruch ihrer Panik und des Adrenalins stieg ihm stechend scharf in die Nase, während er ihre kleine Gestalt festhielt, damit sie sich in ihrer Angst nicht selbst verletzte.

Ihre kleinen Fäuste trafen ihn wirkungslos, während auch ihre Fingernägel nicht durch den Stoff seines Hemdes gingen und trotzdem kämpfte sie wie besessen weiter.

In ihrem Überlebensdrang hörte sie nicht, wie er sie mit Worten zu beruhigen versuchte. Ganz im Gegenteil schien sie nur noch wilder zu werden, je weniger sie von ihm freikam, bis sie anfing, auch auf sein Gesicht loszugehen.

Ihm entkam ein zischendes Fauchen, als er einen kurzen brennenden Schmerz ein Stück unter seinem linken Auge auf der Wange spürte.

Seine Hand schnellte automatisch nach vorne und packte ihren Arm, während er sie mit seinem anderen so an seine Brust presste, dass ihr nur noch die Wahl blieb, mit den Füßen zu treten, was anhand des Platzmangels kaum funktionieren würde.

Ohne auf ihr Zappeln zu achten, starrte er ihren ausgestreckten Arm an, den er immer noch von sich weg hielt und an dem er jetzt ein Armband erkennen konnte.

Jeder gewöhnliche Mensch hätte das für eines dieser altertümlichen Souvenirs mit keltischen Runen oder so etwas in der Art gehalten, aber Cayden zwang es dazu, seine Mitarbeiterin in einem völlig neuen Licht zu sehen.

Sie war eine von … Jenen

Er hätte gedacht, es gäbe sie inzwischen gar nicht mehr. Dass sie alle mit dem alten Glauben, der Magie und dem Zauber der Welt zu Beginn der modernen Zeit verschwunden wären.

Was – wie er jetzt feststellen musste – natürlich absoluter Blödsinn war. Nichts verschwand einfach. Offenbar hatten sie einfach nur gelernt, sich gut zu verbergen.

Da Emma sich immer noch in seinen Armen wand und der Geruch ihres Blutes, ihm nur allzu deutlich sagte, dass sie verletzt war, schob er seine Überlegungen vorerst zur Seite und kümmerte sich wieder um den Menschen, der sie war.

Cayden hielt sie zwar immer noch so fest, dass sie sich nicht mehr wehren konnte, aber nicht so fest, dass er ihr wehtat. Dann versuchte er es wieder mit Reden.

„Ist schon gut, Emma. Beruhigen Sie sich. Keiner tut Ihnen etwas.“

Er ließ sich selbst ganz auf dem Boden nieder und zog sie dabei endgültig aus der Kabine, damit sie mehr Luft zum Atmen bekam.

Seine Worte brachen dabei keine Sekunde lang ab. Waren ein Strom aus Beruhigungen und guten Zusprüchen, bis er sogar sich selbst so weit beruhigt hatte, dass seine Fangzähne sich langsam wieder zurückzogen.

„Ja, so ist es gut. Atmen Sie weiter. Alles wird wieder gut.“

 

Worte prasselten auf sie ein wie warmer Regen. Zuerst prallten sie an ihr ab, brauchten eine ganze Weile, bis sie ganz in ihren Kopf sickerten. Und sogar noch sehr viel länger, bis sie dafür sorgten, dass Emma nicht mehr um sich schlug und sich ein kaltes Zittern in ihr ausbreitete. Das Beben steckte direkt unter ihrer Haut, ließ sie frieren, obwohl es gar nicht kalt war, brachte ihr Herz dazu, immer noch eiskaltes Blut durch ihren Körper zu pumpen.

Das änderte sich auch nicht, als ihre Arme schon schlaff an ihren Seiten hingen und sämtliche Kraft aus ihr gewichen schien.

Emmas Zähne schlugen klappernd aufeinander und ihre Tränen schienen im Gegensatz dazu fast ihre Wangen versengen zu wollen.

„Ich will nach Hause.“

Das war nicht ihre Stimme. Zumindest nicht die der erwachsenen Emma. Es war das eingeschüchterte Jammern der kleinen Emma, in die sie der absolute Schock zurückversetzt hatte. Die Welt war für sie düster und feindlich. Und das Einzige, was helfen würde, war 'zu Hause'. Die Umgebung, in der sie Schutz finden würde, offene Arme und das Gefühl von Familie.

„Ich will ...“

Sie wiederholte es immer und immer wieder. Stumm, aber mit sich bewegenden Lippen, bis starke Hände sie an den Schultern nahmen und sie mit sanfter Bestimmtheit ein Stück nach hinten schoben.

Mit roten Wangen, auf denen verlaufene Wimperntusche und Salz klebten, sah sie wortlos in leuchtend grüne Augen.

 

„Ich will nach Hause.“

Ihre Stimme war schwach, klein, schutzbedürftig und rührte etwas in ihm, das er schon lange vergessen hatte. Sofort schob er es entschieden von sich.

Sie war nur ein Mensch.

„Ja, ich bringe Sie nach Hause. Aber erst schaffen wir Sie in ein Krankenhaus“, meinte er bestimmt und kam mit Emma zusammen auf die Beine.

Da sie heftig schwankte und offenbar ein Bein nicht wirklich belasten konnte, hielt er sie immer noch fest, sah sich kurz ihr Gesicht an und ging mit ihr zu den Waschbecken hinüber.

So konnten sie unmöglich da rausgehen.

Dass sein dunkles Hemd voller Blutflecken und zerknittert war, würde bei den Lichtverhältnissen dort draußen nicht auffallen, aber Emmas blutverschmiertes Gesicht schon und das würde sie mit großer Wahrscheinlichkeit aufhalten. Also nahm er ein paar der Papierhandtücher, befeuchtete sie mit warmem Wasser und wischte erst einmal ihr Gesicht vorsichtig sauber.

Dabei konnte er sich gleich die Platzwunde an ihrem Haaransatz ansehen.

Wie üblich bluteten solche Wunden mehr, als dass sie schlimm gewesen wären und auch in diesem Fall war es so. Vielleicht ein paar Stiche, mehr aber nicht. Trotzdem machte er sich Gedanken darüber, ob sie eventuell eine Gehirnerschütterung hatte. Also trocknete er Emma noch einmal die Tränen und schlang dann einen Arm um ihre Taille, um sie zu stützen.

Sie kamen unbemerkt durch die Menschenmenge, doch der Lärm war einfach unerträglich laut. Wenn ihm davon schon die Ohren wehtaten, wollte er nicht wissen, wie sehr Emmas Kopf dann erst dröhnen musste. Darum scheute er auch nicht vor Ellenbogeneinsatz zurück, um schneller zur Garderobe durchzukommen.

Es war nicht schwer, Emmas Sachen von den anderen zu unterscheiden, hing doch jedem Kleidungsstück deutlich der Geruch des Besitzers an.

Als er allerdings ihren klitschnassen Mantel in der Hand hatte, warf er ihr einen flüchtigen Seitenblick zu, ehe er ihr die Mütze vorsichtig auf den Kopf setzte, so dass der Stoff nicht mit der Wunde in Berührung kam und ihr dann seinen eigenen Mantel um die Schultern legte.

Sie ging darin fast unter und es ließ sich dabei nicht vermeiden, dass der Saum fast am Boden schleifte, wobei er bei ihm für gewöhnlich bis zu den Waden ging. Aber zumindest würde sie sein dunkler und vor allem trockener Baumwollmantel mit dem Seidenfutter warmhalten.

Kurz kramte er noch seine Autoschlüssel aus der Tasche, ehe er Emma in Richtung Ausgang mit sich zog.

Sie war inzwischen ungewöhnlich still und teilnahmslos geworden, was sich hoffentlich wieder ändern würde, sobald er sie im Krankenhaus hatte.

Caydens Audi R8 stand ein Stück weit von der Bar entfernt, um nicht direkt in der Schusslinie von Betrunkenenschlägereien zu geraten.

Vorsichtig verfrachtete er Emma in den Lederschalensitz auf der Beifahrerseite und warf ihren nassen Mantel auf die Rückbank, ehe er sich hinters Steuer faltete und den Schlüssel herumdrehte. Der Motor erwachte mit einem fast schon aggressiven Schnurren zum Leben und keinen Moment später war er mit quietschenden Reifen auf der Straße in Richtung Krankenhaus.

5. Kapitel

„Bitte füllen Sie die Formulare aus und warten Sie hier“, echote er die überarbeitete Stimme der Frau an der Rezeption nach, die ihm das schon vor mehr als einer Stunde mitgeteilt hatte.

Das Formular lag mit feinsäuberlicher Handschrift ausgefüllt neben ihm auf dem harten Plastikstuhl und half ihm trotzdem nicht weiter, endlich etwas über Ms. Barnes Zustand zu erfahren. Da er kein Verwandter von ihr war, durfte man ihn getrost wartenlassen.

Eigentlich hätte er einfach gehen sollen, da sie hier schließlich in einem Krankenhaus und somit in gute Hände war, aber er hatte ihr gesagt, er würde sie nach Hause bringen, und selbst wenn er bis morgen früh hier saß, er würde sein Wort halten. Dennoch machte ihn die Aura von Krankheit, Elend und Tod reizbar. Weshalb seine Finger schon seit einer ganzen Weile damit begonnen hatten, mit dem Reißverschluss an Emmas Jacke zu spielen.

Ein nervöser Tick, den er sich eigentlich schon abgewöhnt zu haben geglaubt hatte, aber wenn es hier sonst nichts zu tun gab, war das immer noch besser als Däumchendrehen.

 

Wieder war ihr Sichtfeld etwas eingeschränkt. Diesmal allerdings von dem sterilen, grünen Tuch, das ihr die Ärztin über den Kopf gelegt hatte, um ihre Wunde sauber mit ein paar Stichen zu nähen.

Emma war bloß froh gewesen, dass sie ihr nicht gesagt hatte, wie viele es sein würden. Sie kam sich schon jetzt eher wie ein kleines Kind vor als eine Erwachsene.

Die Schwester, die sie in den Behandlungsraum gebracht hatte, war nicht unbedingt besorgt gewesen. Erst als sie gehört hatte, woher Emma die Verletzungen hatte, war ihr Blick steinern und dunkel geworden und sie hatte die Polizei noch vor der Ärztin verständigt.

Jetzt sah Emma unter dem grünen Tuch hervor noch zwei schwarze Schuhe hinter ihren Fingerspitzen, die nervös aneinander tippten, während sie versuchte, gleichzeitig ihre Kopfschmerzen zu ignorieren und die Fragen zu beantworten, die man ihr stellte.

„Ich fasse nochmal zusammen. Der Mann, der sie überfallen hat, war groß, hager, hatte dunkle, kurze Haare und trug folgende Kleidung. Jeans, Turnschuhe und ein dunkles Shirt. Stimmt das so weit, Miss Barnes?“

Die Hand, die sich sofort an ihren Kiefer legte, hielt sie nicht zum ersten Mal davon ab, der Einfachheit halber zu nicken. Die Ärztin kannte die Prozedur und auch die Reaktion ihrer Patienten wohl schon zur Genüge. Ihre Finger lagen in den dünnen Handschuhen warm auf Emmas Wange und hinterließen einen seltsam angenehmen Eindruck, nachdem sie sich wieder dem Nähen zugewandt hatte.

„Ja, das ist alles, woran ich mich erinnern kann.“

Sie hörte, wie der Polizist mit einem Stift auf Papier herumkratzte, und hoffte schon, dass er gehen würde. Das Reden und Denken war wirklich anstrengend. Und solange er hier war, würde sie nicht gehen dürfen. Selbst wenn ihr Kopf und ihr Knöchel versorgt sein sollten.

„Das ist schon eine ganze Menge. Es ist ziemlich schwierig, sich in so einer Situation auch nur daran zu erinnern, was der Mann anhatte.“

Emma schwieg beharrlich. Sie empfand es nicht unbedingt als Auszeichnung, dass sie sich auch noch gemerkt hatte, wie der Kerl roch. Oder zumindest, was dieser Geruch in ihr ausgelöst hatte. Noch jetzt war ihr kalt und unwohl. Und obwohl sie es dem Schock, den Schmerzen und der Situation an sich hätte zuschreiben können, wurde Emma das Gefühl nicht los, dass es nicht nur das war. Da war mehr gewesen. Die Furcht war so überwältigend gewesen.

„Miss Barnes?“

Emma zwinkerte, als ihr bewusst wurde, dass der Polizist sie noch einmal etwas gefragt hatte.

„Entschuldigung. Ich ... bin ziemlich müde.“

In diesem Moment ließ die Ärztin das Nähbesteck auf ein Metalltablett fallen und brachte Emma erneut dazu, zusammenzuzucken. Allerdings hieß das auch, dass ihr nur noch ein kleines Pflaster über die Wunde geklebt und dann dieses Tuch entfernt werden konnte.

„Ich habe gefragt, ob Sie jemand nach Hause bringt. Sie sollten nicht allein mit dem Taxi fahren, geschweige denn laufen.“

Es hörte sich nicht so an, als sage der Mann das aus Besorgnis. Vielmehr hatte es etwas mit seinem Job und seiner Erfahrung zu tun. Aber es war trotzdem nett, dass er sie ... daran erinnerte.

„Ja, mich bringt jemand nach Hause. Mein Chef hat ... mich hergebracht. Er fährt mich heim.“

Zumindest glaubte Emma sich zu entsinnen, dass Mr. Calmaro das gesagt hatte. Vor einer Ewigkeit, wie es ihr vorkam.

„Gut. Dann verabschiede ich mich. Machen Sie sich keine Sorgen, Miss Barnes. Gehen Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus.“

Er schob keine Floskel und keine Versprechungen hinterher. Nichts in der Art: 'So was passiert nur selten. Eigentlich sind sie sicher.'

Emma war dem Beamten dankbar dafür.

Sie gab ihm die Hand, nachdem sie ihn endlich hatte sehen können. Genauso, wie die Ärztin, die ihr das Tuch wegzog und sich anschließend um ihren Knöchel kümmerte, der nur gestaucht war. Insgesamt keine große Sache. In zwei Wochen würde alles wieder in Ordnung sein.

 

Er saß auf einem hellgrauen Plastikstuhl, der für seine Statur viel zu klein und schmal wirkte, und hielt ihren Mantel in den Händen. Emma zögerte kurz, zu Calmaro hinüberzugehen, der wirklich fast zwei Stunden hier gewartet hatte.

„Sie ... lassen mich gehen“, sagte sie zögerlich, als seine grünen Augen sie schon lange getroffen hatten und er aufgestanden war, um zu ihr herüberzukommen.

Emma sah zu ihrem Chef hoch und schämte sich dafür, dass ihre Gänsehaut bei seinem Anblick wieder zunahm.

Er hatte sie gerettet. Das war doch bestimmt kein Grund dafür, dass die kalte Furcht in ihr noch einmal hochkam.

Emma kämpfte sie hinunter, indem sie sich ihre Umgebung bewusst machte, ihren Mantel in seinen Händen ansah und mit gesenktem Kopf seinem Blick auswich. Sie wollte nicht fragen, ob er sie wirklich nach Hause fahren würde. Eigentlich hatte er ja schon genug getan.

 

Sie sah schon besser aus, als sie da im Krankenhausflur stand mit etwas mehr Farbe im Gesicht und mit Augen, die zwar immer noch wachsam, aber auch klar waren.

Da sie deutlich humpelte, kam er auf sie zu, sobald er sie gesehen hatte, immer noch den Mantel in seiner Hand, der inzwischen zumindest annähernd trocken war. Seinen Eigenen hatte er angelassen, damit nicht jeder die Blutflecken im hellen Licht der Neonröhren anstarren konnte.

„Gut. Dann bringen wir Sie jetzt endlich nach Hause“, meinte er ruhig und hielt ihr den Mantel so entgegen, damit sie hineinschlüpfen konnte.

Emma drehte sich nur zögerlich um und ließ sich dabei helfen. Sie schien etwas sagen zu wollen, brachte es aber nicht über die Lippen und Cayden war nach den Ereignissen heute Nacht nicht darauf erpicht, das Schweigen zwischen ihnen zu brechen.

Es gab Vieles, über das er nachdenken musste, bevor er mit ihr darüber sprach. Wenn sie das überhaupt taten. Am liebsten wollte er ihr nicht allzu stark die genauen Einzelheiten in ihr wachrufen. Denn vielleicht hatte er Glück gehabt und sie hatte dank des Schocks kaum etwas mitbekommen.

Verflucht sei dieser verdammte Vampir, der nicht einmal so etwas wie eine einfache Mahlzeit auf die Reihe brachte, ohne gleich ihre ganze Spezies zu gefährden und dann noch vor jemanden wie Emma!

Cayden überlegte den ganzen Weg vom Fahrstuhl bis zu seinem Auto, wie er herausfinden konnte, wie viel Emma genau gesehen hatte. Aber alle Fragen, alle Andeutungen oder Ausflüchte, hätten es nur noch verdächtiger gemacht. Also schwieg er und passte sich ihrem langsamen Tempo an, da sie mit dem verstauchten Fuß nur schwer vorankam.

Im Auto herrschte das gleiche drückende Schweigen zwischen ihnen. Ein paar Mal spürte er, wie sie kurz davor war, etwas zu sagen, aber am Ende offenbar doch nicht den Mut fand oder was auch immer in ihr vorging.

Es wurde lediglich kurz darüber gesprochen, in welcher Straße sie wohnte. Danach herrschte wieder Stille, bevor er vor einem kleinen Haus anhielt.

Ein kurzer Blick auf die hölzerne Treppe und zu der grünen Haustür, ehe er den Motor ganz abstellte und ausstieg, um Emma die Tür aufzuhalten und ihr dabei zu helfen, aus dem tiefgelegten Auto zu kommen.

Der Kontrast zwischen seinem Fahrzeug und dieser Wohngegend hätte nicht größer sein können, dennoch ließ sich nicht abstreiten, dass das Haus, trotz des absplitternden Lacks etwas Anziehendes, ja beinahe Gemütliches hatte. Kein Wunder, dass sie es ihr Zuhause nannte.

„Lassen Sie mich Ihnen noch die Treppe hochhelfen“, forderte er sie einfach auf, da er nicht gewillt war, mit ihr wegen etwas herum zu diskutieren, das ohnehin nur ein Ende hatte. Nämlich seinen Willen.

Außerdem hätte sie sehr viel länger die Treppe hoch gebraucht, wenn er ihr nicht geholfen hätte und er wäre so lange im Auto geblieben, bis die Haustür hinter ihr zugegangen wäre.

Die Frau war heute schon einmal überfallen worden. Da ging er lieber auf Nummer sicher.

Als sie schließlich auch diese Bürde genommen hatten, schaute er sie noch einmal prüfend an und kam zu dem Urteil, dass sie nach einer Nacht wie heute, das Ganze eigentlich relativ gut überstanden hatte. Nicht jede Frau hätte so gekämpft, wie sie es getan hatte. Was das leichte Ziehen an seiner Wange nur noch bestätigte.

„Bleiben Sie ruhig so lange zuhause, wie Sie benötigen und melden Sie sich ab und zu, damit wir wissen, wie es Ihnen geht“, wies er sie noch höflich an.

Sie nickte, während ihre Hände zuckten oder vielleicht war es auch einfach nur ein Zittern.

„Gute Nacht.“

Er drehte sich auf dem Absatz um und kam gerade mal die erste Holzstufe hinunter, als er ihre Stimme hinter sich hörte.

„Ehm … Vielen Dank.“

Cayden wandte sich noch einmal halb zu ihr um, doch statt etwas darauf zu erwidern, lächelte er warm und dieses Mal erreichte es seine Augen.

Danach stieg er in sein Auto und fuhr los.

Egal wohin. Er musste nachdenken. Denn eines stand schon einmal fest, er konnte Emma Barnes nicht mehr so leicht aus den Augen lassen.

Das, was er war, sein Leben, seine Existenz, das alles stand auf Messersschneide, wenn sie doch mehr gesehen hatte, als gut für einen Menschen war. Erst recht mit ihren Erbanlagen.

 
 

***

 

Der Fernseher flackerte fast stumm vor sich hin.

Emmas Augen brannten und außerdem hatte sie Mühe, dem leisen Gespräch der Schauspieler zu folgen, während Rob auf der Couch schnarchte. Eines seiner Beine ging über die Lehne, das andere auf den Boden, und es sah sehr süß aus, wie er sich in die rosa Decke gekuschelt hatte, nachdem er um drei Uhr morgens eingeschlafen war.

Kathy hatte nicht so lange durchgehalten. Ihr Arm lag schon mehrere Stunden über Emmas Bauch und ihr Atem ging ruhig und gleichmäßig, während ihre Augen manchmal unter ihren Lidern hin und her zuckten.

Die beiden waren zu lieb.

Als Emma nach Hause gekommen war und bei Kathy an der Zimmertür geklopft hatte, war sofort die Hölle in der kleinen Wohnung los gewesen, nachdem ihre Mitbewohnerin auch nur einen Blick in Emmas Gesicht geworfen hatte.

Rob war in Shorts und T-Shirt aus dem Bett gezogen und zum Tee kochen verdonnert worden, während Kathy die Matratzen aus ihrem und Emmas Zimmer vor den Fernseher schleppte und sämtliche Gute-Laune-DVDs zusammensuchte.

Emma war mit dem Stapel immer noch nicht durch. Inzwischen war es fast fünf und bald würde die Sonne aufgehen. Aber sie schaffte es immer noch nicht, zu schlafen.

Ein paar Mal hatte sie es versucht, war weiter die Matratze hinuntergerutscht und hatte sich neben Kathy gekuschelt, aber schon zwei Minuten später, hatte sie ihre Augen wieder erschrocken aufgerissen und den Raum im zuckenden Licht des Fernsehers nach irgendwelchen Eindringlingen durchsucht.

Ihr Herz klopfte immer wieder laut und ängstlich, wenn sich vor dem Fenster etwas bewegte, wenn der Vorhang sich wegen der undichten Fenster ein wenig bauschte oder sie doch halb einnickte und dann wegen eines minimalen Geräusches wieder hochschreckte.

Es war grässlich. Emma fühlte sich schlecht. Allerdings nicht unbedingt deswegen, weil ihr der Kopf immer noch wehtat und ihr Knöchel vor einer Stunde angefangen hatte, unter dem festen Verband zu pochen.

Sie fühlte sich elend, weil sie sich hilflos vorkam. Weil sie sich nicht vorstellen konnte, in der kommenden Nacht allein in ihrem Zimmer zu schlafen – im Dunkeln.

Als sie sich über die Augen wischte, glitzerten Tränen auf ihren Fingerspitzen. Emma hasste es, schwach zu sein.

 
 

***

 

Das heiße Wasser kroch seinen Bauch bis zu seiner Brust hoch und ließ die schwarzen Linien auf seiner Haut unter der Oberfläche tanzen. Ganz so, als hätten sie ein Eigenleben entwickelt und wollten das jetzt auskosten.

Cayden ließ sich nur noch tiefer ins Wasser sinken, bis es ihm fast zum Hals ging.

Gehalten nur von seinen beiden Armen, die am Rand der Badewanne zu beiden Seiten seines Körpers im Freien lagen.

Das Licht war gedämpft und so sehr er auch absolute Dunkelheit bevorzugte, er konnte nicht leugnen, dass ein Dimmer und Kerzenschein seine Reize hatten. Besonders wenn nicht nur sein Körper, sondern auch seine Gedanken vollkommen angespannt waren.

Nach dem er noch lange mit seinem Auto herumgefahren war und er hatte einsehen müssen, dass er so nicht zur Ruhe kam, hatte er beschlossen, sich zuhause in die Badewanne zu legen und dort noch einmal sein Glück zu versuchen.

Im Grunde war das hier genauso wenig sein Zuhause, wie all die anderen Häuser, Appartements, Villen, Ferienhäuser und Blockhütten, die er überall auf dem Erdball verteilt erworben hatte. Doch da Vanessa – seine Frau – hier ihren Wohnsitz hatte, machte es das vermutlich auch zu seinem Heim. Wenn auch nur schriftlich.

Trotzdem genoss er die Annehmlichkeiten, die der Luxus, mit dem nicht nur er sich gerne umgab, bot.

Die freistehende Badewanne war groß genug, damit er seine langen Beine ausstrecken und trotzdem noch die eine oder andere Person mit zu sich einladen konnte. Dazu war er umgeben von weißem Marmor, goldenen Armaturen, duftenden Seifen und Ölen, flauschigen Handtüchern und sogar Stuckverzierungen an der Decke.

Doch heute interessierte ihn das alles nicht. Stattdessen verschloss er die Augen vor der ganzen Pracht und versetzte sich zurück zu jener Stunde, als er einen seiner Art davon abgehalten hatte, Emma die Kehle herauszureißen. Denn das wäre mit großer Wahrscheinlichkeit passiert, wenn er nicht eingegriffen hätte.

Der Vampir hatte nicht nur Blut sehen, sondern sie auch für ihren Widerstand brechen wollen.

Je länger Cayden darüber nachdachte, umso mehr zweifelte er seine Entscheidung – den Vampir laufen zu lassen – an. Er hätte ihn nicht so einfach gehenlassen sollen, denn auch wenn seine Drohung gewirkt hatte, bedeutete das dennoch nicht, dass dieser davor zurückscheute, sich einfach ein anderes Opfer zu suchen. Eines, dem nicht geholfen wurde.

Diese Gedanken brachten ihn in einen Zwiestreit.

Denn auf der einen Seite war Emma nur ein Mensch. Ihre Art war der seinen gegenüber schwach, auch wenn sie zugegebener Maßen dennoch in einigen Dingen überlegen waren. Sie waren nicht nur weit in der Überzahl, sondern setzten beinahe mühelos so viele Nachkommen in die Welt, wie es ihnen gefiel.

Egal wie viele von ihnen jährlich starben. Sie waren nie am Rande des Aussterbens und gerade auch deshalb so gänzlich unwichtig, wenn es um einzelne Individuen von ihnen ging.

Das brachte ihn auf die andere Seite.

Vampire waren von Natur aus starke Geschöpfe. Wahre Überlebenskünstler. Raubtiere in ihrer vollendetsten Form.

Sie waren den Menschen an Kraft, Schnelligkeit, Widerstand, Ausdauer und Lebenszeit bei weitem überlegen. Doch leider nur auf der männlichen Seite der Geschlechter. Womit die Natur eine weise und doch so dumme Vorkehrung getroffen hatte.

Die Männer seiner Art mussten so stark sein, weil es ihnen nur so möglich war, ihre Frauen zu beschützen, für sie zu sorgen und sie am Leben zu halten.

Vampirfrauen waren keine Vamps, wie die Medien, Literatur und Mythen der Menschen gerne einem weißmachen wollten. Sie waren ätherische Schönheiten, daran gab es keinen Zweifel. Doch sie waren ursprünglich nicht dazu in der Lage, alleine zu überleben.

Ihre Männer mussten ihnen das Blut beschaffen, da ein gewöhnlicher Durchschnittsmensch eine Vampirfrau mit bloßen Händen töten könnte, sollte er sich auch nur einmal zu heftig verteidigen. Schwere Berufe waren ihnen unmöglich und Caydens Art verbot es auch, dass ihre Frauen selbst für ihren Unterhalt aufkamen.

Das war zwar nicht gerecht, da es sehr stark an das menschliche Pendant zur früheren Lebensführung erinnerte: Als Männer noch arbeiten gingen, während die Frauen Heim, Herd und Kinder versorgten. Etwas, das man sich in der heutigen Zeit nur noch schwer vorstellen konnte.

Allerdings hatte diese menschliche Lebensführung noch einen Vorteil, den Vampirfrauen nicht hatten. Sie durften das Haus verlassen, wann immer sie wollten, während man ihre Frauen wie in einem goldenen Käfig hielt. Viele von ihnen sahen Menschen nur während einer Mahlzeit. Das war die traurige aber aber oftmals nötige Wahrheit.

Es war daher nicht so einfach, über den Tod eines Vampirs zu entscheiden, vor allem, wenn er noch so jung war, wie Emmas Angreifer.

Jedes Kind ihrer Art war unendlich wertvoll, denn nur allzu viele Frauen und auch Kinder starben während der Geburt.

Seine eigene Mutter war gestorben, um ihm das Leben zu schenken.

Cayden konnte daher nicht einfach losziehen und den Vampir zur Strecke bringen, der Emma so verletzt hatte. Dazu bestand einfach kein schwerwiegender Grund.

Denn Andere seiner Art könnten ihm bereits vorwerfen, dass er dem Vampir eine Mahlzeit verwehrt hatte, obwohl dieser sie bereits dringend benötigt hatte.

Der Mensch war in diesem Fall nichts weiter als ein Gegenstand. Unbedeutend und ohne Rechte. Ein weiterer Grund, warum sich Cayden schon seit sehr langer Zeit aus der vampirischen Politik heraushielt.

Für viele seiner Art mochte das logisch und einleuchtend sein, doch er, der unter Menschen aufgewachsen, von ihnen am Leben erhalten und umsorgt worden war, würde immer mehr für diese fühlenden und denkenden Wesen übrig haben, als andere von seinesgleichen.

Das war auch der einzige Grund, warum er Emma gerettet hatte, als er noch nicht wusste, dass sie die kleine zusammengesunkene Gestalt in der Toilettenkabine gewesen war.

Seitdem er es allerdings wusste, wollten sich auch noch andere Gründe in seinem Kopf einnisten.

Cayden seufzte, als er sich wieder einmal bewusst wurde, wie weit seine Gedanken bereits abgedriftet waren. Dabei war das Warum und Weshalb nicht wichtig. Vielmehr sollte er sich fragen, wie viel Emma gesehen hatte. Ob sie ein paar der seltsamen Umstände auf ihren Schock zurückführen würde oder ob sie sofort die richtigen Schlüsse zog.

Dabei war er vorsichtig gewesen. Hatte aufgepasst, seine Natur nicht zu stark zu zeigen, aber nur Emma alleine mochte wissen, was der Vampir ihr bereits alles offenbart hatte, bevor Cayden den Raum betreten hatte. Vielleicht war es daher schon zu spät.

Es lief also alles am Ende nur noch auf die Frage hinaus, was er tun würde, wenn er erfuhr, dass sie eine Gefahr für seine Spezies darstellen könnte.

Nicht nur wegen der Tatsache, dass in ihren Adern das Blut von Jenen floss, die seiner Art als Einzelner wirklich gefährlich werden konnten, sondern da es in einer Zeit wie der jetzigen es nur eine Frage von Beweismittel war, um jemanden schwer belasten zu können. Denn die Menschen wollten inzwischen an sie glauben.

Sie waren inzwischen keine Gruselgestalten aus einer Mär mehr, die man dazu einsetzte, um Leute zu erschrecken. Nein, inzwischen waren Vampire zu dem gemacht worden, was sie durchaus sein konnten: dunkle, verführerische Kreaturen, deren Biss einer gefährlichen Verlockung gleichkam. Nicht wissend, ob er tötete, oder tief verborgene Sehnsüchte wecken konnte.

Es lag also alles nur bei Emma.

Wie viel sie von ihrem eigenen Potential und über seine Art bereits wusste. Wie sehr sie gewillt war, ein so großes Geheimnis wie das der Vampire ans Licht zu bringen und ob der erste Vorgeschmack auf einen Vampir ausreichte, um alle anderen für sie ebenso zu unkontrollierten Monstern verdammen zu lassen.

Cayden würde sie im Auge behalten. Ob er die Zeit, den Willen und die Mittel dazu hatte, war egal. Er musste es tun. So untreu er bisweilen seiner eigenen Art gegenüber auch war und so langweilig die Aussicht auf Ewigkeit auch sein konnte, er hing dennoch an seinem Leben, da er die Hoffnung noch nicht vollkommen aufgegeben hatte, dass ihn noch irgendetwas überraschen konnte.

Mit diesem Entschluss, den er hier und jetzt fasste, konnte er seine Gedanken zumindest etwas beruhigen. Dennoch rutschte er in der Badewanne so weit hinunter, dass nur noch seine Arme auf dem Rand im Freien lagen und die Welt vor seinen Augen, Ohren und seinem Geruchssinn ausgeschlossen wurde.

Er verweilte lange auf diese Art. So lange, bis man meinen könnte, er wäre bereits ertrunken. Doch das war er nicht und sogar entgegen der geläufigen Meinung über Vampire, musste auch seine Art atmen. Genauso viel und genauso häufig wie ein Mensch. Aber wie auch bei den Menschen, war alles nur eine Frage der Übung und des Trainings.

Als er schließlich wieder auftauchte, war er nicht mehr allein.

Die Nässe wegblinzelnd erkannte er Vanessa am Ende der Badewanne zu seinen Füßen mit nichts weiter bekleidet als einem Morgenmantel aus weißer Seide, der ihr nur bis zur Mitte ihrer zart gebräunten Oberschenkel reichte.

Ihre Blicke trafen sich, nachdem sie sich an seinem, im klaren Wasser deutlich erkennbaren Körper, sattgesehen und offenbar etwas in seinen Augen gelesen hatte.

Mit einem eleganten Handgriff löste sich der Gürtel um ihre Mitte, ehe der seidene Stoff verführerisch über ihren nackten Körper und zu Boden glitt.

Danach stieg sie zu ihm in die Wanne.

Sie glitt mit ihren Händen seinen Körper nach oben, während sie sich so auf ihm arrangierte, dass es für sie beide angenehm war. Danach legte sie ihre Hände auf seine Brust, musterte ihn mit Augen, die ihm momentan mehr als unergründlich waren. So wie es meistens war, wenn sie schwieg und wie er sie bevorzugte.

Es war Vanessa, die ihn schließlich küsste. Zuerst zögerlich, doch dann mit mehr Intensität, als sie merkte, dass er mitmachte.

Niemals mit ganzem Herzen, aber für das Körperliche reichte es. Währenddessen blieben seine Arme immer noch ruhig auf dem Rand der Badewanne liegen.

Es war nicht nötig, sie festzuhalten. Sie würde ohnehin nicht gehen.

Dieses Mal war Cayden seiner Frau sogar dankbar für ihre Annäherung. Denn mit ihrem Erscheinen vertrieb sie vorerst die vielen Gedanken über Emma aus seinem Kopf und ließ ihn stattdessen an etwas anderes denken.

Nachdem sie sich eine Weile lang nur geküsst hatten, entzog sich Vanessa seinen Lippen, ließ ihn nicht aus den Augen, während sie die Spange aus ihrem Haar löste, das ihr in blonden Wellen bis über die Schultern fiel.

Sie legte die Spange zur Seite und strich sich das Haar auf einer Seite ihres Halses nach hinten, danach umschlang sie seinen Nacken. Hielt sich an ihm fest, während sie sich noch näher an ihn heranschob und ihm mit geneigtem Kopf direkt ihren entblößten Hals offenbarte.

Wenn schon ihr nackter Körper so dicht an seinem ihn nicht hatte reizen können. Zumindest nicht sehr, so war es das deutliche Pochen ihrer Ader, unter der seidigen Haut, das sein Zahnfleisch zum Pulsieren und seine Fangzähne schließlich zum Vorschein brachte. Zudem duftete sie heute nur nach Weiblichkeit, ohne den stechenden Geruch eines Parfums und das hatte an ihr durchaus seine Reize.

Vanessa verfiel in Reglosigkeit und würde sich auch eine ganze Weile nicht rühren, sollte er sich dazu entschließen, sie warten zu lassen. Das wusste Cayden. Darum schlang er schließlich doch seine Arme um ihren Körper, leckte sich über die Fänge und biss dann ohne zu zögern zu.

Ein leises Seufzen, ein kurzes Zittern. Das war alles, was seine Frau von sich gab, während er seelenruhig in tiefen Zügen von ihrer Ader trank.

Erst nach einer Weile spürte er ihre Hände über seinen Körper gleiten. Wie sie sich an ihm zu reiben und ihre Erregung zu erwachen begann.

Als ihre Hände schließlich seinen Bauch hinab zu seiner schlafenden Männlichkeit fanden, um sie mit gekonnten Berührungen aufzuwecken, löste er seinen Mund von ihrem Hals und leckte über die nur noch gerötete Stelle, ehe er sich wieder mit dem Rücken an die Wanne sinken ließ.

Es gab viele Tabus in der Vampirwelt, doch nur dieses eine – von ihm selbst erschaffen – bedeutete wirklich etwas.

Cayden würde niemals von einer Frau trinken und gleichzeitig Sex mit ihr haben, die ihm nichts bedeutete. Davor und danach war es okay. Aber diese beiden Akte der Sinnlichkeit und Lust würde er nie miteinander vermischen, wenn es ihm nichts bedeutete. Das war seine Art, um sein vor Langweile geschwächtes Herz vor tiefgreifenden Verletzungen zu schützen, wie sie einem die Liebe durchaus zufügen konnte.

Für ihn war Sex und Blut zusammen etwas Heiliges. Etwas Bedeutendes.

Etwas, das er weder für Vanessa noch für einen anderen Menschen beschmutzen würde, für den er im Grunde nichts als Gleichgültigkeit übrig hatte.

Da sein Körper durchaus willig war, Anspannung mit Sex abzubauen und es für ihn ohnehin schon eine ganze Weile her war, hielt er Vanessa nicht auf. Ganz im Gegenteil.

Auch ohne, dass sie ihn darum bat, fuhr er sich schließlich mit dem Daumen über einen seiner scharfen Fangzähne, bis er Blut schmeckte, und führte ihn seiner Frau an die Lippen, die nur allzu bereitwillig daran zu saugen begann.

Ihre Augen schlossen sich ekstatisch, als der Geschmack seines Blutes – der für jeden Menschen ein bisschen anders war – über ihre Zunge und seine Erektion tief in sie glitt.

Sie ritt ihn, während sie saugte und er ihr wie ein stiller Beobachter dabei zusah.

Auch das war ein Tabu. Aber eines, das er schon so oft gebrochen hatte, dass es ihn nicht mehr kümmerte.

Einem Menschen sein Blut zu geben, war etwas Schändliches, Verachtenswertes und dennoch wurde es inzwischen von so vielen Vampiren praktiziert, dass man sich als Einzelner dabei nicht mehr schlecht fühlen musste. Seine Art war nun einmal so sehr in der Minderzahl, dass menschliche Frauen eine wunderbare Alternative zu ihren eigenen darstellten, um die Ewigkeit nicht alleine verbringen zu müssen.

Wie praktisch war es da, dass man auf diese Art die Menschen so lange am Leben erhalten konnte, bis man ihrer überdrüssig wurde.

Nein, an dieser Sache gab es nichts, was falsch gewesen wäre und trotzdem würde es sich für Cayden wohl immer falsch anfühlen.

Ganz so, als gebe er Vanessa mehr als nur sein Blut.

 
 

***

 

Die nächsten Tage zogen sich immer nach dem gleichen Prinzip hin, das der Erste aufgeworfen hatte. Kathy und Rob standen auf, machten sich fertig für die Arbeit und verließen das Haus. Natürlich nicht, ohne Emma noch einmal zu drücken, ihr zu sagen, wann sie wieder zu Hause sein würden und ihr einen schönen Tag zu wünschen.

Emma konnte in ihren Augen sehen, dass die beiden sich große Sorgen machten. Aber darauf konnte sie nicht reagieren. Selbst nachdem sie in der Morgendämmerung noch eine oder zwei Stunden gedöst hatte, war sie noch nicht ganz sie selbst.

Sie fühlte sich erschlagen, müde und vollkommen durch den Wind. Und das änderte sich auch in den nächsten Tagen nicht.

Emma startete das Ende der Nacht damit, dass sie sich auf die Couch verfrachtete, mit einer Kanne heißem Tee und durch die wenigen Fernsehprogramme zappte. Vormittags sah sie sich meistens Cartoons oder Kinderserien an, weil sie da sicher sein konnte, dass es ein Happy End gab oder zumindest lustig zuging. Das klappte ganz gut und hielt sie bei einer Laune, die es ihr sogar erlaubte, für zwei Stunden wirklich einzuschlafen und danach noch erschlagener als zuvor, wieder aufzuwachen.

Wenn ihr dann irgendwann der Magen so stark knurrte, dass er die Gemütlichkeit des Sofas übertönte, raffte Emma sich auf, ging in die Küche und schob Instant-Porridge in die Mikrowelle.

Fast niemand verstand, was sie an diesem klebrigen Zeug fand, das die meisten Leute an Leim erinnerte. Aber sie hätte sich eine Weile ausschließlich von den verschiedenen Sorten, die es gab, ernähren können. Vielmehr tat sie das sogar, bis Kathy sie dazu zwang, wieder etwas Anständiges zu essen.

 

Ihr Tief dauerte vier Tage.

Vier Tage, in denen Emma immer wieder an das dachte, was passiert war. Das Gesicht des Mannes hatte sich ihr eingeprägt. Genauso, wie das Gefühl, gepackt und mit Gewalt gegen eine Wand gedonnert zu werden.

Mit Gewalt, die sie verletzen sollte.

Etwas, das sie sich zuvor nie hatte auch nur im Ansatz vorstellen können.

Emma war auf dem Sofa gesessen, hatte in ihr Porridge gesehen, darin herumgerührt und sich gefragt, was sie tun sollte. Es gab eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Sie konnte sich davon fertigmachen lassen. Sie würde die Wohnung kaum mehr verlassen und wenn, würde sie Angst haben. Vor jedem Schatten, vor jedem Mann, der sie ansah. Sie würde seltsam werden, in ihrem eigenen Müll leben, weil sie sich irgendwann überhaupt nicht mehr vor die Tür traute. Und dann würde sie einsam und verdreckt sterben. Denn selbst Kathy und Rob würde irgendwann der Geduldsfaden reißen. Spätestens, wenn sie heirateten und Kinder kriegten, denen sie nicht erklären konnten, warum Tante Emma im Müll lebte und sich nicht aus der Tür traute.

Oder sie konnte da rausgehen. So wie bisher.

Emma konnte das, was passiert war als das abtun, was es gewesen war und weiterleben. Immerhin hatte sie verdammtes Glück gehabt. Verdammt großes Glück, für das sie dankbar sein sollte.

Am nächsten Tag ging sie zur Arbeit.

Sie fuhr mit dem Bus, arbeitete ohne die übliche Musikbeschallung durch Kopfhörer und ging pünktlich nach Hause. Nur Kim hatte sie kurz angesprochen und gefragt, ob sie sich wirklich schon vollkommen erholt hatte.

Emma hatte nur lächelnd genickt. Ja, sie war in Ordnung. Es würde noch eine Weile dauern. Immer wieder würde sie über ihren eigenen Schatten springen müssen, aber sie würde wieder sie selbst werden. Nicht dieses Häufchen Elend, das jemand aus ihr gemacht hatte, indem er ihr wehtat. Das wollte sich Emma auf keinen Fall gefallen lassen. Sie würde nicht ständig über ihre Schulter sehen, ob jemand hinter ihr stand und sie verletzen wollte.

 
 

***

 

Ein paar Tage nach ihrer Rückkehr ging Emma in der Mittagspause mit ein paar Kollegen zur Salatbar, die nur ein paar Straßen weiter lag. Vorher war Emma noch nie hier gewesen, da es ihr komisch vorkam, in einer Salatbar, die rein dadurch ihren Standort hielt, dass die Geschäftsleute zum Mittagessen kamen, allein zu sitzen. Umso besser gefiel es ihr jetzt, mit ein paar freundlichen Leuten aus dem Büro hier zu sein. Sie unterhielten sich nett, aber oberflächlich. Es wurde über Musik gesprochen, ein paar Bürogerüchte neu aufgeblasen. Und Calmaros Name fiel.

Das war der Zeitpunkt, an dem Emmas Gabel mit der Kirschtomate darauf in der Luft verharrte und sogar wieder in ihr Schälchen zu dem griechischen Salat zurückwanderte.

Emmas Aufmerksamkeit richtete sich ganz von selbst auf Liz, deren Freund wohl ganz Feuer und Flamme für Calmaros Wagen war. Das Modell gäbe es auch mit roten Felgen und anderen Accessoires, die Emma sich nicht einmal bemühte, länger zu behalten, als die Sekunde, in der sie ausgesprochen wurden. Viel mehr interessierte sie da schon, was Liz weiter zu erzählen hatte.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass er noch einen Wagen hat. Vermutlich auch ein Boot. Hat er nicht irgendjemanden mal zum Fischen mitgenommen? Ein paar Leute aus der Chefetage? Zu einer Art Feier oder sowas?“

So schnell wurde aus einem kleinen Boot, mit dem ihr Chef ab und zu zum Fischen rausfuhr, eine kleine und dann eine große Jacht, auf der er regelmäßig Cocktail-Partys veranstaltete.

Emma fand das faszinierend, konnte sich aber dem Sog der Gerüchteküche beim besten Willen nicht entziehen. Das schien eine allgemeine, menschliche Schwäche zu sein. Und im Bezug auf Calmaro spitzte Emma, seit ihrer letzten Begegnung mit ihm, besonders die Ohren.

Vorher hatte sie nie wirklich über ihren Chef nachgedacht. Er war eben der Boss, den sie nicht oft zu Gesicht bekam. Von seinem großen Büro aus leitete er die Firma und war auch sonst ... weiter oben in der Hackordnung. Trotzdem fand Emma ihn ganz nett. Er war höflich und zuvorkommend. Einer von der seltenen Sorte, die einer Frau vielleicht sogar noch die Tür aufhielten. Ob er –

„Na, jedenfalls bin ich gespannt, wie das alles laufen wird. Sind alle fertig?“

Die Kollegen packten schon zusammen und Emma war überrascht, feststellen zu müssen, dass sie in ihre Gedanken versunken ihren Salat gegessen hatte, ohne auch nur etwas davon wirklich zu schmecken.

Ein wenig verdutzt schüttelte sie innerlich über sich selbst den Kopf, packte sich ihre Cola light ein und ging mit den Anderen zurück ins Büro, um ihre Aufgaben für heute zu erledigen.

 

Es fiel ihr immer noch schwer, einzuschlafen. Die ersten Nächte hatte sie tatsächlich ihre Nachttischlampe brennen lassen und ungefähr alle zwei bis drei Minuten die Augen wieder aufgerissen, um sich zu versichern, dass die einzigen Geräusche im Zimmer allein von ihr ausgingen.

Die Lampe konnte sie inzwischen wieder ausschalten. Was aber leider nicht hieß, dass Emma hätte entspannt einschlafen können.

Sie las so lange, bis sie wirklich schon fast über dem Buch einschlief – was normalerweise niemals passierte – legte sich dann hin und las noch etwas länger. Erst wenn sie das Gefühl hatte, das Buch könne ihr jeden Moment auf die Brust sinken, schaltete sie das Licht aus, zog sich die Decke bis unter die Nase hinauf und schloss die Augen.

Es würde immer besser werden, sagte sie sich jeden Abend.

Immer weniger Zeit würde vergehen, in der sie immer wieder die Zahlen auf dem Wecker ansah, bloß um festzustellen, dass sie immer noch nicht schlief. Und die Albträume würden vergehen. Ganz bestimmt. Sie musste nur geduldig sein.

6. Kapitel

Einige Tage, nachdem Emma wieder zu arbeiten begonnen hatte, bekam Cayden endlich die Gelegenheit, um sie in seine Nähe zu holen.

Denn es hatte nicht gereicht, dass er immer wieder in die Werbeabteilung gegangen war, um diverse Dinge zu erledigen und sie dabei heimlich zu beobachten. Dazu war sein Terminkalender zu eng gestrickt und es würde Aufsehen erregen, wenn er zu oft dort erschien.

Doch nachdem Stella ihm endlich – nach mehreren Anläufen – gebeichtet hatte, dass sie schwanger war, bot sich ihm die perfekte Chance, dafür zu sorgen, dass er sowohl seine Assistentin entlasten wie auch Emma direkt vor seine Nase setzen konnte.

Zwei Fliegen mit einer Klappe, denn er mochte vielleicht ein ehrgeiziger Boss sein, aber ein Mann, der schwangere Frauen zu Tode schindete, war er nicht, und wenn sich alles so einfügte, wie er hoffte, dann würde er sogar eine neue Assistentin haben, wenn Stella in den Mutterschaftsurlaub ging.

Nun musste er Emma das Angebot nur noch schmackhaft machen, oder zur Not mit Kündigung drohen, obwohl er das wirklich ganz und gar vermeiden wollte.

„Ich gratuliere Ihnen noch einmal ganz herzlich und lassen Sie mich wissen, wenn Sie etwas brauchen.“

Stella strahlte ihn förmlich über den Schreibtisch hinweg an, so als hätte sie eigentlich schon befürchtet, er würde sie wegen der Schwangerschaft zur Schnecke machen. Da er aber schon seit Wochen davon wusste, war er nicht nur darauf vorbereitet, sondern auch erleichtert gewesen, als sie es ihm endlich mitgeteilt hatte. Also konnte es von seiner Seite her nur Entwarnung geben.

„Vielen Dank, Mr. Calmaro. Ich werde Ihnen Emma sofort raufschicken.“

Damit war sie schon freudestrahlend aus seinem Büro verschwunden und alles, was ihm jetzt noch blieb, war zu warten. Zu warten und zu hoffen. Etwas, das er schon eine ganze Weile nicht mehr getan hatte.
 

Emma hielt sich ihren grünen Schal vor den Mund, als sie schon wieder gähnen musste.

An ihrem Platz roch es nach Tee mit Honig, den sie sich extra in einer Thermoskanne von zu Hause mitgebracht hatte. Die halb durchwachten Nächte nagten noch mehr an ihr, seit sie wieder arbeitete und ständig war ihr kalt. Dagegen allerdings half der Tee, den sie sich aus der gelben Thermoskanne mit den bunten Blumen darauf in ihre Tasse goss und sehr heiß trank, während sie auf ihren Monitor starrte.

Das neue Logo, das sie für eine Band entwerfen sollte, die auf Tour durch die Staaten ging, wollte Emma bis jetzt noch nicht gefallen. Es passte einfach nicht mit der Musik zusammen, die leise aus den Ohrstöpseln wummerte, die hinter der Tastatur auf Emmas Tisch lagen.

Es sollte aber stimmig sein. Das machte gute Werbung aus und machte die richtigen Leute auf die Band aufmerksam.

Es musste typisch sein, aber nicht abgedroschen. Und genau das war gerade ihr Problem. Das Logo wirkte so, als hätte es mit jeder anderen Band dieser Art einfach ausgetauscht werden können. Absolut nicht professionell.

Was Emma zugegeben ziemlich ärgerte. Weshalb ihr Blick auch eher stechend auf das Telefon fiel, als es klingelte.

Viele konnten das nicht sein, denn innerhalb des Büros rief man sich nicht besonders häufig an, da man den kurzen Weg auch einfach zu Fuß überbrücken konnte. Also musste es entweder eine andere Abteilung sein oder jemand hatte sich verwählt.

„Werbeprintabteilung – Barnes. Hallo?“

Noch einmal nippte Emma an ihrem Tee, der ihr angenehm heiß die Kehle hinunter lief, bevor ihr wirklich bewusst wurde, wen sie da am Apparat hatte. Und eigentlich wusste sie es nur, weil Stella ihren Titel 'Mr. Calmaros Privatsekretärin' hinzugefügt hatte.

Sofort setzte Emma sich überflüssigerweise gerade hin, stellte ihre Tasse ab und nickte, während sie Stella am anderen Ende der Leitung zuhörte.

„Ja, in Ordnung. In ...“

Sie sah sich noch einmal die Datei auf ihrem Monitor an.

„Wenn es recht ist, komme ich sofort.“

Dann konnte sie nachher mit ihrer Arbeit in Ruhe weitermachen.

„Okay. Ja, ich bin unterwegs.“

Bevor sie allerdings 'unterwegs' war, gab sie noch Bescheid, dass Mr. Calmaro sie zu einer Besprechung gebeten hatte, und ging dann kurz bei den Toiletten vorbei, um ihr Aussehen im Spiegel zu kontrollieren.

Ihre Jeans war dunkel und für Emmas Verhältnisse recht enganliegend. Ein breiter, schwarzer Gürtel sah unter dem cremefarbenen Strickpulli hervor und auch den grünen Schal mit den eingewebten Silberfäden behielt sie an.
 

„Was er wohl will?“

Emma fuhr sich mit den Fingerkuppen unter den Augen entlang, was teilweise daran lag, dass sie sich immer noch müde fühlte, andererseits aber ein Zeichen für die steigende Nervosität war, die in ihr aufkam, seit sie den Fahrstuhl betreten hatte.

Denn mal ehrlich: Was konnte Calmaro wollen?

Emma fielen dazu nur zwei Möglichkeiten ein und keine davon gefiel ihr. Denn entweder wollte ihr Boss sie sehen, um sie zu feuern. Andrea war immerhin seit zwei Wochen wieder da und man merkte, dass sich die Arbeit sehr viel besser verteilte. Sogar so viel, dass Emma das Gefühl bekam, mit einem Mitarbeiter weniger wäre es auch gut getan gewesen. Zumindest, solange nicht wieder ein großer Auftrag anstand. Und wenn die Gerüchte stimmten, sollte noch jemand im nächsten Monat aus einer Beurlaubung zurückkehren. Vermutlich würde es also das sein. Er wollte ihr kündigen.

Emma seufzte leise und wusste nicht, was sie von dem Anflug an Erleichterung halten sollte, der ihr kurz durch den Körper schwappte. War die Variante, wieder arbeitslos zu sein, denn wirklich angenehmer, als sich eventuellen Nachfragen zu diesem Abend zu stellen?

Die Polizei hatte noch keine Spur von dem Kerl. Mehr könnte sie Calmaro ohnehin nicht sagen. Wieder etwas, das für die Kündigung sprach. Denn warum hätte er sie auch nur nach den Ermittlungen fragen sollen?

Ihre Ankunft in der Chefetage hielt sie von weiteren Grübeleien ab. Immerhin würde sie sowieso gleich erfahren, was los war.

„Hallo Stella.“

Emma sah sich gleich nach einem Stuhl um, auf dem sie warten konnte. Denn sie ging nicht davon aus, dass der Firmenchef gleich Zeit haben würde. Selbst wenn er sie um das Gespräch gebeten hatte.
 

„Hallo, Emma.“

Stella strahlte die dunkelhaarige Frau über den Schreibtisch hinweg an und konnte einfach nicht das Leuchten hinter ihren Augen abschalten. Sie war so verdammt erleichtert, dass ihr Boss sich nicht wegen ihrer Schwangerschaft aufgeregt hatte. Obwohl er sich im Grunde selten aufregte, aber es waren meistens die subtilen Dinge an ihm, die einem mehr Angst einjagen konnten, als wenn er herumgebrüllt hätte.

Trotzdem, er hatte ihr noch nicht einmal eingebläut, dass sie sofort Ersatz für die Zeit suchen sollte, in der sie in Mutterschaftsurlaub war und das wunderte sie dann doch ein bisschen.

Doch vorerst schob Stella ihre Überlegungen beiseite und lächelte Emma an, die schon die Stühle im Wartebereich ins Auge fasste.

„Nein, nein. Sie können gleich zu ihm reingehen. Mr. Calmaro wartet bereits auf Sie.“
 

Cayden blickte aus dem riesigen Fenster in das trübe Wetter hinaus. Es war nicht gerade ein Wetter, das die Stimmung hob, aber er mochte es ganz gern, da dann die ausgeblichenen Farben am Rande seiner Brillengläser nicht so sehr weiß blendeten und strahlten. Auf jeden Fall eine kleine Wohltat für seine Augen, während er noch einmal alles in seinem Kopf durchging, was er mit Emma besprechen und vor allem wie er es ihr sagen wollte.

Als sie allerdings schließlich den Raum betrat und er sich mit dem Stuhl zu ihr herumdrehte, waren die Worte in seinem Kopf wie ausradiert. Er konnte sie einfach nur ansehen.

Sofort sprangen ihm ihre blasse Hautfarbe, die Ringe unter ihren Augen, die leicht hochgezogenen Schultern und der Schal um ihren Hals ins Auge. Zudem kam auch noch der Geruch nach Honig und Tee, der sich mit ihrem vermischte.

Sie duftete angenehm, aber durch den Teegeruch doch ungewöhnlich. Als wäre sie krank und ihr Erscheinungsbild schien diesen Eindruck noch zu untermalen.

Trotzdem bot er ihr zuerst stillschweigend den Stuhl vor seinem Schreibtisch an und wartete, bis sie sich gesetzt hatte. Erst dann zog er sich näher an den Schreibtisch heran und legte seine Hände um die Tasse Kaffee, die direkt vor ihm stand.

Es lagen keine offenen Akten herum. Keine Tabellen und Texte, die er noch durcharbeiten wollte. Keine Verträge, die noch durchgesehen und unterschrieben werden musste und auch keine Muster aus der Grafikabteilung, die er mit seinen Notizen versehen würde.

Cayden hatte sich für Emma Zeit genommen und das hieß, dass er sich auch nur für sie Zeit nehmen würde. Alle anderen Arbeiten standen hinten an.

„Wie fühlen Sie sich?“, wollte er schließlich nach einer weiteren Musterung ihres ausgezehrten Gesichts und einem Blick zu ihrer Wunde wissen, die von ihren Stirnfransen versteckt wurde. Er konnte nichts erkennen, aber vermutlich waren schon längst die Fäden gezogen worden und bereits alles auf dem besten Weg zur Heilung. Was den Kratzer auf seiner Wange anging, hatte man schon nach drei Tagen nichts mehr gesehen.

Diese lange Zeit der Heilung war ungewöhnlich gewesen, aber nicht in Anbetracht dessen, wie er verletzt worden war.
 

Bei dieser Frage bekam Emma das große Bedürfnis, sich mit den Fingern einmal durch den orange gescheckten Pony zu fahren. Allerdings biss sie nur kurz die Zähne aufeinander und verscheuchte den Drang dadurch, bevor sie Calmaro leicht forschend ansah und ihm antwortete.

„Ganz gut. Danke.“

Das stimmte. Wenn man es im Verhältnis dazu sah, wie sie sich nachts fühlte. Oder noch vor zwei Wochen gefühlt hatte. Dagegen war sie jetzt das blühende Leben. Und auch ein bisschen stolz darauf.

Jetzt blieb nur die Frage, was er von ihr erwartete. Sollte sie ihn auch fragen, wie es ihm ging? Hatte er sie nur zu einer kleinen Unterhaltung hergebeten?

Emmas Blick schweifte zu seiner Wange.

Zuerst wusste sie selbst nicht, warum. Dort war absolut nichts zu sehen. Nichts zumindest, was ihren Blick hätte anziehen können.

Ihre Augen verengten sich fast unmerklich und so etwas wie ein fernes Raunen erklang in ihrem Hinterkopf.

Doch, sie hatte einen Grund, dort hinzusehen. Bloß ...

Als er den Kopf nur um ein paar Millimeter wandte, kam Emma das Gestell seiner Brille ins Blickfeld und sofort verstummte das dumpfe Geräusch, das sie auf irgendetwas hatte aufmerksam machen wollen. Emma glaubte sogar zu spüren, dass es wichtig war, aber wenn es ihr nicht einfiel, konnte es SO wichtig auch wieder nicht sein.

„Hören Sie ... Ich möchte mich noch einmal bedanken. An dem Abend war ich etwas zu mitgenommen, aber ich hätte es trotzdem gleich tun sollen. Wirklich, vielen Dank. Für … alles.“

Dafür, dass er sie aus der Kabine gezogen und ins Krankenhaus gebracht hatte. Und dafür, dass sie nicht mit einem Taxi hatte nach Hause fahren müssen. Auch für alles Andere, an das sich Emma nur noch bruchstückhaft erinnern konnte.

Manchmal war der menschliche Geist doch etwas Wunderbares. Auch wenn es Emma seltsam vorkam, dass sie sich so vieler Dinge nicht mehr entsinnen konnte und sie doch Nacht für Nacht wieder in ihren Träumen durchspielte. Irgendetwas ... stimmte da mit ihr nicht.
 

„Das freut mich, zu hören. Sowohl, dass es Ihnen gut geht, wie auch Ihren Dank. Auch wenn das eine Mal völlig ausgereicht hätte.“

Cayden lächelte, auch wenn es nicht besonders ernst gemeint war. Denn während er lächelte, fragte er sich viel mehr, wie mitgenommen sie gewesen war. Wie viel sie wusste. Ob sie es schon jemandem erzählt hatte.

Dass die Polizei sie befragt hatte, wusste er inzwischen aus zuverlässiger Quelle, weshalb es ihn irritierte, dass er nicht schon im Krankenhaus Fragen hatte beantworten müssen und auch nicht danach.

Alles sah seiner Meinung nach ganz so aus, als hätte Emma der Polizei nicht erzählt, dass er den Täter verjagt hatte. Aber warum?

„Aber bestimmt haben Sie sich schon gefragt, weshalb ich mit Ihnen sprechen wollte.“

Er würde es schon noch herausbekommen. Geduld – das war der Schlüssel zum Erfolg.

„Sie haben bestimmt schon mitbekommen, dass in ihrer Abteilung momentan wenig Bedarf an Mitarbeitern herrscht und mit Mrs. Collins Rückkehr wir sogar schon überbesetzt sind. Da ich Sie aber wegen eines vorübergehenden Arbeitsmangels nicht einfach vor die Tür setzen möchte und meine Assistentin mir vor kurzem ihre Schwangerschaft verkündet hat, möchte ich Sie fragen, ob Sie Interesse hätten, ihr unter die Arme zu greifen. Ich kann natürlich verstehen, dass dieses Angebot Sie nicht besonders reizen wird, da es nicht ihren Zielen entspricht, doch Sie hätten Abwechslung, mehr Freizeit und das bei verhältnismäßig gleichbleibendem Gehalt, da der Assistentinnenposten in eine höhere Gehaltsstufe fällt. Zudem bliebe dadurch genug Zeit, um Ersatz für Stella zu finden, ohne ihr auch noch diese Aufgabe aufzubürden.“

Langsam setzte Cayden nach seiner kleinen Rede den Kaffee an seine Lippen und nippte daran, während er Emma über den Rand der Tasse hinweg gründlich beobachtete, um ihre Reaktion zu beurteilen.
 

Sie sah ihn in etwa so an, als hätte er ihr gerade eröffnet, er wäre der Weihnachtsmann. Ihr linker Mundwinkel hatte sich ein bisschen gekräuselt und ihre Augen hatten sich skeptisch verengt, während sie den Kopf etwas senkte, in der Erwartung dessen, was er wirklich hatte sagen wollen.

Das konnte doch nur ein Scherz sein.

Emma war schon dabei, ihren Mund zu öffnen, als ihr dieser Abend vor dem Konzert einfiel. An dem ihr der kleine Witz entkommen war, ohne dass sie groß darüber nachgedacht hatte.

„Sie meinen das ernst.“

Trotzdem hörte es sich mehr wie eine Frage an. Selbst nachdem Emma klar geworden war, dass Calmaro keine Scherze machte. Das konnte er gar nicht – war der arme Mann doch ohne einen Sinn für Humor geboren worden. Aber trotzdem wollte ihr Hirn Emma warnen. Das konnte nicht wahr sein! Das ergab überhaupt keinen Sinn!

Wenn sie ihn jetzt fragte, ob er sicher war, würde er sie vermutlich gleich hochkant rausschmeißen. Aber das war doch wirklich ... albern.

Emma hatte keine Ahnung, was man als Sekretärin tat. Sie kochte nicht einmal besonders guten Kaffee. Und sie vermutete, selbst wenn es anders gewesen wäre, hätte ihr das nicht sonderlich viel weiter geholfen. Weder konnte sie Geschäftsbriefe aufsetzen, noch beherrschte sie Kurzschrift. Sie konnte nicht im Geringsten mit Excel umgehen, sobald es über Fettschrift und Italic hinausging. Sie – sollte besser darüber nachdenken, was ihre Alternativen waren.

Calmaro bot ihr einen Job an. Obwohl er sie vor die Tür hätte setzen können. Das wäre sogar die sehr viel logischere Schlussfolgerung gewesen. Immerhin war sie diejenige mit der kürzesten Betriebszugehörigkeit.

Wieder wollte das Raunen in ihrem Kopf lauter werden. Aber Emma schob es zur Seite, um sich konzentrieren zu können. Sie sollte Assistentin werden. Assistenzsekretärin des obersten Firmenchefs.

„Dürfte ich Sie um eine weitere Probezeit bitten, wenn ich einwillige?“

Das würde bedeuten, dass Calmaro sie fristlos vor die Tür setzen konnte, wenn er das Gefühl hatte, sein Imperium breche wegen Emma zusammen. Aber auf der anderen Seite könnte auch sie jeden Tag das Handtuch schmeißen, wenn sie sich überfordert fühlte. Was durchaus passieren konnte.

Eine weitere Probezeit wäre für sie beide durchaus fair. Und dass Emma damit andeutete, sie würde den Job nehmen, schwebte auf eine seltsam bedeutungsschwere Weise zwischen ihr und ihrem Chef.
 

Cayden stellte die Tasse langsam wieder ab, ließ Emma dabei aber keinen Moment lang aus den Augen.

Er wollte ihr keine Probezeit geben, erhöhte das doch ihre Chancen, einfach zu gehen, wann es ihr beliebte und das wollte er beileibe nicht – sie so einfach gehen lassen.

Trotzdem meinte er schließlich mit einem gewissen Nachdruck in der Stimme: „Wenn Sie einwilligen, werde ich Ihnen eine weitere Probezeit einräumen. Allerdings würde sich diese Probezeit nur auf zwei Wochen belaufen. In dieser Zeit dürften Sie die Aufgabenstellung meiner Assistentin im Ganzen erfasst und sich entschieden haben, ob Sie sich den neuen Herausforderungen stellen möchten.“

Dabei berief er sich absichtlich auf ihr Bewerbungsgespräch, in dem Emma erklärt hatte, dass sie Neuem gegenüber aufgeschlossen war und Herausforderungen mochte. Einen Berufswechsel in eine völlig neue Richtung konnte man durchaus als Herausforderung bezeichnen. Zudem bekäme Emma auch die Möglichkeit, Stella näher kennenzulernen und die Chance dadurch auch etwas über sich selbst herauszufinden.

Oh ja, Cayden hatte ihr Bewerbungsgespräch noch sehr deutlich im Kopf und das nicht nur dank seines hervorragenden Gedächtnisses. Dennoch setzte er noch eines drauf. Vielleicht auch, um Emma nicht nur dazu zu bewegen, seinem Angebot zuzustimmen, sondern sie auch auf gewisse Weise herauszufordern. Er glaubte inzwischen zu wissen, wie sie ungefähr tickte. Sie war niemand, der schnell aufgab.

„Sollten Sie sich allerdings dagegen entscheiden, wäre es mir nur noch möglich, Ihnen einen Teilzeitjob in Ihrer jetzigen Abteilung anzubieten. Aber ich kann nicht sagen, ob das Ihren Ansprüchen genügen wird.“

Sowohl finanziell als auch leistungsbedingt. Es gab viele Menschen, die eine berufliche Unterforderung nicht lange aushielten, wenn sie eigentlich mehr leisten könnten.
 

***
 

Der Reißverschluss klemmte genauso, wie beim letzten Modell, aber zumindest kam sich Emma nicht jetzt schon so vor, als würde ihre untere Körperhälfte von der oberen abgeschnitten werden. Sie zupfte noch ein bisschen an dem schwarzen Stoff herum und sah sich dann mit einem Stöhnen im Spiegel an.

„Rauskommen!“

Emma verdrehte die Augen und griff nach dem dicken Vorhang, der die Kabine verschloss. Sie zog den Blickstopp auf und redete los, bevor es die Münder von Kathy und Amy es überhaupt schafften, sich zu öffnen.

„Das ist doch Scheiße. In dem hier sehe ich so aus, als hätte ich eine Tonne Übergewicht. Außerdem kann ich in dem Ding nicht laufen. Mein Arsch ist auch so schon breit genug, das muss dieses … Teil nicht auch noch unterstreichen.“

Oh Gott, sie würde doch nicht etwa anfangen zu heulen und sich wie ein Kleinkind strampelnd auf den Boden werfen. Aber es kratzte allmählich wirklich an Emma, dass sie sich in allen Röcken, die nach Büroschick aussahen, dick und schwabbelig fühlte.

Mit einem verzweifelten Seufzen ließ sie die Arme an ihre Seiten plumpsen und sah enttäuscht zu ihren Freundinnen hinüber.

„Ich hab keine Lust mehr.“

„Ach Em, hör schon auf. Der Rock sieht doch ganz gut aus.“

Amy, von deren Figur Kathy und Emma selbst bei gemeinsamer Diät nur träumen konnten, war aufgestanden und ging im Halbkreis um ihre Freundin herum.

„Ich glaube, das Problem ist, dass der Stil einfach nicht zu dir passt. Der Rock kann noch so gut sitzen, wenn du dich darin nicht wohl fühlst, bringt es nichts.“

Worin Emma ihr zu hundert Prozent zustimmte. Bloß leider half das überhaupt nicht weiter.

„Na toll. Soll ich dann Morgen nackt ins Büro gehen?“

„Ach, Mr. Calmaro fände das bestimmt ganz neckisch.“

Emma warf einen Pulli nach Kathy, die daraufhin nur gackernd zu lachen anfing, was Amy und Emma zwar irgendwann ansteckte, das Problem mit dem Rock aber immer noch nicht löste.

„Weißt du was, wir gehen einfach in einen anderen Laden und versuchen es in der normalen Abteilung. Wenn du einen hübschen Rock, der jetzt vielleicht nicht gerade Nadelstreifen und eng anliegend ist, mit einem schönen Pulli oder einer schicken Bluse kombinierst, sieht das auch gut aus.“

Amy schob Emma schon wieder in die Kabine, als diese noch protestierte.

„Das riechen die Chefabteilungs-Typen doch schon, wenn ich das Gebäude betrete. Wenn Calmaro mich nach Hause schickt, damit ich mir was Ordentliches anziehe, werde ich auf der Stelle tot umfallen vor Scham!“
 

In den nächsten drei Läden fanden sie zwar nichts Ordentliches, aber etwas, in dem Emma sich bürofein vorkam. Vier verschiedene Röcke, unauffällige, elegante Blusen und Westen oder Pullunder dazu, die sie untereinander kombinieren konnte. Nachdem sich Emma auch noch ein Set sexy Unterwäsche gegönnt hatte, lud sie Kathy und Amy noch auf einen Kaffee ein.

Wenn sie ihr Konto schon überzog, dann war das auch schon egal.
 

***
 

„Vergessen Sie nie, die Termine so zu vereinbaren, dass Mr. Calmaros Terminplan mit denen der Kunden und der anderen Leute, die etwas von ihm wollen, übereinstimmt. Rufen Sie ruhig mehrmals zurück, um die Termine miteinander zu koordinieren und vergessen Sie nicht, auch die Zeit einzuplanen, die er braucht, um dorthin zu kommen, wenn ein Termin einmal nicht in seinem Büro stattfindet. Außerdem lassen Sie sich die Termine immer noch wenn möglich ein bis zwei Tage vorher bestätigen.

Zu Mittag hat er eine Pause von 12:00 bis 13:00 Uhr. Zu dieser Zeit steht er nur in absoluten Notfällen zur Verfügung und mit absolutem Notfall meine ich, dass schon ein Sänger mit seinen Stimmbändern um den Hals hereingekrochen kommen muss, um von ihm empfangen zu werden. Ich hoffe, es ist Ihnen klar, dass jede Störung, die nicht absolute Berechtigung hat, Konsequenzen mit sich bringen, mit denen Sie lieber nicht zu tun haben wollen.“

Stellas Stimme beinhaltete eine Warnung, die man auf alle Fälle ernstnehmen sollte und das änderte sich auch nicht, nachdem sie einen weiteren Redeschwall auf Emma losließ, der sich gewaschen hatte.

Inzwischen merkte man, dass sie langsam heiser zu werden begann, was nur daran lag, dass sie versuchte, so viel Wissen wie möglich an einem Tag in Emmas Gehirn zu quetschen, damit die Neue ihr schon bald eher eine Hilfe als eine Belastung war.

Daher war sie auch nicht gerade erfreut darüber, wenn sie etwas zweimal erklären musste, tat es aber natürlich trotzdem, jedoch mit einer Miene, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen.

Dennoch wurde sie dabei nicht laut, da ihr Chef bisweilen einem das Gefühl gab, als hätte er Ohren wie ein Luchs und es nicht gerne hatte, wenn man vor seinem Büro herumzeterte.

„Ich möchte, dass Sie sich so bald wie möglich einen richtigen Terminkalender zulegen, damit Sie ihn mit dem von Mr. Calmaro abgleichen und sich besser organisieren können. Mit diesem Ding da werden Sie nicht weit kommen.“

Stellas manikürter Finger zeigte auf Emmas Notizblock, den diese schon viel genutzt hatte, seit sie vor wenigen Tagen in die Chefetage versetzt worden war.

Gerade wollte die leicht gestresste Assistentin zu einer neuen Rede ansetzen, als sie plötzlich den Mund wieder abrupt schloss und zum Fahrstuhl hinüber starrte.

Sofort richtete sie sich gerade auf und zupfte an ihrer Frisur und der hellen Bluse herum, als sie den blondgelockten Haarschopf von Mr. Calmaros Frau auf sich zukommen sah.

Heute trug sie ein weißes Kostüm mit schwarzen Nadelstreifen, der sich an ihre perfekten Formen schmiegte, dazu eine schwarze Strumpfhose mit kleinen eingearbeiteten Mustern, schwarze Riemchenschuhe mit den wie immer mörderisch hohen Absätzen und eine silberne Kette, die ihr bis in den üppigen Ausschnitt hing, der wieder einmal mehr betont, als eingepackt worden war. Eine kleine Lederhandtasche und ein weißer Wildledermantel mit Pelzbesatz rundeten das ganze Bild von Reich und Schön ab.

Stella könnte jedes Mal vor Neid grün werden, wenn sie nicht auch deutlichen Respekt, der schon fast in Furcht umschlug, für diese Frau empfinden würde.

Wieder einmal zu Recht, wie sie im nächsten Augenblick feststellen konnte.

Vanessa zog ihren Mantel aus und warf ihn zusammen mit ihrer Tasche auf Stellas Schreibtisch.

„Aufhängen und dann sagen Sie mir, ob mein Mann schon Zeit hat.“

Sofort nahm die Assistentin den Mantel und die Tasche entgegen und drückte beides Emma mit einem gemurmelten „Auf einen Kleiderbügel aufhängen“ in die Arme.

Danach wandte sie sich mit einem professionellen Lächeln wieder an das Supermodel.

„Es tut mir leid, aber Mr. Calmaro ist noch in einer Besprechung. Kann ich Ihnen vielleicht mit einer Erfrischung die Wartezeit verkürzen? Wasser, Tee, Kaffee?“

Vanessa musterte Stellas leicht abgenutztes Make-up, die schon etwas ramponierte Frisur und die angeknitterte Bluse, ehe sie der Frau ein verächtliches Lächeln schenkte.

„Kaffee. Schwarz. Ohne Zucker. Es könnte schließlich spät werden.“

Nun wurde das Lächeln eindeutig etwas … verwegen, ehe sie sich umdrehte und zu der Fensterfront stöckelte, um hinauszusehen.

Während Stella noch einmal versuchte, ihre Bluse glatt zu streichen, obwohl nach zehn Stunden Arbeit wohl kaum jemand erwarten konnte, dass sie perfekt aussah, erst recht nicht, wenn sie bei all dem Stress auch noch jemanden einschulen musste, ging sie zu Emma hinüber und zischte ihr leise zu, sie solle schon mal den Kaffee kochen, während sie selbst das dazu nötige Geschirr auf einem kleinen Tablett herrichtete.
 

Zuerst verdutzt und dann ein bisschen pikiert sah Emma zwischen Stella und ihrem Notizbuch hin und her. Auf den ersten Seiten war in ihrer kleinen, runden Handschrift alles säuberlich und übersichtlich notiert, was die Sekretärin ihr an Informationen ohne Punkt und Komma an den Kopf geworfen hatte.

Schön und gut, noch heute würde sie sich einen Kalender kaufen. Aber das hieß bestimmt nicht, dass sie auf ihre Kladde verzichten würde!

Bevor sie deswegen sauer auf Stella werden konnte, die sich wirklich Mühe mit ihren Erklärungen gab, klappte sie das kleine Buch zu und fuhr mit den Fingern streichelnd über das Cover.

Ihre Mom hatte es für Emma gekauft und es ihr zum ersten Tag in der Chefetage geschenkt. Es war hellblau, mit dunkelblauen Paisley-Mustern darauf, die Emma so toll fand und einer praktischen Ringbindung. Sie hatte sogar den farblich passenden Füller dazubekommen.

Gerade wollte Emma sich über die Pause in Stellas Redeschwall wundern, als sie aufsah und ihren Notizblock auf ihren behelfsmäßigen Schreibtisch warf, um sich gleichzeitig dahinter zu verstecken.

Diese Reaktion war ihr schon am ersten Tag in Fleisch und Blut übergegangen. Denn so zu tun, als gehöre man zur Einrichtung, war auf jeden Fall besser, als von irgendeinem hohen Tier, das hier aus und einstampfte, blöd angeredet zu werden. Geschweige denn, eine Frage bezüglich irgendwelcher Vereinbarungen, Termine und Ähnliches beantworten zu müssen.

Es war zwar nicht so, dass Emma nicht in dem großen Terminbuch auf Stellas Schreibtisch oder der elektronischen Kopie davon hätte nachsehen können, aber dann hätte sie Ärger bekommen. Von Stella, von dem wichtigen Tier und von Mr. Calmaro. Was sie alles dadurch vermeiden konnte, sich wie Luft zu verhalten. Zumindest so lange, bis man ihr etwas mehr als eben das zutraute.

Von ihrem sicheren Platz aus folgte Emma Stellas Blick.

Die Sekretärin sah fast so aus, als fühle sie sich auf dem Prüfstand. So, wie sie an sich herumzupfte, musste da jemand sehr Wichtiges im Büro aufgetaucht sein. Selbst für Calmaro schob Stella sich nicht jedes Mal die Frisur wieder perfekt zurecht. Schon gar nicht, wenn sie schon seit über neun Stunden für ihn auf den Beinen war.

Neugierig versuchte Emma an der großen Kübelpflanze vorbeizulinsen, die ihr den Blick auf die Etage versperrte, und hatte einen perfekten, flachen Bauch vor Augen, der sie zurückprallen ließ.

Naja, vielleicht waren es auch die beiden bis zum Bersten aufgepumpten Ballons über dem Bauch, die sie zurückwarfen. Jedenfalls war es im Gesamten diese Frau, die in Calmaros Vorzimmer stand und Stella so nervös machte, als wäre sie die Queen persönlich.

„Aufhängen und dann sagen Sie mir, ob mein Mann schon Zeit hat.“

Scheiße.

Emma fiel die Kinnlade herunter, die Stella ihr mit einem derart giftigen Blick wieder schloss, dass sie sich mit dem Mantel der Frau in die kleine Garderobe flüchtete.

Die Tussi ... war die Queen!

Als sie die Jacke über den Bügel schüttelte, damit sich keine Falte einnistete, zitterten Emmas Finger. Ihre Gesichtszüge hatten sich versteinert und das nicht gerade im Bilde personifizierter Fröhlichkeit.

Sobald sie allerdings wieder ins Vorzimmer trat und Mrs. Calmaro am Fenster stehen sah, die perfekte Silhouette von den Lichtern der Stadt erhellt, blinzelte Emma den Anflug des seltsamen Gefühls einfach fort, das sie so unerwartet überfallen hatte.

Stattdessen kochte sie Kaffee für das Ehepaar Calmaro – gab sich diesmal mit dem Abmessen des Kaffeepulvers sogar besonders viel Mühe – und ging anschließend Stella so gut sie es konnte aus dem Weg. Wenn Mrs. Calmaro die Sekretärin derart aus der Bahn werfen konnte, wollte Emma nicht noch mit daran Schuld sein.

Da setzte sie sich lieber an ihren Schreibtisch und tippte noch das Diktat der E-Mail ab, die morgen früh nach Dunedin abgeschickt werden sollte.
 

Die Besprechung dauerte länger als angenommen und ausgerechnet heute musste Mr. Calmaros Frau auch noch früher kommen.

Stellas Blick schoss immer wieder zu der blonden Schönheit hinüber, während sie sich für den Feierabend fertigmachte und noch einmal den Terminplan für morgen durchging.

Auch Emma gab sie in gedämpfter Lautstärke Bescheid, dass sie sich schon einmal langsam fertigmachen könne, da sie bald früher gehen durften.

Währenddessen saß Vanessa mit übergeschlagenen Beinen und den Schlitz in ihrem Rock bis über jeden Anstand hinweg gespreizt, auf einem der gemütlichen Sessel im Wartebereich.

In der einen Hand hielt sie ihren Kaffee, in der anderen ihr Handy, auf das sie starrte, ohne auch nur einmal hochzublicken.

Ihre Finger mit den langen Nägeln tippten dabei ungeduldig gegen das Gehäuse, ansonsten erschien sie überraschend friedlich zu sein.

Endlich öffnete sich die Tür zu Mr. Calmaros Büro und der Boss persönlich trat zusammen mit einem großen Japaner lachend aus dem Raum, ehe er diesem noch einmal die Hand schüttelte und sich schließlich überschwänglich und über geschäftliche Zuneigung hinaus, verabschiedete.

Mr. Yamato war ein langjähriger Kunde der Firma und dadurch bestimmt auch so etwas wie ein Freund. Doch darüber würde Stella nicht spekulieren. So etwas ging sie schlichtweg nichts an.

Calmaro begleitete seinen Kunden noch bis zum Fahrstuhl, ehe er zu ihnen zurückkam und von Vanessa bereits erwartet wurde.

Er schenkte den beiden Assistentinnen keinen Blick, sondern hielt seine Frau an der Wespentaille fest und küsste sie zur Begrüßung, während er breit lächelte.

Würde Stella ihren Boss nicht schon so viele Jahre lang kennen, sie hätte ihm die Szene abgekauft und würde sich immer noch fragen, wie ein so angenehmer Mann es nur mit so einer Schreckschraube aushielt. Aber offenbar war da etwas zwischen ihnen, das all diese kleinen Ungereimtheiten erklärte, die sie schon so lange beobachtete. Darum erwartete sie gar nicht, dass die Freude auf seinen Lippen sich auch auf den Rest seines Gesichtes ausbreitete. Denn das tat es nicht.

Schließlich konnte er sich doch vom Anblick seiner Frau losreißen und sah Stella an.

„Sie dürfen dann gehen. Sie beide.“

Sein Blick schwenkte zu Emma hinüber, woraufhin sein Lächeln ein bisschen breiter wurde.

Seltsam.

Bevor Stella dem noch einen zweiten Blick schenken konnte, war das Ehepaar auch schon in seinem Büro verschwunden. Eiligst sprang sie von ihrem Stuhl auf, um das Kaffeegeschirr wegzuräumen, bevor es dort drin zur Sache gehen konnte.

Nur einmal hatte sie sich vorgenommen, an einem Tag wie heute Überstunden zu machen. Doch ein einziges Stöhnen hatte ihr gereicht und sie war sofort verschwunden. So etwas wollte sie nun wirklich nicht hören und dabei vielleicht auch noch vom Boss erwischt werden, war wirklich das Letzte, was sie wollte. Da ging sie lieber Heim zu Sean.
 

Emma hatte Calmaros Stimme im Ohr, die ruhig und geordnet die E-Mail diktierte, die sie sich mühte, einigermaßen fehlerfrei abzutippen. Sie würde noch eine Weile brauchen, bis sie so schnell tippen konnte, wie er diktierte. Aber das war alles nur eine Frage der Übung. Stellas Finger waren bestimmt auch nicht von Anfang an in der Lichtgeschwindigkeit über die Tasten gerauscht, wie es jetzt der Fall war ...

Es war ein seltsames Gemisch, das ihre Brauen aufeinander zuwandern ließ, als sich Calmaros fast monotone Stimme auf einmal mit etwas vermischte, das sie vorher noch nie gehört hatte.

Irgendwie wirkte es fremd und zugleich doch vertraut. Als spreche es etwas in ihr an, das gar nicht unbedingt verstehen musste, um zu begreifen. Wie von selbst wanderten ihre Mundwinkel zu einem Lächeln in die Höhe und ihre Finger lagen still auf der Tastatur, obwohl das Diktat in den Kopfhörern weiter ging.

Er lachte.

Da, direkt vor ihr. Emma konnte seine strahlend weißen Zähne und tatsächlich auch ein paar Fältchen um seine Augen sehen, als er aus seinem Büro kam und den Geschäftspartner zum Fahrstuhl begleitete.

Er konnte also lachen.

So seltsam es auch war, Emma freute sich für ihren Chef. Weil er anscheinend doch nicht als ernster Klotz geboren worden war, sondern was den Humor betraf, einfach nur ein bisschen Übung gebrauchen konnte. Na, da hatte er sich genau die Richtige –

Ihr Lächeln gefror zuerst auf ihrem Gesicht, bevor es splitterte und von prallen Kurven, auf die sich Calmaros Hände legten, vollkommen pulverisiert wurde. Als er mit glücklichem Gesichtsausdruck seine Frau zur Begrüßung küsste, folgte Emma nur zu gern Stellas Rat und zog schon einmal die Schublade an ihrem Rollcontainer heraus, in der ihre Tasche lag. Eine Tasche, die mit den bunten Buttons und dem kleinen Plastikanhänger eines Liebespüppchens bestimmt nicht zum Schick des Büros passte. Genauso wenig wie Emmas Notizbuch!

Sauer darüber, dass sie sich in den letzten drei Tagen hatte vormachen können, hier zurechtzukommen, wollte sie zu ihrem Bildschirm hochsehen und ihn mit einem wütenden Blick für alles Unrecht in der Welt strafen.

Und starrte stattdessen für Sekunden in Calmaros lächelndes Gesicht. Hitze legte sich auf Emmas Nacken und sie senkte ein wenig den Kopf, um ihr Erstaunen und ihre Überraschung zu verbergen. Denn es war ... ein wirklich hübsches Lächeln.

Als sie sich allerdings besann und wieder hinsah, um es nett zu erwidern, war er – nein, da war das Ehepaar Calmaro bereits im Büro verschwunden.

7. Kapitel

„Möchtest du was essen? Ich hab zu viel für mich allein gemacht.“

„Hm?“

Ein wenig desorientiert konnte Emma erst nach zwei Sekunden auf Kathy reagieren, die mit einem Teller Nudeln in der Wohnzimmertür stand und sie mit einem Blick musterte, den man am ehesten als ein wenig besorgt bezeichnen konnte.

„Oh. Nein, danke. Ich hab keinen Hunger.“

Emma hörte das „Okay“ ihrer Mitbewohnerin gar nicht mehr wirklich, als diese sich ebenfalls vor den Fernseher setzte und anfing ihre Nudeln zu essen. Hin und wieder warf Kathy einen Seitenblick auf Emma, die allerdings schon wieder alles um sich herum vergessen hatte und über den Rand ihrer Kakao-Tasse ins Leere starrte.

 
 

***

 

„Also, ich bin spätestens um zwei wieder da und da Mr. Calmaros nächster Termin erst um halb drei ist, dürfte es keine Probleme geben. Gehen Sie einfach nur ans Telefon, wenn es klingelt, und seien Sie auf dem Sprung, falls er etwas braucht. Ich komme so schnell wie möglich wieder.“

Stella schnappte sich ihre Handtasche, kramte darin herum, bis sie ihre Schlüssel fand, und blickte Emma dann noch einmal ernst an.

„Und vergessen Sie nicht: von 12:00 bis 13:00 Uhr keine Störungen, sonst könnte Ihnen Schlimmeres als eine Kündigung blühen.“

Mit diesen Worten rauschte Stella davon, um ihren Arzttermin einhalten zu können, auch wenn ihr nicht ganz wohl dabei war, die Neue nach erst einer Woche alleine im Büro zu lassen. Wenn auch nur für wenige Stunden.

 

Kurz vor zwölf legte Cayden die Kritiken zur Seite und zog eine Schublade an seinem massigen Schreibtisch auf, die lediglich ein paar Büroklammern, Post-its, ein Tintenfässchen und diverse andere Schreibutensilien enthielt. Plus einer kleinen schwarzen Fernbedienung.

Er nahm das kleine Ding heraus, das regelrecht in seiner großen Hand verschwand, und drückte einen Knopf, woraufhin die lichtdichten Rollos vor den großen Fenstern hinunterfuhren.

Erst als es vollkommen dunkel in seinem Büro war, nahm er seine Brille ab, löste seine Hemdknöpfe an den Ärmeln und stand schließlich auf.

Ein weiterer Knopfdruck und aus verborgenen Lautsprechern begann ein leises Stakkato an völlig unüblichen Geräuschen den Raum, zu erfüllen.

Das Zirpen von Grillen. Blätter die raschelten. Sanfter Regen. Nachtvögel. Der ferne Schrei einer Raubkatze. Fledermausecholots und noch diverse andere Tiere, für die der Tag wie bei Cayden normalerweise in der Nacht begann.

Cayden legte die Fernbedienung auf den Tisch zurück, stellte sich in die Mitte seines Büros gerade hin und verschränkte seine Arme auf dem Rücken, ehe er die Augen schloss und in völliger Regungslosigkeit verharrte.

Sein Atem ging tief und gleichmäßig. Er rührte keinen Muskel.

Langsam fiel das Büroleben von ihm ab. Die unzähligen Gedanken, die er an diese Firma, diese Fassade einer Persönlichkeit und dem allen drum herum hängte, lösten sich auf, während er den Geräuschen des Waldes lauschte, die denen seiner Kindheit so ähnlich waren.

Er liebte es, sie zu hören. Und er brauchte es, einmal am Tag vollkommen zu versinken.

Es war eine Art Meditation, die er benötigte, um die knappen fünf Stunden Schlaf aufzuwiegen, die er sich jede Nacht gönnte.

Diese Stunde erfrischte ihn nicht nur körperlich, auch sein Geist benötigte immer wieder einmal vollkommene Ruhe, um nicht zu viel Stress in sich aufkommen zu lassen. Denn umso mehr Stress sein Körper hatte, umso mehr Blut benötigte er auch, um die dadurch verursachten Schäden zu reparieren.

Und er bekam dadurch Klarheit, um seinen Fokus nicht aus den Augen zu verlieren.

Ohne diese Meditation hätte er vielleicht schon vor Jahren oder Jahrhunderten den Verstand verloren. Denn niemand konnte so lange Leben, ohne dass die Zeit ihre Spuren hinterließ, auch wenn man sie körperlich nicht sehen konnte.

 

Ungefähr eine halbe Stunde hatte Emma da gesessen, ihre Augen auf das Telefon gerichtet, und hatte gewartet. Darauf, dass es klingeln würde, dass sich die Erde auftat und auf einmal mindestens fünf Bonzen der Musikindustrie vor ihrem Schreibtisch standen, bloß um von Emma weggeschickt zu werden. Denn ihre Aufgabe war es, wie die leuchtende Retterin Mr. Calmaros Mittagspause zu verteidigen!

Da aber nichts passierte, außer dass jemand anrief, um einen Termin am nächsten Morgen eine halbe Stunde nach hinten zu verlegen, wurde Emma immer ruhiger. Ihr war klar, dass es eine große Sache darstellte, von Stella den Telefondienst übertragen zu bekommen. Immerhin schien die Sekretärin geradezu mit dem Hörer verwachsen zu sein, wenn sie nicht gleichzeitig etwas notierte, aufsprang, um Calmaro etwas zu Trinken herzurichten oder Emma einen Zettel mit neuen Anweisungen in die Hand zu drücken.

Emmas eigener Magen knurrte gerade, als sie anfing, eine kleine Skizze in ihr blaues Notizbuch zu zeichnen.

Das Motiv würde sie für eine Hausaufgabe im Abendkurs brauchen und hatte bis jetzt noch nicht einmal damit angefangen. Wenn sie nach der Arbeit nach Hause kam, hatte sie keinen Elan mehr, irgendetwas Anderes zu tun, als sich auf die Couch zu werfen. Der Job schlauchte wirklich ziemlich. Auch wenn es Emma gleichzeitig anfing, langsam Spaß zu machen. Immerhin konnte sie in verschiedenen Ländern herumtelefonieren, mit Bandmanagern sprechen und andere recht coole Dinge tun, wenn Stella sie das auch wirklich machen ließ.

Auf ein erneutes Knurren in ihrem Bauch packte Emma knisternd ein Snickers aus und biss herzhaft davon ab.

Sie liebte diese Riegel. Denn bei den vielen Nüssen konnte man sich zumindest vormachen, dass es etwas gegen den Hunger half und nicht nur für einen netten Zustrom an Glückshormonen sorgte.

Die Skizze in ihrem Buch nahm Gestalt an. Was nur eins heißen konnte: Emma langweilte sich. Würde dieses Telefon denn nicht –

 

Als Cayden sein Büro verließ, um sich etwas zu trinken zu holen, schenkte er Emma ein freundliches Lächeln, während er an ihr vorbeiging, um sich aus der kleinen Kaffeeküche eine Flasche Mineralwasser und ein Glas zu holen.

Bevorzugt trank er aus Flaschen, aber in einer Gesellschaft wie der, in der er sich oft befand, hatte er sich angewöhnen müssen, es nicht zu tun. Eine lästige Kleinigkeit, aber nicht weiter wichtig.

Doch anstatt in sein Büro zurückzukehren, setzte er sich auf den Besuchersessel vor Stellas Schreibtisch und schenkte sich das Mineralwasser ein.

Es war Zeit, ein bisschen mehr nachzubohren, was Emma betraf. Da traf es sich gut, dass er momentan Zeit hatte und Stella bei einer Voruntersuchung war.

„Wie geht es Ihnen heute?“

Vielleicht nicht die wortgewandteste Art, um ein Gespräch zu beginnen, aber auf jeden Fall wirksam.

 

Das Snickers raschelte kurz, als Emma es einfach auf den Boden fallenließ und ansatzweise lächelte, bevor sie schnell weiter kaute und schluckte, bevor Calmaro mit einem Wasser aus der Küche kam und sich auf den Stuhl ihr gegenübersetzte.

Es prickelte regelrecht auf Emmas Haut und sie fühlte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg.

Mist.

Hatte sie vergessen, dass er um diese Zeit immer Wasser in sein Büro gebracht bekam? Stella hatte das nicht erwähnt. Aber das hätte sie doch bestimmt, wenn das zur Routine gehören würde.

Emmas Gedanken rasten, während sie einfach wortlos in Calmaros Augen starrte, die hinter seiner getönten Brille wieder eher schlammfarben wirkten.

Erst als sich die Stille zwischen ihnen am Geräusch der Bläschen erkennen ließ, die im Mineralwasserglas nach oben stiegen, blinzelte Emma sich wieder in die Gegenwart.

„Gut.“

Sie lächelte ihn an und schob ihre rechte Hand unter ihren Oberschenkel, als sie bemerkte, wie ihre Finger leicht zitterten.

„Danke, mir geht’s gut.“

Warum fragen Sie?

„Und Ihnen?“

Oh Gott.

Wenn sich jetzt kein Loch im Erdboden auftat, in dem sie verschwinden konnte ...

„Kann ich ... was für Sie tun? Stella kommt erst in knapp einer Stunde zurück.“

 

Caydens Nasenflügel bebten leicht, während er weiter lächelte und Emma nicht aus den Augen ließ.

„Sie sehen auch schon besser aus“, stellte er unverwandt fest, was voll und ganz der Tatsache entsprach.

Emma sah tatsächlich anders aus. Mehr Farbe im Gesicht und die Ringe unter ihren Augen schienen auch kleiner geworden zu sein.

Bevor er allerdings ihre Frage beantwortete, sah er sich auf dem Schreibtisch um, atmete noch ein bisschen tiefer ein, ohne dass es auffällig wurde, und neigte sich schließlich so weit zur Seite, dass er unter den Schreibtisch sehen konnte.

Aha!

Er hatte doch gewusst, dass er sich den Duft von Erdnüssen mit Schokolade und Karamell nicht eingebildet hatte.

Da auf dem Boden lag ein halb aufgegessenes Snickers einsam und alleine noch zum Teil in der Plastikverpackung verborgen und er war sich sicher, dass es dort noch nicht lange lag.

Cayden streckte sich danach aus und hielt kurz inne, als sein Vampirgehirn wie in Zeitraffer mehrere Eindrücke auf einmal wahrnahm.

Kleine Füße, die in schwarzen Ballerinas steckten. Graue Stumpfhosen umhüllten wohlgeformte, weibliche Waden, die unter einem grauen Faltenrock endeten, der mehr verbarg, als er offenbarte und doch beinahe über die Knie rutschte, während seine Besitzerin mit geschlossenen Beinen da saß.

Cayden hätte sich beinahe den Kopf gestoßen, als er sich von dem flüchtigen Anblick losriss und wieder auftauchte.

Ohne etwas auf die eben vollzogene Aktion zu sagen, musterte er kurz den Riegel, ob irgendwelche Fussel dran waren, ehe er die Plastikhülle ganz darum faltete und ihn neben das Telefon legte, um ihn dort seinem weiteren Schicksal zu überlassen. Der Mülleimer stand einfach zu weit weg, um ihn gleich jetzt zu entsorgen. Also nahm er lieber sein Glas zur Hand und nippte einmal an dem Mineralwasser.

„Danke, ich kann mich nicht beschweren“, beantwortete er endlich Emmas Frage und musterte so unauffällig wie möglich auch den Rest von ihr, wenn er schon ihren Rock im Blick gehabt hatte.

An der silbernen Kette mit dem interessanten Anhänger blieb er hängen. Bestimmt sah es so aus, als würde er ihr in den Ausschnitt glotzen, weshalb er allen Vorwürfen bezüglich sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zuvorkam.

„Interessanter Anhänger. Hat das Auge etwas zu bedeuten?“

Sein Blick wanderte zu Emmas Augen und blieb dort.

 

Emma folgte Calmaros abwesendem und dennoch irgendwie stechendem Blick mit gerunzelter Stirn und bemerkte fast zu spät, dass sie sich dabei – wie er – zur Seite gelehnt hatte.

Was machte er denn da?

Sofort setzte sie sich wieder gerade hin und reagierte damit nun wirklich nicht schnell genug, um auch nur etwas darauf zu sagen, als er kurz unter ihrem Schreibtisch verschwand.

Lediglich ihr Puls schnellte nach oben und sie sah sich mit roten Wangen nach allen Seiten um, als sie seine Gegenwart seltsam warm in der Nähe ihres Knöchels spüren konnte.

Emma machte sich schon darauf gefasst, ihrem Chef eine zu scheuern, wenn er es wagen sollte, sie auch nur irgendwie anzufassen.

Umso erstaunter und auch ziemlich erleichtert weiteten sich ihre Augen, als er wieder auftauchte und mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck das Snickers hochhielt.

Emma wurde heiß, als ihr Chef den Schokoriegel kurz inspizierte, ihn dann einpackte und auf den Schreibtisch legte.

Wie hatte er das denn –?

Ob sie sich erklären sollte? Jedem konnte doch einmal etwas herunterfallen, oder? Durften sie im Büro überhaupt etwas essen? Unten in der Printabteilung war das vollkommen in Ordnung gewesen, aber hier? Bestimmt hatte sie schon mindestens 17 ungeschriebene Gesetze der Chefetage gebrochen und jetzt knurrte ihr Magen beim bloßen Anblick des Snickers schon wieder und ließ Emmas Wangen nur noch röter werden.

Und Calmaro tat zu allem Überfluss auch noch so, als wäre gerade gar nichts passiert. Seelenruhig trank er einen Schluck Wasser und schien nichts weiter zu tun zu haben, als Emma ein bisschen Gesellschaft zu leisten.

Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob er nicht die Welt zu retten hatte. Oder was auch immer er normalerweise nach seiner Mittagspause machte.

„Interessanter Anhänger. Hat das Auge etwas zu bedeuten?“

Wollen Sie mich anmachen?

Da musste er aber noch ein bisschen üben. Die Masche mit dem Schmuck war schon so alt, dass sie selbst bei Teenies nicht mehr funktionierte.

„Es ist ein Glücksbringer.“

Emma nahm den Anhänger zwischen ihre Finger und drehte ihn um, damit Calmaro auch das Dreieck auf der Rückseite sehen konnte.

„Angeblich schützt es vor dem bösen Blick und hilft dem Träger seinen Weg zu finden. In Wellington bei diesem Wetter nie eine schlechte Sache, finde ich.“

 

Cayden hätte sich vermutlich vorbeugen sollen, um sich den Anhänger näher ansehen zu können, als Emma ihn zwischen die Finger nahm und ihn für ihn umdrehte. Aber da er ohnehin gestochen scharf sah, war das überflüssig.

Außerdem begann seine Wange zu kribbeln, als wolle sie ihn davor warnen, näher an etwas heranzukommen, das ihm vielleicht wehtun könnte.

Da war allerdings auch die Frage, ob Emma überhaupt im Stande war, ihm wehzutun, wenn sie es wollte.

„Hat es Ihnen auch schon einmal geholfen?“, wollte er so beiläufig wie möglich wissen, obwohl es ihn brennend interessierte, wie viel sie über diese Dinge wusste.

„Ich meine, abgesehen bei schlechtem Wetter.“

Er lächelte und nahm noch einen Schluck.

 

Es hatte wieder nicht funktioniert. Emma war fast ein bisschen enttäuscht darüber, dass Calmaro ihre Scherze entweder nicht verstand oder sie absichtlich ignorierte.

Vielleicht lag es auch daran, dass hier jeder, der vorbeiging, sehen oder hören könnte, dass er sich mit seiner Assistenz-Sekretärin unterhielt.

Da durfte vielleicht nicht das Gefühl aufkommen, es gehe um etwas Anderes als das Geschäft. Emma hatte ja selbst gehört, wie schnell sich Gerüchte verbreiteten und in welcher kurzen Zeit man aus einer Mücke einen Elefanten machen konnte. Trotzdem fand sie es schade.

Das eine Mal, das bis jetzt das Einzige geblieben war, hatte ihr sein Lachen gefallen. Es passte zu ihm. Tief und voll und trotzdem ziemlich jugendlich und offen. Irgendwie so, als spiegle es wirklich etwas, das dem Mann, der hier in seinem riesigen Büro saß und der Boss dieser großen Firma war, nicht ganz entsprach.

Emma ließ den Anhänger wieder sinken und legte ihre Hände in ihren Schoß, wo ihre Fingerkuppen leicht aneinander tippten, während sie überlegte, wie sie auf Calmaros Frage reagieren sollte.

Wenn sie ehrlich antwortete, würde er sie vielleicht für nicht ganz vollnehmen. Das konnte ihr jetzt auch schon passiert sein, ohne dass sie es gemerkt hatte. Immerhin dürfte ihm nicht entgehen, dass sie sich nicht wie Stella nach den besten Marken für Stil kleidete.

Wollen Sie sich ... über mich lustig machen?

Allein die Vorstellung ließ Emmas Augen stechend in seine blicken.

Forschend sah sie ihn an und versuchte an irgendetwas zu erkennen, ob er sie aus wirklichem Interesse, aus Gründen des Small Talks oder wegen etwas Anderem gefragt hatte. Zwar kam Emma nicht dahinter, aber so eine Frage stellte niemand einfach so. Da war sie sich ziemlich sicher.

„Das kommt drauf an, wie man es sieht“, begann sie vorsichtig und prüfte bei jedem Wort weiter, wie ihr Chef reagierte. Wenn sie Glück hatte und es frühzeitig bemerkte, konnte sie ihre Worte immer noch als weiteren Witz abtun.

„Diese Dinge – Glücksbringer, Symbole, Halbedelsteine – haben immer etwas mit persönlichem Glauben zu tun. Das ist zumindest meine Meinung. Wenn man sich sicher ist, dass sie helfen, dann tun sie es auch.“

 

Cayden konnte unmöglich an Emmas stechendem Blick vorbei. Dafür kannte er die Menschen und die Art, wie sie sich ausdrückten nur zu gut. Er hatte sie skeptisch gemacht und das mit so einer simplen Frage.

Das würde offenbar sehr viel schwerer werden, als er angenommen hatte, vor allem, weil er nicht wusste, warum genau sie skeptisch war. Dafür könnte es viele Gründe geben, anstatt nur dem einen, dass sie ihm ihr Geheimnis vorenthalten wollte.

Daher lehnte er sich in einer Art stummen Rückzug gemütlich im Sessel zurück und drehte das Glas mit dem Wasser in seinen Händen, unterbrach allerdings nicht den Blickkontakt, so als hätte er aufgegeben. Sie mochte ihr Geheimnis vielleicht hüten und daher darüber Bescheid wissen, aber das alleine wäre noch keine Gefahr. Darum wagte er sich noch einen Schritt weiter nach vor.

„Soweit ich weiß, ist auch die Wissenschaft ihrer Ansicht. Immerhin ist der Plazeboeffekt in der Medizin schon weitestgehend bekannt. Genauso wie man selbsterfüllende Prophezeiungen nicht unterschätzen sollte. Wenn man sich nur lange genug krank redet, wird man es auch eines Tages sein. Ich denke, mit Glücksbringern und diesen Dingen, dürfte es das gleiche sein, wobei meiner Meinung nach die Gegenstände an sich kaum eine Wirkung haben müssen. Aber ich kenne mich damit zu wenig aus, um das wirklich sagen zu können.“

Cayden zuckte mit seinen breiten Schultern und schob sich seine Brille wieder ein Stück weiter die Nase hinauf, die gerne dazu neigte, ab und an einen Abstieg zu wagen, vor allem, wenn er sich lange Zeit über seinen Schreibtisch beugte, um zu arbeiten.

„Sie hatten auf dem Banana Orange Konzert ebenfalls ein interessantes Schmuckstück dabei.“

Er lehnte sich noch weiter aus dem Fenster. Das wusste er. Aber er täte es nicht, wenn er sich nicht des Risikos bewusst gewesen wäre.

„Das könnte zwar nur eine Annahme von mir sein, aber es scheint mir, als würden Sie sich näher mit diesen Dingen beschäftigen, anstatt sie einfach nur als hübsche Schmuckstücke abzutun. Interessieren Sie sich für Geschichte?“

 

Emma sah ihm stumm in die Augen. Ohne auch nur zu zucken, bohrte sich ihr Blick in seinen und in diesem Moment konnte Mister Calmaro sich glücklich schätzen, dass er ihr Boss war.

„Ja, ich interessiere mich dafür.“

Ihre Stimme war splitternder Stein, an dem er entweder abrutschen oder sich schneiden konnte.

Das Rauschen in Emmas Kopf war wieder da und es zog ihren Blick fast unaufhaltsam zu Calmaros Wange. Zu dem Fleck, der jetzt perfekt und ebenmäßig war.

Emma sah die Haut an der Stelle aufplatzen. Aus einem winzigen Schnitt oder Kratzer quoll nicht mehr als ein Tropfen Blut hervor. Dunkel.

Kalte Finger schienen ihr vom Nacken auf den Hinterkopf zu kriechen und Emma hatte das gleiche Gefühl, das sie nachts überfiel, wenn sie keuchend aus einem der Albträume erwachte.

„Aber an diesem Abend hat mir der Anhänger ja nachweislich nichts genutzt.“

Sie wollte nicht darüber sprechen. Sie wollte … sich nicht erinnern.

„Vermutlich haben Sie also recht mit Ihrem Placeboeffekt. Manchmal haben solche Symbole eben nur eine begrenzte Wirkung. Nur auf mich persönlich und nicht auf ...“ ... irgendeinen Scheißkerl, der beschließt, mich auf einer Toilette zu vergewaltigen.

 

Cayden wurde instinktiv wachsam, als er den dezenten Geruch von Angst wahrnehmen konnte und vermischt mit dem Blick, der ihn trotz aller Zurückhaltung wohl am liebsten erdolchen würde, war klar, dass Emma dank seiner Worte sehr angespannt war.

Genau, wie er erwartet hatte.

Was er allerdings nicht erwartete, war sein beschleunigter Pulsschlag, als sein Körper auf Emmas Angst reagierte. Nicht wie ein Jäger auf sein verschrecktes Opfer reagierte, aber auch nicht wie etwas, das ihm sehr vertraut gewesen wäre.

Cayden schob es zur Seite.

Viel wichtiger war die Frage, was Emma mit ihrem letzten Satz gemeint hatte. Oder besser gesagt, wen sie damit gemeint hatte.

Wusste sie vielleicht doch etwas über Vampire?

Selbst wenn, zumindest schien sie nicht zu wissen, dass einer direkt vor ihr saß. Denn dann hätte sie anders reagiert. Oder sie war eine verdammt gute Schauspielerin und bekam es nicht wegen dieser einen Nacht mit der Angst zu tun, sondern weil er ihr vielleicht langsam auf die Schliche kam?

Es war wirklich schwer einzuschätzen.

Nachdenklich strich er sich mit den Fingerspitzen über die Stelle, an der sich ein Amulett von ihrem Armband förmlich hineingebrannt hatte und dachte mit leerem Blick an jene Nacht zurück.

Vielleicht war es an der Zeit in die Offensive zu gehen.

Wenn sie wusste, was er war, würde er höchst wahrscheinlich so am schnellsten eine verräterische Reaktion aus ihr hervorholen und wenn nicht, wäre es doch zumindest interessant, was sie über jenen Abend noch alles wusste.

„Sie haben der Polizei nicht gesagt, dass ich den Täter ebenfalls gesehen habe. Warum?“

Cayden nahm die Hand runter und sah Emma direkt an.

 

Emma konnte sehen, wie er sich mit den langen Fingern, den manikürten kurzen Nägeln über den blutenden Riss strich. Wie sich seine Finger veränderten, seine Nägel dreckig und ungepflegt wurden, der Riss wuchs und stärker blutete.

„Was?“

Das Raunen wurde immer lauter, baute einen seltsamen Druck in ihrem Hinterkopf auf, der ihre verheilte Wunde zum Pochen brachte.

Emma wurde heiß. Sie fühlte, wie sie begann unter ihrem Pullover zu schwitzen und trotzdem konnte sie ihren Blick nicht von Calmaros Mundwinkel ... Wange ...

Sie bekam dröhnende Kopfschmerzen. Als würden sich zwei Kräfte in ihrem Kopf gegeneinander stemmen und dabei einen Krach veranstalten, als stünde Emma neben einem Presslufthammer.

Sie griff sich an die Stirn und drückte drei Finger fest gegen den Punkt, der mit ihren Augen ein rechtwinkliges Dreieck bildete.

Es war so schnell vorbei, wie es gekommen war. Emma sah trotzdem sehr angespannt in Calmaros Augen. Schlammfarben waren sie nun und nicht grün, wie sie ihr gerade noch erschienen waren. Auch weniger ... gefangennehmend.

Scheiße.

Redete sie der Mann gerade in einen Nervenzusammenbruch?

„Warum haben Sie’s denen denn nicht selbst gesagt? Immerhin mussten sie sich keine Kopfwunde nähenlassen!“

Ihre Stimme war laut geworden und Emma musste sich zwingen, sich wieder weniger aggressiv hinzusetzen.

Der Mann war ihr Boss zum Teufel!

 

Sie wusste es nicht.

Emma konnte vielleicht noch so gut schauspielern, aber ihre Reaktionen waren zu echt, um gefälscht zu werden. Der Angstschweiß, das Adrenalin. Ihr rasender Herzschlag und die Art, wie sie sich den Kopf hielt, sich versteifte und auf Angriff überging. Das war nicht gespielt. Es war echt.

Emma wusste nicht, dass er oder der Angreifer ein Vampir war. Sie schien einfach nur Angst wegen des Überfalls zu haben.

„Ich verstehe“, sagte er in einem ruhigen Tonfall, ohne auf ihre Frage einzugehen.

Cayden hätte ihr Gründe nennen können, um sie ihr zu beantworten. Sogar plausible Gründe, doch er hielt es mit Lügen so, dass er sie vermied, wo es ging und sich ansonsten dicht an der Wahrheit hielt, wenn ihm keine andere Wahl blieb. Denn das waren die wirksamsten Lügen.

„Aber wissen Sie, was ich glaube?“

Seine Stimme war sanft und er lehnte sich ein kleines Stück nach vor.

„Zusammen mit Ihrem Kampfeswillen hat Ihr Armband Ihnen die nötige Zeit verschafft, die Sie brauchten. Ich würde das Schmuckstück also nicht vollkommen verkennen. Es mag vielleicht nur ein Symbol sein, aber es hat geholfen.“

Und das nur zu gut, wie er am eigenen Leib hatte feststellen können. Warum allerdings band er ihr das auch noch auf die Nase, anstatt darüber einfach zu schweigen?

Vielleicht weil er ihre Angst nicht länger wittern wollte, da der Geruch ihn unruhig machte und seine Instinkte aufweckte.

Schon jetzt konnte er spüren, wie sich seine Muskeln langsam anspannten, als erwarte er jeden Moment hinterrücks angegriffen zu werden, oder als müsste er jeden Moment vor Emma springen, um sie vor einem Angriff zu beschützen …

Seltsam. Sie war ein Mensch und noch dazu einer, der einen starken Willen hatte, warum sollte er also auch nur im Geringsten das Verlangen verspüren, sich vor sie zu werfen oder dem Vampir dieses Mal den Hals umzudrehen?

Cayden verstand es nicht. Aber er wusste, dass es an seiner anerzogene Schwäche den Menschen gegenüber liegen musste. Sie waren einfach so schwach, dass der Jäger, Krieger und Beschützer in ihm, immer etwas für sie übrig haben würde.

 

Ihre Lippen waren so fest aufeinandergepresst, dass das Blut vollkommen aus ihnen wich und sie sich weiß färbten. Emmas Augen fingen an zu brennen und ihr Hals kratzte so stark, dass sie nicht verdrängen konnte, was los war.

Wenn er nur noch ein Wort sagte. Nur ein Wort, das nett gemeint war und ihr auch noch Zuspruch gab, würde sie losheulen.

Das kannte Emma schon. Da mochte man ihr sonst was an den Kopf werfen, sie beleidigen oder herausfordern. Sie würde immer zuerst ihre Krallen ausfahren. Aber wenn man sie rührte, brachen die Dämme schneller, als sie 'Taschentuch' sagen konnte.

Was sollte denn das Ganze bloß?

War das irgendein verdrehtes Psychoexperiment, bei dem er sie vor der gesamten Chefetage auf ihre Tauglichkeit für den Job testen wollte? Wenn es so war, hätte er sie einfach nur fragen können und sie wäre gegangen. Ohne sich diesen Mist anhören und sich verunsichern lassen zu müssen!

Weiterhin starrte sie ihn an, unfähig sich wirklich zu rühren. Denn noch war die Gefahr nicht gebannt, dass ihr doch noch die Selbstbeherrschung abhandenkommen würde. Selbst wenn sie es vor Calmaro ganz und gar nicht zulassen wollte.

Er sollte sich einfach nur in sein Büro verziehen.

 

Er erwiderte lange ihren Blick, ohne etwas zu sagen. Eine lange Zeit, in der sie sich nur anschwiegen und doch soviel Unausgesprochenes zwischen ihnen stand, dass es kein angenehmes Schweigen war.

Schließlich seufzte er, senkte den Blick, nahm sein Glas und die Mineralwasserflasche und erhob sich.

„Sie sollten darüber sprechen. Egal mit wem. Sprechen Sie darüber und lassen Sie es ziehen.“

Er schob den Stuhl zurecht.

„Wenn Sie es zu verdrängen versuchen, wird es Sie irgendwann einholen. Womöglich zu einer Zeit, wo Sie anderes zu tun haben, als sich damit zu beschäftigen.“

Er ging zu seinem Büro und öffnete die Tür, blieb aber noch einmal stehen, ohne sich umzudrehen.

Seine Stimme wurde kalt. Gefährlich.

„Er wird Ihnen nichts mehr tun.“

Das war kein hohles Versprechen oder eine beruhigende Beteuerung. Es war Fakt. Eine Tatsache.

Noch in dieser Nacht würde Cayden dafür sorgen, dass es auch zur Wahrheit wurde.

Doch im Augenblick musste er wieder in die Rolle des Geschäftsmannes schlüpfen, so einengend ihm dieser Anzug mit allem Drum und Dran bisweilen auch erscheinen mochte.

„Und drucken Sie mir bitte, die E-Mail von Mr. Tombosko aus, sobald sie eintrifft.“

Er verschwand in seinem Büro.

8. Kapitel

„Hah!“

Emma riss die Augen auf. Ihr Herz raste und ihr Atem überschlug sich, während ihr ein scharfkantiger Keil im Hals steckte, den sie nicht einmal hinunterzuschlucken wagte.

Unnennbare Furcht kroch ihre die Wirbelsäule entlang und leckte an ihrem Nacken, bis sich Emma dort alle Härchen aufstellten. Sie wagte nicht dem Bedürfnis nach Sauerstoff nachzugeben, geschweige denn, nach dem Schalter der Nachttischlampe zu greifen, der irgendwo in Kopfhöhe nicht weit von ihrem Gesicht entfernt sein konnte.

Wach werden!

Die Augen offen halten und richtig wach werden!

Emma kniff sich unter der Decke so lange und so fest in den Unterarm, dass ihr nun wirklich Tränen in den Augen standen. Erst dann wagte sie, die Decke ein Stück von ihrem Ohr hinunterzuziehen und zu lauschen. Es war alles still. Zu ... still?

In einer Bewegung, die sie unglaubliche Überwindung kostete, schob sie ihre Hand unter der Decke hervor und tastete nach dem Lichtschalter. Diesmal wieder mit angehaltenem Atem, das Grauen in den Muskeln, bereit, bei der kleinsten Berührung davonzulaufen oder sich bis aufs Blut zu verteidigen.

Licht flammte auf und blendete Emmas immer noch aufgerissene Augen.

Es war niemand da. Sie war allein, als sie sich aufsetzte, sich die schweißnassen Strähnen aus der Stirn wischte und die Decke um ihre Schultern zog, damit sie nicht fröstelte.

 

Erst nach einer Weile, in der sich Emma gegen die Wand gelehnt geweigert hatte, wieder einzuschlafen und in die Albträume zurückzufallen, gab sie es auf.

Worte klangen in ihren Ohren, die sie zwar um diese Uhrzeit nicht in die Tat umsetzen konnte, aber sie konnte etwas Anderes tun!

Vorsichtig rutschte sie aus ihrem Bett, kniete daneben auf dem Teppich nieder und zog ein kleines, dunkles Holzkästchen unter dem Nachttisch hervor, das sie fast schon andächtig auf das Bett legte, bevor sie selbst wieder unter die Decke schlüpfte.

Emma setzte sich in den Schneidersitz und zog das Kästchen auf ihren Schoß.

Es war schwerer, als man bei der geringen Größe angenommen hätte. Und auch das Schloss, das ziemlich alt aussah, hielt mehr aus, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte.

Leise zog Emma den Schlüssel aus seinem Versteck am Kopfende ihres Bettes und drehte ihn im Schloss, bis es einmal laut klackte. Danach zog sie ihn ab und öffnete das Kästchen mit einem erleichterten Zug um die Lippen.

 
 

***

 

Es war spät, als er den Fahrstuhl betrat, den Schlüssel für die letzte Etage in das Schloss steckte, herumdrehte und den Knopf drückte.

Vielleicht auch früh, dachte er bei sich, als die Türen des Fahrstuhls zuglitten und dieser sich nach oben in Bewegung setzte.

Je nachdem, welchem Schlafrhythmus man angehörte. Für Cayden war es definitiv spät geworden. In knapp zwei Stunden würde er wieder aufstehen und sich für die Arbeit fertigmachen müssen.

Zeit genug.

Die Türen öffneten sich wieder und er stand direkt in seinem Penthouse über den Büros.

Wie praktisch, dass sein Weg zur Arbeit für gewöhnlich nie weit war.

Ohne das Licht anzumachen, da die nächtliche Beleuchtung der Stadt Wellington vollkommen ausreichte, ging er zielstrebig ins Bad.

Vor dem großen Spiegel, der den Anblick des gesamten Badezimmers wiedergab, blieb er stehen, stützte sich mit seinen Händen auf das Waschbecken und hob den Blick.

Leuchtend grüne Raubtieraugen blickten ihn an. Die Gesichtszüge angespannt, seine Fangzähne jederzeit bereit, sich in irgendeinen Hals zu schlagen.

Was ihm jedoch am Meisten ins Gesicht sprang, war das Glitzern in seinen Augen und die Farbe in seinem Gesicht, welche nicht von seinem eigenen Blut stammte, sondern sich als ein feiner, inzwischen getrockneter Blutnieselregen geäußert hatte und seine Haut bedeckte.

Cayden lächelte bei diesem Anblick und wirkte zusammen mit seinen ausgefahrenen Fangzähnen dadurch nur noch bedrohlicher, wenn man es nicht besser wusste.

Er hatte heute den Bürokraten abgestreift und den Jäger in sich seit langer Zeit wieder einmal frei gelassen.

Es war eine gute Jagd gewesen.

Langsam, Geduld erfordernd, schwierig und nervenaufreibend. Sie hatte all seine Sinne gefordert und viele seiner verborgenen Fähigkeiten benötigt.

Cayden richtete sich wieder auf, kramte in seiner Hosentasche herum und warf schließlich zwei kleine Gegenstände auf den Waschtisch. Mit einem leisen Geräusch blieben sie, vom Licht vor den Fenstern beschienen, liegen.

Seine Jagd war erfolgreich gewesen.

Zufrieden grinste Cayden die zwei kleinen Fangzähne an, die er sich heute Nacht geholt hatte, und zog sich dann die blutbespritzten Kleider aus, um zu duschen.

Er würde Ärger kriegen.

Oh ja, wenn es die richtigen Leute erfuhren, würde er sogar verdammt großen Ärger bekommen. Aber er war auch Geschäftsmann. Er hatte schon die passenden Argumente, noch bevor er heute Nacht überhaupt einen Fuß auf die Straße gesetzt hatte. Sie würden ihm nichts tun, denn der Vampir, den er heute Nacht heimgesucht hatte, lebte noch. Er dürfte zwar in der nächsten Zeit Probleme mit dem Sprechen und Essen haben, aber ansonsten ging es ihm gut und das, obwohl er ihn locker hätte töten können.

Sich an einer wehrlosen Frau zu vergreifen, aber vor einem erwachsenen Vampir im Dreck zu kriechen, ja das passte wieder einmal wie die Faust aufs Auge. Schwächere zu terrorisieren, um die eigene Schwäche zu verstecken.

Der Scheißkerl würde Emma nie wieder belästigen, genauso wenig wie eine andere Frau, denn nachdem Cayden ihm die Fangzähne mit bloßen Händen herausgerissen hatte, dürfte die Drohung angekommen sein, es beim nächsten Treffen zu wiederholen. Sollte es einen Anlass dazugeben.

Dafür würde er dem Kerl sogar auf einen anderen Kontinent nachreisen, nach dem diese Inseln hier künftig von diesem Bastard verschont blieben.

Manchmal war es wirklich hart, Vampire zu erziehen.

Auch mit ein Grund, warum er sich gegen Kinder entschieden hatte, obwohl er sich sicher war, dass er seine Aufgabe besser machen würde.

Mit einem wohligen Schnurren ließ Cayden sich von dem heißen Wasser das Blut abwaschen. Es war schade, dass er Emma die Fangzähne nicht zum Geschenk machen konnte, zusammen mit der Botschaft, dass sie vor diesem Scheißkerl keine Angst mehr haben musste. Doch es hätte bestimmt den falschen Eindruck vermittelt.

Wirklich sehr schade.

 
 

***

 

„Guten Morgen.“

Der Mann an der Pforte schien sich gar nicht mehr zu wundern.

Schon vor dem Wochenende war Emma zweimal so früh dran gewesen, dass sie ungefähr eine halbe Stunde Zeit hatte, bevor Stella im Büro erschien. Auch die Sekretärin war irritiert gewesen, hatte dann aber schnell ein entspanntes Lächeln aufgesetzt, als Emma ihr die bereits ausgedruckten Mails und den aktualisierten Tagesterminplan auf den Schreibtisch gelegt hatte.

Alles Dinge, die Emma tun konnte, während sie unauffällig das Vorzimmer vermaß.

Da rein die Gefahr bestand, Calmaro könnte schon so früh im Büro sein und unerwartet ins Vorzimmer kommen, musste Emma sich nur darauf konzentrieren. Und auf die Maße des Raumes, den die Zimmerpflanzen und die kleine Trennwand einschlossen.

Am ersten Morgen war Emma grübelnd in der Mitte gestanden und hatte sich langsam einmal um sich selbst gedreht. Ein Hexagramm funktionierte nicht. Zu wenig verdeckte Plätze. Pentagramm?

Emma maß die Möglichkeiten mit Schritten ab, stellte aber schon nach der zweiten Seite fest, dass ein Punkt in Calmaros Büro hinein ragen würde. Das fiel also auch aus.

Da es zu spät wurde, musste sie sich erst am nächsten Tag für ein Zeichen entscheiden, das den Vorraum abschirmte, aber weder in Calmaros Büro zeigte, noch irgendeinen Besucher abhielt, dorthin zu kommen. Zwar würden die meisten Menschen einfach über die gezogene Grenze trampeln und sie ignorieren, selbst wenn sie etwas spürten. Aber es konnte doch sein, dass Emmas Selbstschutz irgendeinen Typen, der vielleicht mit fiesen Mitteln an Calmaros Geld kommen wollte, einfach aus dessen Büro fernhielt.

Vielleicht sollte ich mit ihm darüber verhandeln. Wäre doch ein Grund für 'ne Gehaltserhöhung.

Eigentlich hatte sie mit ihrem Boss seit diesem Gespräch mit dem Snickers überhaupt kein überflüssiges Wort gesprochen. Sie strafte ihn mit Missachtung, wenn man es so beschreiben wollte. Und das bereitete Emma ganz tief in sich drin sogar so etwas wie eine leichte Befriedigung. Weil sie nämlich das Gefühl hatte, dass es funktionierte.

An Stellas Gesicht und ihren sonstigen Reaktionen konnte Emma erkennen, dass ihr Boss sehr viel häufiger sein Büro verließ, als die Sekretärin es gewohnt war. Zuerst war Stella immer aufgesprungen oder hatte leicht hektisch reagiert, aber nach zwei Tagen legte sich das. Jetzt war sie nur noch skeptisch, wenn der Chef sich sein Wasser selbst holte oder ihm 'aufgefallen war', dass kein Zucker auf dem Tablett zu seinem Kaffee gestanden hatte.

Emma musste grinsen, als sie sich fragte, was er wohl mit dem ganzen Zucker machte.

Zumindest grinste sie so lange, bis ihr wieder einfiel, dass sie eigentlich sauer auf ihn war.

Er hatte ihr ... Er war ... unsensibel gewesen!

Was aber nicht das Schlimmste war. Denn er hatte Emma getroffen. Weniger mit seiner Holzhammermethode, als vielmehr damit, dass er Recht hatte. Sie hatte darüber reden müssen. Sogar mehr als einmal. Es hatte sie geschüttelt, sie gefressen und wieder ausgespuckt. Doch jetzt fühlte sie sich wirklich besser. Die Albträume waren noch da. Aber sie hatte einen Weg gefunden, schneller wieder zu sich zu finden. Und einen Weg, sich sicherer zu fühlen. Auch an dem Ort, an dem sie den Großteil ihres Tages verbrachte.

Es wurde ein Dreieck.

An jeder Spitze schob Emma eines der silbernen Plättchen, auf denen sie ein Schutzzeichen eingeritzt hatte außer Sichtweite. Eines unter den Kübel einer Pflanze, eines klebte sie hinter Stellas Schreibtisch an den Rahmen von Calmaros Bürotür und das Letzte legte sie unter ein Bein ihres eigenen Schreibtisches. Zufrieden betrachtete Emma ihr Werk, das niemand außer ihr erkennen würde.

Der einzige Schwachpunkt war das Plättchen am Türrahmen, das sie aber so platziert hatte, dass es bis zur Hälfte unter der angeklebten Fußleiste verschwand. Die Besucher, die in Calmaros Büro gingen, würden das Dreieck höchstens mit einem Schuh oder der Schulter streifen.

Tief atmete Emma ein, setzte ein Lächeln auf und holte gerade in dem Moment die E-Mails aus dem Drucker, als der Fahrstuhl aufging und Stella ins Büro gestöckelt kam.

Emma begrüßte die Sekretärin mit einem fröhlichen „Guten Morgen“ und einem frisch aufgebrühten Früchtetee.

 

Cayden war tief versunken in der Tageszeitung und in einer ganz bestimmten Kritik, die ihn eigentlich hätte aufregen sollen, wenn er von dem Typ, der diese Kritik geschrieben hatte, nicht schon eine vorgefertigte schlechte Meinung gehabt hätte.

Der Kerl hatte doch keine Ahnung von Kunst, geschweige denn ein Gehör für Musik und so weit Cayden anhand der benutzten Wörter beurteilen konnte, gehörte der Kritiker eindeutig eher hinter den Tresen eines Metzgerladens. Dort wäre er bestimmt besser aufgehoben.

Immer noch in seiner Zeitung vertieft, schenkte er seinen beiden Assistentinnen nur ein kurzes Lächeln.

„Guten Morgen, Ladys.“

Da er die gewisse Stelle so gefaltet hatte, dass er die Zeitung auch mit einer Hand halten konnte, machte er sich selbst die Tür auf und verharrte auf der Schwelle zu seinem Büro. Er hatte das Gefühl, als würde man ihm zuerst den Magen ausheben und dann mit voller Wucht zu Boden schleudern.

Seine Nackenhärchen stellten sich auf und er konnte den Impuls, mit angriffslustigen Fangzähnen herumzuwirbeln, gerade noch so unterdrücken.

Langsam zog er seine Schuhspitze etwas zurück und betrat dann in einer flüssigen Bewegung das Büro.

Die negative Kritik war vergessen. Stattdessen fragte er sich, wieso zum Henker da plötzlich ein magischer Abwehrmechanismus ganz dicht neben seiner Tür war. Denn das war es doch, soweit er sich erinnern konnte. So lange war das schließlich auch noch nicht her, dass er einmal damit in Berührung gekommen war.

Cayden ließ sich in seinen Sessel fallen und warf die Zeitung auf seinen Schreibtisch.

Emma. Natürlich. Wer sonst?

 

„Guten Morgen.“

Emma hatte mit einem Lächeln von ihrem Kalender hochgesehen, zog aber im nächsten Moment den Kopf ein, als Calmaros Handfläche über die polierte Oberfläche der Bürotür quietschte.

Erschrocken machte ihr Herz einen Sprung, wollte schon losrasen, ihr Adrenalin durch die Adern pumpen und sie vom Stuhl aufspringen lassen.

Doch da war es auch schon wieder vorbei. Lediglich ein kaltes Knistern in ihrem Nacken zeigte ihr, dass etwas da gewesen war. Etwas, das … irgendwie nicht stimmen konnte.

Stella warf Emma mit hochgezogener Augenbraue einen fragenden Blick zu, wollte allerdings nicht aussprechen, was heute mit ihrem Boss los war. Stattdessen zuckte sie lediglich mit den Schultern und verschwand in der Kaffeeküche, um dem Chef seinen morgendlichen Koffeinkick zu bringen.

Dieses Mal achtete sie extra darauf, dass sie nichts vergessen hatte. Weder den Zucker, noch die Sahne, noch den Löffel, noch den kleinen Keks, den er zum Kaffee gerne bevorzugte. Ab und zu die mit den Nüssen, manchmal auch die mit den Schokostreuseln.

 
 

***

 

Stella würde es vermutlich niemals zugeben können, aber sie war wirklich dankbar für Emmas Unterstützung und dass sie immer mehr Arbeiten für sie übernahm.

Endlich wusste sie einmal, wie es war, keinen Stress bei der Arbeit zu haben. Auch wenn es nervenaufreibend war, ihr das Excel-Programm beizubringen. Da gab es einfach so viel zu bedenken und sie selbst hatte das schon so intus, dass ihr vieles erst durch Emmas Nachfrage wieder klar wurde, wie man es Schritt für Schritt erklären musste.

Zum Glück hatte gerade Mr. Calmaros Mittagspause begonnen, so dass Stella der Neuen das Programm schon mal im Groben in Ruhe erklären konnte, ohne ständig woanders hinrennen zu müssen.

Zudem machte sich Emma ganz gut.

„Also, ich finde das Programm ziemlich praktisch. Man kann viele nützliche Sachen damit machen, aber so wirklich alles darüber lernen, könntest du vermutlich nur in einem Computerkurs, wenn du das willst. Ich kann dir nur die Sachen beibringen, die für unsere Arbeit nützlich sind. Oh und ich hab da noch etwas für dich.“

Stella ging zu den Büroschränken hinüber, die alle möglichen Dinge zum Nachfüllen beinhalteten und kramte eine Weile herum, bis sie ein kleines farblich illustriertes Büchlein fand und Emma in die Hand drückte.

Es war ein Führer durch das Excel-Programm. Sie hatte bestimmt auch noch andere hier herumliegen, aber den hatte sie zu anfangs am meisten gebraucht.

„Vielleicht ganz nützlich, als Bettlektüre. Ich schwör dir, schneller wirst du kaum einschlafen.“

Stella lächelte.

Eigentlich lächelte sie inzwischen immer öfters, gefolgt von Zeiten, wo man die dicken Regenwolken förmlich über ihr hängen sah.

Ihre Hormone. Dagegen half absolut nichts.

Ein leises Klingeln der Fahrstuhltüren war zu hören, gefolgt von gähnender Stille.

Das Lächeln auf Stellas Gesicht gefror zu Eis, als ihr Herz zu rasen begann. Diese Stille … sie wusste, was das bedeutete.

Stella wurde unter ihrem dezenten Make-up kreidebleich und war damit vermutlich nicht die Einzige in der Abteilung, denn diese Stille kam nicht einfach nur von irgendwoher, sondern von Händen, die in ihrer Arbeit innehielten, Leute, die mitten in der Bewegung erstarrten oder während einer Unterhaltung mit offenem Mund abbrachen.

Man konnte sie nicht einmal hören.

Stella wusste, dass man die gedämpften Schritte auf dem Teppich bei dieser Stille eigentlich hören musste, aber sie konnte es einfach nicht und das war für sie ein Punkt, weshalb die Leute für sie noch unheimlicher waren, als ohnehin schon.

Sie blickte kurz auf die Uhr. Noch nicht einmal halb eins. Mr. Calmaro war gerade mitten in seiner Pause.

„Scheiße!“, zischte sie leise und wischte sich die feuchten Handflächen an ihrem faltenfreien Rock ab.

Hastig sah sie sich nach einer Möglichkeit um, was sie tun könnte, während sie Emmas fragenden Blick einfach ignorierte. Es wäre ihr zwar gerade sehr gelegen gekommen, die Neue als Kanonenfutter zu benutzen und falls es irgendein Problem gab, es auf ihre Unwissenheit zu schieben, aber sie wäre keine professionelle Assistentin, wenn sie nicht selbst damit fertig wurde.

Kurz presste sie die Augen zusammen, sammelte sich, raffte all ihren Mut zusammen und kam dann mit erhobenem Kinn um ihren Schreibtisch herum, um sich den drei Männern in den Weg zu stellen.

Es war der Kleine. Es war immer nur der Kleine, der ihr so eine Scheißangst einjagte, obwohl seine beiden großen, kräftig gebauten Begleiter, ihren Kopf sicher mit einer Hand hätten zerquetschen können.

Die beiden Bodyguards in den teuren Anzügen und mit den Designersonnenbrillen erinnerten sie stark an die Men in Black und passten damit so überhaupt nicht zu dem kleinen Mann mit den pechschwarzen Haaren und Augen, dessen richtige Farbe sie noch nie gesehen hatte und auch nicht wirklich sehen wollte. Denn auch wenn Calvin Tasken denselben Geschmack wie ihr Chef in Sachen rotgetönter Gläser zu haben schien, war er ihrem Chef doch so ganz und gar nicht ähnlich.

Calvin war ungefähr so groß wie sie. Was nicht mehr als 1,70 m sein dürften. Er sah sehr viel jünger aus, als Mr. Calmaro. Fast schon wie gerade erst dem Teenageralter entsprungen. Er hatte ein wirklich schönes Gesicht, fein geschnitten. Leicht feminin. Einen schlanken Körperbau, nicht muskulös, sondern sportlich. Schmale Schultern, auch wenn die von dem marineblauen, maßgeschneiderten Anzug etwas besser hervorgehoben wurden.

Im Großen und Ganzen sah er so aus, als müsse er noch ein paar männliche Attribute an sich entwickeln, aber das hieß nicht, dass man ihn unterschätzen sollte.

Es war nicht der diamantene Ohrstecker, die goldenen Ringe oder Ketten um seinen Hals, die Macht und Einfluss verströmten, sondern es war etwas in der Art, wie sich dieser Mann bewegte. Leise. Fast viel zu leise und geschmeidig.

Mr. Calmaros Gang war dem sehr ähnlich, aber ihn hörte man zumindest auf dem flauschigen Teppichboden. Der kleine Mann machte absolut keine Geräusche und seine Bewegungen waren manchmal so flüssig, dass sie fast unbemerkt und schnell erschienen.

Doch letztendlich war es die finstere, furchteinflößende Aura, die ihn einhüllte und Stella sämtliche Härchen im Nacken zu Berge stehen und sie frösteln ließ.

„Mr. Tasken. Es tut mir leid, aber Mr. Calmaro möchte momentan nicht gestört werden.“

Der Schwarzhaarige blieb dicht vor ihr stehen. Auge in Auge, bis Stella einen halben Schritt zurückwich und ihre Augen hastig nach einem Fluchtweg suchten, ehe sie wie gebannt in das schöne Gesicht starrten.

Flucht war zwecklos. Das schien dem Mann aus jeder einzelnen Pore zu entströmen.

Tasken lächelte charmant und entblößte damit eine Reihe strahlend weißer Zähne.

„Ich bin mir sicher, mein alter Freund wird gegen meinen Besuch nichts einzuwenden haben. Also bitte seien Sie so gut und kündigen Sie mich an.“

Seine Stimme glich die eines Engels.

Eines gefallenen Engels.

„Es t-tut mir … leid. Ich kann nicht …“

Scheiße. Ihre Knie wurden unter dem Blick aus diesen rotgetönten Brillen weich und zittrig. Instinktiv legte Stella ihre Hände schützend vor ihren Bauch.

Als Tasken der Bewegung folgte und sein Lächeln darauf hin noch breiter, raubtierhafter wurde, konnte sie nicht mehr atmen.

„Tasken! Hör auf meine Assistentin zu erschrecken.“

Erleichtert Mr. Calmaros feste Stimme zu hören, wäre Stella fast in sich zusammen gesackt. Sie schaffte es aber gerade noch, lediglich ein paar Schritte weiter zurück zu weichen und sich dann an ihrem Schreibtisch anzulehnen. Noch immer gefangen vom Blick des Kleinen, der sie nur widerwillig frei gab.

„Ah, schön dich zu sehen, Cayden.“ Er wandte sich ganz an ihren Boss und hob den Kopf. Mr. Calmaro überragte ihn bei weitem und nicht nur das versprach ein gewisses Maß an Sicherheit. Ihr Chef verströmte eine Feindseligkeit, die Tasken traf, während sie zugleich den Eindruck vermittelte, als käme sie gerade deshalb, weil der kleine Mann seine Assistentin … nun ja, nicht wirklich angegriffen, aber doch unmerklich bedroht hatte.

Mr. Calmaro war vielleicht anstrengend und für ihn zu arbeiten, bedeutete kaum Freizeit zu haben. Aber er achtete auf seine Mitarbeiter. Das wusste sie einfach tief in sich drin.

„Ich wünschte, ich könnte das Gleiche von dir behaupten“, begrüßte ihr Chef den Schwarzhaarigen und deutete mit einer Handbewegung in sein Büro, so dass man unter seinen offenen Hemdärmel schwarze Linien erkennen konnte.

Stella hatte sie noch nie gesehen und tat es schließlich als Einbildung ab.

Mr. Calmaro tätowiert? Eher fror die Hölle zu oder taute wieder auf, wenn man die gegebenen Umstände betrachtete.

Gerade als Stella glaubte, die Gefahr sei vorbei, als Tasken das Büro ihres Chefs betreten wollte, versteifte sich dieser und plötzlich war es, als gefröre selbst die Luft in ihren Lungen.

Langsam drehte sich Taskens Kopf herum, folgte irgendeiner unsichtbaren Spur auf dem Boden und blickte dann hoch. Direkt an ihr vorbei, auf etwas, das sich hinter ihr befinden musste.

Mit fragendem Blick sah er schließlich Mr. Calmaro an und betrat dann endlich dessen Büro.

Tief luftholend sackte Stella schließlich mit dem Hintern auf den Schreibtisch. Denn die beiden übrig gebliebenen Bodyguards waren ihr herzlich egal. Zumal sie sich schließlich auf die Stühle im Wartebereich setzten, obwohl das irgendwie mehr als unpassend wirkte.

Sie hätte lachen und heulen zugleich können. Schaffte aber nichts davon. Nur tief durchzuatmen und immer noch ihre Hände fest und schützend über ihren Bauch zu legen.

 

Emmas Herz schlug ihr bis in ihren Hals hinauf. Hart und drängend, aber in einem Rhythmus, der nicht Adrenalin, sondern andere Hormone in ihren Kreislauf auszuschütten schien. Ihr Körper fühlte sich schwer und entrückt an, während ihr Blut in ihren eigenen Ohren laut pochte. Die Luft um den Besucher und Stella schien sich zu verdichten und jeden auszuschließen, der sich den beiden nähern wollte. Es war fast so, als wäre die düstere Aura dieses Mannes einem magischen Symbolsiegel vergleichbar. Bloß dass die Sphäre, die der Mann aufbaute, nach Blut und Tod roch – nicht nach Schutz.

Und es wirkte so stark, dass Emma genauso gut mit Bolzen in ihren Schuhen im Boden verankert hätte sein können. Ihre Muskeln bewegten sich kein Stück, hatten sich ineinander verbissen und beschlossen, sich keinen Millimeter zu rühren. So wie … damals.

Emma sah mit an, wie Stella ihre Hände schützend und doch mit echter Furcht in den Augen auf ihren Bauch legte. Auf die Wölbung, die inzwischen für jeden erkennbar und das Beschützenswerteste überhaupt für die werdende Mutter geworden war.

Mit fest auf einander gepressten Kiefern schickte Emma Energie in das Dreieck. Sie sprach mit den Silberplättchen, bat sie um Schutz vor diesem ... dieser Gestalt und wollte im nächsten Moment auf Stella zuspringen, um sie in die geschützte Zone zu ziehen. Als ein Schatten in ihrem Augenwinkel ihr zuvor kam.

Emma hatte die Bürotür nicht aufgehen sehen. Lediglich das Erscheinen eines Schattens, das Ausbreiten einer Dunkelheit, die ihr für den Bruchteil, die sie wahrnehmbar war, bekannt vorkam, wollte wohl Calmaros Auftritt ankündigen.

Endlich machte Stella die paar Schritte zurück, die sie in das Dreieck brachten und Emma etwas leichter atmen ließen. Sie würden sie beschützen.

 Sie ...

Taskens Blick bohrte sich in Emmas Augen. Auf einmal schien sich Finsternis wie ein Tunnel um ihr Sichtfeld zu ziehen und sie spürte, wie etwas sich um ihre Gliedmaßen rankte und sich wie Schlangen darum wickeln wollte, um sie an Ort und Stelle zu halten. Emma starrte lediglich zurück.

So lange, bis Tasken sie frei gab und in Calmaros Büro verschwand. Erst dann hätte Emma bemerken können, dass ihr Herz vollkommen ruhig geworden war. Lediglich das Amulett an ihrem Hals pulsierte leicht, als sie zu Stella hinüber ging und ihre Hand nahm. Emmas Finger zeichneten schnell und unauffällig einen Kreis auf den Handrücken der Sekretärin und drückten kurz auf den Punkt, direkt in der Mitte des Kreises. Hätte sie das beruhigende Symbol auch auf ihren Bauch zeichnen können, hätte es mehr geholfen. Aber so musste sie Stella und dem Baby eben anders helfen.

„Dann können wir ja jetzt unsere Teepause machen. Heute sind wir sowieso spät dran.“

Ohne auf den irritierten Blick der Sekretärin zu achten, schob Emma diese auf ihren Bürostuhl und ging in die Kaffeeküche, um zwei Tassen Tee aufzukochen. Die beiden Halbgorillas im schwarzen Anzug ließ sie dabei nicht für eine Sekunde aus den Augen.

 

„Interessante Mitarbeiter, die du da hast.“

Cayden ignorierte Cals Anspielung auf Emmas neusten Schutzmaßnahmen und setzte sich in seinen Stuhl, ohne auch nur die Höflichkeit zu besitzen, dem schwarzhaarigen Vampir ebenfalls einen Platz anzubieten.

„Was willst du?“, fragte er kein bisschen freundlich, weil er sich schon denken konnte, was der Boss von Taskens Pharmaceuticals wollen könnte. Das Übliche oder vielleicht auch etwas, das mit dem zahnlosen Vampir von vor ein paar Nächten zu tun hatte. Wer konnte das schon so genau sagen?

Cal sah sich neugierig in Caydens Büro um, als hätte er seit seinem letzten Besuch vor zwei Jahren großartig etwas daran verändert. Was er nicht hatte.

Cayden mochte sein Büro genau so, wie es jetzt war. Was sollte er daran verändern wollen?

Cals Ausweichen seiner Frage, war nichts Neues, und dass er es mit einer ausgiebigen Betrachtung der wertvollen Kunstgegenstände und altertümlichen Waffen in diesem Raum tat, ebenfalls nicht.

Er durchschaute Cals Taktiken schon lange. Der Kerl spielte für sein Leben gerne. Mit Geld, Macht und Leben. Umso riskanter, umso besser.

Cayden ging nicht darauf ein, sondern nutzte das Schweigen dazu aus, sein Hemd wieder zu richten, während er den jüngeren Vampir gründlich musterte.

Er hatte sich absolut nicht verändert. Aber das taten die meisten Vampire nach ein paar Jahrhunderten auch nicht mehr allzu oft. Einmal davon abgesehen, sich dem Zwang der jeweiligen Kleidermode anzupassen.

„Du weißt, warum ich hier bin“, stellte Cal gelassen fest und hob ein altes, aber immer noch funktionstüchtiges Katana aus dessen Halterung, um die kunstvoll verzierte Scheide und den Griff besser betrachten zu können.

„Wie lautet dieses Mal dein Angebot?“

Cayden schüttelte genervt den Kopf. Es war immer das gleiche Spiel und das würde sich vermutlich niemals ändern.

„Zehn Millionen.“

„Pro Spende?“

Cayden lachte kurz und humorlos. Zehn Millionen für eine einzige Samenspende von ihm, das war einfach nur noch verrückt. Zumal er genug Geld hatte und dieses Angebot daher mehr einer Beleidigung gleichkam, als einem großzügigen Entgegenkommen.

Das war, als würde man einem Kartoffelbauer Kartoffeln andrehen wollen. Es bedeutete nichts und war daher auch absolut nichts wert.

Außerdem würde Cayden niemals dabei mitmachen, auf diese Weise Kinder in die Welt zu setzen. Denn wenn er es jemals tun sollte, dann wollte er gefälligst dabei sein und sich die Mutter selbst aussuchen können.

„Ich weiß, du findest das komisch.“

Cal legte das Katana wieder auf seinen Platz zurück und setzte sich schließlich bequem in den Besuchersessel. Ein Bein mit dem Knöchel auf dem Knie des anderen Beines. Er versank fast in dem Stuhl, was ihn nicht weniger gefährlich machte.

„Für dich ist unsere Art unbedeutend. Es ist dir egal, ob wir irgendwann aussterben und somit den Menschen diese Welt überlassen. Dich kümmert es nicht. Denn für dich sind wir nur wilde Tiere.“

Cayden blickte dem Vampir tief in die Augen, ließ sich aber kein bisschen von dessen gefährlicher Ausstrahlung einschüchtern. Der Knilch war gerade mal sechshundert Jahre alt, so dass er für jemanden wie ihn selbst keine Bedrohung darstellte. Zumindest nicht, wenn sie sich beide alleine in einem Raum befanden und es nur auf körperliche Stärke ankommen würde.

Cayden unterschätzte keinesfalls Cals politische Machteinflüsse, die seine bei Weitem übertrafen. Das war das wirklich Gefährliche an dem anderen.

„Es spielt keine Rolle, was ich über unsere Art denke. Aber du solltest einsehen, dass sie genau da ist, wo sie hingehört. Wären wir so zahlreich wie die Menschen, wäre die Welt bald leer getrunken und in Anbetracht unserer hohen Lebenserwartung, hat die Natur schon dafür gesorgt, dass das Gleichgewicht in unserer Art Bestand hat. Warum siehst du nicht endlich ein, dass alles so sein soll, wie es ist.“

„Unsinn!“, zischte Cal wütend und entblößte dabei eine Reihe scharfer Zähne. Nicht mehr viel und auch seine Fänge würden hervorkommen. Was das anging, hatte Cal nur wenig Kontrolle.

„Dass unsere Frauen so schwach sind, ist ein evolutionärer Fehler! Du kannst selbst hochrechnen, was die Zahl am Ende ergibt, wenn neun von zehn Geburten tödlich für die Mütter und fünf davon auch tödlich für die Babys enden. Warte nur noch ein paar Jahrhunderte oder Jahrtausende ab und du wirst uns tatsächlich nur noch in Mythen und Legenden vorfinden.“

Cayden schwieg. Er würde nicht zeigen, dass ihn dieser simple aber wirkungsvolle Vergleich getroffen hatte. Neun von zehn Geburten tödlich?

Das hatte er nicht gewusst. Änderte aber trotzdem nicht im Geringsten etwas an seiner Meinung.

„Es gibt andere wie mich. Warum gehst du nicht einfach denen auf die Nerven und lässt mich in Ruhe. Es ist schließlich nicht mein Problem, dass so viele junge Vampire nicht mit ihrer Unsterblichkeit klarkommen.“

Dieses Mal ging Cal nicht auf seine Frage ein, sondern beruhigte sich wieder etwas, während er seine Schuhspitze ansah und doch nicht sah.

„Es liegt an dieser Zeit, die sie tötet. Weil sie nicht wissen können, dass es auch einmal andere Zeiten geben wird. Bessere, die das Leben fördern, anstatt zu vernichten.“

Cayden schüttelte ernst den Kopf.

„Nein, Cal. Du bist derjenige, der nicht weiß, wie sehr sich diese Welt schon seit langem zum Schlechteren verändert. Aber das tut hier nichts zur Sache. Ich werde nicht für deine kleinen Genprojekte den Samenspender spielen. Such dir andere Alte, die deine Argumentationen nicht leid geworden sind. Von mir wirst du nicht einen Tropfen Leben bekommen. Egal wie viel du mir dafür bietest. Meine Antwort lautet 'Nein' und das wird sie immer.“

Ein grimmiger Zug umspielte Cals Lippen, als er den Blick hob und den von Cayden traf.

„Ich weiß schon lange, dass dir Reichtümer oder auch auf eine andere Art wertvolle Dinge nichts bedeuten. Denn dir bedeutet überhaupt nichts mehr etwas, nicht wahr? Du könntest all dein Geld, all deine Macht und all deinen Ruhm verlieren und es wäre dir gleichgültig. Selbst wenn du keinen Silberling mehr in der Tasche hättest, würdest du noch mit einem Lächeln deine Möglichkeiten abwiegen, wie du dich dieser Herausforderung stellen kannst. Denn das Einzige, was du noch fürchtest, ist die Langeweile der Ewigkeit.“

Caydens Zahnfleisch pochte und wollte sich um seine verborgenen Fänge zusammenziehen, um sie hervor zu locken. Er verzog keine Miene, obwohl eine unheimliche Wut in ihm hochkeimte.

Ja, er fürchtete die Langeweile und dass sie eines Tages sein Tod sein könnte. Aber dass dieser verdammte Vampir es auch noch so deutlich wusste, machte ihn rasend. Dennoch zeigte er diese Schwäche nicht. Es würde nichts bringen, außer sich auch noch zu verraten.

„Wenn das dann alles wäre, was du noch zu sagen hast. Da ist die Tür.“

Cayden nickte Richtung Tür und hoffte zugleich, dass Cal seinen Arsch nie wieder hier herein verfrachtete.

Cal stand auf. Offenbar gab er sich geschlagen, denn er schoss Cayden einen mehr als giftigen Blick zu, als er zur Tür ging.

„Eines gäbe es da noch“, drohte er mit unheilverkündender Stimme.

„Ich habe noch nicht aufgeben. So oder so, egal wie lange es dauert, ich bekomme immer, was ich will.“

„Na dann sehen wir uns einfach im nächsten Millennium wieder. Ich wäre gespannt darauf, was du dann zu sagen hättest und jetzt zieh Leine.“

Cal schien ein wütendes Fauchen unterdrücken zu müssen und schob seine perfekte Maske von Gelassenheit so leicht über seine Gefühle, als würde er sich lediglich eine Haarsträhne aus dem Gesicht streichen, ehe er die Tür öffnete.

„Du wirst mich zum letzten Mal unterschätzt haben. Das verspreche ich dir“, flötete er zuckersüß und verließ das Büro.

Cayden wartete ein paar Minuten, bis er sich sicher war, dass Cal und seine Leibwächter das Gebäude verlassen hatten, dann trat er aus dem Büro, versuchte das übelkeiterregende Gefühl und seine fauchenden Instinkte zu ignorieren, als er den Abwehrzauber betrat, und blieb vor Stella stehen.

„Das nächste Mal können Sie Mr. Tasken sofort hineinschicken, egal was ich gerade tue.“ Auch wenn er hoffte, dass es kein nächstes Mal geben wird.

„Ich danke Ihnen trotzdem für die Mühen. Alles in Ordnung bei ihnen Dreien?“

Sein Blick glitt von Stellas Augen zu ihrem leicht gewölbten Leib und blieb schließlich bei Emma hängen.

9. Kapitel

Sie war sich nicht mehr sicher, wo ihr der Kopf stand.

Schon seit zwei Tagen ging es drunter und drüber und Stella war nicht da, um ihr zu zeigen, wo genau irgendwelche Akten und Korrespondenzen abgeheftet waren.

Das Telefon klingelte gefühlte dreimal in der Minute und Emma rannte auf ihren grauen Ballerinas ständig zwischen Calmaros Büro und Stellas Schreibtisch hin und her. Außerdem hatte sie noch an den Kaffee, den Lieferanten und den Anruf bei der Reinigung zu denken.

Schon wieder klingelte der von Emma bereits verhasste Apparat auf dem Schreibtisch und sie riss den Hörer hoch, bevor sie kurz innehielt und freundlich ins Telefon flötete. „C&C Corporation – Mr. Calmaros Büro.“

Während der Mensch am anderen Ende der Leitung sich vorstellte, strich Emma die erledigten Dinge in ihrem Notizbuch ab und fing gleich eine neue Notiz für den Anrufer an.

„Das lässt sich sicher machen, Mr. Bell. Nur kann ich Ihnen leider nicht garantieren, dass Mr. Calmaro das Morgen noch schafft. Im Moment ist sein Terminkalender etwas straff. Mhm.“

Mit der Maus schob sie die Anzeige des Kalenders auf dem Monitor herum und suchte nach einer Lücke, die so aussah, als lasse sich noch eine Telefonkonferenz hineinquetschen.

„Ich könnte ihnen Freitag anbieten. Allerdings erst gegen 17.30 Uhr. Wenn Ihnen das nicht – Ja? Nein, dann erst Anfang nächster Woche.“

Einer der Bandmanager steckte den Kopf an einer Topfpflanze vorbei und sah Emma fragend an, während diese weiterhin dem Kunden am Telefon zuhörte, den Terminkalender auf dem Schreibtisch mit dem Finger entlang fuhr und dann den Bandmanager mit einem 'er wartet schon' ins Büro winkte.

Scheiße. Hatte sie vorhin das Kaffeeservice wieder mit in die Küche genommen?

„Entschuldigung?“

Der Mann am Telefon wiederholte den Termin, während schon das nächste Licht am Apparat zu blinken begann.

„Ja, natürlich. Das ist kein Problem, Mr. Bell. Ja, genau. Ich melde mich, sobald ich das mit ihm abgesprochen habe. Ja. Danke. Wiederhören.“

Der nächste Anruf war nur eine Lappalie, die sie selbst klären konnte und dann hatte Emma endlich Zeit aufzuspringen und in die Teeküche zu hetzen, um nach dem Service zu sehen.

Ja, da stand es.

Erleichtert atmete sie durch und drückte sich dann die flache Hand auf den flauen Magen. Sie hatte heute noch nicht mehr als eine halbe Packung Kekse gegessen.

Ein neuer Anruf.

 

Zwei Stunden später waren die letzten Angestellten in der Chefetage bereits gegangen und Emma hing immer noch vor dem Computer und gab die geänderten Termine in den Kalender ein. Auf ihrem Notizbuch klafften immer noch unerledigte Aufgaben, von denen zwei schon einmal wegen der Uhrzeit auf Morgen verschoben werden mussten. Wenn sie nicht schnell etwas zu essen bekam, würde sie bald tot vom Stuhl fallen!

Einer Eingebung folgend hob sie noch einmal den Hörer ab und wählte eine Nummer, die sie sich im Internet herausgesucht hatte.

 

Etwa 45 Minuten später klopfte sie an Calmaros Bürotür und wartete auf das 'Herein', bevor sie die Tür ein Stück aufzog und ihren Kopf in den großen Raum steckte.

„Ich hoffe, Sie finden das nicht anmaßend. Aber ... haben Sie vielleicht Hunger?“

Auf dem großen Tablett, das sie hereintrug, stapelten sich vier Boxen mit unterschiedlichem indischen Curry. Emma hatte einen Teller, ein Glas und eine Flasche Wasser dazugestellt. Immerhin war klar, dass sie nicht zusammen essen würden. Selbst wenn Emma einen ausgab.

„Ich wusste nicht, was Sie mögen. Deshalb hab ich mal querbeet bestellt. Suchen Sie sich was aus.“

Natürlich nur, wenn sie mit dem Curry nicht sowieso absolut daneben gegriffen hatte.

Emma stieg ein nervöses Kribbeln in den Magen, das sich mit ihrem Hunger zu einer scheinbar explosiven Mischung vereinigte und ihre Fingerspitzen zittern ließ.

Warum passiert ihr das in Calmaros Gegenwart nur immer wieder?

 

Überrascht von dem Essensduft und Emmas Worten, blickte er von den Layouts hoch, die er vor Arbeitsschluss noch von der Medienabteilung bekommen hatte, während sein Stift mitten im Wort auf dem Schreibblock verharrte.

Einen geschlagenen Moment lang, konnte er Emma einfach nur anstarren.

Sie hatte ihm etwas zu Essen bestellt?

Das war … das hatte Stella in den fünf Jahren kein einziges Mal getan, die sie schon für ihn arbeitete.

Erst die aufkommende Unruhe in seiner neuen Assistentin, die sich sichtlich unter seinem Blick unwohl zu fühlen begann, löste ihn aus seiner Erstarrung und der zugegeben ziemlich großen Überraschung.

„Ja“, kam es ihm schließlich langsam über die Lippen, bis er sich endlich vollkommen gefasst hatte.

„Ja, ich hätte tatsächlich Hunger.“

Nun begann er, zu lächeln. Warm und die überaus nette Geste würdigend.

Als Emma näher trat, konnte er erkennen, dass nur ein Teller und auch nur ein Glas auf dem Tablett standen, aber es zu viel Essen war, um ihn alleine damit zu füttern, selbst wenn er ein menschlicher Holzfäller gewesen wäre. Also kam er zu dem Schluss, dass sie auch etwas essen würde, aber nicht vorhatte, es mit ihm zu tun.

Nun, das war ihre Entscheidung, trotzdem mochte er es in Gesellschaft zu essen. Es war meistens eine viel zu seltene Gelegenheit und Vanessa war nicht gerade die ideale Tischgesellschaft, da sie nämlich so gut wie gar nichts aß.

Sie war ein Supermodel und auch sein Blut konnte nicht verhindern, dass bei falscher Ernährung Fettpölsterchen anwuchsen, nachdem man sich halb zu Tode hungerte. Der Jojo-Effekt war vielleicht grausam, aber durchaus sinnvoll, wenn man es auf evolutionärer Ebene betrachtete.

„Sagen Sie …“, begann er schließlich, während er seine Arbeitssachen beiseite räumte, damit Emma das Tablett nicht die ganze Zeit in den Händen halten musste.

„… hätten Sie Lust, mir beim Essen Gesellschaft zu leisten? Ich meine, wäre doch irgendwie unsinnig, wenn jeder in seinem Winkel alleine isst, oder?“

 

Vorsichtig, um nichts von der Soße, die reichlich in den Behältern vorhanden war, auf das Tablett zu verschütten, durchquerte Emma den Raum und stellte dann das Essen auf Calmaros riesigem Schreibtisch ab. Sie half ihm dabei, ein paar Sachen zur Seite zu räumen und achtete dabei penibel darauf, seine Ordnung nicht durcheinanderzubringen, bevor sie sich gerade hinstellte und eigentlich schon wieder den Rückzug antreten wollte.

Wovon er sie allerdings erfolgreich mit einem Lächeln und seiner unerwarteten Frage abhielt.

Ein überraschend aufgeregtes Prickeln fuhr durch Emmas Körper und hob ihre bereits lächelnden Mundwinkel noch ein Stück weiter in die Höhe. Ihre zitternden Finger verschränkten sich hinter ihrem Rücken und sofort war sie irritiert darüber, dass ihre Handflächen ganz leicht schwitzten.

Vielleicht war es nur der Kreislauf, da sie noch nichts gegessen hatte.

„Ja, gerne.“

Erst als sie sich mit einem „Ich hole schnell Besteck“ umgedreht und den Raum schon wieder verlassen hatte, fing ihr Herz an wie eine Buschtrommel zu schlagen und Emma hüpfte einmal in der Teeküche auf und ab, bevor sie Besteck aus der Schublade nahm.

Beruhig dich!

Immerhin hieß das Essen mit Calmaro, dass sie sich auch dabei keine Blöße geben durfte. Kein Kleckern, kein Reden, während sie kaute ...

Emma war schnell wieder im Büro, schob ihrem Chef eines der Bestecke auf einer Serviette über den Schreibtisch und setzte sich dann etwas steif auf einen der Besuchersessel. Wie beim ersten Mal, als sie hier gewesen war, wollte das Möbelstück sie schlucken, weswegen Emma lieber vorne auf der Kante sitzenblieb und vorsichtig die Schachteln mit dem Curry öffnete.

„In dem Papier ist Fladenbrot, wenn Sie möchten.“

Warum hörte sich ihre Stimme denn auf einmal so hoch an?

Emma räusperte sich und streckte Calmaro eine Hand hin, damit er ihr seinen Teller gab und sie ihm auftun konnte. Sie hoffte bloß, dass er ihre immer noch leicht zitternden Finger nicht bemerkte.

 

„Vielen Dank.“

Cayden gab Emma seinen Teller und begann den Knoten seiner Krawatte zu lockern.

„Bitte von allem etwas. Wenn Sie mir hier schon so eine leckere Auswahl gegeben haben, will ich sie auch auskosten.“

Sein Lächeln wurde breiter, während er sich schließlich die Krawatte über den Kopf zog und zur Seite legte.

„Ich hoffe, es stört Sie nicht. Aber mir scheint das leidige Schicksal bestimmt zu sein, meine Krawatten immer und überall hineinzuhängen, wo Essen draufsteht“ Und das war eine bittere Wahrheit. Noch dazu bekam man aus Seide die Flecken so schwer raus.

Wie viele Krawatten er im Laufe seines Lebens schon hatte wegwerfen müssen, konnte er noch nicht einmal mehr sagen. Aber diese Halsstrangulierer hatten es im Grunde auch nicht besser verdient. Leider gehörten sie zu einem passenden Bürooutfit und waren somit Pflicht.

„Danke, das reicht“, meinte er schnell, bevor Emma ihm eine Portion auftun konnte, die für einen erwachsenen Mann seiner Gewichtsklasse angemessen, aber für einen Vampir viel zu viel gewesen wäre.

Vampire und menschliche Kinder brauchten ungefähr die gleiche Menge an Nahrung. Was zum Glück in den Nobelrestaurants, wo man fast dank der kleinen Portionen verhungerte, durchaus praktisch war und Emma hoffentlich nicht weiter auffallen würde.

Während sie sich selbst etwas auf ihren Teller häufte, nahm er noch die Brille und seine Manschettenknöpfe ab und schlug sich die Ärmel bis zu den Ellenbogen hoch, da auch diese Flecken geradezu anzogen.

Danach griff er an dem Besteck vorbei zu dem Fladenbrot und nahm sich eines heraus, um sich ein Stück davon abzureißen.

„Na dann, noch einmal vielen Dank für das Essen und guten Appetit.“

 

Emma beobachtete ihn aufmerksam.

Die Geste, mit der er sich die Krawatte über den Kopf zog, schien es ihr aus unerfindlichen Gründen angetan zu haben. Genauso, wie die roten Haarsträhnen, die ihm anschließend etwas weniger gewollt ins Gesicht hingen und das scheußliche Brillengestell ein bisschen kaschierten.

Wobei das sowieso im nächsten Moment überflüssig wurde, da er sich auch von diesem schrecklichen Ding befreite und seine Ärmel hochkrempelte. Was Emma kurz überrascht die Augenbrauen heben ließ.

„Sehr gern geschehen. Und Ihnen auch einen guten Appetit.“

Emma griff zur Gabel und schob sich anschließend etwas Curry in den Mund, worauf ihr Magen mit einem glücklichen Glucksen reagierte.

„Hm, das ist nicht Maori, oder?“

Mit dem Zeigefinger deutete sie auf die breiten, schwarzen Linien, die sich seinen Unterarm entlang bis unter den Hemdsärmel zogen. Die Muster erinnerten schon an die Tribals der Ureinwohner, aber Emma sah noch andere Dinge darin. Kreise und Symbole, die mehr bedeuten konnten, als nur hübsch auszusehen. Was vielleicht trotzdem der hauptsächliche Grund gewesen sein könnte, aus dem Calmaro sich das Muster hatte machen lassen. Immerhin waren viele Tattoos nur an bestimmte Tribals angelehnt und kopierten aus Respekt nicht direkt die mythischen Zeichen. Denn Calmaro war kein Maori. Emma war sich nicht einmal zu hundert Prozent sicher, dass er Kiwi war. Auch wenn ihr bis jetzt niemand das Gegenteil erzählt hatte.

 

Cayden ließ das Stück Fladenbrot in seiner Hand wieder sinken und streckte stattdessen seinen anderen Arm etwas vor sich aus, damit er die rituellen Tätowierungen besser betrachten konnte, die ihn schon fast sein ganzes Leben lang begleiteten.

Ein wirklich langes Leben.

„Nein, das sind sie nicht. Aber Sie haben recht. Sie ähneln sich ein Bisschen.“ Und das nicht nur in ihrer Erscheinungsform, sondern vermutlich auch in ihrer Bedeutung. Schließlich waren die Maori die Ureinwohner Neuseelands, und wenn man einige hundert Jahre in ihrer Geschichte zurückging, dürfte sie kaum etwas von den Menschen unterscheiden, unter denen er aufgewachsen war. Sie hatten vielleicht andere Traditionen, andere Gebräuche und Rituale, aber bestimmte Dinge dürften bei allen Ureinwohnern gleich sein, die mit der Natur im Einklang lebten.

Nachdenklich strich Cayden sich mit seinen Fingerspitzen über die schwarzen Linien und erinnerte sich sehr deutlich daran, wie groß die Freude in ihm gewesen war, als er sie bekommen hatte. Denn im Gegensatz zu heute, wo man sich in jedem Tattooladen solche Zeichnungen stechen lassen konnte, hatte er sie sich damals hart verdienen müssen.

Es war nicht leicht gewesen. Hätte sogar jemanden wie ihn töten können. Aber er hatte es geschafft und darauf war er auch heute noch stolz, selbst wenn das in dieser Zeit nichts mehr bedeutete und das Volk seiner menschlichen Familie schon längst ausgestorben war.

Cayden tauchte wieder in die Gegenwart ein und schaufelte sich mit dem Fladenbrot etwas Curry von seinem Teller und biss davon ab.

Der Geschmack war köstlich und ließ ihn erst jetzt merken, wie hungrig er war. Das Essen war wirklich eine gute Idee gewesen.

Er schenkte Emma ein zufriedenes Lächeln und sprach erst weiter, als er hinuntergeschluckt hatte.

„Interessieren Sie sich für Tattoos?“

 

Es war nicht das erste Mal, bei dem sie jedem zustimmen musste, der behauptete, dass das Essen zu zweit besser schmeckte, als allein.

Schon allein bei dem zufriedenen Schmunzeln, das Calmaro ihr zuwarf und das seine grünen Augen ein bisschen funkeln ließ, schmeckte Emma das Essen gleich selbst viel besser.

Sie kaute zufrieden und bemerkte, wie der Stress des Tages ein bisschen von ihr abfiel. Auch wenn das nicht ganz seine Wirkung entfalten konnte. Denn sie fühlte sich in Gegenwart ihres Chefs trotzdem noch anders, als sie es zu Hause getan hätte. Zwar war ihr nicht unbedingt unwohl, aber Emma hatte sich einfach noch nicht daran gewöhnt, sich morgens eine andere Haut überzustreifen, die sie nicht bei jeder Gelegenheit abstreifen durfte.

Erst wenn sie zu Hause war, in ihrer bunten Wohnung bei Kathy und Rob, durfte sie die Schuhe zur Seite kicken, sich aus ihren gestärkt wirkenden Klamotten schälen und sich in Jeans und Comic-T-Shirt aufs Sofa werfen.

„Wie man es nimmt. Es kommt wirklich ganz darauf an, was es für Tattoos sind. Tribals, wie Ihres, gefallen mir ganz gut. Auch kleine Sachen, wie Sterne oder sowas. Womit ich nichts anfangen kann, sind irgendwelche dämonischen, halb nackten Frauen oder extra hässliche Fratzen. Da verstehe ich auch die Gründe nicht.“

Emma schluckte hinunter und ihr fiel nicht auf, dass sie sich ein kleines Stückchen Fladenbrot in den Mund schob und sofort weiter redete, ohne auf angemessene Höflichkeit zu achten.

„Ich habe mal überlegt, mir ein Symbol in den Nacken tätowieren zu lassen. Allerdings bringt das nicht viel, weil ich meine Haare nicht besonders oft so trage, dass man es sehen würde.“

Außerdem schwebte ihr immer noch ein Kommentar eines ihrer Ex im Kopf herum, der einmal behauptet hatte, dann würden sie noch mehr Frauen anmachen, als sie es ohnehin schon taten. Etwas, das Emma nicht unbedingt noch herauf beschwören wollte.

„Bedeutet Ihr Tattoo denn etwas?“, wollte sie neugierig wissen. Denn meistens stand eine Geschichte hinter dem Bild, das man sich unter der Haut verewigen ließ. Immerhin war das eine Entscheidung fürs Leben, sich so ein Bild stechen zu lassen.

 

Während Cayden Emma aufmerksam zu hörte, begann er sich langsam zu entspannen. Sein Nacken spannte nicht mehr so und er streckte ein bisschen die Füße unter dem Tisch von sich, um es sich bequemer zu machen.

„Ich denke ja, Tattoos sind für einen selbst gedacht, und auch wenn sie für andere Menschen etwas aussagen, muss es doch nicht wichtig sein, dass man sie ständig sieht. Schließlich lassen sich auch viele Leute an Stellen tätowieren, die kaum die Sonne sehen.“

Außerdem sah man seine eigenen Zeichnungen schon seit Jahren nicht mehr so, wie er sie früher getragen hatte. Auch die Bedeutung hatte sich inzwischen verändert.

Während seine Tattoos so etwas wie Abzeichen beim Militär darstellten und ihm somit früher Respekt und Ehrfurcht eingebracht hatten, waren sie heute nichts weiter als geläufige Körperkunst. Es war bedauerlich, aber nicht zu ändern.

Gerade wollte Cayden einen weiteren Bissen von dem Curry auf Fladenbrot nehmen, ohne bisher auch nur einmal sein Besteck benutzt zu haben, als Emma ihn genau danach fragte, was er ihr unmöglich sagen konnte.

Dennoch sollte er ihr eine Antwort darauf geben, also legte er das Fladenbrot auf seinen Teller, brach stattdessen die Flasche Wasser an und füllte damit das Glas auf, ehe er es auf Emmas Seite des Tisches stellte und die Flasche für sich selbst behielt.

„Ja. Das tut es. Besser gesagt, alle, die ich habe, bedeuten etwas.“

Cayden ließ sie ungefähr zehn Sekunden lang in dem Glauben, dass das alles war, was er ihr antworten würde, doch schließlich lächelte er erneut.

„Das klingt vielleicht etwas sonderbar, für jemanden in meiner Position, aber schließlich war ich nicht immer ein Anzugträger.“

Und wenn er könnte, würde er ausgewaschene Jeans und T-Shirts tragen, während er barfuß durch sein Haus lief.

„Sie symbolisieren Lebensabschnitte, erfolgreich bestandene Aufgaben, angestrebte Ziele, die verwirklicht wurden und erzählen zum Teil, mit wem man es zu tun hat, soweit man sie deuten kann. Aber das können die wenigsten.“ Besser gesagt, in dieser Epoche überhaupt niemand mehr.

Cayden nahm einen Schluck aus der Flasche und aß dann sein vorbereitetes Fladenbrot mit dem Curry darauf.

„Im Grunde handelt es sich um Dinge, nach denen kaum jemand fragt, da vermutlich jeder denkt, ich hätte sie, weil sie gut aussehen. Und, zugegeben. Das tun sie auch.“

Er wischte sich mit dem Daumen ein Stück Soße von den Lippen und richtete seinen Blick dann wieder auf Emma.

„Was würden Sie sich denn in den Nacken stechen lassen, wenn man einmal von den Hindernissen absieht, die Sie offenbar darin sehen?“

 

„Hm.“

Es war ein zustimmender, wie auch zugleich fragender Laut, den sie als erste Reaktion auf seine Erklärung hören ließ.

„Dann haben Sie also mehr als dieses hier?“

Emma wurde erst klar, dass sie gerade der Verstand verlassen haben musste, als es schon fast zu spät war. Sie hatte sich nach vorne gelehnt, ihre Hand ausgestreckt und ihr Finger schwebte zwar ein ganzes Stück von ihm entfernt, aber eindeutig im Begriff die schwarzen Linien auf Calmaros Arm zu berühren.

„Ich meine ...“

Langsam, als könnte sie die Stimmung zwischen ihnen zerbrechen wie Glas, zog Emma ihren Arm zurück und versuchte nicht ganz so schuldbewusst auszusehen, als sie Calmaro wieder in die Augen blickte.

„Ja, sie sehen ... gut aus.“

Das taten sie wirklich. Und wenn sie sich ihren Boss im T-Shirt vorstellte, vielleicht mit einem Bier in der Hand und einem Lachen auf den Lippen ...

Emma starrte ihn für eine halbe Minute an. Ohne etwas zu sagen und ohne etwas gegen ihre Phantasie zu tun, die ihr sehr gut gefiel, wenn sie das Bild über ihr inzwischen entspannt dasitzendes Gegenüber schob.

Sie sehen auch nicht schlecht aus, wenn man ehrlich ist, Mrs. Calmaro. Aber ich denke, das wissen Sie.

Mit einem Schmunzeln rutschte Emma ein Stück auf dem Stuhl herum, um es sich ein kleines Bisschen gemütlicher zu machen und senkte dann kurz den Kopf.

„Wissen Sie, das ist gar nicht so leicht. Eine Zeit lang hatte ich mal darüber nachgedacht, mir ein Ankh stechen zu lassen. Wegen der Bedeutung des Zeichens. Aber irgendwie ... gefällt es mir von der Form her nicht so gut. Eine Triskele wäre vermutlich eher etwas.“

Sie suchte in seinem Gesicht nach Hinweisen darauf, ob er wusste, was eine Triskele war. Konnte aber keine Antwort darauf finden.

 

Cayden lehnte sich interessiert in seinem Stuhl zurück, zupfte sich ab und zu ein Stück Fladenbrot ab und tauchte es in die köstliche Soße, um es danach in kleinen Bissen zu essen.

Ihm war vorhin nicht entgangen, wie sie dabei gewesen war, die schwarzen Linien an seiner Hand zu berühren und es dann doch nicht getan hatte.

Ein Teil von ihm hatte ihr geraten, es sein zu lassen. Ein anderer hätte gerne gewusst, wie sich ihre Finger auf seiner Haut anfühlen würden und es somit bedauert, als sie sich wieder zurückgezogen hatte.

„Ich finde, ein Ankh würde nicht zu Ihnen passen. Es verbindet Dinge, von denen Sie selbst immer nur eine Hälfte darstellen und die andere bleibt unausgefüllt. Wobei ich darauf wetten würde, dass Sie darüber froh sind, nicht die volle Bedeutung dieses Zeichens auszufüllen. Es mag vielleicht nur ein Zeichen sein, aber man sollte dennoch aufpassen. Man weiß nie, wie viel Macht sie wirklich besitzen und am Ende würden Sie vielleicht sogar die Hälfte in ihr Leben ziehen, die fehlt, um sie auszufüllen. Das würde ich Ihnen nicht wünschen.“

Cayden hatte versucht, seine Worte so farblos zu gestalten, wie möglich, weil er Emma nicht extra mit der Nase auf die Schutzeinrichtung vor seinem Büro stoßen wollte, die sie vermutlich ebenfalls mit Symbolen errichtet hatte und von der er vermutlich nicht einmal etwas wissen sollte. Sie mochte zwar keine Ahnung haben, dass ihr Chef ein Vampir war, aber ebenso sollte er vermutlich nicht wissen, dass sie mehr, als nur eine gewöhnliche Assistentin war.

„Die Triskele würde schon sehr viel besser passen, sobald Sie mit sich selbst darüber einig sind, welche Dreideutigkeit das Zeichen für Sie darstellen soll. Vielleicht Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Oder Jungfrau, Mutter und weise Frau. Auch Geburt, Leben und Tod wäre eine Möglichkeit. Aber das sind nur die mir geläufigsten Bedeutungen dieses Symbols. Es wird vermutlich auch noch andere Bedeutungen haben. Auf jeden Fall scheint die magische Zahl Drei in der keltischen Mythologie eine große Bedeutung zu haben, und soweit ich das erkennen konnte, interessieren Sie sich für die ein oder andere Mythologie.“

Dieses Mal wollte er nicht ihr Armband erwähnen. Beim letzten Mal wäre sie ihm fast an die Kehle gegangen, und da sie inzwischen sehr viel besser aussah, wollte er auch, dass es so blieb.

„Welche Interessen besitzen Sie denn sonst noch so in ihrem weltlichen Leben, von den beruflichen Aspekten einmal abgesehen?“, wollte er höflich aber auch neugierig wissen.

 

Wie spannend es doch war, wenn man sich von Menschen immer wieder aufs Neue überraschen lassen konnte!

Emma nahm Calmaros Wissen über mystische Symbole mit einem Lächeln und einem weiteren Bissen Curry hin und begann sich allmählich in dem riesigen Büro beinahe wohlzufühlen.

Es war erstaunlicherweise gar nicht so, dass sie ihm das nicht zugetraut hätte. Allerdings konnte sich jemand wie Emma jemanden wie Calmaro nicht bei der Lektüre von Esoterik-Schinken oder Fantasy-Romanen vorstellen. Obwohl ... lesen, tat er vielleicht, wenn er einmal Zeit dazu hatte. Vor dem Marmorkamin, den er bestimmt zu Hause hatte, die Brille ein bisschen weiter die Nase hinunter geschoben.

Wenn ihm endlich jemand sagen würde, dass ein unauffälliges, kleines, vielleicht goldenes Gestell sehr viel besser zu ihm gepasst hätte.

Emma hatte schon den Mund offen, stopfte sich aber lieber etwas Fladenbrot hinein, bevor sie sich hier noch um Kopf und Kragen reden konnte. Das ging sie nichts an. Manchmal mochte sie in solchen Dingen vielleicht mutiger sein, als gesund für sie war, aber ihren Boss in Modefragen zu beraten, war bestimmt nicht angebracht. Also überlegte sie lieber, was sie ihm über ihr Privatleben erzählen sollte. Ohne zu viel über ihr Privatleben zu erzählen.

„Ich lese. Gern und viel. Eigentlich habe ich immer ein Buch dabei, egal wohin ich gehe. Außerdem gehe ich gern ins Kino. Fast jede Woche am Kinotag, wenn es sich machen lässt. Und ich gehe gerne raus. Mein Mitbewohner nennt das immer 'ein Abenteuer'. Egal, ob wir nur zum Strand fahren und Seelöwen oder Pinguine beobachten oder ob wir am Ende auf der Südinsel bei einem Hike durch den Regenwald landen.“

Sie zuckte die Schultern.

„Sie wissen schon. Spontanaktionen.“

Und genau jetzt blinkte glücklicherweise eine riesige Warnleuchte zwischen ihnen auf, die Emma zuverlässig davon abhielt, ihr Gegenüber – seines Zeichens Boss eines riesigen Unternehmens und vor allem ihr Boss – zu fragen, was er eigentlich gern in seiner privaten Freizeit machte.

 

Er gab es zwar nicht zu und ließ es sich auch nicht anmerken, aber je mehr Emma erzählte, obwohl es dürftige Informationen waren, umso mehr verspürte er einen gewissen Stich der Eifersucht in sich und musste sich in Gedanken sogar einmal ermahnen, dass er sich in einer Phase der Arbeit befand und keinerlei Interesse an Filmen, Büchern … Abenteuern haben durfte, obwohl ihn diese Dinge in einer Phase der Ruhe absolut begeisterten.

Wann war er denn das letzte Mal in einem Kino gewesen?

1992, wenn er sich richtig erinnerte und wann im Regenwald, ohne dass es bei einem offiziellen Anlass geschehen war?

Entschieden schob Cayden diese ansteckenden Gedanken zur Seite. Stattdessen bewahrte er sich die Vorfreude auf diese Dinge auf, wie einen kostbaren Schatz, denn dieses Gefühl war es, das ihn letzten Endes am Leben hielt und der Gleichgültigkeit die Stirn bot.

„Ach, weiß ich das?“

Cayden zog eine rötliche Augenbraue in die Höhe und sah Emma aus seinen leuchtend grünen Augen hervor an.

„Meine letzte Spontanaktion war die schwerwiegende Entscheidung, ob ich lieber arbeiten, oder mit Ihnen etwas essen soll, obwohl es nicht in meinem Terminkalender vermerkt war. “

Er lächelte und entblößte dieses Mal sogar seine perfekt weißen Zähne.

 

Emma lachte.

Sie konnte gar nicht anders, denn die Vorstellung, dass ihr Chef – der es sich vermutlich leisten konnte, einen Gletscher absperren zu lassen, um die ersten Skispuren in den Schnee ziehen zu können – so etwas nicht im kleinen Stil machte, war einfach lächerlich.

Mit einem immer noch breiten Grinsen und einem unterdrückten Lachen im Gesicht riss Emma sich noch ein Stück Fladenbrot an, bevor sie Calmaro wieder ansah.

„Das ist doch nicht ihr Ernst. Ich dachte eigentlich, dass Sie sich morgens gar nicht entscheiden können, ob Sie nach dem Aufstehen mit Ihrem Boot rausfahren, einmal nach Auckland fliegen, um dort im Skytower zu frühstücken oder doch lieber nach OZ, weil es da wärmer ist.“

Wieder lachte sie ihm entgegen und stellte dann ihren Teller auf das Tablett, bevor sie sich ihr Wasserglas nahm und einen großen Schluck daraus trank.

Danach lag eigentlich mehr ein Zwinkern in ihren Augen.

„Und keine Sorge, ich hab ihre Assistentin mal getroffen. Die ist eigentlich ganz nett, wenn man sie besser kennt.“

 

Cayden ließ sich von Emmas Lachen – das im Übrigen sehr schön war – anstecken, aber nur soweit, dass er nur schmunzelnd den Kopf schütteln konnte und sich lieber noch ein Stück Fladenbrot mit Curry in den Mund schob.

Eigentlich wollte er ja nichts darauf erwidern, aber irgendetwas wollte sich aus seinem Inneren herausdrängen und so kam es, dass er sich nach vorne lehnte und Emma ernst ansah.

„Von welcher Person sprechen Sie eigentlich? Die muss ich unbedingt kennenlernen!“

Allein die Vorstellung davon brachte ihn schließlich zum Lächeln und dann zum Grinsen. Er konnte nicht anders, aber das war einfach zu utopisch. Als hätte er jemals die Zeit dafür während seines Lebens als Workaholic so etwas zu tun.

„Und nur zu Ihrer Weiterbildung in Sachen Firmentratsch. Ich besitze kein Boot und auch keine Yacht und schon gar kein Kreuzschiff.“

Cayden schob den Teller mit dem halb aufgegessenen Curry von sich. Er konnte wirklich nichts mehr Essen, ohne dass gleich irgendein Knopf an seinem Hemd durch die Luft schoss, wenn er zu tief einatmete. Also schnappte er sich die Wasserflasche, lehnte sich lässig in seinem Bürosessel zurück und sah Emma mit leicht schräg gelegtem Kopf an.

„Tatsächlich habe ich das auch über sie gehört. Muss also stimmen.“

Sein Lächeln wurde von humorvoll zu charmant und dieses Mal eines in voller Blüte, das auch seine Augen voll erwischte.

 

Emmas Lachen schmolz unter seinem charmanten Blick zu einem kleinen Kichern, das sie selbst an sich nicht gewohnt war. Es passte irgendwie zu ihren gebügelten Klamotten, ihrem Make-up, das sie normalerweise nicht auftrug und der Situation, dass sie mit diesem mächtigen Mann gerade ein Picknick-Dinner veranstaltete. Obwohl das eigentlich mehr zu derjenigen Emma passte, die sie normalerweise war. Und die kicherte doch nicht, bloß weil ein Mann ihr ein winziges Kompliment gemacht hatte.

„Wissen Sie, das ist schade. Das mit dem Boot, meine ich. Egal, was der Tratsch sagt, Sie sollten sich überlegen, eins zu kaufen. Ein Kleines, mit dem Sie einfach ein Stück rausfahren, die Sonne genießen und ein bisschen Fischen können. Das macht nämlich wirklich Spaß und entspannt.“

Was ihm bestimmt nicht schaden konnte.

„Muss ja auch nicht gleich sein. Im Moment wäre eine Dauerkarte fürs Hallenbad vermutlich sinnvoller.“

 

Cayden legte seinen Nacken an die Sessellehne und blickte zur Decke, während er mit dem Fuß seinen Stuhl ein bisschen Hin und Her schwingen ließ.

Seine Stimme war zwar wieder ernsthaft, aber keinesfalls besaß sie die Ernsthaftigkeit, die er sonst gerne an den Tag legte, vor allem da immer noch ein entspannter Zug um seinen Mund schlich.

„Wissen Sie, das klingt alles wirklich sehr verlockend, Emma. Aber Sie kennen meinen Terminplan. Das ist einfach nicht drin.“

Caydens Blick senkte sich wieder, bis er Emmas Gesicht traf.

Natürlich könnte er ihr jetzt alles Mögliche darüber erzählen, dass ein so wichtiger Posten wie seiner, eben auch Opfer fordert und er sich kaum etwas in seiner Freizeit leisten konnte. Er könnte ihr vorjammern, was er gerne alles tun würde, wenn er es nur könnte. Aber das war alles so unwichtig und würde nur die Zeit vertun, die sie gerade jetzt hatten.

„Aber ich finde es nett, dass Sie heute an das hier gedacht haben.“

Er machte mit seiner Hand einen Bogen über das kleine Festmahl.

„Und das, obwohl Sie schon längst Feierabend machen dürften, wenn es nach mir geht.“

 

Sie glaubte, den Wink verstanden zu haben. Mit einem Lächeln, das warm und heiter war, sah sie ihm in die grünen Augen, bevor sie ihr Glas auf das Tablett stellte und sich noch eine Minute Zeit ließ.

„Es gibt immer eine Möglichkeit, Mr. Calmaro.“

Mit einem Schmunzeln stand sie auf, strich sich den Rock glatt und räumte dann die Essensreste vom Schreibtisch auf das Tablett, bevor sie es anhob und noch einmal ihren Chef ansah.

„Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“

Emma hatte die Tür schnell erreicht, zog sie auf und drehte sich dann noch einmal um.

„Bis Morgen.“

 
 

***

 

Als Emma die Treppe zur Wohnung hochsprang, dabei in eine Pfütze tappte und trotzdem über beide Ohren strahlte, war ihr schon klar, dass das nicht besonders schlau von ihr war. Sie sollte nicht so gut gelaunt die Schuhe ausziehen, sie in die Dusche zum Trocknen stellen und dann summend in ihr Zimmer verschwinden.

Genauso wenig sollte sie sich mit einem Schmunzeln einen Tee kochen, sich ins Wohnzimmer setzen und so tun, als würde sie das Magazin über Photographie durchblättern, das nur Rob dort hatte liegen lassen können.

Das alles sollte sie nicht tun.

Aber am allerwenigsten sollte sie sich vorstellen, wie es wohl wäre, ihren Boss zu küssen.

10. Kapitel

Emma war schon vor einer ganzen Weile gegangen, die gute Stimmung hing jedoch irgendwie dennoch im Raum. Als hätte sie etwas zurückgelassen. Etwas, das ihn langsam immer öfter, von seiner Arbeit hoch und zu dem leeren Stuhl, den sie hinterlassen hatte, hinschauen ließ.

Das Abendessen war wirklich nett gewesen und er hatte sich schon lange nicht mehr auf so simple Art amüsiert. Er wusste noch nicht einmal mehr, wann er das letzte Mal einen Scherz gemacht hatte, der nicht in irgendeine Rede eingebaut worden war.

Cayden seufzte und legte seinen Stift weg, ehe er sich mit seinem Stuhl zur nächtlich erleuchteten Stadt herumdrehte und hinausblickte.

Er wünschte tatsächlich, er könnte wenigstens eines der Dinge tun, die sie ihm vorgeschlagen hatte. Vielleicht nur einmal und dann …

Cayden stoppte seine Gedanken. Er konnte sie sich jetzt nicht leisten und trotzdem geisterten sie in ihm herum … genauso wie Emmas Lachen.

Entschlossen schüttelte er den Kopf, als würde es etwas nützen, drehte sich ruckartig wieder herum und arbeitete weiter. Denn das war es, was er zu tun hatte. Mindestens noch für zehn weitere Jahre, dann wäre für eine ganze Weile Ruhe.

Trotzdem … Cayden konnte nicht verhindern, ab und zu einen kurzen Blick auf den leeren Stuhl zu werfen, ehe er sich noch verbissener auf seine Arbeit stürzte.

 
 

***

 

Irgendwo flackerte eine der Neonröhren und gab ständig dieses leise 'Pling' von sich, das einem so richtig auf die Nerven gehen konnte.

Emma hörte es bereits, als sie aus dem Fahrstuhl gestiegen war und an den größtenteils noch leeren Tischen vorbei zum Vorzimmer ging. Draußen regnete es einmal wieder in Strömen und sie war bloß dankbar für ihre Stiefel, die sie einigermaßen elegant unter einer dickeren Stoffhose versteckt hatte. Ballerinas wären heute die falsche Wahl gewesen und Emma fror schon bei der Vorstellung, als sie noch einen Blick in das Grau draußen vor dem Fenster warf, an die der Wind die Regentropfen drückte.

An ihrem Arbeitsplatz angekommen, verstaute sie ihre Tasche im Rollcontainer, schaltete die Computer an und kochte Tee, nachdem sie ihre Jacke in der kleinen Garderobe aufgehängt hatte.

Sie dachte daran, wie es am Anfang gewesen war, hier zu sein. Alles neu und nicht unbedingt immer im positiven Sinne aufregend. Alles hatte auf sie gewirkt, als warte würde es nur darauf, vergessen oder falsch gemacht zu werden. Und jetzt ... war Emma das Meiste schon ziemlich in Automatismen übergegangen.

In zehn Minuten würde Stella anrauschen. Sie würden die Termine durchsprechen, einen Tagesplan aufstellen, der die Aufgaben aufteilte und dann würde jede von ihnen sich hinter ihren Computer setzen und anfangen zu arbeiten.

Mit der Tasse in der Hand setzte Emma sich an ihren Tisch, öffnete die Programme, die sie benötigen würde, wartete darauf, dass der Spamfilter die E-Mails dezimierte, und sah dabei auf die Bürotür ihr schräg gegenüber. Ein bisschen hatte sie erwartet, dass es noch nach Curry riechen würde. Nur eine Spur davon hätte in der Luft hängen und ein Beweis dafür sein können, dass ihr gemeinsames Abendessen gestern wirklich stattgefunden hatte. Aber im Moment schien es wirklich in sehr weite Ferne gerückt zu sein. Beinahe so, als hätte die fleißige Putzkolonne noch sehr viel ordentlicher gearbeitet als sonst.

Emmas Blick wanderte zur Uhr auf ihrem Desktop.

In ungefähr einer halben Stunde würde er ins Büro kommen. Mit der Zeitung in der Hand und einem netten „Guten Morgen“ auf den Lippen. Vermutlich nicht mehr, denn morgens hatte es Calmaro recht eilig, in sein Büro zu kommen. War ja auch klar, bei den Terminen, die sich schon im Kalender stapelten. Der Erste war bereits um halb neun, was bedeutete, dass er seinen Morgenkaffee in der Besprechung trinken musste.

Emmas Augen huschten über den Kalender, als suche sie etwas. Nichts Bestimmtes, sie sah sich nur an ...

Ihr Lächeln versank in der Teetasse, als ihr bewusst wurde, dass sie nicht finden würde, was sie gesucht hatte. Der Termin schien diese Woche auszufallen.

 

Pünktlich wie ein Uhrwerk öffneten sich die Türen des Aufzugs und er trat wie immer in der Morgenzeitung vertieft aus dem Fahrstuhl. Allerdings war dieses Mal keine schlechte Kritik daran schuld, dass die kleinen Büroabteile fast unbemerkt an ihm vorüberzogen. Viel mehr starrte er irgendein Bild von Sturmschäden an, zu dem er überhaupt nichts wusste, obwohl er schon die ganze Zeit so tat, als würde er den passenden Text dazu lesen.

Der Grund seiner versunkenen Gedanken begrüßte ihn schließlich fast am Ende des langen Korridors kurz vor seiner Bürotür.

Einen Moment lang huschte sein Blick zu Stella, die ihm zwar ein freundliches Lächeln schenkte, nach ihrem Gruß sich aber sofort wieder mit ihrem Bildschirm beschäftigte.

„Guten Morgen, die Damen.“

Er sah Emma an, nahm die Zeitung ganz herunter und schenkte ihr eines seiner seltenen, ehrlich gemeinten Lächeln, ehe er sein Büro betrat, und zwar inzwischen so, dass er nicht mehr ihren Abwehrmechanismus berührte. So konnte er für sich selbst die Illusion bewahren, sie wären manchmal nichts anderes als ganz normale Leute, die sich offenbar gut verstanden, wenn er einmal nach der gestrigen Überraschung von Emma ausging.

Irgendwie hatte er sich davon immer noch nicht erholt, so oft, wie er bei dem Gedanken daran lächeln musste.

Als Cayden sich in seinen Bürosessel setzte und den leeren Stuhl ihm gegenüber ansah, musste er wieder einmal feststellen, dass es sich durchaus lohnte, eine Ewigkeit zu warten, nur um solche Augenblicke zu erleben.

 
 

***

 

Es war bisher noch nie vorgekommen, dass er seine Mittagspause freiwillig früher beendete.

Eigentlich sollte es ihn beunruhigen, dass er sich heute nicht vollkommen konzentrieren und somit wirklich tief in sich selbst versinken konnte, aber das tat es nicht.

Stattdessen fuhr er die Rollos wieder hoch, nachdem er sich die Brille aufgesetzt und seine Kleidung in Ordnung gebracht hatte und trat vor sein Büro.

Ein kurzer Blick bestätigte ihm, was er vorhin schon gehört zu haben glaubte. Stella war kurz weg und nur Emma hielt alleine ihren Posten vor seiner Tür.

Perfekt.

Verdammt, was ist nur mit dir los. Hör auf so blöde zu grinsen!

Nein, er grinste nicht, aber für seine Verhältnisse war dieses kleine Lächeln, das da seine Mundwinkel umspielte schon mehr als besorgniserregend gut gelaunt.

Allerdings änderte sich das schlagartig um eine Spur, als er an Emmas Bürotisch heran und somit direkt auf ihren Abwehrmechanismus trat.

Sofort stellten sich seine Nackenhärchen auf, seine Pupillen begannen sich ein Stück weit zu erweitern, so als mache er sich gleich für einen Kampf bereit und seine Fangzähne pochten bereits in ihren Startlöchern. Dennoch riss er sich zusammen. Daran konnte man sich durchaus gewöhnen.

Irgendwie.

Ohne Umschweife kam er zum Punkt, da er nicht wusste, wie lange er sich zusammenreißen konnte, wenn er so gereizt wurde.

„Diesen Samstag gibt es diese Spendengala, wie Sie ja sicherlich schon wissen. Es ist üblich, dass mich meine Assistentin zu solchen Anlässen begleitet, wenn meine Frau nicht die Zeit dazu aufbringen kann und Stella hat mir bereits versichert, dass niemand sie in ihrem Zustand in ein Cocktailkleid zwingen wird. Nicht einmal die Aussicht auf einen dicken Bonus. Darum wollte ich Sie bitten, ob Sie mir vielleicht diesen Gefallen tun könnten? Selbstverständlich auch zu den gleichen Bedingungen, was den Bonus angeht.“

 

Emma hatte wieder einmal einen Knopf im Ohr und hörte Flight of the Conchords.

Normalerweise erlaubte sie sich das im Büro nur dann, wenn wirklich alles Drunter und Drüber ging und sie einmal zehn Minuten in einer ruhigeren Welt brauchte, um ihre Gedanken wieder auf die Reihe zu bringen. Stella hatte vermutlich nur deswegen noch nichts dagegen verlauten lassen, weil es wirklich etwas half und Emma nach diesen zehn Minuten wieder wesentlich besser zu gebrauchen war, als vorher.

Da es eigentlich Zeit für die Mittagspause, Stella aber noch nicht wieder hier war, hatte Emma ein bisschen Zeit, ihre privaten E-Mails zu lesen und etwas auf der Internetseite des Abendkurses nachzusehen, für den sie diese Woche endlich einmal wieder etwas vorbereitet hatte. Später würde sie die Zeit, die sie für diese privaten Dinge genutzt hatte, einfach von ihrer eigenen Pause abziehen. Immerhin war diese lang genug, und wenn sie nicht irgendwo essen ging, sondern sich nur einen belegten Bagel holte, schaffte sie es locker, rechtzeitig wieder da zu sein.

Wobei Emma mit einem zweifelnden Blick nach draußen heute eher dafür war, sich einen Müsliriegel aus dem Automaten in der Lobby zu holen und später vielleicht zur Metro zu sprinten, wenn der Regen etwas nachgelassen hatte. Falls er heute noch etwas nachlassen sollte.

Als die Bürotür leise aufging und Calmaro früher als zu erwarten gewesen war, heraus kam, wanderten Emmas Augen zu der Uhr auf ihrem Monitor und sie schaltete die Musik aus, bevor sie sich des Ohrhörers entledigte.

Er hatte seine Mittagspause unterbrochen. Schon allein das war seltsam genug und verhieß vermutlich nichts Gutes. Deshalb wurde Emma wachsam und schaltete sofort auf kompetente Assistentin, während sie ihre Mittagspause schon einmal gedanklich auf später verschob.

Gerade sah sie mit einem Lächeln zu ihrem Chef auf und war im Begriff zu fragen, was sie für ihn tun konnte, als er sie mit seiner Wortflut geradezu überrollte.

Das Einzige, was in Emmas Hirn davon anzukommen schien, waren angestrichene Wörter mit fettem, leuchtendem Textmarker.

Emma war verdutzt, schob sich die eine verirrte Haarsträhne hinters Ohr und sortierte dann in Gedanken, was er ihr gerade gesagt hatte. Erst dann wagte sie, ihm wieder ins Gesicht zu sehen und das, obwohl es ihr aus einem unerfindlichen Grund dabei im Nacken knisterte und Emma das Gefühl bekam, nicht mehr ruhig auf ihrem Stuhl sitzenbleiben zu können.

„Was ...“ Ihre Stimme raspelte so stark, dass Emma noch einmal von vorne anfing. „Was genau hätte ich denn auf dieser Spendengala zu tun?“

So, wie sie sich das vorstellte, würde sie mit einem unauffälligen Klemmbrett neben ihm stehen, notieren, wem er welche Summe versprach und das alles ... im Cocktailkleid.

Ob sie ihm gleich sagen sollte, dass das ein Problem werden würde?

Emma rief sich zur Ordnung.

Wer hatte denn überhaupt gesagt, dass sie hingehen würde?! Kam ja gar nicht in die Tüte. Warum ging denn seine Frau nicht mit ihm hin?

Vielleicht geht er lieber mit mir.

Emma wurde ganz heiß und ihr Herz fing an zu flattern, während sie Calmaro anstarrte, wie ein hypnotisiertes Kaninchen.

Neeein.

Oder?

 

Seine Augen folgten wie hypnotisiert der Bewegung von Emmas Hand, wie diese eine verirrte Strähne zurück hinter das kleine, wohlgeformte Ohr schob, das in einer feinen Linie in ihren Hals überging, der durch die Art, wie ihre Hand für einen flüchtigen Moment dort verharrte, regelrecht präsentiert wurde.

Cayden musste schlucken und sich von dem Anblick der zarten, weichen Haut losreißen.

Herrgott noch mal, du hast gerade einmal vor zwei Tagen von Helen getrunken. Reiß dich zusammen!

Der Gedanke ans Trinken machte es allerdings erst recht nicht besser und verstärkte vor allem das Pochen seines Zahnfleisches an den Eckzähnen.

Seine Fänge standen nur einen einzigen Impuls davon entfernt, hervorzukommen.

Cayden verspannte sich noch mehr und fragte sich nicht zum ersten Mal, wieso Emma mit ihrem Abwehrmechanismus nicht für ihn ein Fleckchen in ihrer Nähe hatte freilassen können, damit er sich in einem Gespräch mit ihr nicht so fühlen musste, als würde sie ihn gleich anspringen, wenn er es nicht zuerst tat.

Was genau dieses Anspringen beinhaltete, konnte er gerade nicht mehr so genau sagen.

Da anspringen – in welcher Form auch immer – ohnehin nicht zur Debatte stand, konzentrierte er sich stattdessen mit aller Macht auf ihre Frage und worum es in dem Gespräch noch einmal schnell gegangen war.

Er verlor den Faden endgültig, als plötzlich seine Nasenflügel instinktiv bebten, um Emmas Duft besser einfangen zu können, der mit einem Mal deutlicher von ihr auszugehen schien.

Ihr Herz raste und brachte somit seines dazu, es ebenfalls zu tun.

Er konnte es hören, obwohl er sich nicht darauf konzentriert hatte. Aber das lag vermutlich an diesem verdammten Abwehrmechanismus, der ihn so reizte, dass seine Sinne sich automatisch schärften.

Angestrengt nach Ablenkung suchend, versuchte er ihre Frage zu enträtseln und somit wieder auf den Punkt dieses Gesprächs zu kommen, das so plötzlich an jede Bedeutung verloren hatte.

Ach ja. Die Spendengala.

„Nun.“ Er zwang sich zu einem Lächeln, das ihm das Pochen in seinem Oberkiefer nur noch deutlicher spüren ließ.

„Im Groben und Ganzen müssen Sie nichts weiter tun, als sich mit mir dort zu Tode langweilen und bezaubernd auszusehen. Ihre einzige Arbeit wird darin bestehen, an meiner Seite zu bleiben, um mich nicht mit diesen affektierten Snobs alleine zu lassen. Und wenn wir beide Glück haben, können wir spätestens dann gehen, wenn ich einen Haufen Geld für einen guten Zweck losgeworden bin.“

Er schob sich seine Brille wieder weiter die Nase hoch, obwohl diese perfekt an ihrem Platz gesessen hatte, aber er musste irgendwie seine Hände beschäftigen. Das hier gestaltete sich mehr und mehr zu einer Selbstkasteiung.

Dabei müsste er nur ein paar Schritte zurückgehen und diese illusorische Reizung all seiner Sinne hätte ein Ende. Er könnte sich wieder wie ein normaler Vampir fühlen.

Stattdessen aber trat er sogar noch einen Schritt nach vorne und strich in stiller Bewunderung mit seinen Fingerspitzen über das kunstvolle Notizbuch von Emma, das neben ihrem Bildschirm lag und ihn zumindest für einen Moment auf andere Gedanken brachte.

„Ich will ehrlich mit Ihnen sein, es klingt nicht nach viel Arbeit, aber glauben Sie mir, einen ganzen Abend mit der High Society von Wellington zu verbringen, kann bisweilen dazu führen, dem ein oder anderen gerne das falsche Lächeln aus dem Gesicht entfernen zu wollen. Auf die eine oder andere Art versteht sich. Sie würden mich daher mit Ihrer Anwesenheit vor einem großen Imageschaden bewahren.“

Und ihm dabei die Frauen vom Hals halten, die selbst vor einem verheirateten Mann nicht zurückschreckten, solange er irgendwo alleine aufkreuzte und Milliarden von Dollar schwer war.

 

Nur bezaubernd aussehen. Na klar, kein Problem. Wenn’s weiter nichts ist.

Hatten Männer denn gar keine Ahnung? War es so schwer nachzuvollziehen, dass sich eine Frau genauso unsicher fühlte, wenn ihr sowas gesagt wurde, wie Männer, denen man so etwas wie „Dann zeig mal, was der Kleine kann“ gegen den Kopf warf?

Emmas Gedanken wurden durch die Geste abgelenkt, mit der Calmaro sich die Brille gerade richtete. Er wirkte natürlich nicht nervös. Das hätte überhaupt nicht seinem Image entsprochen. Wenn sie ehrlich war, konnte Emma sich ihren Chef nicht einmal nervös vorstellen. Einmal davon abgesehen, dass er ihr gegenüber auch gar keinen Grund hatte, nervös zu sein. Wie war sie überhaupt gerade auf das Thema nervös gekommen?

Und wenn sie das jetzt noch einmal dachte, dann –

Seine Finger strichen an ihrem Notizbuch entlang. Nur ganz leicht, als wäre es gar keine richtige Berührung, sondern mehr eine Übersprungshandlung. Als wolle er die Kladde rechtwinklig zur Tischplatte ausrichten. Was er allerdings nicht tat. Stattdessen sprach er einfach weiter und brachte Emma mit der Formulierung zum Lachen.

„Na, ob sie mit mir da die Richtige dabei haben, ist fraglich. Mir war ja noch nicht einmal bewusst, dass es so etwas wie die High Society von Wellington überhaupt gibt.“

Die Schublade gab einen kleinen Laut von sich, als Emma sie aufzog und ihren bunten Kalender hervor holte, der zwar kein Paisley, aber bunte Figürchen auf dem Cover hatte. Sie hatte sich köstlich darüber amüsiert, als sie ihn gekauft und sich überlegt hatte, dass Calmaros Termine darin stehen würden. Was ihn auch irgendwie ein wenig lockerer machte. Zumindest in Emmas Vorstellungswelt.

„Also Samstag gegen acht. Sagen Sie mir einfach noch, wann und wo ich erscheinen muss.“

Sie lächelte zu ihm hoch, als sie den Termin in ihren Kalender eingetragen hatte, und wagte immer noch nicht zu sagen, dass sie sich das Ganze eigentlich nicht zutraute.

 

Der helle Klang ihres Lachens verursachte ihm eine prickelnde Gänsehaut auf den Armen, als würde er nicht schon genug unter Strom stehen.

Cayden war daher ganz froh, dass ihn Emmas Kalender ablenkte, der so exotisch in diesem Büro wirkte, wie nur sonst etwas und doch genau zu ihr passte.

Das war sie.

Nicht die hermetische Ordnung auf den Schreibtischen, die teuren Bildschirme, die akkurat gepflanzte Begrünung oder farblich perfekt auf alles abgestimmte Einrichtung. Sie war der Farbklecks, der die schnöde Langeweile durchbrach und alles ein bisschen interessanter machte, alleine durch die Dinge, die von ihrer Anwesenheit zeugten …

Caydens Finger ließen von ihrem Notizbuch und dem Paisley-Muster ab. Er musste aufhören, darüber nachzudenken.

„Ja, die gibt es. Leider“, nahm er den Faden des Gesprächs schließlich wieder auf. „Aber auf keinen Fall etwas, das man vermissen würde, wenn es nicht mehr so wäre.“

Sein Blick folgte ihrer Hand, während sie den Termin eintrug, und ließ ihn wieder hochsehen, als sie damit fertig war. Direkt in ihre Augen.

Etwas in ihm begann zu zittern.

Er musste von diesem verdammten Abwehrmechanismus runter, ehe er vollkommen die Nerven verlor!

„Wie wäre es mit 19:30 Uhr vor Ihrem Haus? Ein Wagen wird Sie abholen und zur Veranstaltung bringen. Das Gleiche gilt natürlich auch für die Heimfahrt.“

Es ging schließlich nicht an, dass eine Frau, die sich für so einen Abend vorbereitet hatte, irgendwelche öffentlichen Verkehrsmittel benutze. Wobei er nicht wusste, ob sie nicht selbst einen Wagen hatte. Aber so würde sie wenigstens auf der Gala etwas trinken können.

Wenn, dann sollte so ein Abend mit Stil beginnen und vor allem auf eine Weise, wo er sich sicher sein konnte, dass ihr nichts passierte.

„Das …“ Er atmete noch einmal tief durch. „… wäre dann momentan alles. Vielen Dank für die Unterstützung und wenn Sie noch etwas brauchen, lassen Sie es mich wissen.“

Cayden trat einen Schritt zurück, ohne Emma aus den Augen zu lassen. Dann noch einen und noch einen und merkte sofort, wann er wieder auf sicherem Boden stand. Leider spürte er die Nachwirkungen nur allzu deutlich.

Sein Herz raste wie wild.

 
 

***

 

Im Anschluss an ihr Gespräch war Emma irgendwie ein bisschen neben sich gestanden. Ob es allein daran lag, dass sie gerade zugesagt hatte, auf eine Spendengala zu gehen, wusste sie nicht. Aber dieser Fakt trug auf jeden Fall auch dazu bei, dass sie hin und her überlegte, ob sie einfach freudig nervös sein oder sich zu Tode fürchten sollte.

Sie hatte keine Ahnung, wie so etwas lief!

Wenn sie etwas von Galas wusste, dann aus dem Fernsehen. Und selbst wenn es eine High Society gab, Wellington war nicht New York! Hier würden nicht die bekannten Namen oder Stars und Sternchen auf dem roten Teppich daher stolzieren. Emma war sich noch nicht einmal sicher, dass in einem Land, in dem die Besucher an der Kinokasse mit einem Schild daran erinnert wurden, im Kinosaal bitte Schuhe zu tragen, überhaupt einen roten Teppich gab! Aber was, wenn doch?

Wie die Katze um den heißen Brei schlich Emma um das Thema, das ihr natürlich als Allererstes in den Kopf gesprungen war, als sie ihren Kalender aufgeklappt hatte. Mit der Intention, ihrem Chef zuzusagen.

Wo um Himmelswillen sollte sie das passende Kleid herbekommen?!

Denn an einem Kleid würde sie nicht vorbei kommen. Selbst in Welly trug Frau Kleid. Die meisten sogar, wenn sie nur am Wochenende ausgingen, um Spaß zu haben und sich Männer aufzureißen. Emma hatte nie zu denen gehört. Also nicht zu denen im Kleid.

Immer wieder sah sie auf die Uhr, überlegte, wann sie vielleicht früher gehen oder länger Mittag machen könnte, um in irgendeinen Laden zu laufen, bei dem sie normalerweise nicht einmal wagte, ins Schaufenster zu sehen.

So ging es Stunden.

Emma machte sich gedankliche Listen, setzte Geschäfte darauf, strich sie wieder durch, überlegte, ob irgendjemand ihr ein Kleid leihen konnte, verzweifelte wieder einmal an ihrer Figur und drehte sich dann einmal im Kreis, um wieder von vorn anzufangen.

Zum Schluss tat sie das Einzige, was ihr wirklich nach einer Lösung aussah. Sie stand auf, strich ihre Bluse glatt, atmete einmal tief durch und ging zu dem Menschen, der ihr bei ihrem Problem am ehesten helfen konnte. Der Mensch, der sich mit diesen hohen Tieren auskannte.

„Stella? Ich soll am Samstag mit auf diese Gala gehen. Und ich habe keine Ahnung, wie ich mich anziehen muss, wo ich ein Kleid her bekomme und was sonst noch wichtig ist. Bitte. Bekomme ich ein paar Tipps?“

11. Kapitel

Das war das erste Mal, dass er seit langem wieder einmal so etwas wie Aufregung bei einer bevorstehenden Spendengala beziehungsweise größeren Festivität empfand, bei der er keine Rede halten musste, oder es irgendetwas direkt mit seiner Firma zu tun hatte.

Während Cayden sich die schwarze Seidenfliege band, fragte er sich, woran genau das wohl liegen mochte. An der Tatsache, dass er heute wieder einen Haufen Geld loswerden würde, konnte es nicht liegen und auch nicht daran, dass er schon länger nicht mehr an so einer Veranstaltung ohne seine Frau teilgenommen hatte.

Cayden hielt in seine routinierten Bewegungen inne und sah sich im Spiegel an.

Wenn nicht die Abwesenheit seiner Frau ihn so unruhig machte, dann musste es wohl an seiner neuen Assistentin liegen.

Allein der Gedanke an Emma verstärkte dieses kribbelige Gefühl in seiner Magengegend noch.

Ja, tatsächlich. Er war aufgeregt, weil er mit ihr dorthin gehen würde und egal wie langweilig der Abend vermutlich sein würde, die Tatsache, dass jemand wie sie mit ihm dort war, konnte es gar nicht zu langweilig werden lassen.

Vielleicht bekam er an diesem Abend auch die Gelegenheit, noch etwas näher über ihre Wurzeln nachzuforschen. Ihre Fähigkeiten waren nicht zu verachten und für jemanden wie ihn, auch auf keinen Fall auf die leichte Schulter zu nehmen. Schließlich wäre er nicht so alt geworden, wenn er nicht vorsichtig im Umgang mit Jenen gewesen wäre, wobei es sich natürlich in den letzten Jahrhunderten gebessert hatte.

Vielleicht hatte die moderne Zeit da auch ihre Finger mit im Spiel, denn wenn Emma nach jenem Abend in der Männertoilette nicht wusste, wer oder was sie genau angegriffen hatte, schien sie auch nicht zu wissen, womit sich ihre Vorfahren gerne beschäftigt hatten, um sich vor seinesgleichen zu schützen.

So oder so, mit Emma konnte es gar nicht langweilig werden.

 
 

***

 

Es war immer wieder erstaunlich, wie viele reiche Snobs aus ihren Löchern gekrochen kamen, wenn sich die Aussicht bot, mit ihrem Vermögen vor anderen anzugeben. Würde diese Prahlerei nicht einem guten Zweck dienen, Cayden hätte bei diesem Spiel nicht mitgemacht.

Dennoch würde er sich dieser Gesellschaft stellen, doch erst wenn seine Assistentin eingetroffen war, die ihn vor den ledigen Frauen schützen würden, die bereits in ihren hübschen Cocktailkleidern herum stöckelten und sich die Hälse nach alleinstehenden, reichen Männern verrenkten, die sie sich unter den Nagel reißen konnten.

Zugegeben, er wollte sich auch nicht mit den feinen Herren abgeben und langweiligen Smalltalk halten müssen.

Eigentlich wollte er sofort wieder umdrehen und sich einmal einen gemütlichen Abend in seinem Penthouse machen. Immerhin wäre es doch viel einfacher einen Scheck an die betroffenen Posten zu schicken, zu welchem Zweck diese Gala heute veranstaltet wurde.

Doch es war seine Pflicht, sich ab und zu unter die High Society zu mischen und da wären ja immer noch Emma und die damit verbundene Möglichkeit, sie einmal außerhalb des Büros zu sprechen.

Cayden spähte von seinem zurückgezogenen Posten hinter einer Marmorsäule hervor zum Eingang hinüber. Immer darauf bedacht, so unauffällig wie möglich zu erscheinen, während er darauf wartete, dass seine Assistentin eintraf.

Hoffentlich dauerte es nicht mehr zu lange, denn schon jetzt hatte er Glück gehabt, noch von niemandem angesprochen worden zu sein.

 

Emma sah aus dem Fenster in den verhangenen Himmel hinauf, an dem heute kein einziger Stern zu sehen war. Noch regnete es nicht, aber das würde vermutlich nicht mehr lange auf sich warten lassen.

Als sie in das Viertel eingebogen waren, in dem die Gala stattfand, hatte sie sich bestimmt schon zum zehnten Mal die schweißnassen Hände am Polster des Autositzes abgewischt, aber es nützte auch diesmal nichts.

Himmel, worauf hatte sie sich da nur eingelassen?

Schon zu Hause hatte sie sich überlegt, dass man sie vielleicht in ihrem Kleid gar nicht reinlassen würde. Dass der Türsteher gleichzeitig in Mode ausgebildet war und schon von Weitem erkennen würde, dass Emmas Cocktaildress zu billig war, um mit der High Society mithalten zu können. Und wenn schon nicht ihr Kleid, dann bestimmt der Mantel. Oder die Tasche.

Ob es da drin überhaupt eine Garderobe gab? Und wenn ja, musste man dafür bezahlen, wie bei einem Theaterbesuch? Würde sie es sich überhaupt leisten können, ihren Mantel abzugehen?

Hektisch zählte Emma die Scheine in ihrem Portemonnaie nach und rechnete sich durch, dass sie fünfzehn Dollar für die Garderobe bezahlen konnte und dann noch genug Geld für den Notfall hatte, um sich ein Taxi für den Heimweg zu leisten.

Der Wagen hielt. Und der stumme Fahrer sah sie mit einem Lächeln an, von denen er ihr schon eines geschenkt hatte, als sie darauf bestanden hatte, vorne einzusteigen. Immerhin war sie kein Staatsgast und wäre sich lächerlich vorgekommen, wenn sie hinten gesessen wäre.

Emma sah den Fahrer mit einem Lächeln an und bedankte sich, nicht ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass sie dem Mann vielleicht auch Trinkgeld hätte geben sollen.

Aber eine Minute später waren ihre Gedanken sowieso vollkommen von dem eingenommen, was sie vor sich hatte.

Vornehmlich die Front eines Luxushotels. Die Treppenstufen mit kleinen Lichtern eingerahmt und der Empfangsraum hell und warm erleuchtet.

Jetzt wurde ihr schlecht.

Vorsichtig ging sie die paar Stufen hinauf, sah sich nach den wenigen Damen um, die wie teure Accessoires an den Armen offensichtlich reicher Männer hingen. Keine war allein.

Emma drehte sich sogar einmal um, doch auch hinter ihr kam gerade nur ein Paar in einem silbernen Importwagen an, die Frau in teuren Pelz gehüllt, der Herr mit funkelndem Gold ums Handgelenk.

Seine Assistentin. Sie war hier nur als Assistentin. Und um bezaubernd auszusehen.

Emma dachte wie immer in solchen Situationen an „Ich bin ein runder, hübscher, knackiger Pfirsich“ und hatte sofort ein Lächeln im Gesicht.

Noch drei Stufen. Noch zwei. Noch eine. Und sie stand vor einem Herrn im grauen Anzug mit Knopf im Ohr, der sie mit einem Klemmbrett und einem fragenden Blick aufhielt.

„Guten Abend. Ihre Einladung bitte?“

Emma hatte sie mit einem Griff aus ihrer kleinen Handtasche gezogen, die fast bis zum Bersten gefüllt war mit Dingen, bei denen nur ein Notzelt fehlte. Puder, Wimperntusche, Lipgloss, Minibürste, Deo, alles war dabei. Und noch mehr. Aber bei so einem Abend konnte man es auch wirklich nicht darauf ankommen lassen.

„Schön, dass Sie hier sind, Miss Barnes. An der Garderobe hinten links wird man Ihnen den Mantel aufhängen.“

Und ... sie war drin!

Emma blieb zwei Schritte hinter der Tür stehen, bis sie von dem Paar von vorhin zur Seite gedrängt wurde, und glaubte es erst nicht. Um sie herum schien alles in glänzenden Lack getaucht und irgendwie einem schlechten Märchenfilm entsprungen. Alle sahen aus, als hätten sie eine persönliche, gute Fee, die ihnen das perfekte Outfit und den dazu passenden, teuren Schmuck herbeizauberten.

„Ich will auch 'ne Fee.“

Staunend und peinlich genau darauf bedacht, sich nicht zu auffällig zu verhalten, ging Emma zur Garderobe hinüber, wo man ihr tatsächlich den Mantel ohne Kommentar abnahm und ihn auf einen Bügel hängte. Auf einer Liste mit ihrem Namen wurde eine Nummer eingetragen und das war’s. Kein Pfand – gar nichts.

Mit einem erleichterten Lächeln drehte Emma sich in Richtung des Saals um, in dem alle nach einem kleinen Schwatz im Empfangsraum irgendwann verschwanden.

Gut. Jetzt musste sie nur noch Mr. Calmaro finden.

 

„Oh, Mr. Calmaro. Hier verstecken Sie sich also.“

Auf Caydens Lippen erschien sein perfekt eingeübtes und charmantes Lächeln, das allen, denen es zuteilwurde, vermittelte, er könne sich nicht mehr freuen, die betreffende Person zu sehen, obwohl er meistens am liebsten fluchtartig den Rückzug angetreten hätte.

So auch im Falle von Charlotte Rogé. Eine Witwe Anfang vierzig, die dank ihres Geliebten und hoch angepriesenen Schönheitschirurgen nicht älter, wie Anfang dreißig wirkte und trotz ihres Alters nicht davor zurückschreckte, sich junge Männer in ihr Bett zu holen.

Da war sie bei ihm allerdings an der falschen Adresse und vermutlich war genau das der Grund, warum sie ihn nicht einfach in Ruhe ließ. Es war einfach zu verlockend, einen verheirateten Mann in Versuchung zu führen.

Allerdings war Cayden noch nie versucht gewesen, so sehr sie sich auch bemühte.

„Charlotte Rogé. Es ist wie immer ein Vergnügen, Sie zu treffen.“

Cayden ergriff ihre dahingereichte Hand und küsste ihren Handrücken ohne ihn mit den Lippen zu berühren. Die Geste formvollendet.

„Ach, Sie Charmeur. Lassen Sie das bloß Ihre Frau nicht hören“, säuselte sie entzückt.

Natürlich nicht.

„Wo ist Ihre bildschöne Gattin eigentlich abgeblieben? Sie sollte es doch besser wissen und Sie nicht so unbewacht hier stehenlassen. Diese jungen Hühner heut zu Tage scheuen schließlich nicht einmal vor einem gebundenen Mann zurück.“

Innerlich verdrehte Cayden die Augen, doch nach außen wurde sein Lächeln noch breiter.

„Heute muss ich leider auf ihre Anwesenheit verzichten, da Sie beruflich außer Landes ist, aber ich werde ihr Bescheid geben, dass Sie nach ihr gefragt haben. Sie wird sich sicherlich freuen. Und wie Sie schon sagten, kann ich es mir nicht leisten, alleine herumzuirren. Natürlich bin ich in Begleitung hier, die mich vor den jungen Hühnern retten wird.“ Hoffentlich nicht nur vor den jungen.

So unauffällig wie möglich spähte Cayden an der aufgedonnerten Witwe vorbei, die so dermaßen voll mit Juwelen geschmückt war, dass sie nicht nur einen fantastischen Weihnachtsbaum abgegeben hätte, sondern bestimmt auch sofort auf den Grund des Meeres versunken wäre, würde man sie damit ins Wasser stoßen.

Ein äußerst verlockender Gedanke würde ihm da nicht prompt ein vertrautes und zugleich auch willkommenes Gesicht ins Auge springen.

Cayden verabschiedete sich von Charlotte Rogé, während diese gerade irgendetwas von berufstätigen Frauen quatschte, die es sich sehr wohl leisten könnten, bei ihrem Mann zuhause zu bleiben und für ihn zu sorgen.

Er hörte nicht weiter zu, sondern ging einfach an ihr vorbei und direkt auf die Gestalt zu, die bei den Garderoben stand und sich etwas verloren umsah.

Cayden konnte seine Augen nicht von ihr nehmen.

Emma sah nicht nur bezaubernd aus, sondern ließ das Flattern in seiner Magengrube sich in seinem ganzen Körper ausbreiten, während er sie mit seinem Blick abmaß.

Sie hatte eine gute Wahl bei ihrem Kleid getroffen, das ihre weiblichen Vorzüge betonte, ohne sie jedoch aufreizend zur Schau zu stellen.

Vielleicht zum ersten Mal bemerkte er die schöne Form ihrer vollen, natürlichen Brüste, die hinreisenden Kurven ihrer Hüften und ihres Hinterns, die so anders waren als die von Vanessa.

Vanessa war ein Knochen mit Silikonimplantaten und bisweilen fühlte sie sich auch so an. Aber wenn er Emma so betrachtete, kam ihm der Gedanke, dass sie sich weich und anschmiegsam anfühlen musste.

Etwas worin man gerne einfach versinken würde …

Cayden riss sich zusammen, als er plötzlich unmittelbar vor Emma stand und sie anlächelte, wie er sonst niemanden hier anlächeln würde.

„Es freut mich, dass Sie gekommen sind.“

Er ergriff ihre Hand, verbeugte sich leicht und hauchte ihr einen Kuss auf den Handrücken, während er seine Augen nicht von ihren abwandte.

„Sie sehen … zum Anbeißen aus.“

Sein Lächeln wurde tiefer. Mehrdeutiger, auch wenn nur er als Vampir die volle Bedeutung dessen verstehen konnte, was er gerade gesagt hatte.

Oh ja, in diesem Augenblick hätte er nur zu gerne einmal von ihr gekostet und allein der Gedanke daran, versetzte ihn in Aufregung.

Langsam ließ er ihre Hand wieder los und richtete sich auf, dennoch hatte er immer noch das Gefühl, er stünde ganz alleine mit ihr hier in dem großen Raum.

 

Sie hatte schon aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrgenommen. Jemanden, der sich aus der Umgebung der plaudernden Menge herausschälte und auf die Garderoben zukam. Und Emmas Herz hatte sofort hoffnungsvoll höhergeschlagen.

Das änderte sich auch ganz gewiss nicht, als sie nicht nur den geschmeidigen Gang, sondern auch Calmaros roten Haarschopf und den Rest von ihm deutlich erkennen konnte.

Wow, er sah ... Wow.

Unter anderen Umständen hätte Emma sich unsicher gefühlt und nicht gewusst, ob sie hin- oder lieber wegsehen sollte. Allerdings erübrigte sich das jetzt vollkommen. Denn sie hätte nicht woanders hinschauen können, selbst wenn sie gewollt hätte.

Der Anzug war wirklich unglaublich toll. So, wie man sich das immer vorstellte und im normalen Leben doch nie zu Gesicht bekam. Emma konnte sich bei dem Anblick sogar vorstellen, dass Calmaro ihn sich persönlich hatte anpassen und schneidern lassen.

Ein Anzug nur für ihn. Ein kleines Vermögen zum Hineinschlüpfen.

Allerdings gab ihr das Lächeln, das ihr schon entgegen strahlte, bevor er bei ihr angekommen war, absolut den Rest.

Ihr Herz fing an heiß in ihrer Brust zu klopfen und Emma hatte das Gefühl, gleich explodieren zu müssen. Stattdessen ließ sie das glückliche Grinsen, das in ihr herum hüpfte einfach auf ihre Lippen und wagte es sogar, zu erröten, als er edel ihre Hand küsste.

„Hallo.“

Sie sah zu ihm hoch und bedauerte schon fast mit körperlichem Schmerz, dass er ihre Hand wieder losgelassen hatte.

„Freut mich auch, hier zu sein. Sie können sich aber auch sehenlassen.“

 

„Nun, wie heißt es doch so schön: Wenn Frauen das Gemälde sind, sind wir Männer der Rahmen, der dazu dient, das Kunstwerk in seiner herrlichen Pracht noch hervor zu heben. Ich konnte Ihnen also unmöglich einen hässlichen Sack zur Seite stellen.“

Die sanfte Röte auf ihren Wangen war das größte Kompliment, das sie ihm machen konnte und es stand ihr wirklich gut.

„Na dann wollen wir. Auf ins Gefecht!“

Lächelnd hielt Cayden ihr seinen Arm hin, damit sie sich unterhaken konnte, so wie das alle Männer hier mit weiblicher Begleitung taten. Ob es nun lediglich ihre Mutter, Großmutter, Schwester oder eben Geliebte beziehungsweise Ehefrau war, spielte keinerlei Rolle. Außer vielleicht für Cayden, denn Vanessa wünschte er sich nun wirklich nicht an seine Seite. Emma war ihm also höchst willkommen.

Wenn die Galaveranstaltung an sich nichts mehr Neues und Unbekanntes zu bieten hatte, so musste man doch wenigstens dem Hotel groß anrechnen, dass sie jedes Jahr ein anderes Thema für ihre Gestaltung verwendeten und sich stets selbst zu übertreffen schienen.

Laufmeterlange Buffets zogen sich die Wand im riesigen Veranstaltungssaal entlang, die nicht nur mit unzähligen und bestimmt wie immer hervorragenden Appetithäppchen vollgeladen waren, sondern auch mit schönen Blumenarrangements, Eisskulpturen, bunten Bändern und kleinen Täfelchen auf jeder Platte, um dem Hungrigen mitzuteilen, worauf er sich einließ, wenn er das eine oder andere Häppchen probieren mochte.

Auch die Tische waren wunderschön dekoriert und erinnerten Cayden stets daran, dass er sich zuhause selten einmal an einen Esstisch, geschweige denn, einem so schön gedeckten Tisch zum Essen setzte.

Wenn schon die ganzen Leute ihn hier nicht begeistern konnten, die festliche Stimmung tat es ihm auf jeden Fall immer wieder an. Das konnte er nicht leugnen.

Er durfte schon lange kein Partylöwe mehr sein, umso mehr freute es ihn daher, wenn er sich ab und zu einmal schick machen und den Bürokram vergessen durfte. Natürlich alles davon abhängig, dass er in guter Begleitung war. Denn solche Veranstaltungen konnten noch so schön hergerichtet worden sein, wenn sie einen zu Tode langweilten, war selbst das null und nichtig.

„Waren Sie schon einmal bei einer Spendengala?“, wollte er von Emma wissen, um ein Gespräch zu beginnen, da er nicht sofort auf das Buffet zusteuern, sondern sich vorher lieber noch ein bisschen mit ihr in einer ruhigeren Ecke unterhalten wollte.

Währenddessen hatte er die Gelegenheit, die anderen Gäste zu mustern, um schon im Vorhinein zu wissen, auf was er sich dieses Jahr eingelassen hatte und ob ein verfrühter Rückzug nicht doch die bessere Wahl wäre.

 

Emma hielt sich zwar an dem ihr angebotenen Arm fest, aber nur so weit, wie sie es bei einem Tanz mit einem Fremden getan hätte. Höflich ihre Hand auf dem glatten Stoff abgelegt, auf eine Art und Weise, dass Calmaro sie vermutlich kaum spürte. Aber dennoch war sie sehr froh für den Halt und vor allem auch seine Gegenwart, die sie in den vielen Menschen nicht untergehen ließ. Außerdem hatte sie einen triftigen Grund hier zu sein und jeder, der sie bei Calmaro sah, wusste das auch sofort.

„Nein, war ich noch nicht“, antwortete sie wahrheitsgemäß und leise auf seine Frage. Was hätte sie auch bei so einer Veranstaltung tun sollen? Die Beträge, in denen heute Abend Spenden über den Tisch gehen würden, hatte sie im Traum noch nicht auf ihrem Bankkonto gesehen!

„Gibt es denn ein Programm?“

Sie sah fragend zu Calmaro hoch, der sich schon die ganze Zeit irgendwie unruhig umsah. Ob er jemanden suchte? Eigentlich wäre es Emma ganz recht gewesen, wenn irgendwo jemand Programmfaltblätter verteilt hätte. Dann wüsste sie wenigstens annähernd, auf was sie sich einzustellen hatte. Denn im Moment huschte ihr Blick bloß von einer glänzenden Oberfläche zum nächsten teuren Kleid, anschließend zu dem überladenen Buffet und wieder von vorn.

Es war eine Fülle an Eindrücken, die vollkommen neu für sie waren und Emma absolut faszinierten. Sie kam sich ein bisschen vor wie in einem Zauberschloss der Reichen und Schönen. Sie konnte bloß hoffen, dass ihr Kleid um Schlag Mitternacht nicht in Fetzen fiel und ihr Taxi sich in einen Kürbis verwandelte. Na, zumindest würde ihr Begleiter auch dann noch der Prinz bleiben, wenn alles Andere beim Wegfallen des Zaubers zu zerfließen begann.

„Kennen Sie denn viele Leute hier? Viele Bekannte?“

Emma stellte es sich so vor, dass Calmaro wegen seines Terminkalenders eigentlich ganz froh über solche Veranstaltungen war. Da kam er wenigstens dazu, einmal mit Leuten zu sprechen, die ihm ... ähnlich waren.

Es konnte doch nicht so einfach sein, unter Menschen, die nicht seiner Gehaltsklasse entsprachen, Freunde zu finden. Da bot sich die High Society – die größer sein musste, als Emma sich das je hatte vorstellen können – doch bestimmt eher an.

 

Nick Carter, Eveline Scott, Brian Redford und sogar Scarlett Ming.

Heute hatten Sie tatsächlich einmal die Schlimmsten der prominenten Persönlichkeiten in Wellington rausgelassen. Hoffentlich übersahen sie ihn in der leicht abgeschiedenen Ecke und der immer größer werdenden Menschenmenge im Saal.

Cayden konnte es nur hoffen, denn diese Vier waren das Spitzenquartett der Abscheulichkeit. Sie gehörten zu den reichsten Anwesenden in diesem Raum und waren zugleich die geizigsten, herzlosesten und eingebildetsten Snobs, die ihm je untergekommen waren und das wollte schon etwas heißen. Alles natürlich schön verpackt in einer Hülle aus liebenswürdigem Lächeln, charmantem Smalltalk und prächtigen Abendgarderoben. Aber ihre kalten Augen konnten nicht darüber hinwegtäuschen. Nicht, wenn man gelernt hatte, Menschen zu deuten.

„Das Programm ist im Gegensatz zur Umsetzung, eher dürftig. Im Groben und Ganzen geht es darum, die reichen Snobs abzufüllen, ihre niederen Bedürfnisse nach Essen, Gesellschaft und Aufmerksamkeit zu befriedigen und dann darauf zu hoffen, dass sie in ihrer heiteren Stimmung ordentlich etwas vom Kuchen abgeben. Würden die Gelder nicht hilfsbedürftigen Kindern zugute kommen, wäre es im Grunde für diese Leute nichts weiter, als eine weitere Gelegenheit, um zu prahlen. Natürlich gibt es Ausnahmen, aber die sind eher selten. So wie es Ausnahmen nun einmal sind.“

Was seinen Blick an Liasana Orsáne haften bleiben ließ.

Cayden hätte nicht gedacht, dass die nordische Vampirin hier in Neuseeland, geschweige denn auf einer so simplen Spendengala wie dieser hier zu finden war.

Er war ehrlich verblüfft, aber man konnte zugleich nicht leugnen, dass das den Status dieser Veranstaltung definitiv hob.

Sie sah genau wie das aus, was Cal ihm klarzumachen versucht hatte. Hochgewachsen und zierlich. Beinahe durchscheinend und zerbrechlich und das lag gewiss nicht an der weißen Seide, die ihre schmale Gestalt wie Nebelschwaden umfloss, oder dem goldenen Haar, das sie kunstvoll aufgesteckt trug.

Sie war wunderschön. Ihr Blick stolz und stark, doch das mochte nicht über ihre körperliche Zerbrechlichkeit hinwegtäuschen. Ein Kind zu gebären, würde ihren sicheren Tod bedeuten. Dazu schien sie einfach nicht gemacht worden zu sein. Das allein zeigte der Anblick ihres sehr schmalen Beckens.

Vermutlich war aber genau dieser Ausdruck von Hilfsbedürftigkeit der Grund, warum so viele menschliche Männer sich um sie scharten und förmlich an ihren vollen Lippen hingen.

Ihre vampirischen Bodyguards waren demnach nicht weit und Cayden entdeckte sie tatsächlich sofort in der Nähe.

Sollte auch nur einer der Männer es wagen, ihr nahezutreten, würde Blut fließen. Etwas, worüber Cayden sich heute keine Sorgen machte.

Liasana mochte vielleicht die Ausnahmeerscheinung in der Gesellschaft der weiblichen Vampire sein, aber genau deshalb würde sie auf sich selbst aufpassen können. Sonst wäre sie nicht schon so lange ungebunden und eigenständig.

Etwas musste also doch am weiblichen Geschlecht seiner Art stark sein. Wenn es auch nicht in der körperlichen Stärke zu finden war.

Als sie seinen Blick spürte, sah sie sich nach ihm um und nickte ihm auf eine uralte Geste erhaben zu, nachdem sie ihn entdeckt hatte. Cayden erwiderte diese Geste mit gleicher Ehrerbietung und war sich zugleich bewusst, dass noch so viele Menschen um sie herum sein konnten, sie würden dennoch nie zu ihnen gehören.

Sie war vielleicht nur halb so alt wie er, doch das war bei weitem schon älter, als viele Vampire von sich behaupten konnten und somit etwas Besonderes.

„Ich kenne die meisten Anwesenden hier, wenn auch nicht unbedingt mit Namen“, nahm er schließlich den Gesprächsfaden von Emma auf und wandte sich ihr nun vollständig zu. Er hatte sich genug Überblick verschafft, um auf alles und jeden gefasst zu sein, der ihn ansprach.

„Zugegeben, solche Veranstaltungen sind die perfekte Gelegenheit für uns, um aus unseren Löchern zu kriechen und einmal die Arbeit oder womit man sich eben sonst so beschäftigt, hinter sich zu lassen und sich zu treffen. Zum Glück ist das kein Dauerzustand, denn um ehrlich zu sein, die meisten hier sind entweder verdammt langweilig, oder man würde ihnen am Liebsten einen Drink ins Gesicht schütten, kaum dass sie den Mund aufmachen.“

Was ihn auf ein Manko seinerseits hinwies.

„Oh, entschuldigen Sie. Möchten Sie etwas trinken? Auch auf die Gefahr hin, dass Sie mir vielleicht bis zum Ende des Abends damit den Kopf waschen.“

 

„Oh … Sie sehen das also als niedere Bedürfnisse.“ Der Satz war von Emma nur leise dahin gemurmelt. Aber irgendwie war sie ein bisschen enttäuscht.

Eigentlich hatte sie gedacht, dass das hier etwas Berauschendes an sich haben würde. Für sie persönlich wie eine Art Film, in den sie eintauchen durfte. Zwar mit dem Wissen, dass sie danach wieder außerhalb stehen würde, aber das machte ja nichts.

Sie hatte sich ausgemalt, neben ihrem Chef zu stehen, während der sich mit wichtigen und prachtvollen Leuten unterhielt. Wie er sich amüsierte und vielleicht ab und zu sogar ein kleines Bisschen aus seiner starren Haltung ausbrach und Spaß hatte. Das war aber wohl von Anfang an nicht der Anspruch gewesen und Emma ärgerte sich über ihre eigene Naivität. Zumindest ein wenig, bis sie wieder dazu überging, sich die Menschen um sie herum anzusehen.

Inzwischen hatte sie Calmaros Arm losgelassen und hielt ihre Tasche ruhig in beiden Händen, während sie lächelnd den Saal betrachtete und sich überlegte, was sie von diesem meterlangen Buffet am liebsten probieren würde.

Eine für heute leicht gelockte Haarsträhne fiel ihr über die Schulter, als sie ein Stück den Hals reckte, um auch noch zum Tisch mit den Nachspeisen hinüberschielen zu können.

Oh man, es gab Eiscreme!

„Ich kann ehrlich nicht glauben, dass nur Leute zum Abgewöhnen hier sind ...“

Emma bemerkte erst richtig, dass ihr Boss an ihrer Seite weitergesprochen und sie ihn sogar kommentiert hatte, als er ihr direkt eine Frage stellte.

Mit einem sanften Lächeln sah sie ihn an und konnte selbst nicht so genau sagen, warum sie seine Worte so störten. Aber vermutlich, weil das wieder so eine Wahlmöglichkeit seinerseits gewesen wäre – und das verstand sie einfach nicht. Wenn er diese Menschen alle für so schlimm und unerträglich hielt ... warum war er dann hier? Er hätte es sich locker leisten können, einfach nicht zu erscheinen.

„Das liegt Ihnen nicht besonders, oder? Menschen?“

Es war mehr eine zarte Vermutung, als eine Frage gewesen. Daher erwartete Emma auch keine Antwort, die mehr über ihn selbst verraten hätte. Das maßte sie sich als kleine Assistentin gar nicht an. Sie fand es nur … schade.

„Ja, ich würde ganz gern etwas trinken. Meinen Sie, es gibt Orangensaft?“

 

„Natürlich. Sogar frisch gepresst. Kommen Sie.“

Cayden legte seiner Assistentin ganz leicht die Hand zwischen die Schulterblätter, um sie durch die dichter werdende Menge an Leuten zu manövrieren, direkt auf die Bar zu, hinter der zwei fleißige Barkeeper damit beschäftigt waren, den ansteigenden Durst der Gäste zu stillen.

„Zwei Mal Orangensaft, bitte“, bestellte er kurz, ehe er sich wieder an Emma wandte, die offenbar den gleichen Geschmack für Getränke zu teilen schien wie er.

Viele fingen bei solchen Veranstaltungen nur allzu gerne mit Alkohol in Form von Champagner oder anderen leichten Drinks an, ehe es nach und nach an die härteren Getränke ging.

Cayden hätte hier zwar jeden unter den Tisch trinken können, da sein Metabolismus so schnell arbeitete, dass der Alkohol schneller im Blut verloren ging, als er ihn trinken konnte, aber das hieß nicht, dass er sich deshalb damit zuschüttete.

„Sie haben nicht ganz unrecht“, meinte er schließlich und fuhr schnell fort, als er Emmas fragenden Blick bemerkte.

„Was mich und die Menschen angeht. Da muss ich Ihnen fast zustimmen.“

Er lächelte und dachte darüber nach, dass ihre Frage für einen wie ihn, gleich noch eine völlig andere Bedeutung bekam.

„Aber Sie sollten vielleicht eines verstehen. Ich arbeite gerne mit Menschen und ich denke, das kann ich auch ganz gut. Doch das ist etwas anderes, als mit Menschen seine freie Zeit zu verbringen und obwohl das bei mir eher selten vorkommt, ziehe ich Menschen wie Sie dieser Gesellschaft hier vor.“

Er machte eine knappe Geste mit dem Arm, die den ganzen Saal beinhaltete, während der Barkeeper ihre beiden Getränke abstellte. Cayden nahm sie an sich und überreichte Emma ihr Glas.

„Darum habe ich Sie auch mitgenommen, damit ich mich normal mit jemandem unterhalten kann. Denn glauben Sie mir, die Themen: Geld, Skandale, Ruhm und Macht, das alles ist schon so abgelutscht, das es mein Interesse nicht mehr wecken kann.“

Wie so wenig in seinem Leben.

„Und trotzdem gibt es natürlich auch bei Veranstaltungen wie dieser hier interessante Menschen zu treffen. Hier zum Beispiel.“

Cayden stellte sich so neben Emma, dass er mit ihr zusammen den ganzen Raum überblicken und sie auf einen großen, etwas rau wirkenden Mann im Smoking aufmerksam machte, der unter den vornehmgekleideten Menschen etwas deplatziert wirkte und trotzdem war er umringt von jungen Damen, die pausenlos auf ihn einplapperten, obwohl man ihn nicht gerade attraktiv nennen konnte.

Zumindest nicht auf die klassische Art.

Dafür war sein Haar schon zu sehr ergraut, das Gesicht wirkte irgendwie hart und die Augen wachsam. Trotzdem konnte man nicht leugnen, dass er Ausstrahlung besaß, und zwar genau jene, auf die offenbar diese jungen Hühner flogen.

Sie war leicht gefährlich, obwohl Cayden genau wusste, dass dieser Mann niemandem etwas tun würde.

„Das ist Charlie Mason. Ein inzwischen erfolgreicher Unternehmer einer der bekanntesten Brückenbaufirmen der Welt. Ich denke, man sieht ihm an, dass etwas anders an ihm ist, aber nur die aller wenigsten wissen wirklich, dass er selbst einmal unter einer Brücke gelebt hat, bis ihm der Aufstieg aus eigener Kraft gelungen ist. Für mich ein leuchtendes Beispiel dafür, dass es für den Charakter nicht schaden kann, sich seine Brötchen selbst zu verdienen, anstatt es von Geburt an in den Rachen geschoben zu bekommen. Und dort drüben, Lauren Bell.“

Er deutete dezent in Richtung einer schwarzhaarigen Frau in einem leuchtend roten Kleid, die sich abseits der Menge hielt und etwas gelangweilt in die Runde blickte, ehe sie an ihrer Champagnerflöte nippte und sich nur widerwillig an dem Gespräch mit Scarlett Ming beteiligte.

„Sie verbringt die meiste Zeit in Afrika, um dort den Waisenkindern zu helfen. Sie ist eine sehr gute Ärztin und konnte mit ihrem Engagement schon viel Gutes tun. Vielleicht werden wir später am Abend eine Weile ihre Gesellschaft genießen können. Für gewöhnlich rotten wir Normalsterblichen uns irgendwann zusammen, um den langweiligen Litaneien der anderen weniger imposanten Erscheinungen zu entgehen, die überall zu leben scheinen, aber mit Sicherheit nicht in unserer Durchschnittsrealität.“

 

Mit einem breiten Lächeln bedankte sie sich bei dem Barkeeper und auch ihrem Boss, als er ihr das Glas reichte.

„Dann ist es also so, dass es selbst in den höchsten Klassen noch echte Unterschiede gibt?“

Emma sah sich die Ärztin in dem roten Kleid an und stellte sie sich in Afrika vor. In sengender Hitze und mit aggressiven Fliegen, die sie sich dauernd aus dem Gesicht scheuchen musste. Vielleicht nur ein einfacher Pferdeschwanz, statt dieser perfekten Hochsteckfrisur.

„Es ist schon seltsam, finden Sie nicht?“

Emma sah zu Calmaro auf, der neben ihr stand und mit fragenden, grünen Augen zu ihr hinunterfunkelte.

„Für mich sehen sie alle irgendwie gleich aus. Alle ausnahmslos prächtig, reich und auf ihre Art schön. Sie haben da eine ganz andere Art, die Dinge zu betrachten. Ich finde es immer sehr interessant, wie sich so etwas unterscheiden kann.“

Da er darauf nicht antwortete und sie irgendwie ansah, als wüsste er nicht, was er damit anfangen sollte, sprach Emma einfach weiter.

„Ich muss zugeben, dass ich gar nicht wirklich vorhatte, hinter die Fassaden der Leute hier zu sehen. Ehrlich gesagt hatte ich nicht gedacht, dass ich Zeit dazu hätte. Aber es macht das Ganze sogar sehr viel spannender.

Sehen sie die Dame mit dem weißen Kleid?

Sie ist wunderschön, wirklich. Und das liegt nicht daran, dass ihr Kleid und ihr Schmuck vermutlich so viel kosten, wie ein Einfamilienhaus. Sie ist ... fast schon so schön wie eine antike Statue. Perfekt geschliffen könnte man sagen.“

Calmaro war ihrem Blick gefolgt und runzelte nun leicht die roten Brauen, was Emma registrierte, aber nicht deuten konnte. Vermutlich kannte er die elegante Dame und überlegte sich gerade, ob er Emma sagen sollte, dass sie seiner Meinung nach mit ihrer Einschätzung total daneben oder genau richtig lag.

„Wenn Sie mir etwas über die Frau erzählen würden, könnte sich mein Bild von ihr verändern. Sehr stark sogar. Das ... ich weiß nicht. Das ist spannend.“

Ein großer Schluck Orangensaft rettete sie vor weiteren Aussprüchen, die sie noch weiter in eine Bredouille bringen konnten. Immerhin sollte sie vor ihrem Chef nicht so ihre Meinung auf den Tisch legen. Er kannte die Leute, sie nicht. Das war auch mehr oder weniger alles, was sie ihm hatte sagen wollen. Naja, nicht alles.

„Wer gehört für Sie noch zu der Gruppe derjenigen, die sich später zu einem Schwatz zusammenrotten werden?“

Emma konnte sie sich nur in der Küche vorstellen. Dort, wo die richtig guten Partys mit den richtig guten Leuten endeten. Man quatschte, hielt sich gegenseitig philosophische Vorträge und lachte so viel, dass einem am nächsten Tag noch der Bauch schmerzte. Emma wollte sehr gerne wissen, wer die Menschen waren, mit denen Calmaro am ehesten so eine Party auf diese Weise würde ausklingen lassen.

 

Cayden hörte Emma aufmerksam zu und machte sich so seine Gedanken über das von ihr Gesagte.

Wieder ließ er seinen Blick über die Leute streifen und versuchte die Gesellschaft mit den Augen seiner Begleiterin zu sehen, was zugegebener Maßen gar nicht so einfach war.

Er kannte das alles schon. Hatte schon viel zu viele dieser Anlässe mitgemacht und das nicht nur in den unterschiedlichsten Städten, Ländern und Kulturen, sondern auch in allen möglichen Epochen, seit er auf dieser Welt war.

Es mochte sich mit der Zeit die Form, die Art wie eine Gesellschaft gehandhabt wurde und die verschiedensten Anlässe ändern, doch Menschen blieben im Grunde immer gleich. Darum war es für ihn so schwer, die Dinge aus unverbrauchten Augen zu sehen, wie sie Emma noch besaß, da sie so unglaublich jung war.

„Die Dame in Weiß ist Liasana Orsáne. Sie besitzt nicht nur das Talent, jeden Mann in ihrer Nähe zu verzaubern, sondern ist zudem auch äußerst intelligent und im Gegensatz zu einigen der Schönheiten hier im Saal ist ihr Wesen ebenso rein und weiß, wie die Farbe ihres Kleides. Sich mit ihr zu unterhalten, mag sehr anspruchsvoll sein, aber auch ungemein interessant.“

Selbst für ihn.

„Bestimmt bekomme ich heute Abend noch die Gelegenheit, sie Ihnen vorzustellen. Ich habe sie seit langem nicht mehr gesehen und ihr Erscheinen ist durchaus überraschend für mich gewesen. Man kann sie also in jedem Fall zu denen zählen, die nichts gegen einen Schwatz einzuwenden haben.“

Er lachte leise. „Mit Sicherheit wäre es ihr sogar lieber, wenn wir sie besser früher als später von dem Männerandrang retten würden.“

Cayden nahm einen Schluck von seinem Orangensaft, warf einen kurzen Seitenblick auf Emmas Nacken, der von einer Haarlocke umspielt wurde, und richtete seine ganze Aufmerksamkeit schließlich wieder auf die Menge. Denn wenn es etwas gab, das einen Vampir hungrig machen konnte, obwohl er keinen Hunger hatte, so war es ein dezent verdeckter Nacken, dem ein so angenehmer Duft entstieg, wie der von Emma. Dagegen half jeder rationelle Verstand nichts. Ohne ihre Instinkte wäre seine Art vermutlich schon längst ausgestorben.

„Die Auswahl an anspruchsvoller Gesellschaft ist nicht besonders groß, und bevor ich Ihnen die wenigen zeige, sollte ich Sie vielleicht viel mehr vor denen warnen, die Sie am besten meiden sollten. Da wäre zudem die Frau neben Lauren Bell. Scarlett Ming. Ein augenscheinlich zuckersüßes Ding, das einem gekonnt Honig ums Maul schmiert, aber vorsicht, hinter diesem zauberhaften Lächeln verbirgt sich eine gespaltene Zunge. Es reichen meist schon fünf Minuten mit ihr aus und Sie können sich sicher sein, dass irgendwelcher Tratsch über Sie schon bald die Runde macht.

Dazu müssen Sie ihr noch nicht einmal irgendwelche persönlichen Details verraten. Die Frau hat eine unglaublich große Fantasie, der viele nur zu gerne Glauben schenken.

Dann hätten wir da noch Brian Redford. Der Mann dort hinten in der Ecke, der mit dem Brandy in der Hand. Er ist zugegeben ein verdammt guter Geschäftsmann und hat sein Vermögen von ganz alleine erwirtschaftet, doch im Gegensatz zu Charlie Mason nicht immer auf saubere Art und Weise. Eigentlich liegen ihm der Schwarzhandel, Prostitution und Drogen mehr, als legale Geschäfte. Zudem hüten Sie sich davor, bei einem Gespräch zu dicht vor ihm zu stehen. Wenn ihn ein Thema nicht vollkommen langweilt und er Interesse dafür zeigt, bekommen Sie selbst an einem sonnigen Tag Nieselregen ab.“

 

Es war schon merkwürdig. Emma hatte einen winzigen Stich in sich gespürt, als Calmaro so von der Dame in reinem Weiß erzählte.

Das erste Mal, seit sie mit ihm hier war und sie beide sich unterhielten, schien er von etwas eine gute Meinung zu haben. Eine ausgezeichnete Meinung sogar. Und dass dieser Lichtfleck eine Frau von solcher Schönheit war, die jede Andere nur erblassen lassen konnte ... hatte Emma für einen schwachen Moment lang gar nicht gefallen. Dabei musste ihr Blick nur auf seine Finger fallen, die das Glas mit Orangensaft hielten und ihr wurde klar, wie dumm sie eigentlich war, sich von so etwas überhaupt treffen zu lassen. Es betraf sie überhaupt nicht. In Emmas Gegenwart durfte er schwärmen, soviel er wollte. Für Frauen, für Männer – egal.

„Ich würde mich freuen, Miss Orsáne kennenzulernen.“

Ja, überraschenderweise tat sie das wirklich. Denn wenn Emma es so betrachtete, konnte sie auf diese Frau nicht einmal neidisch sein. Sie war ... so wunderschön. Wie hauchdünnes Porzellan. Genau. Daran erinnerte sie Emma. An eine Figur, die so zart gearbeitet war, dass man gar nicht wagte, sie zu berühren. Wie eine Elfe.

„Was die weniger angenehmen Menschen hier betrifft ... bleibe ich einfach an Ihrer Seite. Da bin ich ja in jedem Falle sicher und gut aufgehoben.“

Ihr Herz klopfte ihr bis in die Ohren, aber zurücknehmen würde sie nicht, was sie gerade gesagt hatte. Denn es stimmte doch! Calmaro war schon einmal ihr Retter in der Not gewesen – wenn man es romantisch ausdrücken wollte. Da konnte sich Emma nicht vorstellen, warum sie es nicht aussprechen sollte.

Gut, vielleicht war es etwas kitschig formuliert gewesen, aber ... jetzt war es sowieso schon zu spät. Und sie konnte und wollte es eigentlich auch gar nicht mehr zurücknehmen.

 

„Was die weniger angenehmen Menschen hier betrifft ... bleibe ich einfach an Ihrer Seite. Da bin ich ja in jedem Falle sicher und gut aufgehoben.“

Als er das von Emma hörte, stahl sich von selbst ein bedeutendes Lächeln auf seine Lippen und etwas in ihm schien voller Inbrunst zu sagen: Ja, das bist du!

Nicht nur vor diesen Leuten, sondern auch vor jenen, die sie zur Ader lassen wollten. Da war er sich mit einem Mal absolut sicher.

Als würde sie etwas in ihm ausgraben, das schon lange schlief und durch ihr Vertrauen in ihn sanft wachgerüttelt wurde.

Einst war er der Beschützer eines ganzen Stammes gewesen. Heute brauchte ihn niemand mehr, doch für Emma würde er da sein. Zumindest für diesen Abend konnte er es versprechen.

Sie war in guten, fähigen Händen.

Und er hatte noch ein ganzes Repertoire an delikaten Details bezüglich der anwesenden Reichen und Schönen, das er ihr nur zu gerne eröffnete.

Cayden nannte Emma Namen, zeigte ihr die dazu passenden Personen und erzählte ihr viele Dinge über die Betreffenden, welche man nicht einfach so der Klatschpresse entnehmen oder nachgoogeln konnte.

Er hielt sich dabei mit seiner eigenen Meinung stark zurück und stützte sich stattdessen auf solide Fakten, brachte es aber fertig, sie nicht trocken zu erzählen, sondern es mit einem gewissen Etwas rüberzubringen.

Cayden konnte nicht sagen, wie Emma die Sache sah, aber ihm gefiel es, endlich einmal die ganzen Dinge loszuwerden, die er mit der Zeit hatte, erfahren können, ohne auch nur vorzuhaben, sie irgendwie zu verwenden.

Was das anging, war er lieber über alles und jeden hervorragend informiert, anstatt sich überraschen zu lassen. Denn nicht alle Überraschungen waren von der guten Sorte und auf die konnte er getrost verzichten.

 

Sie sahen sich noch ein paar Leute an. Welche von den Angenehmen und viele von den Unangenehmen. Emma fiel bald auf, dass Calmaro sich wirklich sehr intensiv mit den Anwesenden und damit den Mitgliedern der hohen Gesellschaft beschäftigt haben musste. Sonst wüsste er nicht so viel über sie alle. Was irgendwie nicht mit dem zusammenpassen wollte, was er selbst von sich behauptete.

Der Mann schien voller Rätsel und Widersprüchen zu stecken. Vor allem wenn er einmal mehr erzählte, als es bei der Arbeit der Fall war.

Nach einer Weile stieg eine mehr als schlanke Frau in einem pinken, langen Kleid auf die Bühne, klimperte mit ihrem Klunker von Diamantring an ihr Sektglas und bat um Ruhe. Was zumindest dafür sorgte, dass das Geplauder etwas abebbte und die Blicke sich aufmerksam auf die Bühne richteten. Es wurde eine kleine Rede gehalten, dann grüßte ein älterer Mann die versammelte Gesellschaft, wünschte einen schönen Abend und sprach noch eine Weile.

So lange, dass Calmaro sich überraschend zu Emma umdrehte und ihr nun tatsächlich ein Champagnerglas in die Hand drückte.

„Viele Dank“, flüsterte sie leise, bevor auch schon darum gebeten wurde, auf den heutigen Abend die Gläser zu heben. Emma tat es mit einem Lächeln und einem eigentlich viel zu tiefen Blick in Calmaros grüne Augen.

 

Die Zeit war schneller vergangen, als er gedacht hätte, denn für ihn überraschend schnell, wurde die Spendengala offiziell eröffnet. Kurz hörte er noch der Einstiegsrede zu und weshalb sich hier heute alle versammelt hatten, ehe er auch schon abschaltete und dem ganzen Geschwafel nur noch ein halbes Ohr schenkte. Nichts, was er nicht schon viel zu oft gehört hätte.

Stattdessen erwischte Cayden sich dabei, wie sein Blick nach einer Weile vom Redner zu Emma hinüber schwenkte, die dem Ganzen noch mit bewundernswerter Aufmerksamkeit zuhörte und seine eigene Aufmerksamkeit ihr gegenüber nicht bemerkte.

Cayden musterte ihr Kleid noch einmal gründlich. Sie sah wirklich hinreißend darin aus und verwandelte etwas, das vom Stoff, der Verarbeitung und der Qualität her nicht dem Standard des heutigen Abends entsprach, in einen einzigen Blickfang.

Emma trug keinen teuren Schmuck oder ein Kleid von einem berühmten Designer, aber deshalb sah sie keinesfalls billig aus. Ganz im Gegenteil.

Gerade die Schlichtheit brachte ihre körperlichen Vorzüge erst so richtig zur Geltung.

Mehr als einmal an diesem Abend hatte sich Cayden bereits dabei ertappt, wie sein Blick auf ihre üppigen Vorzüge fiel, vor allem auf das, was den Ausschnitt ihres Kleids füllte.

Aber auch ihre Hüften waren nicht zu verachten. Etwas woran man sich bestimmt gut festhalten konnte und bei dem man keine Angst haben musste, ihr im Eifer des Gefechts wehzutun.

Was die Frauen seiner Art anging, war Leidenschaft niemals in ihrer vollendetsten Form möglich. Was nicht heißen sollte, dass männliche Vampire brutal wären, aber wenn etwas so zerbrechlich war, wie weibliche Vampire, dann dämpfte das die Stimmung durchaus immer wieder. Kein Wunder, dass menschliche Frauen auf seinesgleichen eine solch große Anziehungskraft hatten. Vom Blut einmal abgesehen.

Gerade als Caydens Blick auf Emmas entzückenden Zehen fiel, die übrigens in sehr schönen Schuhen steckten, wurde ihm klar, was er da eigentlich dachte, besser gesagt, worüber er gerade nachdachte.

Er dachte an Sex mit Emma … seiner Assistentin. Wobei dieser beigefügte Titel in Anbetracht des ersten Satzteils keinerlei Bedeutung hatte.

Leicht die Stirn runzelnd, ging er diesem Gedanken weiter nach, denn es war zu seltsam, um wirklich wahr zu sein.

Cayden würde niemals von sich behaupten, er wäre ein Unschuldslamm und hätte Vanessa noch nie betrogen. Denn das wäre eine Lüge gewesen.

Aber es entsprach nun einmal der Tatsache, dass Sex für ihn, wie vieles andere auch, schon lange seinen Reiz verloren hatte.

Natürlich schlief er ab und zu mit ihr, da er trotz des Artenunterschieds immer noch ein Mann war und dementsprechend körperliche Bedürfnisse hatte und wenn er einmal etwas mehr Spaß daran haben wollte, ging er in ein luxuriöses Bordell, aber das hieß nicht, dass ihn dieser Akt noch irgendwie tatsächlich berühren oder gar heißmachen könnte.

Es hatte schon lange an Farbe, Reiz und Geschmack verloren. Darum war der Gedanke daran, sich Sex mit Emma vorzustellen, so abwegig. Denn das bedeutete, dass er sich tatsächlich wieder etwas dafür zu interessieren begann.

Als Cayden merkte, dass sich plötzlich etwas in ihm zu verschieben begann, was die bisherige Betrachtung seiner Assistentin anging, griff er nach dem ersten Strohhalm, den er finden konnte, und schnappte sich zwei Champagnergläser von einem der Tabletts, die gerade von Kellnerinnen in schwarzweißen Uniformen an die Gäste herumgereicht wurden.

Sex mit seiner Assistentin … diesen Gedanken sollte er so bald wie möglich wieder loswerden. Denn sie war mehr als nur seine Assistentin. Sie könnte ihm mit ihren Fähigkeiten wirklich gefährlich werden, wenn sie herausfand, was er war und das waren nun einmal zwei Dinge, die sich nicht miteinander vereinbaren ließen, ohne dass das eine zum anderen führte.

Außerdem befand er sich in den Jahren der Arbeit. Er hatte also auch gar keine Zeit dafür.

Da damit der Fall für den Moment abgeschlossen war, reichte er Emma ein Glas und blickte ihr wieder auf eine unverfängliche Region. Zumindest dachte er das, denn eigentlich war die Farbe ihrer Augen irgendwie faszinierend. Abhängig vom Licht schienen sie mal dunkler und mal heller zu sein.

Er erwiderte ihr Lächeln und erhob sein Glas.

„Auf einen erfolgreichen Abend, eine gute Gesellschaft und die Hoffnung, Sie wenigstens einmal zum Tanz auffordern zu dürfen.“

 

Emma lachte leise und bekam doch einen neugierigen Blick von einem älteren Herrn ab, den sie einfach mit einem charmanten Lächeln erwiderte. Der Mann sah ohnehin nicht so aus, als würde er davon am Tag viele bekommen.

„Dass sie sich da nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, Mr. Calmaro. Ich tanze nämlich sehr gern.“

Auch wenn sie bestimmt wieder nervös werden würde, sollte er sie tatsächlich auffordern. Aber noch bestand die Gefahr nicht, denn die Band, die gerade wieder die Redner ablöste, spielte nur leise. Vermutlich war das der Startschuss für das Buffet, denn dort schien gerade der Großteil der Anwesenden hinzudrängen.

„Mist, bei sowas bin ich immer zu langsam. Bestimmt ist gleich das Cookies and Cream Eis weg.“

Sie stellte sich trotz ihrer Absätze auf die Zehenspitzen und sah über die vielen Köpfe hinweg. Leider ausweglos. Von der Bar aus konnte sie nicht erkennen, ob genug Eis für alle da sein würde.

Als sie wieder zu Calmaro aufsah, dem sie seltsamerweise mit ihrer kleinen Aktion näher gekommen zu sein schien, stellte sie sich wieder normal hin. Die Wimpern etwas gesenkt, nahm sie noch einen Schluck von ihrem Champagner. Das Zeug schmeckte ihr nicht besonders. Waren ja mehr Bläschen als wirkliches Getränk.

„Ich mag Eiscreme“, fügte sie ein bisschen entschuldigend hinzu. Sie sollte sich hier wirklich nicht so aufführen, als wäre sie bei einem Kindergeburtstag. Immerhin zahlte ihr Boss für den Abend, da wollte Emma nicht wie ein verfressener Scheunendrescher wirken.

„Möchten die Herrschaften vielleicht eines unserer Lose erstehen? Natürlich kommen alle Gelder unserer guten Sache zugute.“

Die Dame, die einen glitzernden Bauchladen mit ebenso glitzernden Losen vor sich hertrug, sah aus, als wäre sie gerade einem sehr edlen Zirkus entsprungen. Alles an ihr glitzerte, warf das Licht von kleinen Paletten und Strasssteinchen zurück.

„Toller Zylinder“, meinte Emma ganz ehrlich, denn der Hut gefiel ihr wirklich.

„Oh danke. Ich mag ihre Schuhe.“

Emma sah auf ihre Zehen und strahlte die junge Frau dann glücklich an.

„Danke, ich mag sie auch. Was gibt es denn zu gewinnen?“

Jetzt fiel die Blonde mit den aufgedrehten Locken wieder in ihre vorbestimmte Rolle zurück und leierte die Preise herunter, wie eine Maschine.

„Oh, wow. Ein Tag allein im Te Papa? Wirklich?“

Emma wagte einfach nicht zu fragen, wie viel so ein Los kosten würde. Wenn sie sich die Preise so anhörte, konnte sie sich nicht einmal eines leisten, wenn sie die Idee mit dem Nottaxi für heute sausen ließ.

 

Es war herrlich erfrischend Emmas Begeisterung für Eis mit anzusehen, und wie sich die Sehne an ihrem Hals anspannte, als sie ihren Nacken streckte, das war so …

Cayden bemerkte erst, dass er näher gerutscht war, als Emma sich wieder auf ihre Absätze niederließ und zu ihm aufsah. Sehr viel dichter, als noch vorhin, aber noch nicht allzu auffällig. Kein Grund also, daran etwas zu ändern.

„Ich mag Eiscreme“, entschuldigte sie sich bei ihm, als hätte Emma mit ihrer Begeisterung etwas Schlimmes angestellt. Dass sie ihn damit zum Lächeln brachte, ob er nun wollte oder nicht, schien ihr dabei gar nicht aufzufallen.

Gerade wollte Cayden ihr erklären, dass er auch Eiscreme mochte, seit es diese göttliche Erfindung gab, aber da kam ihm auch schon jemand anderes dazwischen und er ließ den Mund zu, um den beiden Frauen zu lauschen.

Da Emma nicht den Eindruck machte, als wolle sie ein Los kaufen, stellte er schließlich seinen Champagner ab, an dem er nur zum Anstoßen einmal genippt hatte, zog dann einen Geldschein aus der Innentasche seiner Anzugjacke und kaufte bei der Verkäuferin zwei Lose, damit diese wieder ihrer Arbeit nachgehen konnte.

Wieder mit seiner Assistentin alleine hielt er vor ihren Augen die zwei Lose hoch.

„Also ich persönlich würde mich ja mehr für die Wasserscooter interessieren, aber da ich in solchen Dingen wie Glücksspiel oder es auf pures Glück alleine ankommen zu lassen, ausgesprochen schlecht bin, dürfen Sie gerne Ihr Glück versuchen.“

 

Emma verstand nicht. Deshalb sah sie mit einem nur schwachen Lächeln zwischen Calmaro und den Karten in seiner Hand hin und her, brachte aber nicht recht den Mund auf, um nachzufragen.

Er konnte ja nicht meinen, dass sie die Karten an sich nahm, die er für teures Geld gekauft hatte. Falls sie gewann, hätte ihr Chef ihr damit unter Umständen ein Boot geschenkt! Nein, das ging nicht. Aber was meinte er dann mit seiner Andeutung?

Ihr ging erst ein Licht auf, als er die Lose schon wieder sinken ließ.

„Oh, Sie meinen als Glücksbringer?“ Jetzt nahm sie ihm die beiden glitzernden Karten gern aus der Hand und sah sich die Nummern an, die in das dicke Papier geprägt waren.

„13 und 78. Ziemlich gute Zahlen würde ich sagen. Vor allem die 13 finde ich vielversprechend.“

Sie lächelte breit und konnte ein leicht schelmisches Zwinkern leider nicht mehr unterbinden.

„Mal sehen, ob sie bald auf einem Wasserscooter durch die Cook’s Strait düsen werden.“

Allein die Vorstellung brachte sie zu einem Grinsen, aber Emma steckte die Lose sorgsam in ihre Tasche, bevor sie noch einmal zum Buffet hinüberlinste.

„Das riecht wirklich verführerisch. Möchten Sie etwas essen? Oder warten Sie lieber noch ein bisschen?“

Emma selbst hatte wirklich großen Hunger, aber sie würde neben Calmaro stehenbleiben und noch Stunden warten, wenn er es für angebracht hielt. Schließlich war sie nicht einmal sein Gast, sondern seine Assistentin. Es würde nach seinem Kopf gehen – nicht nach ihrem.

 

Cayden lächelte nur über Emmas Annahme, er würde sie nur als Glücksbringer missbrauchen. Er würde sich einfach später querstellen, wenn sie mit den Losen etwas gewonnen hatte. Egal was es war, er brauchte nicht einen der Preise, weshalb er sie ihr nur zu gerne überließ, sofern sie überhaupt etwas gewannen.

„Ich bin dafür, dass wir uns in die Schlange der Hungrigen einreihen, solange noch Eiscreme da ist“, meinte er amüsiert grinsend, weil er sich selbst ziemlich gut auf einem Wasserscooter in der Cook’s Strait vorstellen konnte. Das waren schließlich die angenehmen Dinge der modernen Zeit. Wenn man Zeit hatte, verstand sich natürlich und daran mangelte es ihm momentan ziemlich. Also doch keine Tour durchs Wasser.

Sein Lächeln bekam einen leichten Riss, weshalb er Emma erneut durch die Menge führte, und ihr dabei einen Weg bahnte, damit niemand sie anrempeln konnte.

Das Buffet war wie schon so oft, einfach nur einmalig. Es gab wirklich eine unglaublich große Auswahl, aber in so kleinen Häppchen, dass man alles Mögliche probieren konnte, ehe man wirklich satt war und das war ja schließlich am Ende der Sinn der Sache.

Es gab natürlich auch ein paar Fehlgriffe darunter, über die Emma sich mit ihm zusammen gründlich ausließ, während sie bei anderen Dingen förmlich schwärmte. Vor allem das Eis war etwas, das entweder kaum kommentiert wurde, wenn sie beide gerade genüsslich davon aßen oder dann im Nachhinein das wohl größte Lob dafür bekam, wenn sie den Mund wieder frei hatten.

Emma war wirklich eine angenehme Tischgesellschaft, was er seit dem Abendessen in seinem Büro immer wieder nur bestätigen konnte. Mit ihr wurde es nicht langweilig und auch die meisten Leute hielten sich von ihm fern, da sie jemanden wie ihn in einem angeregten Gespräch nicht zu unterbrechen wagten.

Schließlich war es wieder der Diamantring auf einem Glas, der die unzähligen Unterhaltungen im Raum zum Verstummen brachte und ihre Blicke auf die Bühne zog.

Gerald Fitz, der Veranstalter lächelte seiner viel zu jungen und daher 3. Ehefrau dankend zu, ehe er sich ans Publikum richtete.

Jetzt kam wohl die übliche Überraschung an diesem Abend, die jedes Mal anders war, so dass selbst Cayden nicht sagen konnte, was es dieses Mal sein würde. Weshalb er nun aufmerksam die weitere Rede verfolgte, die im Endeffekt nur auf eines hinauslief.

Sämtliche Damen der Gesellschaft wurden dazu aufgefordert, sich für eine gute Sache auf der Bühne versteigern zu lassen. Der Preis für den Glücklichen, der eine der Damen ersteigern konnte, betrug einen Tanz mit der Ersteigerten. Mindestgebot waren stets 100 Dollar. Ein Klacks, für die Reichen und Schönen der High Society, aber ein beträchtlicher Gewinn für die hilfsbedürftigen Kinder, denen das Geld zugutekam.

Als die Rede schließlich beendet war und nun die freiwilligen Ladys nach oben auf die Bühne kommen sollten, sah Cayden Emma mit einem seiner charmantesten Lächeln an, die er besaß.

„Was meinen Sie dazu? Darf ich mir einen Tanz mit Ihnen verdienen, wenn es einem guten Zweck dient?“

 

Emma hatte dem Herrn auf der Bühne vollkommen unbeteiligt und daher mit entspanntem Interesse zugehört. Da es sie nichts anging, konnte sie über diese Aktion denken, was sie wollte. Sie selbst würde sich auf jeden Fall nie–

„Was meinen Sie dazu?“

Immer noch ruhig wandte sie sich Calmaro zu. Und verschluckte sich fast noch an ihrem eigenen Atem, als ihr dieses unglaubliche Lächeln entgegen blitzte.

Mit einem überraschten Schlag schickte ihr Herz Emma ein Knistern in den Magen. Ihre Hand schloss sich kurz fest um ihre Tasche, bevor Emma sich zur Ordnung rufen und Calmaros weiteren Worten zuhören konnte.

Ein Tanz? Aber, den konnte er doch ...

Jetzt huschte ihr Blick leicht entsetzt zwischen ihrem Begleiter und der Bühne hin und her, wo bereits die ersten Damen ein paar Stufen erklommen, um sich aufzustellen.

Nein!

Nein, nein, nein, nein, nein.

Emma hielt sich nun krampfhaft an ihrer Tasche fest und kam sich vor, als hätte man sie in einen halb zugefrorenen See geworfen.

Sich versteigern lassen? Vor allen Leuten? Vor diesen verdammt reichen, teuer gekleideten, perfekten Leuten?

Einer Panikattacke nahe, wagte Emma nicht direkt in Calmaros Gesicht zu sehen. Wenn sie es tat, würde sie vermutlich entweder davon rennen oder etwas sehr, sehr Dummes tun.

Was sie aber stattdessen tat, war im Endeffekt auch nicht viel besser. Denn Emmas Augen trafen die, der wunderschönen, weißen Fee.

Inzwischen allein stand die Frau am anderen Ende des Saals und strahlte dort trotzdem, als würde ihr nicht nur der Raum, sondern die gesamte Stadt mit einem Lächeln gehören. Emma konnte ihren Blick ganz kurz nicht abwenden, war von dieser zerbrechlichen Schönheit wie gefangen, bis die Dame den Bann brach, indem sie nur in einer winzigen Geste das Kinn senkte und dann mit einem feinen Lächeln zur Bühne hinüberblickte.

Jemand nahm Emmas Hand. Ganz vorsichtig legten sich warme Finger um ihre und sie sah nun doch ruhig in Calmaros lächelndes Gesicht, freute sich am Anblick seiner grünen Augen und mühte sich um Ruhe, während sie seinen sanften Griff erwiderte.

„Wenn sie mich da oben einfach stehenlassen, kündige ich.“

 

„Oh, Sie verletzen mich“, meinte er gespielt entrüstet, während er eine Hand auf sein Herz legte und die andere immer noch sanft Emmas hielt.

„Ich halte stets mein Wort und Sie haben hiermit meines, dass ich Sie wieder von der Bühne hole, koste es mich, was es wolle.“

Sein Lächeln wurde breiter, ehe er ihr vom Stuhl aufhalf und sich ein Stück zu ihr herabbeugte, um mit gedämpfter Stimme noch hinzuzufügen: „Keine Angst. Ich überlasse Sie keinem von den reichen, alten Säcken, die nur Ihren Hintern betatschen wollen. Sie sind bei mir in guten Händen.“

Cayden richtete sich wieder auf und ließ Emmas Hand langsam los, während er sie zur Bühne schickte und ihr dabei stets mit einem Lächeln folgte, das nur auf sie gerichtet war.

Er wusste, dass sie nervös war und ihn vermutlich in diesem Augenblick verfluchte, aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt und so war ihm zumindest ein Tanz mit ihr sicher. Darauf hatte er spekuliert.

Cayden setzte sich wieder und lauschte nur nebenbei den Geboten für die anderen Damen, während sein Blick meistens auf Emma lag und wie schön er sie da oben fand. Gerade in ihrer Schlichtheit stach sie zwischen Glitzer und Prunk hervor wie eine seltene Blume.

Er musste zugeben, dass er immer aufgeregter wurde, je mehr Frauen versteigert wurden und je weniger noch übrig waren, bevor Emma an die Reihe kam.

Dabei musste er gar nicht aufgeregt sein, da er nicht gelogen hatte. Er würde alles für sie bezahlen, was nötig war und somit war sie ihm bereits sicher, doch die Vorstellung, mit ihr zu tanzen war es, die es schließlich aufgeregt in seinem Magen kribbeln ließ.

Wie würde es sein? Ganz normal, wie mit jeder anderen halbwegs begabten Frau?

Emma hatte gesagt, dass sie gerne tanzte, also konnte sie es bestimmt auch. Was hieß, dass es durchaus interessant werden könnte. Nur, wie …?

„Und nun möchte ich die bezaubernde Lady in Grün nach vorne bitten“, unterbrach Fitz seine Gedanken.

Cayden wurde aufmerksam und er richtete sich in seinem Stuhl gerade auf, als Emma ein Stück zwischen den verbliebenen Frauen hervor trat.

Er konnte ihre Nervosität förmlich auf seiner Haut prickeln spüren, aber sie hielt sich tapfer und lächelte sogar.

„Das Mindestangebot beträgt 100 Dollar, meine Herren. 100 Dollar, wer bietet mehr?“

Cayden hob kurz die Hand, da sie hier keine Versteigerungsschilder mit Nummern darauf hatten.

„150 Dollar. 200 Dollar. 250 Dollar …“

Während er seine Mitbieter musterte, hob er immer wieder die Hand, um die anderen zu überbieten. Am Anfang herrschten noch rege Gebote, doch je höher die zu bietende Summe wurde, umso weniger Angebote kamen.

Als sie schließlich bei 2850 Dollar angekommen waren, blieb Cayden der Höchstbietende.

„2850 Dollar meine Damen und Herren. Höre ich 2900 für diese entzückende Lady? Nein? 2850 zum Ersten. 2850 zum Zweiten und 2850 zum–“

„3000 Dollar.“

Alle Köpfe schossen in die Richtung der Frau in Weiß, die Cayden soeben überboten hatte und nicht den Preisrichter, sondern ihn mit einem herausfordernden Lächeln ansah.

Einen Moment war er davon so verblüfft, dass der Preisrichter schon bis zwei gezählt hatte, ehe er endlich den Mund aufbrachte.

„4000 Dollar!“

Er versuchte es nicht persönlich zu nehmen und schenkte Liasana daher ein wohlwollendes Lächeln. Sie zog lediglich die Augenbraue in die Höhe und gab ihr nächstes Gebot ab.

„5000 Dollar.“

Ihr Lächeln wurde zuckersüß, obwohl hinter ihren Augen die Aufforderung zu einem Duell stand.

Sein Lächeln wurde breiter. Nun gut, das konnte sie haben!

„8000 Dollar.“

„10.000 Dollar.“

„12.000 Dollar.“

„15.000 Dollar.“

Die Frau ließ einfach nicht locker. Die Frage war nur, warum sie nicht locker ließ.

Cayden wusste, dass Liasana nicht mehr Interesse an Frauen hatte wie er an Männern. Was also nicht der Grund sein konnte, wieso sie sich so an Emma festbiss. Er glaubte auch nicht, dass sie auf ihr Blut aus war, denn das hätte sie genauso gut auf anderem Wege bekommen können, sobald Cayden einmal nicht da war, um das zu verhindern.

Warum also bot sie immer noch weiter?

„48.000 Dollar.“

Caydens Stimme wurde immer ruhiger und gelassener, obwohl er langsam wirklich wütend wurde. Es ging hier nicht ums Geld. Davon hatte er genug und Liasana offenbar auch. Demnach konnte das hier noch eine ganze Weile weiter gehen.

Was ihn aber wirklich sauer machte, war die Tatsache, dass sie es mit ihren knapp tausend Jahren wagte, ihn überhaupt herauszufordern. Im Gegensatz zu ihm war sie noch ein Teenager in der Pubertät. Sie sollte sich also nicht so mit ihm messen und doch tat sie es. Immer und immer wieder.

„75.000 Dollar.“

Er stand auf.

„100.000 Dollar!“, bot er, sein Blick dabei immer noch freundlich lächelnd auf Liasana gerichtet, aber seine Augen ließen ihr eine unverkennbare Warnung zukommen, dieses Spiel nicht zu weit zu treiben. Sie würde verlieren. So oder so. Daran ließ er keinen Zweifel offen. Denn er hatte sein Wort gegeben und er würde es halten. Selbst für sehr viel mehr als 100.000 Dollar.

Mit einem unangemessen zufriedenen Lächeln nickte sie ihm verstehend zu und ließ den inzwischen schwitzenden Preisrichter bis drei zählen, ohne es noch einmal zu wagen, eine neue Summe zu setzen.

Endlich war ihm der Tanz mit Emma sicher.

In aller Ruhe, ohne dem Gemurmel und den Blicken der anwesenden Gäste auch nur einen Deut an Aufmerksamkeit zu schenken, zog Cayden sein Scheckbuch aus seiner Jackentasche, stellte den Scheck über 100.000 Dollar für wohltätige Zwecke aus und ging damit zur Bühne hinüber, um ihn dem Veranstalter zu geben, danach ergriff er die Hand der Ersteigerten und führte sie zu ihrem Tisch zurück.

Er hatte sein Wort gehalten.

 

Emma schien abwechselnd in kalten und heißen Wellen von Nervosität zu baden, während sie auf der Bühne stand und dabei zusah, wie eine Frau nach der Anderen 'versteigert' wurde. Für Manche von ihnen wurden wirklich mehrere tausend Dollar geboten.

Summen, die natürlich an den guten Zweck gingen, Emma aber trotzdem riesig erschienen. Immer wieder musste sie sich daran erinnern, dass das hier alles reiche Menschen waren. Die juckten 10.000 Dollar vermutlich so wenig, wie sie selbst ein 10er. Was es aber nicht leichter machte, sich das bewusst zu machen.

Eine Dame, die vorhin bei dem Selfmade-Millionär gestanden und ihm schöne Augen gemacht hatte, warf gerade einen Luftkuss in die Menge und erhöhte damit die Gebote sogar noch einmal in höher stelligere Bereiche.

Emmas Blick huschte zu ihrer Linken, von wo die Damen bis jetzt immer gekommen waren und zählte die Runden, die sie noch hinter sich zu bringen hatte, bevor sie endlich an der Reihe und alles vorbei sein würde.

Noch fünf, dann vier ...

„Und nun möchte ich die bezaubernde Lady in Grün nach vorne bitten.“

Bloß zur Sicherheit sah Emma sich unter den Anderen um. Aber keine außer ihr selbst trug grün und vermutlich war sie auch die Einzige, deren Name nicht allen Anwesenden im Publikum bekannt war.

Oh Gott, sie wollte nicht!

Die paar Schritte bis neben den moderierenden Herren, überlegte Emma sich, auf welches kleine Eiland sie ziehen müsste, wenn sie jetzt stolperte und hinfiel. Sie hatte das Gefühl vor Nervosität so stark zu schwitzen, dass sie im Scheinwerferlicht glänzen musste. Bestimmt würde niemand etwas für sie bieten!

Was wiederum hieß, dass Mr. Calmaro günstig davon kam und sie schnell von dieser Bühne herunter konnte.

Bitte ...

„150 Dollar. 200 Dollar. 250 Dollar …“

Sie boten.

Sie boten tatsächlich!

Emmas Lächeln wurde etwas weniger verkrampft, auch wenn das Gleiche leider nicht für den Rest ihres Körpers galt. Ihre Augen konnten dem Geschehen nicht folgen, weil sie von den Scheinwerfern ziemlich geblendet wurde, aber die Gebote gingen im Publikum ziemlich schnell hin und her. Bis sie bei einem Betrag angekommen waren, der Emma überraschte und sie sogar ziemlich stolz machte. Fast 3000 Dollar, das konnte sich sehen lassen.

Sie warf dem Moderator einen Blick zu und erntete ein Lächeln, während er schon herunter zählte.

„3000 Dollar.“

Es wurde still. Die klingende, leise Stimme hatte sich wie ein winziges, aber deutlich hörbares Läuten durch den Raum geschnitten und erwischte wohl nicht nur Emma überraschend. Alles schien einen Moment zu verharren, bis Mr. Calmaros Stimme gleich einen Tausender draufsetzte.

Emma zuckte innerlich zusammen.

Nein, ist schon gut.

Als die Gebote der beiden in ein Gefecht überzugehen drohten, hätte Emma am liebsten eingegriffen. Sie fühlte sich absolut nicht wohl in ihrer Haut und hatte das Gefühl unter den heißen Scheinwerfern Feuer fangen zu müssen.

„48.000 Dollar.“

Genug!

Emmas Finger zitterten leicht und sie konnte gar nicht glauben, was gerade passiert war, als Calmaro zum dritten Mal an diesem Abend ihre Hand nahm und sie von der Bühne geleitete.

Interessierte Blicke ruhten auf ihr und auch andere Mienen, die sie nicht deuten konnte. Aber sie prickelten unangenehm auf ihrer Haut und zwangen Emmas Blick auf den Boden.

100.000 Dollar.

Scheiße.

12. Kapitel

Da Emma so aussah, als würde sie gleich umkippen, zwang Cayden sie mit sanfter Gewalt dazu, sich auf ihren Stuhl zu setzen, ehe er ihr ein frisches Glas mit Orangensaft in die Hand drückte.

„Trinken Sie“, befahl er leise, denn sie wirkte, als hätte sie etwas Hochprozentigeres gut gebrauchen können. Aber die zusätzlichen Vitamine und die kühlende Wirkung dürften ebenfalls helfen.

Da sie immer noch nichts sagte, sondern lediglich an ihrem Getränk nippte, ohne ihn anzusehen, durchbrach Cayden einfach das Schweigen.

„Ich muss gestehen, ich hätte nie gedacht, dass der Abend mit Ihnen an meiner Seite so interessant werden würde. Ich bin ehrlich überrascht und das gelingt nicht vielen. Es würde mich daher ausgesprochen freuen, wenn Sie mich auch bei anderen solcher Gelegenheiten begleiten könnten. Dann müsste ich mir nie wieder Sorgen darüber machen, dass ich vor Langeweile einmal einschlafen könnte.“

Cayden lächelte und sprach weiter, während Emma wieder mehr Farbe im Gesicht bekam und nicht mehr so aussah, als würde sie jeden Moment ohnmächtig werden.

Es tat Cayden wirklich leid, dass er sie in diese Machtdemonstration hineingezogen hatte, andererseits war es aber auch für einen guten Zweck geschehen und vielleicht könnte diese kleine Sensation beim nächsten Mal die anderen Millionäre dazu bringen, ebenfalls etwas freizügiger mit ihrem Geld umzugehen. Alle, die darüber hinausgingen, sollten sich ohnehin schämen, dass sie so sehr mit ihrem Geld geizten. Tatsächlich, wie viel brauchte man denn wirklich, um gut leben zu können?

Cayden bräuchte noch nicht einmal einen Bruchteil seines Vermögens dafür, was aber nicht hieß, dass es keine gute Idee wäre, seine Unsterblichkeit zur Vermehrung seiner Güter einzusetzen. Wer viel Zeit hatte, hatte auch viele Gelegenheiten, sinnvolle Dinge zu tun.

Als er sich schließlich sicher war, dass Emma sich weitestgehend erholt hatte, erhob sich Cayden von seinem Stuhl, verneigte sich elegant vor ihr und ergriff ihre Hand.

„Miss Emma Barnes. Würden Sie mir die Ehre zuteilwerden lassen und mit mir tanzen?“

Denn darauf freute er sich schon die ganze Zeit und die High Society hatte auch schon darauf gelauert, wann er endlich seinen Preis für dieses übertrieben hohe Angebot einfordern würde und was nun so Besonderes an der Lady in Grün war, dass er sie so sehr hatte haben wollen.

Er spürte die Blicke der anderen auf sich ruhen, doch es war nur ein einziger, der ihn gefangenhielt. Der Blick aus diesen hellbraunen Augen, die einmal von Karamell zu Milchschokolade zu wechseln schienen und wieder zurück. Je nach Licht und Stimmung. Einfach faszinierend!

 

„Ha. Wenn Sie das spannend fanden, gehen Sie mal mit mir Skifahren.“

Leider klang ihre Stimme überhaupt nicht so scherzhaft locker, wie Emma es gern gehabt hätte. Aber langsam fiel die Anspannung von ihr ab und sie konnte den Orangensaft in kleinen Schlucken trinken, ohne Angst haben zu müssen, sich die Hälfte wegen der zitternden Hände in den Ausschnitt zu schütten.

Oh man, sie fühlte sich wirklich wackelig. Wie manche Menschen auf so einen Rummel um ihre Person stehen konnten, verstand sie nicht. Das war alles einfach zu ... Naja, es war einfach nicht Emmas Ding.

In Zukunft würde sie solche Sachen getrost wieder denen überlassen, die es mochten.

Sie hatte gerade erst wieder vom Boden und ihren Füßen aufgesehen, als Calmaro vor ihr stand. Sein Haar glänzte noch roter als sonst im Licht der Saalbeleuchtung und bildete einen Kontrast, der seine grünen Augen noch stärker funkeln ließ als sonst.

In Emma breitete sich Vorfreude aus, wie ein warmer Sommerregen, als ihr Boss ihre Hand nahm. Allmählich mochte sie das Gefühl. Es war nicht mehr so ungewohnt, steif und vorsichtig, wie noch am Beginn des Abends, als er sie begrüßt hatte. Es fühlte sich ... einfach nur schmeichelhaft an. Emma fand es nett. Sie fand ... ihn nett.

„Die Ehre ist ganz auf meiner Seite“, antwortete sie leise und ließ sich von ihrem Stuhl gleiten, um ihm auf die Tanzfläche zu folgen. Diesmal waren ihr die Blicke der Leute egal. Es verursachte sogar ein breites Grinsen in Emmas Gesicht, weil sie vermutete, die meisten der anwesenden Damen waren einfach nur ziemlich eifersüchtig, da Emma von Calmaro ersteigert worden war und jetzt mit ihm tanzen durfte. Darauf hatte sie sich schon gefreut, seit er vorhin davon gesprochen hatte.

 

Sein Herz begann schneller zu schlagen, während er sich mit Emma zusammen einen Weg durch die Menge auf die Tanzfläche zu bahnte. Er war so aufgeregt wie schon sehr lange nicht mehr und das wunderte ihn enorm, erhöhte aber auch seine Vorfreude noch weiter.

Tatsächlich konnte er es kaum erwarten, zu sehen, wie sie beide während des Tanzes zusammenpassen würden. Manche konnten schließlich noch so gut tanzen und würden dennoch nie wirklich zusammenpassen. Andere schienen dafür regelrecht geschaffen zu sein.

Was würde sie sein? Was wäre Emma für ihn und er für sie?

Gerade, als er schon das Parkett der Tanzfläche betreten und sich zu Emma herumgedreht hatte, spürte er plötzlich kühle Hände über seinen Augen und einen warmen Atem in seinem Nacken, während ihm ein widerlich süßes Parfum scharf in die Nase stach.

„Wer bin ich?“, flüsterte eine nur zu vertraute Stimme direkt in sein Ohr und ließ ihn vollkommen erstarren.

„Vanessa.“

Seine Freude erlosch so endgültig wie die Flamme einer Kerze, die ein Hurrikan ausgeblasen hatte. Noch nicht einmal ein letztes Glühen war zurückgeblieben.

„Richtig!“

Die Hände ließen von seinen Augen ab, so dass er in das plötzlich viel zu helle Licht blinzeln und sich mit einem scharfen Ruck zusammenreißen musste.

Einen winzigen Bruchteil lang, wollte es ihm überhaupt nicht gelingen, die geschauspielerte Fassade seiner ehelichen Bürde mit Vanessa aufrechtzuerhalten, doch schließlich schnappte das antrainierte Muster wieder ein und er drehte sich mit einem Lächeln zu seiner Frau herum, während seine Augen kalt wie Eis blieben.

„Ness! Was für eine Überraschung. Ich dachte, du wärst bei einem Shooting in Brasilien?“

Warum zum Teufel bist du nicht dort geblieben und treibst es stattdessen mit deinem Agenten, anstatt mir hier den Abend zu versauen?!

„Ich hab dich einfach vermisst, Schatz, und da wir beide uns in letzter Zeit nicht so oft sehen konnten, dachte ich mir, dass ich dir einfach einmal eine Freude mache. Nachdem das Shooting sprichwörtlich ins Wasser gefallen ist.“

Vanessa schlang ihm während ihrer Worte die Arme um den Nacken und küsste ihn anschließend zärtlich auf die Lippen. Sie strahlte tatsächlich so, als würde sie jedes Wort ernst meinen das aus ihrem Mund kam. Dabei wurde sie auch noch von ihrem teuren Kleid und den kostbaren Juwelen, die er ihr an irgendeinem Hochzeitstag geschenkt hatte, funkelnd unterstützt.

 

Emma liebte es, zu tanzen. Aber wann bekam man unter normalen Umständen schon die Gelegenheit dazu, außer wenn man auf der Hochzeit von Freunden am Singletisch saß und sich jemand erbarmte? Da war das hier ganz anders. Emma brauchte gerade bestimmt nicht das Gefühl zu haben, dass Mr. Calmaro sie nur aufforderte, weil alle anderen Frauen bereits vergeben waren oder er eben niemanden sonst finden konnte. Nein, er wollte mit ihr tanzen.

Emma brachte das Grinsen gar nicht mehr aus ihrem Gesicht, als sie hinter ihm herlief, endlich die Tanzfläche erreichte und sich eine Stelle mit ihm suchte, wo sie genug Platz haben würden. Sie mussten nur noch auf das nächste Lied warten, dann ...

Der Griff um ihre Hand veränderte sich so stark, dass Emma stumm einfach stehenblieb und wartete, bis er mit einem Ruck losließ.

Sie sah die Hände auf seinen Augen, sein Lächeln und dann die Frau im glitzernden, goldenen Kleid, zu der er sich umdrehte. Die Frau, die ihre Arme um seinen Nacken schlang und ihn küsste.

Emma stand da und sah zu.

Sie rührte sich keinen Zentimeter, sah nicht einmal weg oder wagte zu tief zu atmen. Irgendwie hatte sie Angst, all das ... könne wehtun.

 

„Und wer ist das?“, wollte Vanessa mit einem Tonfall wissen, der so gelassen wie möglich klingen sollte und für seine Ohren trotzdem nur so vor Eifersucht troff.

Sie ließ von Cayden ab, ohne ihre Hände von ihm zu nehmen und musterte Emma gründlich von den Haarspitzen bis zu den Zehen, ehe sie an ihrem grünen Kleid hängen blieb.

„Oh mein Gott! Das ist doch nicht etwa diejenige im grünen Kleid, für die du 100.000 Dollar bezahlt hast?“

Schockiert sah sie Cayden an, ehe ihr Blick wieder auf Emma fiel. Dieses Mal sichtlich von oben herab.

„Ach, Schatz. Du hast wirklich schon bessere Geschäfte gemacht. Ich meine, sieh dir Mal dieses Kleid an. Das ist doch höchstens fünfzig Dollar wert und dann erst diese Schuh-“

„Entschuldigen Sie uns bitte, Emma“, unterbrach Cayden seine Frau mit einem schwachen Lächeln, da er kaum noch seine Wut bändigen konnte, und zog Vanessa an ihrem Arm zu den Resten des Buffets hinüber, an dem sich kaum noch Leute aufhielten, da alle bereits genug gegessen zu haben schienen.

Dort stellte er sich mit dem Rücken zu den Leuten, setzte aber dennoch sein liebenswürdigstes, wenn auch vollkommen falsches Lächeln auf, während er offenbar sehr vertraut mit seiner Frau sprach und sie dabei nicht losließ.

„Wenn du noch einmal, so unverschämt mit jemandem sprichst, den ich kenne …“, zischte er leise zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, die durch die sich verlängernden Fangzähne noch um einiges bedrohlicher wurden.

„… sind wir nicht einfach nur geschiedene Leute, Vanessa. Sondern du wirst es so dermaßen bereuen, dass du dir wünschst, mir nie begegnet worden zu sein. Hast du das verstanden?“

Auch Vanessas Lächeln glich nun mehr gezwungen als echt, aber er sah in ihren Augen echte Betroffenheit, als sie seine Fliege richtete und nicht wagte, ihn anzusehen.

„Es tut mir leid, Schatz. Ich … war einfach nur eifersüchtig. Es … kommt nicht wieder vor. Versprochen.“

Als wenn es so einfach wäre!

Cayden war nicht nachtragend und er würde einen so gesellschaftlichen Ausrutscher auch nicht unbedingt so ernst sehen. Aber es hatte ihm gar nicht gefallen, wie Vanessa über Emma hergezogen war, als wäre sie nichts weiter als eine unbedeutende Fliege, die man mit einem einzigen Handwedeln wieder verscheuchen konnte.

Nein, ganz und gar nicht gefallen.

Seine Fänge pochten, aber er war nicht durstig. Stattdessen würde er Vanessa nun liebend gern an die Kehle gehen, um eine richtige Schweinerei zu veranstalten.

Dennoch riss er sich schließlich zusammen, lächelte, ohne seine Zähne zu zeigen und beugte sich vor, an Vanessa vorbei, um einen der kleinen Brownies zu nehmen und ihn ihr an die Lippen zu halten.

„Du hattest keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Denn im Gegensatz zu dir treibe ich es nicht mit allen Leuten, die mir über den Weg laufen. Aber lass uns für den Moment Frieden schließen. Hier koste. Die sind wirklich ausgezeichnet!“

Und auch nur ein Bissen davon hatte so viele Kalorien, dass Vanessa sich dafür eine Stunde lang auf ihrem Stepper abstrampeln würde. Zwar nur ein kleiner Trost, aber es half, um seine Wut zu bändigen.

Tatsächlich beäugte sie die Süßigkeit wie eine giftige Schlange, zwang sich dann aber doch dazu, einmal davon abzubeißen, widerwillig zu kauen und ihn schließlich hinunterzuwürgen.

„Mhm. Köstlich“, log sie und Cayden lächelte.

 

„Und wer ist das?“

Mit aller Not und Mühe riss Emma sich aus ihrer Erstarrung und setzte ein freundliches Lächeln auf.

Seine Frau. Das hast du gewusst. Kein Grund unhöflich zu sein.

„Hallo, wir haben uns schon einmal im Büro –“

„Oh mein Gott! Das ist doch nicht etwa diejenige im grünen Kleid, für die du 100.000 Dollar bezahlt hast?“

Mrs. Calmaro fuhr Emma über den Mund und beachtete die Hand gar nicht, die diese ihr zur Begrüßung hatte entgegenstrecken wollen. Stattdessen schlug sie verbal auf Emma ein, mit jedem Wort, das sie ihr so laut entgegen warf, dass alle Umstehenden es hören konnten.

Emma starrte das blonde Model zuerst vollkommen geschockt an, bis jedes bissige Detail in ihren Kopf und dann in ihre Magen sank. Ihr wurde schlecht und gleichzeitig fingen Emmas Augen zu brennen an. Selbst mit verschleiertem Blick und tapferem Lächeln erkannte sie die nun herablassenden und teils offen belustigten Blicke, die an ihr zerrten, während sie wie ein geprügelter Hund die Tanzfläche wieder verließ.

Weg von den Menschen, weg von ...

Sie schaffte es bis zur Toilette, bevor sie sich die Hand vor den Mund schlug und ein Schluchzen sie durchschüttelte. Emma sah an sich herab, sah das Kleid, die Schuhe ... Das alles hatte sie ein halbes Monatsgehalt gekostet.

„Fiese Mistkuh!“

 

„Da stimme ich Ihnen voll und ganz zu“, bestätigte Liasana Orsáne ernst, die so unvermittelt in der Toilette aufgetaucht war, dass man nicht anders konnte, als so wie Emma einfach erschrocken zusammenzufahren.

„Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken“, beteuerte die nordische Schönheit mit singendem Akzent, während sie an Emma herantrat und ihr ein seidenes Taschentuch entgegenhielt.

„Aber ich kam nicht umhin, um die kleine Szene von geradeeben zu bemerken und auch wenn es Ihnen vermutlich kein Trost sein wird, Sie sind nicht die Einzige, die eine derartige Meinung über Caydens ... liebreizende Frau besitzt. Dennoch würde ich Ihnen empfehlen, nehmen Sie das Gift aus dem Mund dieser Schlange nicht ernst. Es war pure Eifersucht, die da aus ihr gesprochen hat. Schließlich hat ihr Mann nicht für sie, sondern für Sie, 100.000 Dollar bezahlt, um nur ein einziges Mal mit Ihnen zu tanzen. Der beleidigende Kommentar ihrer Person war daher nichts weiter als ein rachesüchtiger Akt der Verzweiflung, dem Sie keinen Glauben schenken sollten. Immerhin sehen Sie gerade in ihrer Schlichtheit toll aus und sind Vanessa Calmaro in diesem Sinne weit voraus, denn im Gegensatz zu Ihnen, musste sie eine Menge hinblättern, um so auszusehen, wie sie es jetzt tut.“

Die Vampirin schob sich eine Haarsträhne hinter ihr Ohr und musterte kurz ihr Gesicht im Spiegel, ehe sie sich entschuldigend, an Emma wandte.

„Oh Verzeihung, wo sind meine Manieren? Ich heiße Liasana Orsáne. Aber Sie dürfen mich gerne Lia nennen.“

 

Ihre ganze Aura war so sanft und weich wie das Taschentuch, das Emma immer noch ungenutzt in den Fingern hielt. Liasana Orsáne wirkte auch aus der Nähe betrachtet wie eine Porzellanstatue, die durch Magie das Vermögen zu sprechen und sich zu bewegen geschenkt bekommen hatte. Und zu fühlen, wenn man ihr Mitleid Emma gegenüber bedachte. Denn nichts Anderes war es, was die Dame wohl empfand, wenn sie so ehrlich über die Sache von eben sprach, die Emma immer noch wie ein gifttriefender Stachel im Herzen steckte.

„Freut mich.“

Aus Emma klang ein Lachen, das mit einem Blick auf ihre verlaufene Wimperntusche und die roten Flecken unter dem Puder nur als Galgenhumor gelten konnte.

„Mein Name ist Emma Barnes. Emma, wenn Sie möchten.“

Da sie nicht vorhatte, das glänzend weiße Taschentuch schmutzig zu machen, faltete Emma es vorsichtig zusammen und legte es neben einem der Waschbecken ab. Danach zog sie sich eines der Papierhandtücher aus dem Spender unter dem Spiegel und begann, sich die Augen sauber zu wischen. Es war das erste Mal, dass ...

„Nein ...“

Emma sah sich kurz erschrocken um, obwohl sie genau wusste, dass ihr das nichts bringen würde. Ihre Tasche, mit all den Dingen, die sie jetzt so gut hätte brauchen können, um ihr Make-up aufzufrischen, lag auf ihrem Stuhl an dem Tisch, an dem sie zuletzt gesessen hatte. Zum Tanzen hatte sie ihre Sachen nicht mitgenommen.

Na gut, dann eben nicht. Wenn ihr jemand die Tasche auch noch klaute, war das bloß die Faust aufs Auge dieses blöden Abends.

Erst als sie sich wieder zum Spiegel umdrehte und in ihr eigenes, gerötetes Gesicht sah, fiel ihr auf, dass es schon lange still zwischen ihr und der Dame in Weiß gewesen war, die geduldig neben ihr stand und sie mit einem undurchdringlichen Lächeln betrachtete.

„Lia, es ist ... wirklich nett von Ihnen, mit aufzuheitern, aber ...“ Sie sah die Frau an, die sie um ein ziemliches Stück überragte. „Darf ich Sie fragen, warum Sie das tun? Sie ... kennen mich doch gar nicht.“

 

Lias Lächeln wurde breiter, während sie ein Papierhandtuch mit kaltem Wasser befeuchtete und es Emma hinhielt.

„Hier, für die Augen. Das hilft gegen die Röte. Und ich weiß, es ist seltsam von einer Wildfremden in einer Toilette angesprochen zu werden, zumal Sie auch noch bedrückt sind. Aber gerade das, ist doch eigentlich Grund genug, für mich hier zu sein, oder nicht? Frauen sollten sich gegenseitig unterstützen, anstatt anzugiften … Nun, vielleicht sehe nur ich das so, aber dazu müssen Sie wissen, dass ich in einer sehr von Männern dominierenden Welt aufgewachsen bin. Da bleibt einem nicht viel anderes übrig. Zudem kamen Sie in Begleitung von Cayden. Ein weiterer Grund, Sie unbedingt kennenlernen zu wollen.“

Ihr Lächeln verblasste keine Sekunde lang, während sie sich die Hände abtrocknete und aus ihrer kleinen weißen Handtasche Kosmetikartikel herausholte, um sich den Lidstrich nachzuziehen und auch noch den perfekt roten Lippen, etwas nachzuhelfen.

„Sie dürfen sich gerne bedienen“, half Lia Emma etwas auf die Sprünge und schob ihr die kleine Handtasche weiter hin.

„Schließlich wollen wir doch nicht, dass jeder sieht, dass Sie ein Herz haben, das man verletzen kann. Schwäche ist leider etwas, das die Meute dort draußen wie Köter wittern kann und das können wir uns nicht leisten. Vor allem geben Sie dieser Silikonschlampe nicht die Genugtuung Sie getroffen zu haben. Das würde ihr nur gefallen.“

 

Immer noch ein bisschen skeptisch, dass ihr diese Frau so freundlich gesinnt war, wischte Emma sich das Gesicht endlich ganz sauber. So ohne Abschminken dauerte es etwas, bis sie die Spuren ihrer Schwäche ganz entfernt hatte, aber danach griff sie dankbar in Lias kleine Tasche und suchte sich Lidschatten und Wimperntusche heraus.

„Vielen Dank. Sie sind wirklich meine Rettung.“

Und das in mehr als nur einer Hinsicht. Denn allein der fiese Titel, den Lia Calmaros Ehefrau gegeben hatte, stimmte Emma weniger traurig. Zumindest schien sie nicht die Einzige zu sein, die gegen diese fiese Schnalle etwas hatte. Auch wenn sich Emma nicht vorstellen konnte, was Vanessa Calmaro Lia getan haben konnte. Selbst mit ihren Silikonbrüsten konnte sie der Elfe in Weiß keine Konkurrenz machen. Nicht einmal im Traum!

„Sie und Mr. Calmaro kennen sich also schon länger? Er hat sehr respektvoll und begeistert von Ihnen gesprochen.“

Außerdem hatte Lia ihn beim Vornamen genannt. Das mochte zwar nicht viel heißen, da sie Emma ja ebenfalls gleich dieses Privileg angeboten hatte, aber irgendwie kam es ihr trotzdem so vor, als wäre da mehr zwischen der schönen Frau und ihrem Boss.

Ob ... Emma warf einen flüchtigen, aber durchaus sehr interessierten Blick auf die schlanke Gestalt der Frau neben ihr.

Ob sie Mrs. Calmaro deswegen nicht leiden konnte? Waren die beiden Frauen vielleicht an demselben Mann interessiert gewesen?

Eigentlich eine absurde Frage, wenn man bedacht, für wen er sich dann entschieden haben sollte.

 

„Ja, das sieht ihm ähnlich.“ Lia lachte und es klang wie das Hallen silberner Glöckchen.

„Wir kennen uns schon sehr lange. Weit länger, als die meisten Menschen, denen er begegnet ist. Dennoch waren wir nie mehr, als nur flüchtige Freunde, sozusagen. Obwohl viele meinten, wir würden perfekt zusammenpassen.“

Wieder dieses Lachen, gefolgt von einem fast ungläubigen Kopfschütteln, ehe Lia sich ihre Haare wieder zurechtzupfte und weiter plauderte. Man sah ihr an, dass sie gerne darüber sprach und es trotzdem nicht im Geringsten etwas mit Tratsch zu tun hatte.

„Aber das hat und würde auch nie funktionieren. Er interessiert sich nicht für Frauen wie mich und ich bin nicht an älteren Männern interessiert. Zugegeben, auch ich habe eine hohe Meinung von ihm und er hat wirklich viele interessante Seiten an sich, aber allein wenn man die Wahl seiner Frau bedenkt, Gott weiß, ich halte es keine Minute neben dieser verbal inkontinenten Botoxspritze aus, deren Gehirn nicht mehr Fassungsvermögen als einen Fingerhut voll besitzt. Wir treffen uns lediglich alle paar Jahre bei einer Veranstaltung, plaudern eine Weile und gehen dann wieder unserer Wege. Es ist gut so, wie es ist, aber um ehrlich zu sein. Heute haben Sie mir einen Anlass gegeben, ein bisschen über die Strenge zu schlagen.“

Nun verwandelte sich das Engelslächeln in ein kleines liebenswertes Teufelsgrinsen.

„Wussten Sie, dass Cayden noch an den alten Werten wie Ehre und Achtung festhält? Ich musste ihn einfach herausfordern! Denn ich versuche schon lange herauszufinden, ob er wirklich jedes Wort, das er je jemandem gegeben hat, auch wirklich einhält. Und tatsächlich. Er hätte gewiss mehr als die Hälfte seines Vermögens für sie geboten, um sie persönlich von der Bühne führen zu dürfen. Dem konnte ich einfach nichts entgegensetzen.“

Lia packte die Kosmetika in ihre Tasche zurück, nachdem Emma fertig war, und sah sie lächelnd an. „Und werden Sie es tun? Ich meine, heute noch mit ihm tanzen? Ich würde zu gerne das Gesicht von Vanessa sehen, wie sie ganz grün vor Eifersucht wird!“

 

Emma stutzte, als Lia Calmaro als 'älteren Mann' bezeichnete. Denn ganz ehrlich, ohne das Make-up, und selbst wenn sich Emma um ein paar Jahre verschätzte – wie viel älter konnte er sein? Fünf Jahre, maximal ein oder zwei mehr?

Allerdings bekam sie auf dieses und auch das zweite Rätsel von Lia keine Erklärung. Dafür sprang die schöne Blonde zu schnell von einem Thema zum nächsten und kam am Ende dort an, wo Emma eigentlich gar nicht hin wollte.

Sie wurde an den Stachel erinnert, der inzwischen aufgehört hatte, Gift in ihren Körper zu pumpen. Aber er steckte immer noch an Ort und Stelle. Und jetzt, wo Lia davon sprach, dass Emma doch noch mit Calmaro tanzen könnte ...

„Ich denke nicht.“

Emma warf einen langen Blick in den Spiegel. Sie betrachtete sich selbst in ihrem Kleid, das sie wirklich schön fand. Da raus würde sie auf jeden Fall wieder gehen. Aber bloß um Calmaros Willen, der sie immerhin eingeladen und an diesem Abend schon so viel Geld für sie ausgegeben hatte. Und Emma dachte dabei nicht unbedingt an die 100.000 Dollar bei der Versteigerung.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass er noch mit mir tanzen möchte, jetzt wo seine Frau hier ist. Das sähe auch etwas seltsam aus, oder?“

Dass da Hoffnung auf Widerspruch in ihrer Stimme mitschwang, wollte Emma ärgern. Aber sie schaffte es nicht, dieses Gefühl wirklich aufzubringen.

„Ich bin nur seine Assistentin und er hat mich mitgenommen, um ihm Gesellschaft zu leisten. Da seine Frau unterwegs war. Jetzt ...“

Als ihre Augen wieder zu brennen anfingen und sich ein juckender Kloß in Emmas Hals bilden wollte, sah sie Lia mit einem breiten Lächeln an.

„Meinen Sie, es gibt noch Eiscreme?“

 

Lia seufzte und ihr Lächeln verschwand, während sie Emma ansah. Ihr Gesicht war immer noch freundlich, aber auch ein bisschen … nachdrücklich.

„Ach, vergessen Sie doch das Eis. Tun Sie sich beiden einen Gefallen und zerren Sie Cayden auf die Tanzfläche. Sie werden sehen, wenn Sie diesen Raum hier verlassen, werden Sie die Giftspritze bei irgendwelchen Frauen vorfinden und sie weiteres Gift verteilen sehen, während gerade einer der geizigen Langweiler auf Cayden einredet, der einfach zu höflich ist, um dem Typen sein Getränk ins Gesicht zu schütten, wie es die meisten hier verdient hätten. Nur weil diese Person seine Frau ist, bedeutet das noch lange nicht, er würde sich deshalb so mit ihr amüsieren, wie er es zuvor mit Ihnen getan hat, oder glauben Sie wirklich, man könnte sich in der Nähe dieser Schlampe wohlfühlen?“

Lia schnappte sich ihre Tasche und ging zur Tür.

„Ich weiß, Sie wollen sicher keinen Rat von einer Fremden hören, aber ich würde vorschlagen, Sie würden nicht alles glauben, was Sie sehen. Sie sind Caydens Assistentin, was bedeutet, dass Sie mehr Zeit mit ihm verbringen, als seine Frau; er Ihnen sogar gewissermaßen vertraut, auf Ihre Meinung hört und sich wohl auch gerne in Ihrer Umgebung aufhält. Denn wäre es nicht so, wären Sie nicht seine Assistentin. Geben Sie sich also einen Ruck. Fordern Sie ihn zum Tanz auf und finden Sie selbst heraus, ob es eine gute oder schlechte Idee war. Aber wenn Sie gleich von Anfang an kneifen, werden Sie es wohl nie herausfinden.“

Lia öffnete die Tür, hielt aber noch einmal inne und dieses Mal kehrte ihr Lächeln zurück.

„Außerdem, was macht schon ein bisschen Tratsch mehr oder weniger aus? Man redet ohnehin schon über den 100.000-Dollar-Tanz. Wäre doch schade, wenn der nicht stattfinden würde, oder was meinen Sie?“

Damit verschwand sie so schnell, wie sie gekommen war.

 

Emma starrte mit halb offenem Mund auf die Tür, durch die Lia gerade geschwebt war, bloß um sie mit diesen Worten alleinzulassen. Nein, die weiße Elfe hatte sie nicht nur mit Worten, sie hatte Emma mit einer Herausforderung alleingelassen!

„Na schön.“

Noch einmal drehte sie sich zum Spiegel um, richtete sich die Haare, zupfte ihr Kleid so zurecht, dass es perfekt an ihr saß, und betrachtete sich dann mit einem Lächeln.

Er hatte 100.000 Dollar für einen Tanz bezahlt. Dann soll er den Tanz auch haben!

 

„Die Zahlen im letzten Quartal waren wirklich schrecklich. Ich habe noch nie so stark geblutet und das, obwohl wir gerade keine Wirtschaftskrise haben. Wie ging es Ihnen? Haben Sie geblutet?“

Cayden nahm lächelnd einen Schluck von seinem Orangensaft, während er in seiner anderen Hand Emmas Handtasche beschützend festhielt, als wäre sie aus purem Gold und die anderen Anwesenden scharf darauf.

Wenn du noch einmal das Wort Blut erwähnst, werde ich dir vielleicht wirklich zeigen, wie es ist zu bluten, du verdammter Geldsack!

Gut, er übertrieb etwas, aber er hätte Nick Carter auch ohne den Vorfall mit Emma kaum ertragen, nun fand er ihn tatsächlich einfach nur unerträglich, während er immer wieder Ausschau nach seiner Assistentin hielt, die einfach so verschwunden war. Aber sie würde nicht ohne ihre Tasche gehen, da war er sich sicher.

„Nein. Nicht im Geringsten. Sie sollten vielleicht anfangen, Ihr Geld nicht irgendeiner Bank anzuvertrauen. Das würde Ihnen einen Haufen Ärger ersparen.“

Außerdem würde er sein Vermögen niemals in Scheinen aufbewahren, denn wenn es wirklich hart auf hart kam, dann war Geld nichts weiter als Papier. Das wahre Vermögen würde immer nur in den materiellen Dingen wie Gold, Silber und Juwelen bestand haben. Was das anging, hatte Cayden es schon sehr früh begriffen.

 

Erst als die Toilette verlassen und sich zumindest in den Durchgang zum Tanzsaal gewagt hatte, schwand Emmas Zuversicht. Die Leute, die ihr bis jetzt begegnet waren, hatten sie zu auffällig gemustert, um es nur aus Zufall zu tun. Wie hätte das auch sein können? Sie alle hätten blind und taub sein müssen, um mit einem grünen Kleid nicht zumindest einen winzigen Skandal an diesem Abend zu verbinden.

Emma atmete noch ein paar Male tief durch, bevor sie sich innerlich wappnete und ihren Blick durch den Raum schweifen ließ. Auf der Suche nach einer Frau, die golden glitzerte.

Sie fand Mrs. Calmaro – wie von Lia prophezeit – bei einer Gruppe der Frauen, von denen Mr. Calmaro nicht gerade in gutem Ton gesprochen hatte. Seine Frau schien sich allerdings in deren Gesellschaft köstlich zu amüsieren. Zumindest soweit das spitze Lächeln das vermuten ließ, das wohl bei jemandem, der nicht auf jedes Fältchen achten wollte, als Lächeln durchzugehen hoffte.

Ihren Boss fand Emma nicht in der Nähe seiner Frau. Zumindest stand er nicht an ihrer Seite, den Arm um ihre dürre Taille gelegt und beteiligte sich am Geschwätz.

Aber wo ... bist du dann?

Da sie nun einmal selbst mit den Absätzen nicht zu den Größten gehörte, stellte Emma sich auf die Zehenspitzen und glaubte einen roten Haarschopf in der Nähe des Buffets zu sehen.

Das Schlimmste, was er sagen kann, ist 'nein'. Und auch das wirst du überleben.

Emma wollte absolut nicht daran denken, dass er sehr wohl Schlimmeres sagen konnte. Ob er es wusste oder nicht, Calmaro konnte diesen fiesen Stachel, den seine Frau angesetzt hatte, tief in Emmas Herz treiben, wenn er es darauf anlegte. Es wäre noch nicht einmal schwierig.

„Oh Lia, wenn das schief geht und ich Sie erwische ...“

13. Kapitel

Er bemerkte sie nicht, selbst als sie schon fast neben ihm stand. Calmaro war mit seinem Blick gerade ganz woanders und nur sein Gesprächspartner hob kurz irritiert die Augenbrauen, als Emma sich zu den beiden Männern stellte.

„Ah, Sie sind’s.“

„Ja, ich ...“ Calmaros Augen hatten die ihren gefunden und Emmas Herz begann auf der Stelle wie wild zu klopfen.

„Ich war mich nur kurz frischmachen.“

 

Cayden wusste einen Moment lang nicht, was er sagen sollte, als Emma so plötzlich wieder bei ihm war.

Er hatte sie zwar gesucht, aber sie schien sich regelrecht angepirscht zu haben, oder Nicks Geplapper hatte ihn schon so derart gelangweilt, dass er einfach nicht mehr aufgepasst hatte. Vermutlich war es Letzteres gewesen.

„Schön, dass Sie mir wieder Gesellschaft leisten. Nick hat mich gefreut, mit Ihnen geplaudert zu haben.“ Von wegen.

Ohne noch auf eine Antwort zu warten, drehte er sich von dem schmierigen Kerl ab, legte Emma die Hand sachte zischen die Schulterblätter und führte sie ein Stück von dem Langweiler weg, ehe er sich ihr zu wandte.

„Ich habe mir schon Sorgen gemacht, Sie hätten mich einfach sitzengelassen. Ich musste sogar Ihre Handtasche als Geisel nehmen.“

Cayden hielt ihr das gut gefüllte Stück hin und lächelte wieder richtig. Nicht dieses aufgesetzte Zahnpastawerbungslächeln, das er einfach so an- und abschrauben konnte.

„Und vergessen Sie, was meine Frau gesagt hat. Ich kann mich nicht oft genug für ihr Benehmen entschuldigen und werde es auch nicht mehr tun. Ich jedenfalls finde immer noch, dass Sie zum Anbeißen aussehen und das wird sich auch sicherlich nicht ändern.“

 

„Danke.“

Emma nahm die Handtasche entgegen und wollte so gerne über seinen kleinen Scherz lächeln. Aber es gelang ihr nur sehr dürftig. Bei jedem Wort, das sie wechselten, bei jedem Lächeln, das er ihr schenkte, wartete Emma gerade nur darauf, dass sich seine Frau wieder von hinten anschleichen und sich erneut über sie lustig machen würde. Und diesmal so, dass Emma es nicht noch einmal wagte, anschließend wieder aufzutauchen.

„Und vergessen Sie, was meine Frau gesagt hat ...“

Auch die nächsten paar Sätze hörte sie sich noch an, ließ das verführerische Gefühl von Wärme durch sich hindurch rieseln, bevor sie mit sehr viel Absicht auf seinen Ehering sah und sich zusammenriss.

Es war ein netter Abend gewesen. Sie konnten immer noch zusammentanzen. Aber mehr eben nicht.

Emma blickte in Calmaros grüne Augen und gab ihrem Verstand dabei einen gehörigen Tritt in den Allerwertesten. Der Mann war verheiratet. Und da er sich eine Schnepfe zur Frau gesucht hatte, würden er und Emma es nicht einmal zur lockeren Freundschaft bringen. Das war einfach nicht drin. So leid ihr das auch wirklich tat.

Emmas Lächeln fiel vielleicht gerade deshalb warm und freundlich aus. Sie fühlte sich mit ihrer Erkenntnis – ihrem Begreifen – sicherer, als noch zuvor. Ihr war es selbst gar nicht aufgefallen, aber im Verlaufe dieses Abends hatte sie sich einfach zu sehr an Calmaros Gesellschaft gewöhnt. Sie hatte es zu sehr genossen.

Er ist verheiratet.

Diesen Satz würde sie sich so lange ins Gehirn donnern, bis sie es kapierte und es auch im Rest ihres Geistes ankam.

„Lassen Sie nur. Es war bestimmt nicht so gemeint.“

Na klar. Eigentlich hatte ihr seine Frau ein Kompliment machen wollen.

Aus den Augenwinkeln nahm Emma jemanden wahr, der vollkommen in weiß, am Rande des Saals zu einem der kleinen Stehtische hinüberging. Sie wagte nicht, hinzusehen, aber sofort formten Emmas Lippen tonlos einen Satz.

Vergessen Sie doch das Eis ...

„Möchten Sie denn noch tanzen?“

Na toll. Soviel zu dem Plan, sich in seiner Gegenwart nicht mehr wohlfühlen zu wollen.

 

Cayden war erleichtert, dass Emma sich den giftigen Kommentar von Vanessa nicht allzu sehr zu Herzen genommen hatte. Auch wenn er sich einbildete, den Geruch von Salz auf ihrer Haut riechen zu können. Doch letztendlich musste es wirklich nur Einbildung gewesen sein. Ihre Augen waren so schön und so klar wie immer.

Cayden. Hör auf zu träumen. Sie ist nur ein Mensch …

Ja, aber sie wurde für ihn von Mal zu Mal auch immer interessanter. Zum Beispiel hätte er nicht damit gerechnet, dass sie nach dem Vanessa-Fiasko doch noch mit ihm tanzen wollte. Eigentlich hatte er viel mehr das Gegenteil erwartet, und dass sie sich nun, da seine Frau so überraschend aufgetaucht war, von ihm fernhalten würde. Darum hatte er auch ihre Handtasche als Geisel genommen. Wenn nicht schon wegen ihm, hätte sie doch wenigstens wegen ihres Besitzes zurückkommen müssen.

Doch sie fragte ihn tatsächlich und sofort war die Aufregung wieder da!

„Es wäre mir immer noch eine Ehre“, schnurrte er fast mit gedämpfter Stimme und einem intensiven Blick, ehe er ihre Hand ergriff und sie ein zweites Mal an diesem Abend zur Tanzfläche führte. Mit einem kurzen Abstecher an Liasanas Stehtisch, um dort Emmas Handtasche abzustellen. Er hatte ohnehin vor, später mit der Vampirin zu sprechen, sie würde also bestimmt auf ihn warten. Vor allem wenn man nach diesem schwer zu deutenden Lächeln ging.

„Liasana“, grüßte er sie kurz mit einem Nicken und ging weiter.

„Cayden.“

Sie tat es ihm gleich und er spüre ihren Blick Emma und ihm ruhen, als er endlich mit ihr zusammen die Tanzfläche erreichte.

Noch einmal warf er einen flüchtigen Blick in Richtung seiner Frau und ob sie noch einmal wagte, ihn zu unterbrechen. Doch sie stand immer noch bei ihren Freundinnen und starrte ihn mit halb offenem Mund an. Bestimmt wollte sie etwas sagen oder eine große Szene machen, wagte es aber nicht. Nicht nur, weil er sie vorhin zurechtgestutzt hatte, sondern weil sie eine seiner Entscheidungen nicht zu hinterfragen hatte. Sie war nur auf dem Papier seine Frau und das gab ihr nur sehr wenige Rechte. In ihrem Fall noch sehr viel weniger. Dafür hatte er gesorgt.

Mit einer eleganten Geste drehte er Emma zu sich herum, verbeugte sich noch einmal höflich vor ihr, ehe er dicht an sie herantrat. Dichter als bisher an diesem Abend und ihr seine flache Hand auf den Rücken legte, ehe er ihre andere Hand ergriff, um sich ganz in die Tanzpose zu begeben.

Er schenkte ihr ein Lächeln, wartete darauf, dass die Musik begann und setzte sich schließlich passend zum Takt flüssig in Bewegung.

Cayden war ein begnadeter Tänzer. Das wusste er.

Wer so viele Menschenleben lang Zeit hatte, die Schritte und Bewegungen zu perfektionieren, der konnte selbst noch im Schlaf perfekt tanzen, aber so etwas zeigte sich erst mit der richtigen Tanzpartnerin wirklich und eines hatte er schon sehr früh feststellen müssen, Vanessa zählte bestimmt nicht dazu. Natürlich konnte man als Mann ein totales Desaster verhindern, wenn sie sich gut genug führen ließ, aber wirklich Spaß machte es nicht. Ganz im Gegenteil zu jetzt. Zu dem Zusammenspiel mit Emma. Es war … so leicht und flüssig, wie sich fliegen wohl anfühlen musste.

 

Wenn sie vorhin unter diesen ganzen Blicken schon nervös geworden war, fühlte es sich jetzt an wie ein Spießrutenlauf. Emma wagte weder nach links noch rechts zu sehen, als sie Calmaro auf die Tanzfläche folgte. Und vor allem vermied sie es tunlichst, ihren Kopf ein wenig zu drehen und damit Gefahr zu laufen, einen Giftpfeil, getarnt als Blick von seiner Ehefrau aufzufangen.

Stattdessen konzentrierte sie sich auf ihren Begleiter.

Sein Rasierwasser stieg ihr zum ersten Mal überhaupt dezent in die Nase, als er seine Hand auf ihr linkes Schulterblatt legte und auf einen halben Schritt an sie herantrat. Wäre es ein lateinamerikanischer Tanz gewesen, den die Band angestimmt hätte, wären sie sich sogar noch nähergekommen. Aber vermutlich war ein klassischer Walzer für alle Beteiligten besser.

Wie immer beim Tanzen brauchte Emma nicht nachzudenken. Bereits bei der ersten Schrittfolge stellte sich im Normalfall heraus, ob der Mann sie führen würde oder sie selbst ihren Rhythmus beibehalten musste, um ihm auf die Sprünge zu helfen.

Bei Calmaro schien sich erstaunlicherweise beides zu erübrigen. Emma fühlte sich nicht geführt und auf keinen Fall hatte sie das Gefühl selbst ein wenig führen zu müssen. Soweit sie das beurteilen konnte, war es das erste Mal, dass sie wirklich einfach nur ... tanzte.

Am liebsten hätte Emma die Augen geschlossen. Allein aus dem Bedürfnis heraus, alle anderen auszuschließen und sich zu vergewissern, dass sie mit diesem Mann sogar blind tanzen könnte. Denn genau so fühlte es sich an.

Sie hätte ihren Kopf an seine Schulter legen und in dem romantischen Lied versinken können. Genauso, wie in diesem leichten Duft von markantem Rasierwasser und der warmen Hand, die ein kleines Stückchen zur Mitte ihres nackten Rückens gerutscht war.

Emma kicherte leise, vor Überraschung über sich selbst, presste dann aber die Lippen fest aufeinander, um niemanden auf sich aufmerksam zu machen. Zumindest nicht mehr, als notwendig war. Denn zumindest ein Blick war auf sie gerichtet und blitzte sie mit ziemlicher Intensität an. Emma hatte das Gefühl, sich später bei Lia für diesen Tanz bedanken zu müssen.

 

Cayden hatte nicht das Gefühl, als würden sich seine Füße noch auf festem Parkettboden bewegen, sondern bekam viel mehr den Eindruck, er schwebe mit Emma zusammen im Takt der Musik von einer Wolke zur anderen.

Schon bald musste er nicht mehr darauf achten, wohin sie tanzten, da sich die Tanzfläche geradezu beunruhigend schnell leerte und man ihnen Platz machte, wogegen er überhaupt nichts einzuwenden hatte, denn so konnte er seine Augen auf seiner Tanzpartnerin behalten, während sie sich wiegten, umherschwangen, den Schwung einen Moment stoppten, um in eine neue Figur überzugehen.

Manchmal entließ er sie in einer Einzeldrehung, was ihm einen Blick auf mehr als nur ihrer Schulter, den Nacken und ihr Haar bescherte, ehe er sie wieder zu sich zurückholte, um sich erneut dicht an dicht mit ihr zu bewegen.

Vermutlich war es nur Einbildung, dass ihr Duft von Sekunde zu Sekunde intensiver zu werden schien und seine Fingerspitzen prickelten, dort wo er ihre nackte Haut berührte.

Er hatte auch nicht mehr das Gefühl sich in einem Raum voller Menschen zu bewegen, sondern viel mehr mit diesen hellbraunen Augen ganz allein auf diese Welt zu sein und bei Gott, je länger er in diesem flüssigen Karamell versank, umso mehr wünschte er sich, es entspräche der Wahrheit.

Das, was sich bereits einmal in ihm verschoben hatte, als er in ihrer Nähe war, schien sich nun nur noch weiter zu verschieben, ja beinahe zu kippen.

Cayden konnte es nicht wirklich beschreiben und erst recht nicht fassen, aber irgendetwas ging da vor sich. Etwas das die letzten tausend Jahre und mehr nicht mehr vor sich gegangen war und der farblosen Realität plötzlich immer mehr an leuchtenden Farben hinzufügte. Oder war es eher so, dass die alte Schicht der Zeit langsam abbröckelte?

Cayden kam nicht dazu, die Antwort auf diese Frage herauszufinden, denn sie waren in die Abschlussbewegung gekommen und die letzten Töne der Musik verklangen.

Einen Moment lang stand er einfach nur so da, hielt Emma immer noch fest, während um sie herum Applaus laut wurde und doch nicht zu ihm durchdringen konnte.

Sein Lächeln war schon längst von seinen Lippen verschwunden, stattdessen lag ein seltsam fragender und intensiver Ausdruck in seinen Augen, aber auch Emma würde es ihm nicht beantworten können, also riss er sich zusammen und trat einen Schritt zurück, ohne ihre Hand loszulassen.

„Das war 100.000 Dollar wert“, hauchte er leise und lächelte nun wieder. „Vielen Dank.“

Cayden verbeugte sich erneut und küsste ihre Hand, nur dieses Mal … berührten seine Lippen ihren Handrücken, ehe er sie ganz losließ.

 

„Sehr ... gern geschehen.“

Emma wagte nicht lauter zu sprechen als das Flüstern, das Calmaro selbst angestimmt hatte. Stumm sah sie ihm dabei zu, wie er ihre Hand an seine Lippen führte, um ihr diesmal einen echten, realen Kuss auf die Haut zu hauchen, der dennoch mehr eine Andeutung war, als eine wirkliche Berührung. Und gerade das machte so unglaublich viel Lust auf mehr, dass es Emma nicht gewundert hätte, hätte sie vor Anspannung gezittert.

Er hatte sie zu dem Stehtisch und in Liasanas Gesellschaft geführt, herunter von der Tanzfläche und heraus aus dem Rampenlicht, von dem Emma irgendwie gar nichts mitbekommen hatte. Allein das fast schon zufriedene Lächeln der weißen Elfe riss sie ein wenig aus ihrem traumwandlerischen Schweben. Was aber nicht hieß, dass Emma sich nicht immer noch wie aus Pudding fühlte, während sie neben Mr. Calmaro stand und dieser anfing, sich mit Lia zu unterhalten.

Sie plauderten auf gehobenem Niveau, lächelten über ein Wissen, das Emma nicht zu besitzen schien, und wirkten nun wirklich wie langjährige Bekannte. Vielleicht nicht wie Freunde – dafür fehlte etwas, das Emma nicht benennen konnte. Aber doch wie Menschen, die sich an der Gegenwart des Anderen freuen konnten. Was ihnen beiden besser stand, als ihnen bewusst war. Zumindest hatte Emma diesen Eindruck.

Sie selbst wurde auch ab und zu in die Gespräche mit eingebunden, Lia schien sie sogar ein bisschen auszufragen. Über ihre Freunde, ihre Wünsche, die Art, wie Emma lebte. Und sie hatte kein Problem damit, mit der Sprache herauszurücken.

„Wir kennen uns aus einem Hotel. Rob und ich haben uns ein Zimmer geteilt und die halbe Nacht gequatscht, bis sich rausstellte, dass wir beide aus Welly sind. Und beide eine Wohnung suchen. Kathy, meine zweite Mitbewohnerin kenne ich schon länger. Eigentlich ist es wie eine kleine Familie. Wir –“

Sie wurde von dem schon bekannten Klingeln eines teuren Rings an einem dünnen Champagner-Glas unterbrochen.

„Ladys und Gentlemen, da wir uns schon späteren Stunden nähern und die Ersten so aussehen, als müssten sie bald ins Bett –“ Von irgendwo war ein Kommentar zu hören, den Emma aber nicht verstand. „Jedenfalls wollen wir zur Verlosung schreiten. Und meine Frau wird so nett sein, die Glücksfee zu spielen.“

Emma sah extra nicht hin, als die Frau, die in ihrem Alter sein könnte, sich an den breiten, alten Herren herandrückte und ihm einen Kuss gab. Viel lieber zog sie die beiden Lose aus ihrer Handtasche und legte sie fein säuberlich nebeneinander auf den runden Stehtisch.

„Na, sehen wir mal, ob Sie bald Scooterfahren können.“

Sie grinste Calmaro an, bevor sie sich der Ziehung auf der Bühne widmete. Emma drückte wirklich die Daumen. Vor allem deshalb, weil ein Gewinn vielleicht bedeuten würde, dass Calmaro wirklich einmal etwas aus reinem Willen nach Spaß tun würde.

 

Es war interessant, Emma und Lia beim Gespräch zuzuhören. Denn die Vampirin hatte keine Scheu davor, Emma subtil aber wirksam auszuquetschen und so konnte er Dinge über seine Assistentin erfahren, die er als ihr Boss nicht fragen durfte. Zumindest hätte es seltsam gewirkt und er hätte auch nicht mit Sicherheit sagen können, ob sie ihm genauso offen und ehrlich geantwortet hätte.

Von Frau zu Frau war das eben einfach etwas anderes.

Leider wurde das Gespräch nur allzu schnell von einem weiteren Diamantgeklimper unterbrochen und er sah zur Bühne hoch.

Wenn er nicht selbst viel zu alt für jede der hier anwesenden Frauen gewesen wäre, hätte ihn die kleine Szene dort oben abgestoßen, aber Fakt war nun einmal, dass er nur mit einem jungen Körper glänzen konnte, alles andere war nicht zu ändern und so ließ er die Dinge sein, wie sie waren. Zumal die beiden ja irgendwie glücklich miteinander zu sein schienen. Was auch immer genau das bedeuten mochte.

„Na, sehen wir mal, ob sie bald Scooterfahren können“, kam es von Emma und er warf ihr einen schiefen Seitenblick zu. Lächelte aber nur.

Sehr unwahrscheinlich, selbst wenn ich diese Wasserscooter gewinnen würde.

Was bei seinem Glück nicht der Fall sein dürfte.

Die Frau von Fitz trat an eine große durchsichtige Plastikkugel heran, die von einem glitzernden Gestell gehalten wurde und in der sich kleine goldene Bälle befanden.

Die Preise waren nummeriert und somit würde sie rückwärts aufsteigend einen Ball nach dem anderen ziehen, in dem sich die Nummer eines Loses befand, die dann dem jeweiligen Preis zugeordnet wurde, der gerade an der Reihe war. So würde nicht jedes Los gewinnen, aber jeder hätte die gleichen Chancen auf den Hauptgewinn und die durchaus attraktiven kleineren Gewinne.

Cayden verfolgte das Ganze nur mit mildem Interesse. Genauso wie die Anwesenden hier, hätte er sich jeden dieser Preise doppelt und dreifach leisten können, doch im Gegensatz zu vielen der anderen schien ihn selbst die Aussicht auf einen Gewinn nicht zu reizen.

Er verspürte einfach nicht die mitfiebernde Atmosphäre, obwohl er sich durchaus Emmas körperlicher Reaktionen bewusst war, die sie subtil per kleinen Duftbotschaften aussandte. Sie war aufgeregt, aber auf eine gute Art und Weise und im Gegensatz zu ihm, fieberte sie wirklich mit.

Bei einem BBQ-Grill der Luxusausführung zog Fitzs Frau einen Ball mit der Nummer 13 heraus und brachte Cayden damit dazu sich zu Emma herumzudrehen.

„Sie hatten recht. Die Zahl 13 war tatsächlich ziemlich vielversprechend. Ich hoffe, Sie haben noch keinen BBQ-Grill.“

Er lächelte sie in aller Unschuld an und dabei so entschieden, dass klar wurde, wer hier den Preis bekam.

 

Ihr Zeigefinger hatte schon die ganze Ziehung über immer wieder die Rundungen der eingeprägten Zahl auf ihrem Los nachgefahren. Die 13 war eine gute Zahl, das wusste Emma. Sie hatte ihr schon ein paar Mal Glück gebracht. Aber das hieß noch lange nicht, dass sie daher mit diesem Los sicher gewinnen würde. Was die Sache nur umso spannender machte.

Emma hielt es kaum noch auf ihrem Stuhl, sie wippte mit den Füßen auf den Absätzen ihrer Schuhe hin und her und beobachtete genau, was auf der Bühne passierte und welche Lose die Frau im langen, engen Kleid aus der Lostrommel zog.

Mixer, Dinner-Gutscheine und Ähnliches wurden verlost und so langsam aber sicher kamen sie den großen Preisen näher. Emma drückte fest die Daumen, dass Calmaros Lose irgendetwas gewinnen würden. Sie wünschte ihm viel Glück und auch die Wasserscooter und – Daher konnte sie beinahe einen kleinen, spitzen Freudenschrei nicht unterdrücken, als tatsächlich die 13 aus einer der goldenen Kugeln gefischt wurde!

Emma strahlte über das ganze Gesicht und wollte ihrem Boss glücklich sein Los in die Hand drücken, als sie seinen kecken Blick auffing. Und sofort wusste, dass er es nicht annehmen würde.

„Ich hoffe, Sie haben noch keinen BBQ-Grill.“

Emma klappte zweimal den Mund auf und zu, während die Ziehung auf der Bühne ohne Unterbrechung weiterging. Die Preise konnten nachher einfach abgeholt oder die Adresse hinterlassen werden. Dann bekam man seinen Gewinn sogar kostenlos zugeschickt.

„Aber es sind doch Ihre Lose. Wirklich, Mr. Calmaro, das ist nicht nötig. Sie ...“

Emmas Protest verstummte, als er ihr ein Lächeln zuwarf und das Los zur Unterstützung seiner Worte noch ein Stück in ihre Richtung schob.

„Vielen Dank. Ich weiß gar nicht ... Dankeschön.“

Rob würde sich vor Freude gar nicht mehr einkriegen. Und vermutlich würden sie jeden Tag – selbst bei miesestem Welly-Winter-Wetter – draußen im Garten grillen. Emma grinste bei der Vorstellung und hielt das Los mit beiden Händen fest, damit es ihr nicht doch noch entwischen konnte.

 

Die Nummer des zweiten Loses wurde nicht mehr gezogen. Trotzdem hatten sie noch eine nette Zeit. Mit weiteren Gesprächen, mehr Orangensaft und vor allem ohne Besuch von Calmaros Ehefrau, die sich erst wieder an ihn herantraute, als Lia sich verabschiedet hatte und nach Hause gegangen war. Erst dann merkte Emma, wie sich Vanessa Calmaro langsam an ihren Mann heranpirschte. Vermutlich, um dem Abend ebenfalls ein Ende zu setzen und ihn nach der ganzen Blamage zumindest offiziell mit nach Hause zu nehmen.

Das war ihr gutes Recht.

Emma war schon zu müde, um darüber noch groß nachzudenken oder sich davon quälen zu lassen. Sie hatte ihren Tanz bekommen und ihn vor allen Dingen genossen. Mehr brauchte sie an diesem Abend gar nicht, um glücklich nach Hause zu fahren.

Daher stand sie mit einem Lächeln auf und hielt Mr. Calmaro die Hand hin.

„Ich werde mich auch verabschieden. Es war ein schöner Abend. Vielen Dank für alles und ich hoffe, Sie hatten wirklich weniger Langeweile als sonst.“

 

Es war wirklich ein überraschend schöner Abend geworden, den er nicht so schnell wieder vergessen würde und bei dem Cayden auch hoffte, dass es nicht der Letzte bleiben würde.

Selbst als Liasana sich verabschiedete und Vanessa angestöckelt kam, war er immer noch bester Laune, die etwas davon getrübt wurde, dass sich nun auch Emma daran machte, sich zu verabschieden.

Natürlich verstand er es, dass es schon spät war und es Zeit wurde, aber wie viele schöne Dinge, war auch der Abend heute mit ihr viel zu schnell vergangen und er fand es schade, dass es schon vorbei sein sollte.

Nun ja. Es würde andere Anlässe geben, bei denen Vanessa keine Zeit und Stella keine Lust haben würde. Darauf konnte man sich also freuen, auch wenn in nächster Zeit nichts dergleichen anstand.

Obwohl Vanessa ihm direkt im Rücken stand, verabschiedete sich Cayden richtig bei Emma. Da der Handkuss heute Abend schon die ganze Zeit über bei ihm anzutreffen war, würde er auch jetzt nicht mit dieser Tradition brechen. Zudem wollte er zu gerne noch ein letztes Mal ihre Wärme auf seinen Lippen schmecken und das herrliche Prickeln auskosten, das ihm daraufhin schon einmal über den Rücken gerauscht war.

Auch dieses Mal war es da, aber noch um ein Stück intensiver.

Danach ließ er sie los.

„Ich kann Ihnen nur zustimmen, was den schönen Abend angeht und ich hoffe, dass es nicht der Letzte bleiben wird, denn ich habe mich tatsächlich ausnahmsweise einmal köstlich amüsiert.“

Cayden lächelte und trat einen Schritt zurück, näher an seine Frau heran.

„Selbstverständlich wird der Wagen, der Sie hergebracht hat, auch wieder nach Hause bringen. Damit ich weiß, dass Sie gut angekommen sind. Steven wird bereits auf Sie warten. Ich nehme an, Sie kennen den Fahrer noch.“

Er hielt Vanessa den Arm hin, damit sie sich einhaken konnte, was sie auch kommentarlos tat, dennoch entging ihm die Wut in ihr nicht, angeheizt von ein paar Gläsern Champagnern. Nein, heute Nacht würde er nicht von ihr trinken. Nicht, wenn sie betrunken war. Außerdem hätte das irgendwie alles verdorben und das war das Letzte, was er als krönenden Abschluss tun wollte.

„Also dann haben Sie noch einen schönen Abend. Bis bald.“

14. Kapitel

„Emma.“

Jemand klopfte gegen die Scheibe, an der Emmas Stirn ruhte und rief von draußen ihren Namen.

„Wir sind da!“

Vorne wurde die Tür aufgerissen und Rob streckte den Kopf ins Auto, um Emma anzugrinsen, die gerade noch ein bisschen Schlaf hatte nachholen können.

„Bin wach.“

„Wer’s glaubt. Ich mach jetzt deine Tür auf.“

„Bin wach!“

Ihre Finger öffneten beim zweiten Versuch den Autogurt und Emma kam halb fallend, halb kletternd aus dem Auto, um sich dann gerade hinzustellen, in großer Geste zu gähnen und sich ausgiebig zu strecken, bis ihr schwindelig wurde.

Es war ganz schön frisch.

„Und wo genau sind wir?“, wollte sie mit einem Blinzeln in die Sonne wissen, die so früh am Morgen ganz schön tief stand. Vor ihr erstreckten sich das Meer und eine sanft ansteigende, hügelige Küstenlinie. Sonst war nicht viel zu sehen.

„Keine Ahnung.“

Rob kontrollierte seine Fotoausrüstung, während Kathy Kaffee aus einer Thermoskanne in einen Becher goss und ihn Emma hinhielt.

„Großartig!“

Sie grinste und verbrannte sich die Zungenspitze am ersten Schluck Kaffee. Der aber trotzdem außerordentlich köstlich schmeckte.

 

Eine Stunde später hatten sie eine kleine Siedlung erreicht, die an einem Steinstrand lag und vollkommen verlassen aussah. Einmal von der Katze abgesehen, die gemütlich auf einem dicken Kissen in einem Fenster lag und den Besuchern keine Beachtung schenkte.

Emma ließ sich mit einem zufriedenen Seufzen auf einen alten Baumstamm fallen und streckte die Beine vor sich aus, während Rob noch damit beschäftigt war, Fotos von einem verlassenen Kran zu schießen.

„Ja und?“

Kathy sah so erwartungsvoll aus, als hätte Emma ihr vor Stunden eine unglaublich tolle Überraschung versprochen. Allerdings konnte sie sich daran nicht erinnern.

„Was?“, wollte sie trotzdem schon ein bisschen auf der Hut wissen.

„Wie war er so?“

Auch ohne die Betonung hätte Emma gewusst, wer er war. Immerhin hatte Kathy sie schon seit einer halben Stunde mit Fragen über die Spendengala gelöchert.

Wellen schlugen leise gegen die Steine und rollten ein Stück den Strand hinauf, bevor sie sich wieder zurückzogen. Emma sah aufs Wasser hinaus und überlegte.

„Er ist sympathisch.“

In der Pause, die folgte, runzelte sich Emmas Stirn ein wenig und dann schüttelte sie fast unmerklich den Kopf.

„Aber irgendwie lässt er sich nicht wirklich greifen.“

Kathy unterbrach nicht, sondern sah nur mit wirklich interessiert wirkendem Blick in Emmas Richtung und wartete.

„Am Anfang des Abends habe ich noch vermutet, dass ich für diese paar Stunden nicht mit ihm auskommen werde. Egal, von was oder von wem er gesprochen hat, alles war negativ behaftet. Jeder war ein Fiesling oder Langweiler. Ich hab mich zuerst bloß gefragt, was er wohl so über mich denkt, wenn diese Reichen und Schönen, die er schon Jahre kennt, so schlecht wegkommen. Und immerhin hat er es ja mir erzählt – also jemandem, den er gar nicht wirklich kennt.“

„Ist er denn bei allem so? Ich meine, ist dir das vorher schon aufgefallen?“

Jetzt konnte man Emmas Kopfschütteln gar nicht übersehen.

„Nein, eigentlich gar nicht. Aber vorher hab ich mich ja noch nie länger mit ihm unterhalten. Außer das eine Mal als wir zusammen zu Abend gegessen haben. Da hat er ein bisschen was erzählt.“

Erst als sich Kathys Augen erstaunt weiteten, fiel Emma auf, dass sie noch gar nichts von diesem Curry-Dinner erzählt hatte.

„Irgendwie habe ich mir bis gestern gar keine richtige Meinung über ihn gebildet. Er ist halt mein Boss, ich komme gut mit ihm aus, was die Arbeit angeht und ich finde ihn vom Äußeren her ganz attraktiv.“

„Ahaa ...“

„Nix 'ahaa'. Es gibt auch andere Männer, die ich rein objektiv gesehen attraktiv finde. Das heißt nichts.“

Wären Kathys Augenbrauen noch weiter nach oben gewandert, sie wären ihr vermutlich vom Gesicht gefallen.

„Jaaa, schon gut. Ich finde, dass er ganz süß aussieht, wenn er lächelt.“

Bevor Kathy den Mund aufmachen konnte und ein weiteres 'ahaa' über die Lippen brachte, hielt Emma ihr den Zeigefinger vor die Nase.

„Was er aber nicht sonderlich oft tut!“

„Aber der Abend war trotzdem nicht so, wie zuerst befürchtet. Immerhin warst du erst spät zu Hause.“

Emmas Blick sank auf ihre Schuhspitzen.

„Es wurde besser, schlimmer, grottig und dann sehr schön.“

Ihre Stimme war leiser geworden und hatte einen Unterton bekommen, der Kathy aufhorchen ließ.

„Wäre er was für dich?“

Mit einem echten Lachen hatte sie wohl nicht gerechnet, denn Kathy sah kurz wirklich ein wenig bestürzt aus.

„Kathy, er ist verheiratet. Dazu kennst du meine Meinung.“

„Ja. Das beantwortet meine Frage aber nicht.“

Jetzt war Emma es, deren Augen sich vor Überraschung zuerst weiteten und dann einen fast schon melancholischen Blick annahmen.

„Ich denke, er könnte mir gefallen. Wie gesagt, er kann süß sein, wenn er will und auch sehr zuvorkommend. Aber mal davon abgesehen, dass ich mich weigere, vergebene Männer auch nur in Betracht zu ziehen, würde er nicht zu mir passen. Er arbeitet sich lieber zu Tode, als mal ins Kino zu gehen. Auf einem BBQ würde er sich vermutlich nie sehenlassen und selbst wenn, würde es ihm vermutlich nicht gefallen. Ich denke, bei ihm hätte man ständig das Gefühl, mit seinem Job konkurrieren zu müssen. Darauf hab ich ehrlich gesagt keinen Bock.“

„Hm. Versteh ich.“

 

„Die Fotos werden super! Sobald wir zu Hause sind, muss ich die gleich auf den PC laden.“

Rob hatte sich in den kleinen Bildschirm an seiner Kamera vertieft, blickte mal mit gerunzelter Stirn und mal mit freudig glitzernden Augen auf die Fotos, die er geschossen hatte, und ließ ab und zu einen kleinen Kommentar hören.

Emma fuhr die Küstenstraße entlang Richtung Wellington und konnte ein müdes Gähnen zum zweiten Mal gerade so unterdrücken. Ob es nun die viele frische Luft war oder der Abend zuvor ihr noch ein bisschen nachhing, war egal. Sie wollte jetzt einen riesigen Topf voll Nudeln mit Gemüse kochen, sich vollstopfen und dann mit einem Buch auf der Couch liegen, bevor sie früh ins Bett ging. Immerhin war Sonntag. Was bedeutete, dass Morgen die neue Arbeitswoche begann.

„Nachher kommen noch ein paar Freunde von mir vorbei“, verkündete Kathy wie aufs Stichwort. Allerdings keines, das Emma in diesem Moment gefallen hätte. Da ging wohl ihr gemütlicher Abend auf der Couch dahin. Naja, wenn schon nicht Couch, dann eben ihr eigenes Bett. Das war genauso kuschelig.

„Ich dachte mir, dass wir alle zusammen essen könnten.“

„Wie viele kommen denn?“, wollte Emma vorsichtshalber wissen. Denn wenn sie schon auf die Couch verzichten musste, würde sie eine kleiner werdende Portion Nudeln nicht akzeptieren. Sie hatte schon jetzt einen Bärenhunger!

Es kam für eine ganze Weile keine Antwort, bis Emma skeptisch wurde und in den Rückspiegel zu Kathy nach hinten sah. So, wie diese ihre Finger gespreizt hatte und lautlos ihre Lippen bewegten, konnte das nicht nur eine kleine Gruppe von zwei oder drei Leuten bedeuten.

„Sieben. Drei meiner Arbeitskollegen, deren Partner und einer, der nur für ein paar Wochen bei uns ist. Einer aus OZ. Aber trotzdem ganz nett.“

Das brachte zumindest einen Lacher. Na gut, dann würde sich Emma eben auf einen anderen Abend einstellen. War ja auch nicht so schlimm. Morgen konnte sie dafür früh ins Bett gehen. Soweit sie Calmaros Termine im Kopf hatte, stand diese Woche ohnehin nichts Riesiges an. Mal vom üblichen Chaos abgesehen.

 
 

***

„Hier.“

„Danke“, murmelte Cayden geistesabwesend und vertieft in ein paar sehr wichtigen Verträgen, die noch unterzeichnet werden mussten.

Vanessa stellte den Kaffee lautlos auf seinem Schreibtisch ab und nahm die alte Tasse wieder mit. Er bemerkte nur am Rande, dass sie immer noch neben ihm stand und ihn ansah.

Zuerst wollte er sie ignorieren, doch schließlich hob er doch den Blick.

„Willst du mir irgendetwas sagen?“, fragte er sie höflich, aber ohne jegliches Gefühl in seinen Worten. Sie war nicht das, was sie nach außen hin ausstrahlten und nirgendwo sonst merkte man das so deutlich, wie bei ihnen zuhause. Dort wo niemand sie dabei sehen konnte und die Dienstboten waren verschwiegen und diskret.

„Ich bin deine Frau …“, begann Vanessa mit einer merkwürdig belegten Stimme. Fast so, als würde sie zittern, wenn sie noch ein bisschen lauter sprach. Dabei starrte sie nachdenklich in seine leere Kaffeetasse.

„Auf dem Papier, ja“, bestätigte Cayden und wollte sich schon wieder seinen Verträgen widmen, da sie nicht weitergesprochen hatte.

„Seit zehn Jahren.“

Sie schien seine Worte einfach überhört zu haben oder ignorierte sie absichtlich.

„Bedeutet dir das eigentlich irgendetwas?“

Cayden legte die Papiere zurück auf den Tisch und hob den Blick. Vanessa sah ihn direkt an, die Tasse in ihren Händen zitterte leicht.

Er verschränkte die Arme vor seiner Brust und lehnte sich zurück.

„Willst du auf irgendetwas hinaus? Denn ich habe das Gefühl, das ist keines unserer üblichen Gespräche.“

Kurz schien so etwas wie Wut über ihre Augen zu huschen, doch diese Erscheinung verschwand zu schnell wieder, als dass er sich sicher sein konnte.

„Ich bin deine Frau“, begann sie erneut. „Wir sind seit zehn Jahren verheiratet. Wir haben unzählige Male miteinander geschlafen. Wir haben sogar unser Blut geteilt. Wir schlafen im gleichen Bett, wenn auch nicht allzu oft, wenn es unser Terminplan nicht zu lässt, aber wir leben im gleichen Haus. Essen am gleichen Tisch und all die Zeit, all die Jahre, da hast du …“

Sie senkte den Blick. Nun zitterte die Tasse deutlich in ihren Händen. Ihre Stirnfransen verhinderten einen Einblick auf ihr Gesicht, aber ihre Schultern schienen zu beben.

Weinte sie etwa? Das wäre ihm einmal etwas gänzlich Neues!

„… nie hast du mich auch nur einmal so angesehen … wie du sie angesehen hast.“

Man hörte regelrecht, wie sie ein Schluchzen unterdrücken musste, womit sich Cayden erst recht wie im falschen Film vorkam.

Hielt Vanessa ihm gerade tatsächlich einen Vortrag über …?

Obwohl sie es ständig mit irgendwelchen Typen trieb, die ihr scheißegal waren?

Wie soll ich wen angesehen haben?“, stellte er sich dumm, denn er war tatsächlich verwirrt. Über diese ganze Situation, in der er sich plötzlich wiederfand und die unerwartete Gefühlsaufwallung von Vanessa, die für gewöhnlich kälter als eine Hundeschnauze war.

„Verdammt Cayden, leugne es nicht auch noch!“, stieß sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor und umklammerte die Tasse so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden. Das war eindeutig ein Zeichen von Wut, aber sie sah immer noch so aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen.

„Ich rede von deiner neuen Assistentin! Was findest du überhaupt an dieser fetten Wachtel mit diesen Hängetitten!?“

Die Tasse zerbrach, während gleichzeitig sein Schreibtischstuhl gegen die Wand schlug.

Cayden war so schnell aufgesprungen, dass Vanessa die Bewegung nicht hatte kommen sehen. Ebenso wenig die Hand, die um ihren Hals lag, ohne zuzudrücken, sondern sie lediglich dazu zwang, ihn anzusehen.

Mit gebleckten Fängen fuhr er sie leise aber gefährlich an: „Das ist meine letzte Warnung. Noch ein schlechtes Wort über sie und ich breche unseren Vertrag. Glaubst du wirklich, ich finde keine Andere, die mir ihr Blut gibt? Glaubst du wirklich, ich hege dir gegenüber mehr Gefühle als an jeder anderen Mahlzeit? Und unter uns gesagt …“

Er beugte sich so dicht zu ihrem Gesicht herab, dass er auf seiner Haut spüren konnte, wie ihr der Atem stockte und für sie zum ersten Mal seine Fangzähne keiner Verlockung gleichkamen, sondern ihr tatsächlich Angst machten.

„… deine Vorstellung von Schönheit geht mit meiner weit auseinander. Oder glaubst du wirklich, ich würde den Unterschied zwischen weichen, echten Brüsten im Vergleich mit deinen Silikonkissen nicht erkennen? Du bist nichts weiter als ein künstliches Modepüppchen. Schön anzusehen, aber nicht schön anzufassen. Kaum zu glauben, dass tausende von Mädchen und Frauen deinem Ideal hinterher rennen. Von mir aus treib es mit so vielen hirnlosen Typen, wie du willst, die glauben, das wäre wahre Schönheit. Aber halt mir keine Vorträge darüber, wie ich mit dir umzugehen oder dich anzusehen habe. Du bist meine Frau. Ja. Und das schon seit zehn Jahren. Aber glaub mir, für mich bist du nichts weiter als ein Wimpernschlag in der Ewigkeit.“

Mit diesen Worten ließ er sie los, nahm die Verträge von seinem Schreibtisch und ging. Heute war es hier absolut nicht auszuhalten und wenigstens würde er in seinem Penthouse in Ruhe nachdenken können, ohne dass ihm sein eifersüchtiges Weib die Hölle heißmachte. Wobei …

Er drehte sich noch einmal herum.

„Übrigens, an deinem schauspielerischen Talent musst du noch arbeiten. Vor allem das mit den Tränen funktioniert noch ganz und gar nicht, oder hast du sie einfach in deinem Eifer vergessen?“

Nein, vermutlich wollte sie einfach nicht ihre Wimperntusche verschmieren.

Wütend verließ Cayden den Raum und schloss die Tür leise hinter sich.

 

Cayden war nicht in sein Penthouse gefahren, sondern direkt an den Ort des Geschehens. Zudem war ihm sein Büro ohnehin am liebsten, da er dort die meiste Zeit verbrachte.

Die Verträge vor sich waren durchgesehen, die eine oder andere Klausel noch einmal abgeändert oder neu hinzugefügt worden und nun saß er da, einen Kugelschreiber in der einen, die leere Kaffeetasse in der anderen Hand und starrte Löcher in die Wand.

Wie soll ich sie denn angesehen haben?

Das fragte er sich nicht zum ersten Mal seit dem aufschlussreichen Gespräch mit Vanessa. Aber obwohl er sich diese Frage immer wieder stellte, sie von allen Seiten zu beleuchten versuchte, wollte sich darauf einfach keine Antwort finden lassen.

Emma war seine Assistentin. Es war ein sehr schöner Abend gewesen und er würde es als gutes Erlebnis in seiner Erinnerung behalten.

Damit sollte das Thema eigentlich erledigt ein.

Aber das ist es nicht.

Darüber war sich Cayden dank Vanessa plötzlich nur allzu deutlich bewusst. Schließlich war sie nicht einfach nur seine Assistentin, sie war auch kein gewöhnlicher Mensch, sondern stammte von Jenen ab, und auch wenn sie vielleicht keine Ahnung hatte, was sie alles mit ihrer Gabe anrichten konnte, würde Emma immer das Potential in sich tragen, ihm oder einem anderen Vampir gefährlich werden zu können.

Allein dieser Abwehrmechanismus vor seinem Büro war dafür Beweis genug.

Auch wenn er nicht vorhatte, ihr deshalb etwas zu tun, es könnten andere seiner Art auf sie aufmerksam werden und dagegen etwas unternehmen wollen. Immerhin hatte sogar Calvin Tasken bemerkt, wer sie war und ihn sogar darauf hingewiesen.

Cayden glaubte zwar nicht, dass der Vampir großes Interesse an Emma hatte, da der sich mit vollkommen anderen Dingen beschäftigte, aber es gab auch unter den Vampiren Jäger, genauso wie es unter den Menschen Jäger gab und sich somit beide Spezies gegenseitig jagten, wenn es nötig war.

Seine Hand begann auf seinem Block mit den Notizen zu den Verträgen, herumzukritzeln.

Sie ist nur ein Mensch. Warum kümmert es mich überhaupt? Es ist schließlich nicht mein Problem, sollte jemand auf sie aufmerksam werden und sich darum kümmern wollen.

Trotzdem beschäftigte es ihn und egal wie oft er sich einzureden versuchte, dass seine Sorge nur daran lag, eine potentielle Nachfolgerin für Stella nicht zu verlieren, konnte er sich diese Lüge einfach nicht vollkommen einreden.

Ja, Emma war nur ein Mensch und sie würde früher oder später ohnehin sterben, so wie es diese Rasse schon seit unzähligen Jahren tat, trotzdem ließ ihn der Gedanke nicht in Frieden.

Caydens Hand kritzelte weiter, während seine Gedanken abschweiften. Zu den anderen Menschen, die ihm keine Ruhe gelassen hatten, weil sie ihm am Ende mehr bedeutet hatten, als ihm lieb war.

Ein paar seiner vergangenen Ehefrauen hatte er wirklich geliebt und daher auch gehen lassen, als sie den Gedanken an die Ewigkeit nicht länger ertrugen. Er hatte sie sterben lassen, weil es ihr Wunsch war, obwohl er sie eigentlich bei sich hatte behalten wollen. Doch so egoistisch hatte selbst er am Ende nicht sein können.

Sein Glaube daran – dass Menschen einfach nicht für die Ewigkeit geschaffen waren – hatte ihn dazu gebracht, sie ziehen zu lassen, obwohl es geschmerzt hatte.

Auch um Helen würde er trauern, wenn sie nicht mehr war. Sie war eine gute Frau und er würde sie auch so in Erinnerung behalten, aber damit hatte er sich schon längst abgefunden. Doch Emma – die er noch nicht einmal wirklich kennengelernt hatte – ließ ihm keine Ruhe.

Cayden wusste nicht, was es war. Er wusste nicht, was Vanessa mit ihrem Vorwurf genau gemeint hatte, oder ob das ebenfalls einfach ein Teil ihrer Show gewesen war. Er wusste nicht, ob er überhaupt noch dazu fähig war, sich tief genug an einen Menschen zu binden, nachdem selbst ihn das auf Dauer nicht kalt ließ.

Eigentlich wusste er gar nichts. Nur, dass es keinen Sinn hatte, über vergängliche Dinge nachzudenken, wenn man selbst sich nicht vom Fleck bewegte. Außerdem sollte er es sein lassen und weiter arbeiten. Nicht nur auf den heutigen Tag beschränkt, sondern auf die Jahre, die noch vor ihm lagen.

Er hatte keine Zeit, um sich den Kopf wegen sinnloser Fragen zu zermartern oder gar seine Assistentin näher kennenlernen zu wollen. Mit ihr schlafen und ihr Blut trinken zu wollen. Was das anging, war er realistisch. Sie war neu. Sie hatte ihren Reiz und das mochte er. Darum war der Gedanke auch nicht so abwegig, mehr mit ihr tun zu wollen, als einfach nur mit ihr zu reden. Aber da sprachen seine Hormone und Instinkte aus ihm. Damit konnte er nach einem so langen Leben, wie er es führte, nur allzu leicht umgehen.

Es ließ sich ignorieren und genau das sollte er tun.

Die Gedanken an Emma und seine Tagträumerei sein lassen und seinen Kopf wieder auf die Arbeit richten.

Ein guter Plan.

Entschlossen legten Cayden den Kugelschreiber zur Seite und setzte sich wieder gerade in seinem Stuhl hin, um sich noch einmal die Verträge durchzulesen und ganz bestimmt nicht mehr an den Tanz mit Emma zu denken.

Als er allerdings einen Blick auf seine Notizen warf, musste er einsehen, dass das alles gar nicht so einfach werden würde.

Cayden riss die Seite ab und sah sie sich noch einmal an, ehe er das detaillierte Bild von Emmas Lächeln und den Ausdruck ihrer Augen zerknüllte und in den Müll warf.

Das Bedürfnis zu zeichnen, war das allerletzte, dem er weder heute noch in den nächsten Jahren nachgeben durfte; könnte es ihn doch am Ende dazu bringen, die ganze Arbeit einfach hinzuschmeißen.

15. Kapitel

Das übliche Chaos war genau das, was Cayden an diesem Montag äußerst zu schätzen wusste. Er war gefordert, wurde ständig gebraucht, musste das eine durchsehen, das andere unterschreiben, Telefonate führen, ein Meeting abhalten, ins Tonstudio rüberfahren, mit einem seiner Bandmanager über einen Vertrag mit einer kleinen noch unbekannten Gruppe führen und diversen Papierkram bewältigen.

Cayden hätte fast darüber gelächelt, wie gut er sich selbst inzwischen kannte und wie er es immer wieder schaffte, die Lücken seiner sonst so makellos stabilen Psyche zu stopfen, der es nicht gestattet war, einmal zu schwächeln.

Nicht, wenn er vorhatte, noch weitere zweitausend Jahre zu leben. Vorausgesetzt die Menschheit jagte den Planeten nicht in die Luft oder jemand hetzte ihm einen Meuchelmörder an den Hals, dem er nicht gewachsen war.

Unwahrscheinlich. Aber beides nicht gänzlich auszuschließen.

Mit dem Berg an Arbeit jedenfalls, den er tagtäglich zu bewältigen hatte, da er nicht gewillt war, auch nur etwas davon abzugeben, obwohl er etwas hätte abgeben können, wurde ihm zumindest nicht langweilig. Und er hatte auch keine Zeit, sinnlosen Gedanken nachzuhängen und Luftschlösser zu bauen, die ohnehin von vornherein zerstört wurden, bevor sie noch ganz Gestalt annehmen konnten.

Kurz gesagt, er war zufrieden damit, was er war und was er machte. Glück war zu vergänglich, als das er danach gestrebt hätte. Zufriedenheit hingegen konnte man durchaus länger am Leben erhalten, wenn man für entsprechende Vorkehrungen sorgte und das tat er. Jedes Mal, wenn er wieder von einem Leben der Zurückgezogenheit zu einem Leben in der Öffentlichkeit wechselte.

Was das anging, war er wie in allen Dingen, die er mit vollem Bewusstsein anpackte, ausgesprochen gut.

Mit einem Stapel von Folianten trat er schließlich am frühen Nachmittag aus seinem Büro, wappnete sich, wie inzwischen gewohnt, vor der ihn überkommenden Übelkeit und dem Bedürfnis, herumzufahren und einem imaginären Angreifer die Zähne in den Hals zu schlagen und legte den Stapel auf Stellas Schreibtisch ab.

Während er tief versunken in einem Vertrag las, den er sich mit herausgenommen hatte, musste er sich insgeheim davon abhalten, von dem Papierbogen hoch und Emma anzublicken.

Stattdessen drehte er sich nur ungefähr in ihre Richtung und bat sie mit einem höflichen aber unverbindlichen Tonfall, dass sie ihm bitte noch einen Kaffee bringen sollte. Danach rauschte Cayden auch schon wieder in sein Büro, dabei alle Ereignisse vom vergangenen Abend ignorierend, die eventuell eine andere Reaktion von ihm verlangt hätten.

Vielleicht eine mit ein bisschen mehr Gefühl, einem tieferen Lächeln oder auch einfach nur noch einmal ein einfaches 'Danke, für den schönen Abend'.

Was allerdings alles nicht zutraf. Nein, eigentlich war er sogar noch distanzierter als sonst und bei Gott, er hatte wirklich alle Gründe dazu. Je eher er Emma, als das ansah, was sie war – nämlich eine mögliche Nachfolgerin von Stella – umso besser wäre es für sein Seelenheil.

Emma war ein Mensch. Sie würde früher oder später aus dieser Firma und somit seinem Leben verschwinden. Sie würde sterben und somit nur in den Erinnerungen ihrer Freunde oder Kinder und Enkelkinder am Leben bleiben. Er jedoch, wäre immer noch der gleiche, selbst wenn ihr Körper schon längst zu Staub zerfallen war.

Sie konnte es sich vielleicht leisten, ihn flüchtig in ihr Leben zu lassen und vielleicht den einen oder anderen Fehler zu begehen. Er jedoch nicht. Denn sein Leben würde nicht einfach enden und unter allem einen Schlussstrich ziehen, bis es in einer weiteren Inkarnation von Neuem begann. Nein, er würde diesen vergangenen Abend und vielleicht auch zukünftige Abende dem Berg an Verfehlungen hinzufügen, sollte er tatsächlich einen Fehler begehen. Wenn es nicht der Berg der Verfehlungen sein würde, dann ein anderer. Es gab genug davon und mit jedem einzelnen Bruchstück eines neuen Teiles, würden diese Berge anwachsen.

Viele Vampire entschieden sich frühzeitig für den Tod, da sie die Last dieser Berge nicht tragen konnten. Darum starb ihre Rasse langsam aus. Nicht, weil sie zu wenig Nachkommen hatten. Sondern weil so viele so schnell aufgaben.

Cayden würde das nicht tun. Nein, niemals. Nicht durch eigene Hand.

Nicht für einen Menschen. Auch nicht für Emma. Die zugegebenermaßen das Potential in sich trug, ihm gefährlicher werden zu können, als eine ganze Armee von Bauern mit Fackeln, Mistgabeln, Sensen und Dreschflegeln.

Es war nicht ihre Gabe, die eine Gefahr für ihn darstellen könnte, sondern sein Interesse an ihr, wenn er dem auch nur ein bisschen mehr an Bedeutung schenkte.

Kein Wunder, dass er sich Frauen wie Vanessa erwählte, bei denen es schwer war, sie zu lieben. Alles andere würde ihn früher oder später umbringen.

 

Emma schrieb sich den fünften Notizzettel, klebte ihn zwischen den zweiten und den dritten der kleinen Post-its in ihr Notizbuch und tippte so schnell sie konnte die E-Mail zu Ende, die in spätestens fünf Minuten beim Empfänger sein musste, um heute noch irgendetwas zu nutzen.

Es war nicht anders als andere Montage, aber jetzt bereute sie es doch ein bisschen, gestern noch so lange auf gewesen zu sein.

Eigentlich hatte sie das auch gar nicht vorgehabt. Die Freunde von Kathy waren angerauscht, jeder hatte etwas mitgebracht und schon allein das gemeinsame Kochen und Essen hatte einen Großteil des Abends eingenommen. Eines sehr netten Abends, wie sie zugeben musste.

Kathys Arbeitskollegen waren mit Emmas Mitbewohnerin bald in Schimpftiraden über den gemeinsamen Chef ausgebrochen, hatten sich amüsiert und dann eine Art Betriebsausflug geplant, der aber so kostspielig ausfallen würde, dass er sowieso ein Hirngespinst bleiben würde.

Emma hatte sich ab und an beteiligt, sich am leckeren Essen gefreut und das Gefühl genossen, einen Tag, den sie hauptsächlich an der frischen Luft verbracht hatte, so ausklingen zu lassen. Und dann hatte sie sich mit Kenny unterhalten. Er arbeitete wirklich nur für ein paar Wochen in Kathys Firma. Vermutlich nicht länger als noch zwei Monate. Vielleicht auch weniger. Sein Büro in Perth war überbesetzt und hier in Welly war Not am Mann gewesen. Da hatte er einfach seine Koffer gepackt und war rübergekommen.

'Es hat manchmal eben doch seine Vorteile, wenn man Single ist.'

Ob sie das zum Nachdenken anregen sollte, hatte Emma sich gar nicht gefragt. Es war nur so ein dahin gesagter Satz gewesen. Trotzdem war er ihr nicht aus dem Kopf gegangen, als Kenny sie kurz vor dem Abschied der ganzen Truppe nach ihrer Handynummer gefragt hatte. Nur, falls sie mal was unternehmen wollte.

'Vielleicht darf ich dich ja mal zu einer Pizza und ins Kino einladen.'

Was in Emmas Welt ohnehin bedeutete, dass es so weit nicht kommen würde. Solche Sachen kannte sie schon. Aber wenn es trotzdem klappen sollte, würde sie sich freuen, mit Kenny ins Kino zu gehen. Er war ein ganz netter Kerl.

Als die Bürotür aufschwang, riss Emma ihren Kopf hoch und sich selbst aus ihren Gedanken. Sofort schien ihr Herz einen Sprung zu machen, den sie selbst gar nicht einordnen konnte. Aber ihr Chef sah sie nicht einmal an. Er legte Stella ein paar Akten auf den Schreibtisch und las schon halb in der Drehung in irgendwelchen Papieren, bevor er Emma um einen Kaffee bat und wieder in seinem Büro verschwand.

Etwas perplex starrte sie auf den Platz, an dem er gerade kurz gestanden hatte.

So etwas wie milde Enttäuschung wollte sich in ihr breitmachen, aber das ließ Emma nicht zu. Nicht umsonst hatte sie sich auf ihr Hirn berufen und nicht nur Kathy erklärt, dass Calmaro eigentlich gar nicht zu ihr passte. Daran musste sie nur immer wieder denken. Genauso, wie an den goldenen Ring an seinem Finger.

Sie kochte ihm Kaffee. Mit dem Tablett in der Hand klopfte sie an der Tür, öffnete nach dem knappen „Herein“ und stellte wortlos den Kaffee auf dem großen Schreibtisch ab, bevor sie sich wieder zum Gehen wandte. Das Zögern, das sie dann doch von einem schnellen Abgang abhielt, traf Emma selbst irgendwie überraschend.

„Ich wollte mich noch einmal für den schönen Abend bedanken. Es war wirklich ...“

Sie brach ab, als jegliche Reaktion ausblieb, und wandte sich nun doch zum Gehen.

„Es hat Spaß gemacht.“

 

Cayden blickte Emma ausdruckslos hinterher, ehe er scharf die Luft einsog und sich zusammenriss. Beinahe wäre ihm ein „Ja, mir auch“ über die Lippen gekommen.

Ehe es tatsächlich so weit kommen konnte, stürzte er sich wieder auf die Arbeit und dieses Mal mit noch mehr Elan.

 
 

***

 

Nachdem Stella die Folianten in die Grafikabteilung gebracht hatte, die ihr Boss ihr auf den Schreibtisch gelegt hatte, war auch Emma wieder auf ihrem Posten. Bisher waren sie noch nicht wirklich dazu gekommen, über die Spendengala zu reden, die Stella nur zu gerne verpasst und stattdessen lieber mit ihrem Mann den Abend verbracht hatte.

Außerdem gäbe es da noch etwas, das sie mit Emma besprechen müsste.

„Wie war eigentlich die Spendengala?“, warf sie mehr beiläufig ein, während sie etwas in ihren PC tippte.

„Da du noch lebst, nehme ich nicht an, dass du dort an Langeweile gestorben bist.“

Stella lachte leise.

„Ich muss dir wirklich danken, dass du für mich eingesprungen bist. Ich hätte das in meinem Zustand nicht ausgehalten. Was mich auch auf die Frage bringt …“

Nun zögerte sie etwas und hörte mit dem Tippen auf.

„… hat er dir schon von dem Yamato-Meeting in Tokio erzählt? Das ist in drei Wochen und bei der Geschwindigkeit, in der ich aus meinen Kleidern wachse, werde ich zu dem Zeitpunkt sicher schon wie eine Tonne aussehen. Außerdem … nun ja, ich will nicht fliegen. Also, ich meine, ich hab ein bisschen Angst davor. Natürlich fliegen wir immer Firstclass, aber trotzdem. Das …“

Sie stockte, nestelte etwas an ihren perfekt manikürten Fingernägeln herum und holte dann tief Luft.

„Also du würdest mir wirklich einen wahnsinnig großen Gefallen tun, wenn du das übernehmen würdest. Es gibt nur eine Kleinigkeit für das Meeting vorzubereiten und das mach ich für dich. Das Meeting selbst wird sich dort auch nur auf einen Nachmittag beschränken, weshalb du viel Zeit hättest, um dir die Stadt anzusehen. Da Calmaro grundsätzlich mehrere Tage an einem Ort bleibt, wenn er so weit fliegen muss. Du würdest es auch wirklich nicht bereuen. Die Hotels sind ein Traum, man wird von vorne bis hinten verwöhnt und man muss noch nicht einmal dafür bezahlen. Geht alles auf die Firma. Selbst wenn du irgendwas Schickes für eine Veranstaltung oder so dort brauchst, egal wie teuer … das zahlt wirklich alles die Firma. Das … bitte sag ja!“

Stella setzte ihre beste Ich-bin-eine-schwangere-Frau-und-daher-extrem-hilfsbedürftig-Miene auf, die sie besaß.

 

„Nein.“

Emma zupfte den obersten Zettel von ihrem Notizbuch und warf ihn zerknüllt in den Papierkorb, bevor sie den Blick hob und ein breites Grinsen wirklich nicht unterdrücken konnte.

„Ich meinte nicht 'nein' zu der Reise.“

Sofort sah Stella nicht mehr ganz so geschockt aus, sondern nur ein bisschen verwirrt. Was Emma aber bestimmt nicht damit behob, dass sie aufstand, in die kleine Küche ging und dort für sie beide Tee holte, bevor sie sich wieder hinter ihren Schreibtisch setzte.

„Ich wollte sagen, dass ich bestimmt nicht vor Langeweile gestorben bin. Es war sogar sehr spannend. Viele Menschen, die auf die eine oder andere Art interessant sind. Soweit man Mr. Calmaros Ausführungen glauben darf.“

Was sie ohne Zweifel tat.

Emma nippte vorsichtig an ihrem Tee und verbrannte sich – wie gewöhnlich – die Zungenspitze, worauf sie die heiße Tasse einfach nur in den Händen festhielt. Irgendwie waren ihre Finger kalt geworden, seit sie im Büro den Kaffee abgestellt hatte.

„Außerdem hatte ich das zweifelhafte Vergnügen mit Mrs. Calmaro. Sie ist überraschend aufgetaucht und hat ihre Meinung zu meinem Aussehen kundgetan. Reizende Person.“

Und das im doppelten Wortsinne. Wobei Emma die blöde Kuh eher reizend fand, was ein paar Krallenspuren im Gesicht anging.

„Und du brauchst mir sicher nicht zu danken. Ich hab einen Barbeque-Grill gewonnen!“

Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht! Aber es stimmte. Irgendwann diese Woche würde ein riesiges Paket ankommen, an das sie für Rob vielleicht noch eine Schleife hängen würde. Oder sie brachte am besten gleich ein Kilo Fleisch für ihn mit, damit der das schmucke neue Stück gleich ausprobieren konnte.

Der Gedanke brachte sie zum Schmunzeln.

Im nächsten Moment war es allerdings ganz gut, dass sie ihre Tasse vom Mund weggenommen hatte, sonst hätte sie vermutlich Tee über ihren gesamten Schreibtisch geprustet.

„Tokio?!“

Ihre Augen wurden rund wie Untertassen und Emma starrte Stella einfach nur eine halbe Minute lang an. Erst dann wurde ihre Stimme schon fast verschwörerisch leise.

„Du meinst Tokio wie das Tokio in Japan? Stella, er hat mir noch gar nichts davon gesagt. Das steht noch nicht mal im Terminkalender. Ich ...“

Ein Klumpen bildete sich in Emmas Bauch, von dem sie nicht ganz genau wusste, wo er seinen Ursprung in ihren Gefühlen hatte. Aber allein ihr Kopf flüsterte ihr die nächsten Worte ein.

„Es wäre doch möglich, dass er mich gar nicht mitnehmen möchte. Ich bin noch nicht so erfahren, wie du. Bei dir kann er sicher sein, dass alles glatt läuft. Vielleicht solltest du zuerst mit ihm darüber sprechen und nicht mit mir.“

 

„Nein, das hat nichts zu bedeuten. Er hat so viel im Kopf, dass er es dir vielleicht erst eine Woche oder so vorher sagt. Darum bin ich ja da, um dich auf solche Dinge früher hinzuweisen, damit du nicht einfach von ihm überrumpelt wirst.“

Stella lehnte sich ein Stück weiter vor, während sie in ebenso fast verschwörerischem Tonfall fortfuhr: „Außerdem bin ich mir sicher, dass er es auch noch nicht erwähnt hat, weil er noch nicht weiß, dass ich nicht fliegen will. Aber Mr. Calmaro kann wohl in diesem Fall nicht wählerisch sein, und wenn du dich mit ihm am Samstag tatsächlich nicht zu Tode gelangweilt und es sogar mit diesem Silikonsack aufgenommen hast, wird das wohl für deine Kompetenz sprechen. Ich bin mir sicher, es ist ihm auch lieber, jemanden bei sich zu haben, der nicht alle fünf Minuten aufs Klo rennen muss und zudem in ein schickes Kostüm passt. Umstandsmode kommt bei solchen hohen Treffen einfach nicht so gut.“

Nun lehnte sie sich doch wieder in ihrem Stuhl zurück und strich über die kleine Rundung ihres Bauches.

„Weißt du, du wirst dort gar nicht so viel zu tun haben. Hauptsächlich kümmert er sich um das Geschäftliche. Deine Aufgabe ist eher die, dass er sich dort auf jemanden verlassen kann, falls ein Notfall oder so etwas in der Art eintritt. Und, dass du ihm vor dem Treffen noch die ganzen schriftlichen Materialien bereitlegst. Außerdem musst du unbedingt darauf achten, dass er genug isst. Ich weiß, das klingt etwas merkwürdig, aber wenn ihn nicht immer wieder jemand daran erinnert, dass er auch essen muss, vergisst er es bei solchen Anlässen leicht oder nimmt nur winzige Snacks zu sich, an denen sogar Magersüchtige verhungern würden. Und ich will ganz ehrlich sein, lass dich nicht davon abschrecken, dass er ständig auf seinem Zimmer hockt. Es ist zwar nur ein einziges Meeting, aber dieser Mann kann das Arbeiten nicht sein lassen. Daher wird es reichen, wenn du dich ab und zu davon überzeugst, dass er in seiner Hotelsuite nicht plötzlich gestorben ist. Ansonsten kannst du eigentlich tun und lassen, was du möchtest. Die Hotels alleine sind schon eine Besichtigung wert und fühl dich ruhig dazu eingeladen, alles auszuprobieren, was man dort machen kann. Räum die Minibar aus, geh zum Masseur. Tu alles, was du tun kannst. Das ist sozusagen seine Art der Entschädigung dafür, dass wir hier so schuften müssen.“

Stella fragte sich bis heute, woher ihr Boss wohl kam, da ihm so ganz und gar die Wellingtoner-Arbeitsmentalität fehlte.

 

„Okay ...“

Das war alles, was sie dazu sagte, während sich Emma Notizen wie 'an Essen erinnern' und 'Kostüm kaufen' machte. Bis jetzt kam in ihr wegen dieser Sache noch keine rechte Panik auf. Das konnte einerseits daran liegen, dass sie noch nicht richtig begriffen hatte, was genau sie da gerade zugestimmt hatte. Auf der anderen Seite glaubte Emma trotz Stellas Erklärung nicht daran, dass Calmaro sie darum bitten würde, mit ihm zu fliegen.

Allerdings konnte ihr innerliches 'Nie im Leben' sie auch nicht wirklich überzeugen.

 
 

***

 

Der Flughafen von Wellington hatte immer etwas Lustiges an sich. Wo überall sonst in der Welt jeder Zentimeter kontrolliert, gefilmt und kritisch beäugt wurde, konnte hier jeder, der zur Haupttür herein kam, sofort an die Gepäckausgabe. Und auch die Lieben konnten die Reisenden bis ans Gate begleiten, um sich zu verabschieden.

Emma war früh dran, aber nicht so früh, dass sie sich mit Warten hätte verrückt machen können. Das würde ihr noch im Laufe des langen Fluges passieren, der ihrer Meinung nach erst einmal mit einem Zwischenstopp von einer Stunde in Auckland begann.

Sie zerrte ihren Koffer die Stufen zur Gepäckabgabe hinauf und reihte sich dann hinter einem asiatischen Ehepaar ein, das sich munter über etwas unterhielt, das Emma nicht verstand.

Sie freute sich auf Japan. Natürlich machte ihr die Sache mit dem Meeting Bauchschmerzen. Sie hatte ungefähr zehn Mal kontrolliert, ob sie alles eingepackt, alles bedacht und alle Unterlagen mitgenommen hatte. Bloß die Tatsache, dass der Flieger nicht auf sie warten würde, hatte sie davon abgehalten, auch noch einmal ins Büro zu fahren, um dort zu sehen, ob nicht doch noch wichtige Papiere herumlagen.

Jetzt stand sie in der recht kurzen Schlange, sah noch einmal ihr Handgepäck durch und schaute auf die Uhr.

Ob Calmaro schon hier war? Vielleicht saß er schon in irgendeiner Lounge für die Firstclass-Gäste, von der Emma noch nie etwas gehört hatte. An diesem Flughafen war das vermutlich ein bequemer Sessel neben einer Topfpflanze. Mit Blick aufs Meer natürlich.

 

Cayden war ungefähr einer der letzten Fluggäste, der die Firstclass bestieg und sich schließlich auf den Platz neben Emma setzte.

Sie saß am Fenster, was ihm nichts ausmachte, da er ohnehin nicht viel von der Aussicht mitbekommen würde. Außerdem schien sie aufgeregt zu sein und das würde sie sicherlich ablenken.

Vor dem Start plauderte er noch unverfänglich mit ihr und war zufrieden mit sich selbst, dass er es geschafft hatte, bis zu diesem Tag nicht mehr allzu sehr an die Spendengala zu denken. Seine Arbeit war ihm dabei stets behilflich gewesen und daran hielt er sich auch nach dem Start, als sie in der Luft waren.

Cayden konnte keine knappe zweiundzwanig Stunden stillsitzen und einfach nichts tun, also hatte er seinen Aktenkoffer mitgenommen, so dass er auch während des Flugs noch etwas weiter arbeiten konnte.

Die Verträge, Vorschläge und anstehenden Eventorganisationspläne war er bald durch. Danach noch einmal die Vorbereitungen für das Meeting mit Yamato und schließlich haftete sein Blick meistens auf dem Display seines Blackberrys.

Die beiden Zwischenstopps, die sie machten, nutzte er dazu, um sich frischzumachen, einen Happen zu Essen und sich noch ein bisschen unverfänglich mit Emma zu unterhalten, ehe er auch schon wieder voll und ganz seinem Arbeitstrieb nachgab.

Lediglich gegen Ende des Flugs hatte er noch ein paar Stunden geschlafen, um für die Ankunft fit zu sein.

 

Stella war wie immer so zuvorkommend gewesen und hatte ihnen gleich einen Wagen bestellt, der sie direkt ins Hotel bringen würde. Alles war bereits reserviert, so dass es auch damit keine Probleme geben dürfte, den Rest bekam er auch alleine hin.

Natürlich sprach der junge Mann hinter dem Empfangstresen des Hotels, der ihre Reservierung nachprüfte auch Englisch, doch Cayden genoss es, wieder einmal seine Sprachgewandtheit zum Einsatz bringen zu können und unterhielt sich im besten Japanisch mit ihm.

Er ließ sich noch einmal die Liste aller möglichen Aktivitäten geben, die man in diesem Hotel machen konnte, und bedankte sich dann mit einer Verbeugung.

„Ich habe ganz vergessen zu fragen. Waren Sie schon einmal in Japan?“, wollte er von Emma wissen, während sie von einem Pagen zu ihren Suiten gebracht wurden und momentan im Aufzug standen, der wie der Rest des Hotels wirklich wunderschön gestaltet war. Im Peninsula war Cayden bisher noch nicht gewesen, aber es war durchaus eine Überlegung wert, noch öfter hierher zu kommen.

 

Mund zu!

Emma betrachtete die Lichter, die sich in den Augen aller Anwesenden spiegelten, kleine Sternchen, die nicht nur in der Nacht, sondern auch den ganzen Tag über für jeden leuchteten, der sich den spiegelnden Aufgang in der Lobby hinauf traute.

Alles glänzte, leuchtete und spiegelte, so dass Emma große, runde Augen bekam und sich am liebsten ein paar Mal im Kreis gedreht hätte, um alles zumindest ansatzweise erfassen zu können. Dazu bekam sie zumindest kurz Gelegenheit, als ihr Boss sich mit dem feingekleideten Herrn an der Rezeption in einer Sprache unterhielt, die Emma nicht einmal in Ansätzen verstand. In ihrem Zustand schon gar nicht.

Sie war müde, zerschunden und irgendwie doch aufgedreht. Alles, was sie wollte, waren eine heiße Dusche und ein gemütliches Bett. Ach ja, und ein paar Stunden Zeit, um beides auszunutzen.

Da es schon Abend war, würden sie heute vermutlich nicht mehr so wirklich viel zu besprechen haben. Aber Emma würde trotzdem so lange bereitstehen müssen, bis Calmaro sie entließ.

Immer einem Gähnen nahe stöckelte sie auf ihren Pumps hinter dem Pagen und ihrem Boss zum Aufzug und stand dann still im Lift, während sie die Anzeige über der Tür beobachtete.

Wie wohl die Zimmer aussahen?

Emma rechnete damit, dass Calmaro sich etwas in Art eines Penthouses leisten würde. Aber so, wie das gesamte Hotel aussah, konnte auch das billigste Zimmer, das Stella für sie gebucht hatte, nicht von schlechten Eltern sein.

Sie konnte das kuschelige Bett schon rufen hören!

„Ich habe ganz vergessen zu fragen. Waren Sie schon einmal in Japan?“

Die Frage kam irgendwie unvermittelt und störte Emma in ihrer fast schon schläfrigen Haltung. Zu viel Kommunikation, wenn sie müde war, konnte sie nicht wirklich vertragen.

„Nein, noch nie bisher.“

Es machte leise und zurückhaltend Pling und die Fahrstuhltüren glitten auseinander. Vor ihnen öffnete sich ein schlichter Gang in Cremefarben und grün, den der Page entlangging, bis zu einer Tür mit einer 3 und einem japanischen Schriftzeichen daran. Drei Striche untereinander, die nach Emmas Meinung wohl dasselbe wie die westliche Zahl bedeuten mussten.

„Lady. Shitsurei shimasu.“

Der Page verbeugte sich und öffnete Emma die Tür. Als sie das Zimmer sah, wäre sie beinahe rückwärts umgefallen.

Bei dem Anblick blieb ihr jetzt aber wirklich der Mund ein wenig offenstehen.

 

Eigentlich sollte es nicht so faszinierend sein, die Reaktionen von anderen Menschen auf etwas zu beobachten, das neu für sie war und ihn selbst doch kaum noch beeindrucken konnte.

Natürlich war das Hotel wunderschön und das Geld auf alle Fälle wert, das er für eine so komfortable Bleibe ausgab, doch davon konnte er auch genug in seinem Haus sehen. Was das anging, war Vanessa unschlagbar im Einkaufen und er selbst sammelte gerne Kunstgegenstände.

Dennoch bekam auch er eine Spur des Aufregenden und der Faszination ab, die Emma förmlich aus jeder Pore ausschickte.

Sie war auch müde, aber der Anblick ihres Zimmers war wesentlich eindrucksvoller als die Strapazen der ganzen Reise bisher.

Zudem gefiel ihm die Einrichtung. Es waren warme Farben. Etwas das er liebte und alles schien bis ins letzte Detail wohldurchdacht und geplant worden zu sein. Kein Zweifel, selbst dieses Zimmer war eines Königs würdig. Mochte es vom Platz her auch nicht an einen Palast heranreichen, so mangelte es dem Raum doch nicht an Luxus und Service.

Cayden war nicht mit Emma in das prunkvolle Zimmer getreten, sondern an der Tür stehengeblieben, während er sie zum ersten Mal seit diesem verflucht nachhaltigen Tanz wieder richtig ansah.

Jede Bewegung ihrer Muskeln und vor allem ihre Gesichtszüge studierte er. Ihm entging nicht das Geringste, während sie sich umsah und das alles kaum zu glauben schien, doch schließlich war es an der Zeit, sie für heute zu entlassen und 'Gute Nacht' zu sagen.

Man sah es ihm vielleicht nicht an. Aber auch er war müde und etwas angespannt. Er war froh, wenn er diesen Anzug und die Brille endlich loswerden und ein heißes Bad nehmen konnte. Das würde sogar so ziemlich das Erste sein, was er tun würde, sobald er alleine war.

„Ich werde Sie jetzt nicht länger belästigen, Emma. Ruhen Sie sich aus und schlafen Sie gut. Morgen Früh um neun erwarte ich Sie beim Frühstück, damit wir noch einmal alles durchgehen können. Das Meeting ist zwar erst übermorgen, aber dann können Sie die restliche Zeit in Ruhe nützen, um sich etwas in Tokio umzusehen. Sie werden sehen, die paar Tage werden nicht dazu ausreichen, sich alles anzuschauen. Ich hoffe dennoch, dass Ihnen Ihr erster Aufenthalt in diesem Land gefallen wird. Gute Nacht.“

Cayden schenkte seiner Assistentin noch ein Lächeln, das man als etwas müde und doch eine Spur aufgetaut bezeichnen konnte, ehe er sich von dem Pagen seine eigene Suite zeigen ließ.

 

Erst als er bis zum Hals in Schaum versank und seine müden Glieder sich zu entspannen begannen, erlaubte er sich einen Gedanken daran, dass er es eigentlich ganz schön fand, dass Stella abgesagt und ihm stattdessen Emma mitgeschickt hatte.

Stella war immer eine gute Reisegefährtin gewesen und hatte ihn durchaus intensiver bemuttert, als nötig gewesen wäre, doch gerade mit Emma bekam eine solche Reise das gewisse Etwas. Es war nichts Großartiges, machte aber den Unterschied zwischen bloßem Geschäft und vagem Vergnügen aus.

Müde schloss er die Augen und sank noch tiefer in das herrlich heiße Wasser.

Er würde sich in Arbeit ertränken müssen, wenn das mit seinen Gedanken so weiterging. Vielleicht hätte er sich doch noch mehr Arbeit mitnehmen sollen.

„Stella wird mir sicher noch ein paar Unterlagen schicken können“, murmelte er leise, ehe er mit dem Kopf ganz untertauchte und er seine Gedanken zur Ruhe zwang.
 

Das heiße Wasser prasselte ihr auf Nacken und Schultern, lief in dünnen Strömen durch ihre Haare und ihren Bauch hinunter. Kleine Schaumflöckchen wanderten ihren Körper hinab, von Emma ungesehen, die entspannt die Augen geschlossen hatte.

Tokio.

Sie war in Tokio.

Ihr Hirn wollte gerade wieder anfangen zu rattern. Welche Unterlagen musste sie Morgen zum Gegencheck mit Calmaro heraussuchen? Was genau sollte sie zum Frühstück anziehen? Wie war eigentlich die Wettervorhersage?

Die Gedanken wurden zu Fetzen, wankten träge, bevor sie stürzten und verlorengingen und Emma die Augen aufschlug. Sie blickte ins Leere, das irgendwo vor ihren nackten Zehen lag und ebenso fragend zurücksah. Das Brausen des Wassers blieb wie ein Echo in ihren Ohren zurück. Selbst als sie schon aus der Dusche gestiegen war und sich abgetrocknet hatte.

Beim Zähneputzen sah sie sich nicht selbst durch den Spiegel in die Augen, sondern ging in das Handtuch gehüllt in ihr Zimmer. Die Jalousien waren halb angeklappt und ließen nur in winzigen Lücken die Lichter der scheinbar nie schlafenden Stadt herein.

Emmas Finger fanden den Lichtschalter und keine Sekunde später, flutete warmes, indirektes Licht ins Zimmer. Sie fand ihren Koffer, das sorgfältig zusammen gelegte Kostüm und hängte es auf einen Bügel auf. Die Zahnbürste noch im Mund beugte sie sich wieder über den Koffer, zog ihren Schlafanzug heraus und streifte sich die Hose davon über, bevor sie zurück ins Bad ging und sich endgültig fürs Bett fertigmachte.

Das Bett wirkte wie aus Baiser gefertigt. Mit der cremefarbenen Tagesdecke, den dicken Kissen und dem Licht, das sich wie eine Puddingschicht über alles legte.

Als Emma unter die Decke glitt, brachte sie das direkt in einen kuscheligen Wolkenhimmel. Ihre Lider waren so schwer, dass sie den Schalter für das Licht erst nach dem dritten Versuch fand. Doch dann lag sie im nächtlichen Zwielicht der Großstadt in ihrem Hotelbett.

Es war fast unheimlich still.

Mit einem kleinen Seufzen kuschelte sich Emma in die Kissen, warf mit einem Auge noch einen kontrollierenden Blick auf den Wecker und schlief ein, sobald sie beruhigt das Zeichen für den gestellten Alarm entdeckt hatte.

16. Kapitel

Der Duft von frischer Wäsche umhüllte sie wie ein Kokon und sog sie fast unausweichlich in die Kissen, während Emma schon ziemlich wach durch eine Lücke in den Jalousien nach draußen blickte. Der Himmel war grau und wirkte irgendwie körnig. Vermutlich der Smog, von dem man immer so viel hörte.

Der Wecker hatte vor fünf Minuten geklingelt, aber da sie genau wusste, wie viel Zeit sie im Bad brauchen würde, musste sie noch nicht sofort aufspringen. Sie würde es in aller Ruhe schaffen aufzustehen, sich anzuziehen, sich büroschick zu machen und dann alle Akten zusammenzusuchen, die sie für das Frühstück brauchte.

„Wie sich das anhört ...“

Wer brauchte Geschäftsunterlagen schon zum Frühstück?

„Schmeckt sicher nicht.“

Mit einem kleinen Lächeln schälte sie sich aus der wuchtigen Decke und tapste ins Bad.

Eine Stunde später war Emma auf dem Weg zum Fahrstuhl, die Akten in den Armen. Erst da fiel ihr auf, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie Mr. Calmaro zum Frühstück treffen sollte.

 

Cayden war schon lange vor Sonnenaufgang wach geworden.

Nichts Ungewöhnliches für ihn, selbst nach so einem anstrengenden Flug nicht. Schließlich schlief er für gewöhnlich nur ein paar Stunden am Tag und an einem fremden Ort nur so viel, wie er gerade noch verkraften konnte.

In seinem Penthouse war das Schlafen für ihn kein Thema, aber dort hatte er auch alle nötigen Mittel in der Nähe, um sich zu schützen. In einem Hotel und noch dazu in einem fremden Land war das etwas ganz anderes.

Trotzdem war er nicht weiter besorgt, sondern dachte über das bevorstehende Frühstück mit Emma nach, während er sich anzog.

Dankbar dafür, dass er heute einmal keine Krawatte tragen musste, nahm er das seidene Oberteil zur Hand, das vom Form und dem Schnitt her irgendwie nicht ganz zu seinen Tattoos passen wollte, aber sie würden unter dem glatten feinen Stoff ohnehin nicht zu sehen sein.

Das Oberteil lag eng an, so wie es sein sollte, ging aber dann in einem losen Stoff über, der ihm fast bis zur Mitte der Oberschenkel fiel, und betonte ausnahmsweise einmal mehr seine Sportlichkeit, anstatt die breiten Schultern und ein respektvolles Auftreten, wie es in einem maßgeschneiderten Anzug der Fall war.

Es war in japanischem Stil und somit bis zum Hals hochgeschlossen.

Schwarze Seide umspielte seinen Oberkörper, während darauf eingewebte japanische Muster zu erkennen waren. Die Ärmel, der Kragen, sowie die Knopfleiste waren mit roter Seide eingesäumt und wirkten als wunderbarer Kontrast zu der schwarzen Seide und passten zudem auch gut zu seinen eigenen roten Haaren und der rotgetönten Brille.

Die Hose selbst war ebenfalls luftig und leicht, wenn auch aus feinster Baumwolle.

Die lange Form des Oberteils verlieh dem ganzen Ensemble einen tunikaähnlichen Tragekomfort, war zugleich aber auch angemessen für diverse gehobenere Anlässe. Wäre der Stoff aus schlichter Baumwolle und von unscheinbarer Farbe gewesen, hätte er sich damit wohl nicht zum Frühstück blickenlassen können. Zumindest nicht in einem Hotel wie diesem, wo man nicht als Bauerntrampel inmitten von Reichtum und Luxus erscheinen wollte.

Da er vergessen hatte, Emma Bescheid zu geben, wo sie sich zum Frühstück trafen, ließ er es einfach darauf ankommen.

Sie wohnten in der gleichen Etage und auch die Uhrzeit war bekannt, zu der sie sich ungefähr treffen wollten. Also würden sie sich früher oder später sicher über den Weg laufen. Wenn nicht, so hatte er immer noch seinen Blackberry bei sich und zudem auch noch Emmas Firmenhandynummer.

Doch Cayden musste weder warten noch sie anrufen, als er schließlich voll angezogen und mit seinen elektronischen Unterlagen aus dem Zimmer trat und in Richtung der Fahrstühle ging.

Emma stand gerade vor einem der Aufzüge und wartete darauf, dass sich die goldenen Türen öffneten, also gesellte er sich einfach zu ihr und wünschte ihr einen guten Morgen, als er neben sie trat.

Zugegeben, er hatte es nicht unbedingt darauf angelegt, sich an sie heranzuschleichen, aber absichtlich Geräusche gemacht, hatte er auch nicht.

„Haben Sie gut geschlafen?“, erkundigte er sich mit höflichem Interesse und ließ ihr schließlich den Vortritt, als die Türen sich endlich vor ihnen teilten.

Unwillkürlich drehte er leicht den Kopf in ihre Richtung, während sie hinunterfuhren, und konnte somit leichter ihren Duft wittern, der am Morgen besonders … nun, einfach besonders zu sein schien. Vielleicht, da noch keine anderen Gerüche ihren ursprünglichen Duft überdecken konnten. Natürlich nahm er auch die Seife und all die kleinen Pflegeartikel war, die jeder Mensch beziehungsweise auch Vampir benutzte, doch das gab dem ganzen Geruchsbild lediglich eine frische Note.

 

„Oh Gott.“

Emma fuhr so stark zusammen, dass die Papiere in ihren Armen lautstark knitterten.

Himmel hatte er sie erschreckt!

So stocksteif, wie sie nun dastand, konnte sie erst gar nichts erwidern, auf die Gefahr hin, dass sie ihn deswegen anmotzen würde. Manchmal war es wirklich ganz vorteilhaft, sich selbst gut zu kennen.

Daher fasste sie sich erst einmal wieder, bevor sie Calmaro in den spiegelnden Türen kurz musterte und dann einen flüchtigen Blick zu ihm hochwarf.

„Guten Morgen. Ja, vielen Dank. Ich habe sehr, sehr gut geschlafen. Sogar für Hotelverhältnisse. Ich hoffe, dass das nicht nur an der langen Anreise lag.“

Ihre Augen blieben an einem Knopf an seinem Kragen hängen, der irgendwie halb aus der kleinen Schlafe herausgesprungen war und nun eindeutig danach schrie, wieder in Ordnung gebracht zu werden.

Emmas Finger fingen an zu kribbeln.

„Hatten Sie denn auch eine angenehme Nacht?“

Wenn sie noch länger hinstarrte, konnte sie den Knopf trotzdem nicht mit Telekinese schließen. Hatte Stella nicht gesagt, sie solle auf ihn aufpassen? War das ein bisschen zu viel des Guten? Aber sie sollte doch ...

„Sie ...“

So unaufdringlich, wie das eben möglich war, zeigte Emma mit dem Zeigefinger ein wenig unterhalb seines Kinns und erntete einen fragenden Blick.

„Einer der Knöpfe am Kragen ist nicht ganz zu.“

Okay. Das war eine sachlich vorgetragene Information gewesen. Und vermutlich für eine Assistentin auch nicht zu weit aus dem Fenster gelehnt. Immerhin war er der multimillionenschwere Geschäftsmann, auf den jeder achten würde. Und wenn er sich schon in dieses … Outfit schmiss, dann konnte Emma auch darauf achten, dass es korrekt aussah.

Mit einem winzigen Aufatmen wandte sie ihren Blick wieder in Richtung Tür und wartete geduldig, bis diese sich öffnete und eine hübsche Japanerin mit einem Holzklemmbrett sie begrüßte.

„Guten Morgen, Mr. Calmaro. Miss Barnes. Wie geht es Ihnen heute Morgen? Bitte, wenn Sie mir an Ihren Tisch folgen möchten?“

Emma wünschte breit und ehrlich lächelnd ebenfalls einen guten Morgen und ging hinter der Frau her zu einem kleinen Tisch, der direkt am Fenster lag, für zwei Personen fein gedeckt war und sehr viel Platz zu den umliegenden Tischen bot.

„Vielen Dank.“

„Oh, sehr gerne, Miss Barnes. Wissen Sie schon, möchten Sie Kaffee oder Tee?“

„Bitte einen weißen Tee und einen Mangosaft.“

Die hübsche Kellnerin nickte und notierte sich etwas auf ihrem Brett, bevor sie sich an Calmaro wandte. Und dabei hätte Emma gedacht, dass er als Mann als Erster bedient werden würde. Hatte sie sich vorgedrängelt?

 

Etwas verblüfft über Emmas Anmerkung, aber kein bisschen davon gestört, fuhr er sich mit der Hand über die Knopfreihe und schloss den locker sitzenden Knoten ganz, ehe er seiner Assistentin ein dankbares Lächeln schenkte und wieder gerade ausblickte.

„Sie war angenehm, danke der Nachfrage.“

Was sonst hätte er zu seiner minimalen Anzahl an Schlafstunden auch sagen sollen? Stella hatte ihn einmal dabei erwischt, wie er statt sich auszuruhen gearbeitet hatte und obwohl sie es nie direkt angesprochen hatte, besaß sie Mittel und Wege, es einem auf eine Art unter die Nase zu reiben, die kaum Fragen offen ließ. Emma wäre da nicht so zurückhaltend. Nein, gewiss nicht, weshalb er beinahe versucht wäre, es auch bei ihr herauszufordern, allein deswegen, um ihre Reaktion zu beobachten.

Aber wieder einmal ermahnte er sich dazu, dass er es besser sein ließ.

Sie war nur ein Mensch …

Auch er wünschte der Japanerin einen guten Morgen und sah sich unauffällig im Raum um, während diese Emma und ihn an ihren reservierten Tisch führte.

Es waren kaum Leute anwesend. Nicht verwunderlich, so ganz unter der Woche, aber auf jeden Fall angenehm.

„Einen Chai-Latte und ein Wasser, bitte.“

Auch seine Bestellung wurde feinsäuberlichst auf dem Klemmbrett notiert, ehe die fleißige Kellnerin auch schon verschwunden war, um ihnen ihre Wünsche zu erfüllen.

„Besser so? Können Sie sich jetzt mit mir in aller Öffentlichkeit sehenlassen?“

Cayden versuchte ernst drein zu schauen, während er sein Kinn leicht anhob, damit Emma die perfekt geschlossene Knopfreihe sehen konnte, an der es inzwischen nichts mehr auszusetzen gab, aber dennoch umspielte ein Schmunzeln seine Lippen.

 

Emma blinzelte etwas irritiert und hätte sich im nächsten Moment am liebsten mit einem der Stäbchen, die auf ihrer Gedeckmatte lagen, das Herz durchbohrt. Aber da war es sowieso schon zu spät. Das „Ach ja, fürs Erste wird es gehen“ war schon heraus und selbst auf ihr Flehen zu allen zuständigen Göttern tat sich kein Loch unter ihr auf, das sie bei einem Fall aus dem zehnten Stock vielleicht nicht im Erdboden versinken, aber sich vielleicht im besten Falle einfach das Genick brechen ließ.

Ihr wich kurz sämtliche Farbe aus dem Gesicht, bevor sie das Gefühl hatte, brennende Hitze würde sich unter die Haut ihrer Wangen legen.

„Ich meine ... natürlich. Sie sehen toll aus. Ich ...“

Scheiße!

 

Es juckte ihn in den Fingerspitzen und zugleich wollten seine Mundwinkel zucken. Doch er konnte die bemühte Ernsthaftigkeit gerade noch so aufrechterhalten, während er sich ein Stück zurücklehnte, noch einmal sanft am Saum seines Oberteils zog, so dass es sich kurzzeitig noch mehr über seinem Brustkorb spannte und so tat, als würde er den Sitz prüfen.

„Natürlich. Was denn sonst“, meinte er mit narzisstischem Hochmut, ehe er beide Ellenbogen auf dem Tisch abstützte, sein Kinn auf seine Hände legte und Emma tief in die Augen sah.

Die Art wie ihr Gesicht von einer Sekunde auf die andere die Farbe wechseln konnte, war faszinierend, und dass es am Ende deutlicher durchblutet wurde, trug für jemanden wie ihn noch zu weit größerer Faszination bei.

„Geben Sie mir einfach Bescheid, wenn es Ihrer Meinung nach nicht mehr geht. Dann werde ich mir umgehend einen Sack über den Kopf stülpen und Sie können getrost angeben, dass Sie diesen Irren nicht kennen. Aber bis dahin, vielen Dank, dass Sie mein Äußeres toll finden und nebenbei bemerkt, mit Ihnen würde ich mich jederzeit sehen lassen.“

Sein Blick schweifte demonstrativ einen Moment über ihr heutiges Outfit, ehe seine Augen wieder die ihren fanden.

„Aber Ihren Duft finde ich noch besser. Was gibt’s zum Frühstück?“

Cayden ließ Emma auf seinen letzten Kommentar sitzen, als er nach der kleinen kunstvoll gedruckten Menükarte auf seiner Seite griff und sie völlig unbeschwert öffnete.

 

Wow.

Auf so einen Patzer auch noch mehr als ein Kompliment zu ernten war wirklich ... unerwartet.

Emma sah ihren Chef eine Weile einfach nur an und wusste nicht so genau, ob sie zu der Sache jetzt noch etwas sagen musste oder nicht. Sie hätte sich bedanken können. Aber dazu war der Kommentar mit ihrem Duft irgendwie zu schräg gewesen. Schon allein, dass er sich darüber Gedanken machte ...

Emma bemerkte gar nicht, wie ihr Blick dank ihrer eigenen Überlegungen an ihrem Gegenüber entlang wanderte. Die manikürten Fingernägel waren ihr schon von Anfang an aufgefallen und sie wusste immer noch nicht, ob sie das gut oder seltsam finden sollte.

Die starken Arme gefielen ihr, genauso wie die breiten Schultern, das markante Kinn und die blasse Haut, die sie jetzt zum ersten Mal wirklich eingehend musterte.

Die vielen, kleinen Sommersprossen hatte sie bis jetzt zwar durchaus bemerkt, aber nie wirklich … wahrgenommen. Sie reichten sogar bis auf seine Lippen und seine Augenlider.

Interessant. Gerade jetzt, wo ihm seine Strähne des auffällig roten Haares in die Stirn fiel, verfluchte Emma diese doofe Brille mit den Gläsern, die den Blick auf seine strahlendgrünen Augen verwehrten.

Das konnte doch keine Absicht sein! Dieser schmale, dunklere Kreis am äußeren Rand seiner Iris wäre unverfälscht bestimmt noch anziehender ...

Kurz war Emma davor, auf ihrem Stuhl zurückzuzucken, als sich die Pupillen direkt auf ihre eigenen richteten und ein Funkeln darin erschien, das Emma schnell nach ihrer Karte greifen ließ.

Das Papier war zu klein, um sich dahinter zu verstecken, aber die Auswahl an Frühstücksvarianten lenkte zumindest von dem ab, wohin ihre Fantasie gerade hatte wandern wollen.

Irgendwas schien hier im Trinkwasser zu sein, was ihr Hirn zermatschte.

 

Es sollte ihm keinen Spaß machen, Emma aus dem Konzept zu bringen. Es sollte ihn noch nicht einmal interessieren, dass sie ihn daraufhin viel zu lange ansah, als es normal gewesen wäre und ihm gerade das gefiel. Oder, dass es manchmal so leicht war, jemanden dazu zu bringen, wegzusehen, vor allem wenn sich dieser jemand bewusst war, gestarrt zu haben.

Aber Tatsache war, dass es ihn sehr wohl interessierte und er irgendwie auch nicht gewillt war, etwas dagegen zu unternehmen.

Emma hatte eben einfach diese erfrischende Art, dieses gewisse Etwas, dem man sich nicht entziehen konnte, wenn man nicht völlig hirntot war und das war bei ihm sicherlich nicht der Fall. Selbst wenn man den gängigen Gerüchten über Vampire und deren untote Existenz glauben schenkte.

Cayden nutzte Emmas emsiges Studieren der Menükarte aus, um nun im Gegenzug sie zu studieren. Da sie sich mit solchem Elan auf die Speiseliste stürzte und vermutlich gar nicht auf den Gedanken kam, dass er das ausnützen könnte, starrte er offen ihren Hals an.

Die Rundung ihrer Brüste, sofern sie ihm daraufhin nicht die Sicht versperrte. Die Art, wie sie ihr Haar trug. Wie die Farbe ihrer Augen heute eine Spur dunkler war.

Sie war eine Augenweide, an der man immer wieder etwas Neues entdecken konnte. Hier ein kleines Muttermal, dort ein anderer Lichtreflex in ihrem Haar.

Unterbrochen wurde er erst in seinen Beobachtungen, als ihre Getränke geliefert wurden und Emma mit der Auswahl ihres Frühstücks zufrieden zu sein schien.

Cayden überließ ihr den Vortritt mit der Bestellung und schenkte der Kellnerin ein charmantes Lächeln, als er zu seiner eigenen ansetzte. Er wählte ein normales Frühstück, kürzte aber die Hälfte der Speise davon weg und pickte sich somit nur die Sachen heraus, die er essen wollte und konnte.

Das war eine kleine Schale mit Miso-Suppe, Mochi, gefüllte Shiitake-Pilze und noch etwas Tsukemono dazu. Alles gerade so viel, dass er sich nicht überfraß und vermutlich schon fast zu wenig, um als ordentlich traditionelles Frühstück durchzugehen. Aber auch das war ein Grund, warum ihm Emma lieber als Stella war. Sie würde ihm wohl kaum auf die Finger schauen, wie viel er zu sich nahm. Bisher war ihm Emma nicht wie eine Glucke erschienen.

Als die Kellnerin mit seiner Liste abgerauscht war, nippte er einmal an seinem Chai-Latte und sah dann Emma direkt in die Augen.

„Wie macht sich Ihr BBQ-Grill?“

 

Emma bestellte sich Tamagoyaki und Onigiri, da sich das beides so anhörte, als könnte ihr Gaumen es so früh am Morgen schon vertragen. Sie hatte nämlich durchaus vor, später noch durch die Stadt zu gehen und ein paar Spezialitäten zu probieren, lustige Snacks in bunter Verpackung zu kaufen, gerade weil sie nicht lesen konnte, was sich darin verbarg – aber jetzt hatte sie Hunger und wollte ihn gern stillen.

Was Calmaro bestellte, hörte sich nach viel an. Oder zumindest waren es unterschiedliche Dinge gewesen. Das hatte sie aus der japanischen Unterhaltung zwischen ihm und der Kellnerin herausfiltern können. Gerade wollte sie zur Sicherheit nachfragen, ob die Besprechung auch in japanischer Sprache ablaufen würde, als er sie seinerseits ansprach.

„Der BBQ-Grill kam heil bei uns an und wurde auch schon zweimal benutzt, nachdem mein Mitbewohner ihn tapfer in strömendem Regen im Garten aufgebaut hat. Vielen Dank nochmal, dass sie mir das Los überlassen haben. Und mein Mitbewohner dankt auch, sollte ich Ihnen schon längst ausrichten. Er meinte, Sie sollten mal auf ein Steak vorbeikommen.“

Da Rob das wirklich so gesagt hatte, fiel es Emma auch nicht schwer, diese Einladung auszusprechen. Ihr Anteil daran war vorhanden, aber so winzig klein, dass ihr das auch nicht peinlich war. Zumal sie zu wissen glaubte, dass ihr Chef sowieso nie in ihrem Haus, geschweige denn zu einer Grillparty auftauchen würde.

 

„Bewundernswert die Entschlossenheit ihres Mitbewohners. Einen Grill dieses Kalibers aufzustellen ist bereits nicht ganz leicht. Aber es auch noch bei strömendem Regen zu tun, hat definitiv etwas von einem Kampfgeist. Wenn er auch so grillt, wie er den Aufbau angegangen ist, dürfte es eine interessante Grillparty werden.“

Cayden lächelte, weil er sich das irgendwie ganz gut vorstellen konnte. Ein Mann am Feuer mit dem tropfenden Fleisch über den Kohlen. Der Duft von Gebratenem und Gewürzen. Frauen, die ihn umschwärmen, den Tisch decken und die Beilagen zu dem Fleisch vorbereiten. Niemand durfte das Revier des Mannes betreten, solange er Herr am Grill war.

Sein Lächeln wurde breiter.

Oh ja, er konnte es sich nur allzu gut vorstellen.

„Eine Schande, sich das entgehen zu lassen, aber gerade Sie wissen ja, dass ich vermutlich noch nicht einmal dazu kommen würde, selbst das Fleisch für so eine Einladung zu kaufen, geschweige denn es persönlich hinzutragen. Aber richten Sie Ihrem Mitbewohner meinen Dank aus. Ich weiß das Angebot zu schätzen.“

Selbst wenn es nur eine höfliche Geste auf das Geschenk hin gewesen war.

„Und haben Sie schon einen Plan, was Sie mit Ihrer freien Zeit hier anstellen möchten?“, wechselte Cayden schließlich das Thema.

Immerhin war es momentan noch nicht wichtig, die Unterlagen des Meetings noch einmal durchzugehen. Erst wollte er in Ruhe essen und danach hatten sie immer noch genug Zeit, um sich mit der Arbeit zu beschäftigen.

Zugegeben, Reisen, die er ins Ausland machen musste und zu denen er sich extra nur dafür Zeit nahm, genoss er selbst sehr. Es bedeutete etwas weniger Stress als sonst, auch wenn er diesen durchaus schätzte. Aber es musste eben nicht immer so sein.

 

„Wenn er auch so grillt, wie er den Aufbau angegangen ist, dürfte es eine interessante Grillparty werden.“

Sein anschließendes Lächeln kitzelte Emmas Nase wie sommerliche Sonnenstrahlen. Sie lächelte zurück und spürte etwas Prickelndes in ihren Zehenspitzen, während sie sich vorzustellen versuchte, wie so eine Party genau aussehen könnte.

Calmaro hatte doch das Curry ganz gern gemocht. Vielleicht konnte man zum Fleisch verschiedene Sauce und Dips in diese Richtung machen und einen Salat mit Mango. Das war sicher lecker. Auch wenn Emma selbst vor allem auf gegrillte Maiskolben stand, wenn es ums Grillen ging. Allerdings hatte auch so ein Steak hin und wieder etwas für sich.

Ihre Mom hatte mal ein ganz tolles Rezept für einen Dip mit Ananas und Frischkäse ...

„Eine Schande, sich das entgehen zu lassen ...“

Emma hätte am liebsten die Hände auf den Tisch geknallt und ihm gesagt, was sie von dieser dummen Ausrede hielt. Das machte er doch ständig so! Man konnte sich doch wirklich einmal einen einzigen Abend frei nehmen, um auf eine Grillparty bei ...

Mit ein wenig vorgeschobener Unterlippe lehnte Emma sich in ihren Stuhl zurück und schlang sich einen Arm um den Bauch. Eine Geste, die ihr sonst nur in den Weg kam, wenn sie sich unsicher oder zu dick fühlte für die Klamotten, die sie gerade trug. Dass beides im Moment nicht der Fall war, wunderte sie allerdings nicht.

Sie hatte viel zu viel damit zu tun, über ihre eigenen Hirngespinste innerlich den Kopf zu schütteln. Mr. Calmaro auf einer Grillparty – mit ihr und ihren Freunden? Klar.

„Und haben Sie schon einen Plan, was Sie mit Ihrer freien Zeit hier anstellen möchten?“

Vermutlich war ihm aufgefallen, dass sie zu dieser windigen Ausflucht gar nichts gesagt hatte. Und das war jetzt das beste Ausweichmanöver, das er hinbekam? Nicht sehr kreativ. Aber wirkungsvoll, denn es brachte Emma dazu, etwas nicht nur vor sich selbst, sondern auch Mr. Calmaro zuzugeben.

„Ich habe mir darüber noch überhaupt keine Gedanken gemacht. Tokio ist für mich der Inbegriff von Hektik, innovativem Elektrospielzeug und kleinen Tempeloasen. Das würde ich gerne alles sehen. Aber wie genau ich das anstelle, wird sich vermutlich erst ergeben, wenn ich unterwegs bin.

Was haben Sie denn vor? Kennen Sie hier jemanden? Statten Sie ein paar Besuche ab?“

 

„Nein, Besuche werden es wohl keine werden, auch wenn ich natürlich auch hier Leute kenne. Aber Ihre Beschreibung von dieser Stadt ist wirklich sehr treffend. Das muss ich Ihnen lassen. Denn im Grunde drückt sie alles aus, was derzeit mein Interesse weckt. Eigentlich sollte ich hier wohnen. Wenn es nach der japanischen Arbeitsmoral ginge, wäre sie wie für mich gemacht.“

Cayden nahm lächelnd einen Schluck von seinem Chai-Latte und redete weiter, während er Emma immer wieder dabei in die Augen sah.

„Aber um zu Ihrer Frage zurückzukehren. Hektik habe ich genug zuhause und beim Elektronikspielzeug für Erwachsene bin ich meistens auf dem neuesten Stand, also werde ich mir vermutlich die Tempeloasen vornehmen, oder – was wahrscheinlicher ist – ich werde das eine oder andere Wellness- und Fitnessangebot des Hotels in Anspruch nehmen. Immerhin weiß ich schon nicht mehr, wann ich das letzte Mal ein paar Bahnen geschwommen bin.“

Und das war die Wahrheit.

Wenn er es recht bedachte, sollte er sich wirklich mehr Zeit zum Schwimmen nehmen. Schließlich war er früher beziehungsweise in dem ersten Jahrhundert seines Lebens sehr oft geschwommen und dass nicht einfach in einem chlorgereinigten Betonbecken, sondern in Gewässern, wo man sich Auge in Auge mit Piranhas tummelte. Natürlich hatten sie damals noch nicht diesen Namen gehabt.

Und Schwimmen war etwas, das wirklich nicht zu viel Zeit fraß. Er sollte es also durchaus einmal in Erwägung ziehen, es öfters zu tun.

„Sehr weit außerhalb des Hotels werde ich vermutlich nicht kommen. Aber ich hoffe, dass Sie einiges zu sehen bekommen. Haben Sie denn auch genug Speicherplatz auf Ihrem Fotoapparat?“

Caydens Lächeln wurde breiter, als er sich vorzustellen versuchte, wie Emmas Freunde sie auf der Couch umringten, um ihre Schnappschüsse aus Tokio sehen zu können. Schließlich war so eine Reise etwas Besonderes. Zumindest für Emma vermutete er. Denn für ihn selbst war es zwar wie ein kleines Abenteuer aber doch immer sehr stark von der Arbeit angehaucht. Das dämpfte das Feeling schon deutlich.

Gerade wollte er fragen, ob Emma denn auch schon andere Länder bereist hatte, als die Kellnerin mit ihren Bestellungen kam und er von dem Anblick abgelenkt wurde, wie vor ihm kleine ausgewählte Speisen erschienen. Es war wirklich nicht viel, aber so unterschiedlich, dass sein Geschmackssinn auf jeden Fall jubilieren würde. Außerdem freute er sich darauf, wieder einmal mit Stäbchen essen zu können.

Besteck war zwar eine gute Erfindung, um gesittet essen zu können, aber es machte irgendwie nicht so viel Spaß wie mit Stäbchen, einem kleinen Dolch oder mit den Fingern zu essen.

 

Emma konnte sich wirklich nicht einmal im Ansatz vorstellen, wie oft man auf Reisen gewesen sein musste, damit man die ganze Zeit einfach nur im Hotel verbrachte. Schon gar nicht, wenn die Stadt vor den Fenstern – nur durch Glas von einem getrennt – danach schrie, dass man sie besuchte. Emma selbst spürte schon, als ihr Frühstück kam und sie sich sehr langsam darüber hermachte, den Drang etwas zu unternehmen.

Als Erstes musste sie sich einen Stadtplan an der Rezeption besorgen, denn so, wie sie sich Tokio vorstellte, war sie ohne so einen Plan verloren. Vermutlich würde sie nicht zurück zum Hotel finden, selbst wenn sie sich nur einen oder zwei Blocks davon entfernte.

Mit einem Blick aus dem Fenster suchte sie nach einem Ziel. Irgendetwas, das bereits aus dieser Entfernung ihr Interesse wecken konnte. Doch sie fand nichts. Zumindest nicht auf Anhieb, denn keines der Gebäude stach in einer Weise hervor, die es attraktiver gemacht hätte, als seine umgebenden.

Vielleicht sollte sie einfach mit einem Shoppingcenter anfangen. So, wie sie das aus Filmen kannte, würde es dort genug Neues zu sehen geben, so dass sie einen ganzen Tag lang beschäftigt war. Und dann wollte sie gern Sushi essen. Und das am besten in irgendeinem Park mit einem kleinen Tempel mit einem dieser hübschen, mystischen Holztore davor.

„Ich denke schon, dass ich ausreichend Speicherplatz für ein paar Bilder habe. Und wenn nicht, sitze ich ja momentan an der Quelle, was günstigen Nachschub angeht.“

Sie lächelte, zupfte dann ein kleines Stück von ihrem Eieromelett ab und schob es sich vorsichtig mit den Holzstäbchen in den Mund. Es schmeckte wirklich außergewöhnlich. Und sehr lecker.

„Wenn Sie schon so oft hier waren, haben Sie denn einen Tipp für mich? Gibt es irgendetwas, von dem Sie finden, ich sollte es mir angesehen haben, wenn ich schon einmal hier bin?“

Wenn er doch natürlich auch hier Leute kannte, hieß das wohl, dass er schon öfter hier gewesen war. Also kannte er sich auch aus.

 

Cayden nahm zuerst die Miso-Suppe in Angriff. Dazu nahm er zuerst die Stäbchen in die Hand, um mit den großen Einlagen der Suppe fertigzuwerden. Doch da er es inzwischen gewohnt war, dass man im Westen nicht schlürfte, aß er langsam und manierlich, obwohl es in Japan umso besser schmecken musste, je lauter die Geräusche beim Essen offenbar waren.

„Das stimmt“, gab Cayden fast schon grinsend zu. Emma saß hier wirklich an der Quelle, was diese Art von Technik anging.

Als sie ihn allerdings fragte, was sie sich hier so ansehen könnte, erlosch das Lächeln auf seinen Lippen und sein Gesichtsausdruck wurde nachdenklich.

Er war schon so lange nicht mehr in der Stadt selbst gewesen, dass er wirklich erst einmal in seinem Kopf nachforschen musste, was es da überhaupt zu sehen gäbe und dann sollte es auch noch Emma gefallen.

Schließlich legte Cayden die Stäbchen weg und nahm den Porzellanlöffel zur Hand, benutzte ihn jedoch noch nicht.

„Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, was Ihr Interesse wecken könnte, aber da gebe es zum Beispiel das Nationaltheater in Hayabusacho, in dem überwiegend traditionell japanische Theaterformen aufgeführt werden. Auch das Nationalmuseum im Bezirk Taito ist empfehlenswert. Es ist das größte und älteste Museum Japans und umfasst rund 110.000 Exponate der japanischen Kunst und Archäologie. Wenn Sie einkaufen wollen, kann ich das Mitsukoshi empfehlen, da es speziell für Touristen angelegt ist und trotzdem ein edles Ambiente bietet. Dort ließe sich bestimmt ein schönes Souvenir finden. Natürlich können Sie sich in den anderen Geschäften umsehen. Davon gibt es mehr als genug.“

Cayden stahl sich die Zeit, um noch mehr Sehenswürdigkeiten in seinem Gedächtnis zusammenzukratzen, in dem er nun doch einen Löffel von der Suppe nahm und sie genüsslich über seine Zunge rollen ließ. Es schmeckte einfach fantastisch und befriedigte so gut wie jede seiner Geschmacksknospen. Beinahe hätte er sogar die Augen geschlossen und sich ganz dem Genuss hingegeben. Doch ihm fiel noch rechtzeitig ein, dass er nicht alleine war und noch ein bisschen mehr an Auskünfte zu geben hatte.

„Falls Sie von Wissen und Shopping genug haben sollten, biete sich da auch der Tama-Zoo an, der größte Zoo von Tokio. Er besitzt drei ökologische Areale. Den asiatischen Garten, den afrikanischen Garten und den australischen Garten und umfasst somit rund 52,3 Hektar Land. Der Ueno-Zoo ist nicht ganz so groß, aber dafür der älteste Zoo Japans. Parks und Tempelanlagen gibt es genug, da werden Sie sicher auch von selbst welche finden.“

Mehr war nicht aus ihm herauszuholen, denn die anderen Sachen dürften sie wohl kaum interessieren und schließlich sollte ihr auch noch erlaubt sein, selbst ein paar Dinge zu entdecken. Auch das machte die Spannung während einer Reise aus, zumindest wenn sie nicht gänzlich geschäftlich war.

Cayden zumindest wusste, dass er sich bis zum Meeting mit den Vorbereitungen beschäftigen würde, danach sah die Welt vielleicht eine Spur anders aus. Aber darüber würde er sich erst Gedanken machen, wenn es so weit war.

 
 

***

 

Emma stand vor der riesigen, glitzernden Hello Kitty, die einen pinken Kimono trug und bedauerte nicht zum ersten Mal an diesem Tag, dass sie niemanden hatte, den sie mit einem leicht gequietschten „Schau mal, wie toll!“ darauf aufmerksam machen konnte.

Inzwischen hatte sie sich schon durch einige Abteilungen des Mitsukoshi Ginka gearbeitet, hatte sich teure Küchenartikel, DVDs und Kosmetika angesehen. Und jetzt stand sie in dem Stockwerk, das sie am meisten interessierte: Spielwaren.

Es gab sogar kleine Modelleisenbahnen im Hello Kitty-Look und kleine Plastikeier, in denen Puppen saßen, die man mit Accessoires, Perücken und allem möglichen und unmöglichen Schnickschnack zur eigenen, perfekten Lieblingspuppe machen konnte. Verrückt.

Aber auch ungemein spannend. Emma musste wirklich ihre Handtasche festhalten, um nicht bei jedem süßen, bunten Plastikspielzeug schwach zu werden. Schon allein die kleinen Ponys mit Feenflügeln, die es in Sammeleditionen wahlweise auch mit Einhorn gab, hatten ihr Einiges abverlangt, um nicht mit dem Sammeln anzufangen. Aber Souvenirs durfte man ja kaufen. Kleinigkeiten.

Wie zum Beispiel ein Salatbesteck für Kathy, auf dem bunte Vögel auf gelbem Grund lackiert waren. Sowas von kitschig, dass es schon fast beim Ansehen wehtat, aber es würde wunderbar zu ihrer hellblauen, unauffälligen Salatschüssel passen!

Grinsend ging Emma weiter, drückte auf Try-me-Knöpfe, die auch hier an den Spielzeugen genauso aussahen wie zu Hause. Bloß bewirkten sie hier irgendwie sehr viel coolere Sachen. Es war ein ... quietschbuntes Wunderland der Überflüssigkeiten! Emma liebte es!

Selbst ihr knurrender Magen konnte erst mit einer sehr heftigen Aktion dafür sorgen, dass sie die Abteilung verließ – wohlgemerkt mit einer hübschen und sehr vollen Papiertasche – und sich zur Fressmeile aufmachte, die irgendwo oben in der Nähe der Terrasse sein musste.

 

Etwa eine Dreiviertelstunde später hatte sie auch den kleinen Grünflecken gefunden, den sie sich zu ihrem Sushi-Päckchen gewünscht hatte.

Auf einer Bank machte Emma es sich gemütlich, klappte die Plastikbox auf, schüttete Sojasauce über alles und kaute keine Minute später selig auf ihrem ersten Sushiröllchen herum und seufzte.

Wenn die Hektik einen nichts anging, war sogar sie ziemlich faszinierend. Zumindest gab es viele interessante Menschen, die man sich hier unauffällig ansehen konnte. Denn Emma hatte irgendwo einmal gelesen, dass es in Japan unhöflich war, anderen Menschen direkt ins Gesicht zu sehen. Deshalb versuchte sie so unauffällig wie möglich die Vorbeigehenden zu betrachten, in Ruhe ihr Sushi zu essen ... und dachte darüber nach, ob ihr Boss wohl tatsächlich den ganzen Tag im Hotel verbrachte.

Gab es für das Meeting noch so viel vorzubereiten? Wenn er so viel Zeit dafür benötigte, hatte sie selbst doch hoffentlich nichts vergessen? Aber einen ganzen Tag damit zu verbringen? Nein, da hätte sie schon ihren Part noch einmal ganz von vorn aufrollen müssen.

Emma zuckte die Schultern.

Deswegen war sie auch nur Assistentin und es war seine Firma.

 

Caydens Tag verlief eigentlich wie immer, nur dass er dieses Mal in einem Luxushotelzimmer stattfand und somit die Ruhe in seinen Räumen fast schreiend wurde.

Wobei ihm das seltsamerweise erst heute so richtig auffiel, weil er nicht unterschwellig Emmas oder Stellas Stimmen vor seinen Türen hören konnte oder die anderen begleitenden Bürogeräusche, die er sonst so gewohnt war.

Vermutlich passierte es deshalb, dass er immer wieder von seinen kleinen Karteikärtchen hoch und sich umsah, so als würde ihm etwas fehlen und er könne es alleine mit seinem Blick wiederfinden. Dass ihm etwas fehlte, war klar, aber dass er es mit einem Blick finden würde, war sehr unwahrscheinlich. Zumal Emma ja in Tokio auf Tour war und vermutlich nicht vor dem Abend wieder kommen würde.

Sich selbst ermahnend, dass er sich wieder auf seine Arbeit konzentrieren sollte, schüttelte er schließlich den Kopf, um Emma daraus zu vertreiben und vertiefte sich erneut in Zahlen, Statistiken, Argumenten und Gegenargumenten.

Er kannte Yamato zwar schon seit Jahren, aber das hieß nicht, dass der Kerl nicht auch jetzt noch eine harte Nuss in Sachen Verhandlungen war.

Zu Mittag legte Cayden schließlich seine übliche Pause ein, verlängerte die Stunde jedoch auf zwei Stunden und bereitete sich dann weiter vor.

Er kannte sich selbst gut genug, dass er erst Frieden geben würde, wenn er die ganzen Zahlen, Prozente, Angaben und Klauseln auswendig kannte. Deshalb saß er schonungslos bis zum Abend an dem langen Tisch, zwischen herumliegenden Zetteln, Notizen und Kopien, bis ihm alles schon vor den müden Augen verschwamm und er endlich zufrieden zusammenräumen konnte.

Das Meeting machte ihn zwar schon jetzt nervös, aber das war eben so und würde auch immer so sein. Cayden zeigte es vielleicht nicht, aber selbst er war vor Nervosität nicht gefeit.

Da es schon zu spät für ein Abendessen mit Emma war und er ohnehin keinen Hunger hatte, beziehungsweise keinen, der sich auf Essen bezogen hätte, ließ er sich schließlich vor dem Zubettgehen noch eine halbe Stunde lang gründlich massieren, um die Anspannung aus seinen Muskeln zu bekommen und legte sich dann frühzeitig schlafen.

Morgen war ein wichtiger Tag, da sollte er ausgeruht sein.

17. Kapitel

Das Meeting fand in einem Konferenzraum des Hotels statt, weshalb Cayden mit Emma zusammen alles in Ruhe vorbereiten konnte, bevor die hohen Gäste eintrafen und es richtig heikel wurde.

Es war nicht so, dass Yamato grundsätzlich gegen alles war, was man ihm vorschlug – das absolut nicht – aber man musste es ihm auf genau die richtige Art und Weise schmackhaft machen und es vor allem so erscheinen lassen, dass auf jeden Fall Yamato der größte Gewinner von allen bei diesen Verträgen war. Man durfte weder buckeln, schleimen noch zu viel Rückgrat zeigen. Ein bestimmtes Gleichgewicht an Macht und Demut war schwer zu finden, aber genau darauf legte der Japaner wert.

Cayden bemerkte nicht, wie er unruhig mit einem Stift in der Hand auf einem leeren Notizblock trommelte, während seine Augen starr auf den kleinen Laptopbildschirm gerichtet waren, der an den Projektor angeschlossen war. Er ging noch einmal alle Präsentationsfolien durch, obwohl er das gestern schon hundert Mal gemacht hatte, aber das musste er einfach tun, um sich selbst ein besseres Gefühl für dieses Meeting zu geben.

Würde er wie ein gewöhnlicher Mensch schwitzen, säßen ihm bereits Schweißperlen auf der Stirn und bestimmt wären auch seine Handflächen verräterisch feucht. Zumindest das, war ein wunderbarer Vorteil seiner Art. Bei einem Händedruck würde nichts verraten, dass er nervös war.

 

Während sie alle Kugelschreiber parallel neben die Notizblöcke ausrichtete, die Tassen alle gleich drehte und dafür sorgte, dass kein Schmutzkörnchen auf einem der Stühle oder dem Tisch zu finden war, blickte Emma immer wieder kurz zum Kopfende des Tisches und damit zu ihrem Chef hinüber.

Er war so vollkommen in den Anblick seines Laptops versunken, dass Emma hätte wetten können, selbst ein Schrei ihrerseits hätte ihn nicht davon losreißen können.

Warum kam sie bloß immer auf solche Ideen? Was hätte sie denn davon, ihn jetzt auf sich aufmerksam zu machen?

Vielleicht lag es einfach daran, dass sie Calmaro noch nie so angespannt gesehen hatte. Sein dickes Brillengestell war ein Stück seinen geraden Nasenrücken hinuntergerutscht, was ihn noch strenger aussehen ließ als normalerweise. Dazu trugen außerdem der diesmal korrekt geschlossene und hochstehende Kragen seines Oberteils und der starke Kontrast zwischen dem Schwarz seiner Kleidung und seinen roten Haaren bei.

Emma beobachtete ihn noch eine Weile, bis auf dem Tisch alles zu ihrer Zufriedenheit aussah, sie alles noch dreimal im Geiste durchgegangen war und nur noch den Servierwagen mit dem Kaffee kontrollieren musste. Doch selbst das war keine große Aufgabe. In einer halben Stunde würde sie die heiße Milch in kleine Kännchen füllen, sie zu den Kaffeekannen auf den Tisch stellen und das war es dann. Jeder konnte sich selbst bedienen. Immerhin war Emma Calmaros Assistentin, keine Bedienung.

Sie schob sich den geflochtenen Zopf, der ihr recht strenges Outfit mit dem hellgrauen Kostüm, der moosgrünen Bluse und den passenden Ohrringen vervollständigte, über ihre Schulter auf ihren Rücken und ging dann zum Kopf des Tisches hinüber, wo sie etwa zwei Schritte von ihrem Chef entfernt stehenblieb.

„Geben Sie mir nachher einfach ein kurzes Kopfnicken, sobald ich die Jalousien etwas zudrehen soll. Dann brauchen sie nicht aus dem Japanisch zu fallen.“

Sie lächelte.

Hoffentlich merkte er nicht, dass ihre Finger vollkommene Eiszapfen und ihr ganzer Körper von einer nervösen Gänsehaut überzogen waren. Emma war wirklich flau im Magen. Auch wenn sie eigentlich gar nicht viel falsch machen konnte.

 

Cayden nahm den Blick nicht vom Bildschirm oder änderte sonst irgendwie seine starre Haltung, als Emma näher an ihn herantrat.

„Ja, vielen Dank“, war seine tonlose Antwort, da er immer noch tief in seiner Arbeit versunken war. Aber ein Teil von ihm entspannte sich ein winziges Bisschen, da er instinktiv wusste, dass er da jemanden an seiner Seite hatte, auf den er sich verlassen konnte. So war es ihm auch bei Stella immer gegangen, auch wenn es dort nur auf der Tatsache beruht hatte, dass sie ein Teil des gewohnten Umfelds in einer fremden Stadt war. Emma gab ihm da noch eine Spur extra. Eben ganz dem entsprechend, was er an ihr als das gewisse Etwas erkennen konnte.

 
 

***

 

Das Meeting selbst war zwar das Anstrengendste an der ganzen Arbeit inklusive der intensiven Vorbereitungen, aber zumindest bot es auch so etwas wie einen Lichtblick, denn egal ob es gut oder schlecht verlaufen würde, es bedeutete einen Abschluss für viele arbeitsintensive Stunden.

Wie immer hielt sich Yamato mit seinem Gefolge von Anwälten und Beratern im Hintergrund, während er Cayden mit ausdrucksloser Miene mehr als eineinhalb Stunden lang reden ließ.

Das war das Nervenaufreibendste überhaupt an dem ganzen Meeting, denn jeder Neuling wäre von der Nichtbeteiligung Yamatos schon nach der ersten halben Stunde verunsichert worden und auch Cayden ließ es wie immer nicht ganz kalt.

Aber er zeigte nicht seine Aufregung, hielt stattdessen einen sauberen Vortrag über die Vorteile eines positiven abgeschlossenen Vertrages, in dem ihre beiden Firmen sich gegenseitig in der Musikbranche unterstützen konnten, anstatt sich gegenseitig zu bremsen. Sie beide würden daran wachsen und doch jeder für sich unabhängig bleiben.

Yamato war schon früher solche Verträge mit ihm eingegangen, dennoch erwartete er immer wieder das gleiche Prozedere, um Cayden zu prüfen und ob dieser mit seiner Genauigkeit nach einiger Zeit nachließ, oder trotz der bereits bestehenden Verträge stets bemüht war, sich immer wieder zu verbessern.

Da Cayden es war, der etwas von Yamato wollte, war er es auch, der sich die ganze Mühe mit den Vorbereitungen und dem anschließenden Umwerben machen musste. Aber damit kam er klar. Wenn man etwas wollte, musste man dafür eben auch kämpfen.

Auch mit Emma war er sehr zufrieden, die ihn wie ein unsichtbarer Geist während des Meetings unterstützte und ihm alles reichte, was er brauchte.

Man musste es ihr sogar zugutehalten, dass sie sich nicht einmal zu langweilen schien, als der Vortrag bereits über eineinhalb Stunden dauerte, von dem sie kein einziges Wort verstehen dürfte.

Cayden war stolz auf sie, denn selbst Stella, die etwas japanisch verstand, hatte mit der Zeit einen glasigen Blick bekommen.

Wie immer war es etwas überraschend, dass nach einem so langwierigen Vortrag, der Vertragsabschluss selbst unvergleichlich schnell zu Ende ging. Positiv, wie Cayden erleichtert feststellen durfte und erst ganz zum Schluss bekam man einen Hauch von Yamatos Persönlichkeit mit, als sie sich überschwänglich und beide Seiten hochzufrieden verabschiedeten.

Eigentlich mochte er den Mann wirklich gerne.

 

Die ungewohnte Sprache klang zuerst fast schroff in Emmas Ohren. Gar nicht so, wie sie sich das Japanische immer vorgestellt hatte. Aber sie musste vor sich zugeben, dass sie es vermutlich einfach mit ihrem Eindruck vom Chinesischen vermischt und es als eine Mischsprache hingenommen hatte.

Umso interessierter folgte sie dem Vortrag, versuchte die Reaktionen der Zuhörer zu ergründen und irgendwie zu erraten, um was es ging. Da sie wusste, was der Inhalt der Verhandlung war, nahm Emma zu Anfang an, sie könne sich an den Folien orientieren. Doch da selbst diese mit Schriftzeichen gespickt waren, die ihr zwar gefielen, aber absolut nichts sagten, half das auch nichts.

Nach einer Weile glaubte sie, so etwas wie ein Lächeln in den Augen von Calmaros Verhandlungspartner zu sehen. Winzig nur – so, als hätte man es für einen Schatten halten können – aber es war da.

Emma war sich ziemlich sicher.

 

Nachdem Cayden wieder mit Emma alleine und alles vorüber war, setzte er sich endlich hin, nahm den Krug mit dem Wasser und ein Glas und schenkte sich zweimal nach, während er seinen Durst stillte und auch um seine etwas raue Kehle zu beruhigen.

Erst jetzt gestattete er es dem Adrenalin, sich auch wirklich in seinem Körper auszubreiten und seine Wirkung zu tun, denn nun war es egal, wenn seine Finger leicht zitterten und sein Herz wie wild raste.

Es schien, als würde ihm ein Haufen Gewicht von den Schultern abfallen, als er sich mit dem Glas in der Hand zurücklehnte und sich zu entspannen begann.

„Vielen Dank. Sie waren mir wirklich eine große Unterstützung“, seufzte er schließlich leise und drückte sich dabei das Glas an die Schläfe, da ihm verdammt heiß geworden war. Er konnte vielleicht nicht schwitzen, aber sein Temperaturempfinden unterschied sich kaum von dem eines Menschen, außer dass er nicht besonders empfindlich war, da sich seine Körpertemperatur für gewöhnlich sehr gut selbst regulierte.

Er würde nachher vermutlich als Belohnung endlich eine Runde schwimmen gehen.

 

Nachdem die Japaner sich verabschiedet und den Raum verlassen hatten, legte sich Stille über den Raum, die nur davon unterbrochen wurde, dass Calmaro sich Wasser einschenkte und in großen Schlucken trank, bevor er tief durchatmete.

Emma war sich nicht schlüssig, ob das ein Zeichen von Erleichterung sein konnte. Zu Beginn hatte ihr Chef etwas angespannt gewirkt. Aber irgendetwas, das Emma partout die ganze Zeit nicht hatte einfallen wollen, fehlte. Ein Detail, das sie nicht direkt glauben ließ, dass ihm die Nervosität wirklich in den Knochen steckte.

Das machte sie in diesem Moment sogar ein bisschen unsicher. Von den Reaktionen der Männer, den Unterschriften, die ausgetauscht worden waren, würde sie schätzen, dass alles gut verlaufen war. Aber genau sagen konnte sie es nicht.

Erst als Calmaro sie ansprach, trat sie vom Fensterbrett an den Tisch und blieb dort mit gefalteten Händen stehen, während sie ihn weiter beobachtete.

„Freut mich. Sehr gern geschehen. Ist denn alles zu Ihrer Zufriedenheit abgelaufen?“

 

Cayden hob den Blick von seinem Glas und schenkte Emma ein zufriedenes, wenn auch leicht erschöpftes Lächeln.

„Ja, alles ist genau so verlaufen, wie ich es vorhatte. Herr Yamato ist zwar eine harte Nuss, aber wenn man ihn schon so lange kennt wie ich, ist es nur eine Frage der guten Vorbereitung, um diese Nuss richtig zu knacken. Auch Ihre Mühe hat sich also ausgezahlt.“

Sein Lächeln wurde warm, während er Emma betrachtete und sich langsam die Freude über den gelungenen Abschluss einstellte.

Manchmal brauchte es immer ein bisschen, bis er seine Gefühle zulassen und alles realisieren konnte. Auch wenn er es nicht deutlich zeigte.

„Wenn wir hier alles eingepackt haben, werde ich eine Runde schwimmen gehen. Haben Sie auch was Schönes mit dem restlichen Nachmittag vor? Treffen wir uns zum Abendessen?“

Warum genau er das wissen wollte, wusste Cayden zwar in diesem Augenblick nicht, aber irgendwie hatte er das Bedürfnis … nun ja, jetzt diesen kleinen Trumpf nicht einfach allein einsacken zu lassen, so wie er es meistens tat, sondern … er wusste ja auch nicht recht …

„Haben Sie vielleicht Lust nachher noch einmal mit mir in die Stadt zu fahren? Ich habe gestern noch über unser Frühstück nachgedacht und finde, dass Sie mit Ihrem Interesse an den Sehenswürdigkeiten eigentlich recht haben. Nichts Großartiges, vielleicht nur in irgendeinen Souvenirladen. Aber eigentlich würde ich gerne etwas an die frische Luft.“

Nur eben nicht alleine. Er brauchte schon die nötige Motivation dazu.

 

„Oh, das freut mich.“

Eigentlich war es Emma gar nicht so wahnsinnig wichtig, was der Abschluss bedeutete. Wie viel Geld gerade mit den Unterschriften über den Tisch gegangen war oder welche Band von wo nach wo wechseln würde. Allein die Emotion auf Calmaros Gesicht, der Hauch von Freude und Gelassenheit, zauberte Emma ein breites Lächeln ins Gesicht. Sie war ohnehin empfänglich für die Gefühle Anderer. Vor allem, wenn es um Positives ging. Also strahlte sie ihrem Chef entgegen, dessen Mienenspiel sich allerdings – wie gewöhnlich – eher auf das Wesentlichste beschränkte.

Das war es auch nicht, was Emma so beeindruckte. Es war die Tatsache, dass er etwas mitteilte. Und zwar nicht nur von sich, sondern sogar von sich aus.

„Lassen Sie doch einfach mich die Sachen wegräumen. Es ist ja nur der Laptop und die paar Kabel.“ Das dreckige Geschirr musste sie nicht einmal auf den Servierwagen räumen. Das würde alles das Hotelpersonal erledigen. Genauso, wie es sich um die Notizblöcke und eventuellen Müll kümmern würde. So, wie Stella gesagt hatte. Von harter Arbeit konnte in Emmas Fall keine Rede sein.

Um zu zeigen, dass es wirklich nicht der Rede wert war, zog sie sich schon einmal den Laptop herüber, schloss die Programme und wollte gerade auf seine Frage bezüglich des Abendessens antworten, als er sie vollkommen überraschte.

Langsam drehte Emma ihren Kopf. Die Haare waren ihr schon wieder über die Schulter gefallen, als sie sich vorgelehnt hatte, um auf dem Laptop herumzutippen.

Erst nachdem sie sich aufgerichtet und in Calmaros Gesicht nach einer Art Falle gesucht und keine Offensichtliche gefunden hatte, fing sie wieder an zu lächeln. Schüchtern diesmal, aber doch ziemlich fröhlich.

„Klar. Ich hatte nichts Außergewöhnliches vor. Wir können einfach ... in die Stadt gehen.“ Und sehen, was sie fanden.

 

„Gut. Dann … schicke ich Ihnen nachher eine Nachricht, wenn ich mit meinen Bahnen fertig bin und wir treffen uns danach … sagen wir eine halbe Stunde später in der Lobby?“

Sofort wurde sein Lächeln breiter, als er daran dachte, einfach mal etwas zu unternehmen. Er durfte sich davon zwar nicht mitreißen lassen, da er in seinem Zimmer noch genug Arbeit herumliegen hätte, aber einmal konnte er es sich sicherlich leisten, zu entspannen.

Erst recht nach dem großen Deal, den er heute erfolgreich über die Bühne gebracht hatte. Es war ohnehin nicht gut für ihn, zu lange angespannt zu bleiben, das erhöhte seinen Blutkonsum und gerade im Ausland war es nicht so einfach auf sicherem Wege an Nahrung zu kommen. Weshalb er meistens auch ganz darauf verzichtete.

 
 

***

 

Das Schwimmen hatte ihm unwahrscheinlich gut getan, seine Muskeln wieder gelockert und seine Seele erfrischt. Während er in Ruhe seine Bahnen getaucht war, hatte Cayden sich gefragt, wie es zu diesem spontanen Ausbruch an Unternehmergeist gekommen war, aber so wirklich sagen, konnte er es immer noch nicht. Vermutlich war es nur ein etwas anderer Ausdruck auf seine Freude über den Abschluss dieses schwierigen Meetings gewesen.

Zurücknehmen konnte er die Einladung auf keinen Fall und er wollte es auch nicht, obwohl es ihn schon wieder zu seinen Unterlagen gezogen hätte, schließlich stand kurz nach dem Aufenthalt hier ein weiteres Meeting in Wellington an.

Es war zwar nicht einmal annähernd so bedeutend, aber er wollte …

 

Entschlossen hatte Cayden diesen Gedanken vorerst einen Riegel vorgeschoben, Emma seine Nachricht geschickt und war eilig in sein Zimmer gegangen, um sich für den Ausflug in die Stadt umzuziehen.

Da es weder ein bürokratisches Treffen, noch sonst irgendetwas war, das ihn zu formeller Kleidung gezwungen hätte, zog er sich einfach eine schlichte schwarze Jeans an, dazu ein sauberes weißes Hemd, dessen oberen beiden Knöpfe er offen ließ und eine leichte Sportjacke in Beige darüber.

In Japan würde er zwar immer wie ein Tourist aussehen, aber er konnte sich wenigstens auf der Straße dementsprechend kleiden.

Außerdem waren die Sachen bequem und nichts lag ihm momentan ferner, als seinen Hals wieder in irgendwas zu stecken, das man bis obenhin zu machen musste.

Da er schneller als die vereinbarte Zeit fertig geworden war, wartete er nun mit einem seltsam aufgeregten Gefühl auf Emma in der Hotellobby und beobachtete unauffällig die vorbei marschierenden Menschen.

 
 

***

 

Immer wieder ließ sie sich von diesem unermesslich großen Menschenstrom fast gegen die Fassaden der Häuser oder vom Bürgersteig drängen. Es war sehr viel schwieriger, die Straße entlang zu laufen, wenn man gleichzeitig auf sich selbst achten und den Anschluss zu einem anderen Menschen nicht verlieren wollte.

Emma hatte bloß Glück, dass Calmaro mit seiner Größe genauso, wie mit seiner Haarfarbe aus der Menge an Japanern hervorstach wie ein bunter Hund. Außerdem versuchte er seinerseits natürlich an ihrer Seite zu bleiben, bis sie es vor das riesige Einkaufszentrum geschafft hatten, wo sich Emma nun einfach nur durch die Schwingtüren drücken ließ, bis sie in der Lobby stand und sich nach ihrem Begleiter umsehen konnte.

Erst, als er an ihrer Seite auftauchte, schälte Emma sich aus ihrer Jacke.

„Egal wo auf der Welt, in diesen Einkaufszentren ist es entweder viel zu kalt oder viel zu warm.“

Sie hängte sich die Jacke halb über den Arm, halb über ihre Handtasche und sah sich dann nach einem der riesigen Schilder um, die in japanischer und auch englischer Sprache anzeigten, wo genau welche Abteilung zu finden war. Trotzdem wirkte der Bau eher wie ein Labyrinth, und Emma hoffte auch heute nicht darauf, dass sie das Einkaufszentrum durch die Türen verlassen würde, durch die sie gekommen war.

„Möchten Sie etwas Bestimmtes?“

Vielleicht wollte er auch gar nichts kaufen.

Emma sah ihren Chef nicht zum ersten Mal, seit sie unterwegs waren, verholen skeptisch von der Seite an.

Zumindest ... passten sie heute irgendwie zusammen. Ansatzweise. Sein Hemd war immer noch auf den ersten Blick sehr viel teurer, als Emmas Jeans und der dünne, schwarze Strickpulli zusammen. Aber immerhin hatte ihr Boss sich nicht seiner Rolle ihr gegenüber gekleidet, sondern es heute etwas legerer angehen lassen. Emma fand, so ein Triumph nach einem schwierigen Meeting stand ihm ziemlich gut.

 

Cayden wusste schon nach den ersten Metern auf die freie Straße hinaus und in die Massen von Menschen hinein, warum er nur so selten einen Fuß direkt in die Stadt setzte. Es war für den ersten Moment erschlagend.

Alleine was alles an Gerüchen zu ihm hin getragen wurde, war überwältigend, doch schon nach kurzer Zeit, fühlte er sich in der Masse wohl, sah sich zwar selbst als ein nicht dazu passendes Individuum an, aber als eines, das den anderen nicht weiter auffiel.

Cayden mutierte zu einem kleinen Kind, wenn er nicht aufpasste, denn obwohl er immer glaubte, bereits alles gesehen zu haben, wollte er doch sichergehen, dass er nicht doch noch irgendetwas verpasst hatte und das ging eben einfach nur, wenn er sich aufmerksam umsah, alles beobachtete, was er auf einmal beobachten konnte und sich dabei gar nicht so sehr auf das nähere Umfeld konzentrierte.

Darum riss er sich auch stark am Riemen, als sie das Einkaufszentrum betraten und Emma irgendetwas über die Temperatur in Kaufhäusern sagte. Bestimmt empfanden das viele Menschen so wie sie.

Er persönlich hatte kein Problem damit, da er seine Jacke anlassen konnte und es ihm doch nicht zu warm sein würde. Oder er zog sie aus, allerdings ohne anschließend zu frieren.

Vor einer der großen Tafeln, mithilfe derer man sich orientieren konnte, blieben sie schließlich stehen und Cayden musterte sie gründlich, um sich den Grundriss des Gebäudes noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.

„Ich dachte mir, es wäre nett, etwas für Stella mitzubringen, da sie wegen der Schwangerschaft nicht mitkommen konnte“, meinte er nach einer Weile etwas nachdenklich.

„Der übliche Geschenkkorb für werdende Mütter steht zwar auch auf dem Programm, aber es muss ja nicht immer alles vorhersehbar sein. Haben Sie vielleicht eine Idee, was man sonst noch so zu diesem Anlass herschenken könnte? Oder zumindest, wo wir etwas Passendes finden könnten?“

 

„Hm ...“

Emma ließ ihre Augen überlegend über den Plan auf der Tafel schweifen und zeigte dann mit dem Finger auf ein Eck im dritten Stockwerk.

„Babyabteilung. Da werden wir wohl am ehesten fündig werden.“

Sie nickten sich beide zu, gerade so, als hätten sie einen schwierigen Schlachtplan entworfen, und stiegen dann auf eine der bunt beleuchteten Rolltreppen, über denen waghalsige Lichtinstallationen baumelten.

„Ich habe ehrlich gesagt noch nicht oft für werdende Mütter eingekauft. Als mein kleiner Cousin geboren wurde, haben meine Mom und ich die kleinsten Windeln und Schnuller mitgebracht, die man so findet. Weil es einfach Dinge sind, die man als frischgebackene Eltern braucht.“

Kurz wurde ihre Aufmerksamkeit von einem riesigen, pinken Ungetüm in Plüsch abgelenkt, das auf einer Galerie kleine Geschenktüten an Kinder verteilte.

„Sehen Sie mal.“

Emma beugte sich vor um Calmaro auf das Kostüm hinzuweisen, in dem sich der arme Angestellte zu Tode schwitzen musste.

Dabei berührte ihr Arm seine Schulter. Nur ganz leicht, da Emma eine Stufe höher stand, als ihr Chef. Trotzdem zog sie ihre Hand schnell zurück, als ihre Blicke sich trafen und etwas in Calmaros Augen erschien, das Emma nicht lesen konnte.

„Ähm ... Zu Hause würde ich vielleicht auch ein Buch für Stella kaufen. Etwas mit Kinderreimen oder Liedern, die sie dem Baby vorsingen kann. Aber das ist hier ja Blödsinn.“

Was sie wieder ins Grübeln brachte, bis sie am Ende der Rolltreppe angekommen waren und sich in Richtung der Babyabteilung wandten, die unschwer an den winzigen Strampelanzügen zu erkennen war, die bereits in Bonbonfarben hinter einer Glasfront hervorleuchteten.

„Am besten ist es vermutlich, wir lassen uns inspirieren“, meinte Emma mit einem Grinsen und ging mutig auf die Abteilung zu, die sie sofort in Form einer kleinen Japanerin mit runden, geschwungenen Lippen schluckte.

„Connichi ha!“

Emma erwiderte den Gruß mit einem Lächeln. Sie war ein bisschen stolz auf sich, dass sie auf Japanisch „Guten Tag“ sagen konnte, auch wenn sich der netten Angestellten, wie auch ihrem Chef bei Emmas Aussprache bestimmt der Magen umdrehen wollte.

Mit einem winzigen Nicken ging die Angestellte in singendes Englisch über.

„Sie suchen etwas für sich? Oder Geschenk?“

 

Cayden lauschte Emmas Ausführungen aufmerksam, während er das Kribbeln an der Stelle zu ignorieren versuchte, wo ihre Hand es an seiner Schulter ausgelöst hatte.

Noch einmal warf er einen kurzen Blick zu dem rosa Plüschmonster hinüber, das von kleinen kreischenden Kindern umringt wurde, ehe ihn das Ende der Rolltreppe davon ablenkte.

Als sie das Geschäft betraten, das in eine so völlig andere Welt zu führen schien, als Cayden vertraut war, musste er fasziniert und leicht verunsichert zu gleich feststellen, dass sich in den ungefähr sechzig Jahren, seitdem er das letzte Mal so einen Laden betreten hatte, so einiges anders geworden war.

Natürlich waren ihm die Kleidung, das Spielzeug und das ganze andere Drumherum in der Öffentlichkeit nicht entgangen, aber es war etwas völlig anderes, plötzlich in einem wahren Dschungel von dem ganzen Zeug und noch dazu so dicht vor der Nase zu stehen.

Cayden war im ersten Moment so abgelenkt von dem bunten, kindersicheren, Eltern verrückt machenden Plüschzeug, dass Emma auf die Frage der Verkäuferin antworten musste, da er derzeit nicht dazu im Stande war.

„Was für Art von Geschenk?“, wollte die Verkäuferin weiter wissen und Cayden zwang sich, die Frau richtig wahrzunehmen und den Berg von gestapelten Babywindeln hinter hier zu ignorieren.

„Für eine schwangere … Freundin. Praktisch, nicht zu groß und egal ob Junge oder Mädchen.“ Denn das wussten sie ja nicht. Zumindest hatte Stella noch nichts in diese Richtung erwähnt.

Für Cayden war es immer noch erstaunlich, dass man das seit einigen Jahren auch schon vor der Geburt erfahren konnte.

„Oh, da haben wir Einiges zur Auswahl. Bitte folgen sie mir.“

Während die Frau bereits fröhlich ein paar Möglichkeiten herunterrasselte und mit zusätzlichen Informationen versah, von denen Cayden zur Hälfte nicht verstand, was sie damit meinte, ließ er Emma absichtlich vor und seilte sich ein bisschen ab. Vielleicht war das eher so eine Sache, die er lieber ihr als Frau überlassen sollte. Zumindest müsste er dann nicht zugeben, dass er keine Ahnung von solchen Dingen hatte.

Beim Vorübergehen blieb er mit seinem Ärmel an einem Kleiderständer mit verschiedensten Strampelanzügen hängen und konnte ein paar davon gerade noch vor dem Absturz bewahren.

Als er den weichen Plüschstoff zwischen den Fingern spürte, drehte er sich ganz zu den Anzügen herum und nahm einen von der Stange. Er war hellblau und mit einem kleinen gelben Schmetterling vorne im Brustbereich darauf. Das Material fühlte sich gut an, aber doch irgendwie nicht ganz so, wie er sich etwas für Babys vorgestellt hätte. Es war weich, aber … so synthetisch. Und dann erst diese Farben …

Okay, dieses helle Babyblau war noch angenehm, aber da gab es Strampelhöschen in einer Farbe, die förmlich in den Augen wehtaten und noch schlimmer waren dann erst diese Kostüme, mit denen die Kinder aussahen wie kleine Dinosaurier oder Sonnenblumen oder … Kätzchen.

Cayden nahm einen Strampler mit einer Kapuze zwischen den Händen, an der weiße Katzenöhrchen wegstanden und sogar ein kleines Puschelschwänzchen hinten dranhing.

Interessanterweise fiel es ihm bei dem hier nicht so schwer, sich ein kleines süßes Babygesicht darin vorzustellen und wie das aussehen musste. Er fand es … so total unmännlich sich das auch anhörte … ganz süß.

 

„Grün ist für beide gut.“

Da das als schlagendes Argument für die Japanerin zu gelten schien, hielt diese Emma nun schon den dritten Strampler zur Auswahl hin. Den einen, mit der Klappe am Po und den beiden Holzknöpfen zum Zumachen, fand Emma zwar hübsch, aber unpraktisch für so ein kleines Baby. Da es die meiste Zeit lag, waren die Knöpfe bestimmt eher unangenehm als erfreulich. Also schied dieses Modell schon einmal aus.

„Gibt es ... einen schönen Schlafsack?“

Emma malte die ungefähre Form mit den Fingern in die Luft, erntete aber leider nur einen fragenden Blick. „Hm ... für die Nacht? Zum Anziehen, ziemlich dick? Damit es nicht kalt wird, wenn die Decke herunterrutscht?“

Das höfliche Lächeln der netten Dame wurde etwas unsicher, obwohl Emma ganz sicher glaubte, dass dieser riesige Laden so etwas hatte, was sie meinte.

Hilfe suchend wollte sie sich zu Calmaro umdrehen und bemerkte erst jetzt, dass er gar nicht neben ihr stand.

„Moment, ich ...“

Etwas irritiert, wo sie ihn auf dem kurzen Weg verloren haben könnte, wandte sie sich einmal im Kreis und wollte ihn rufen, als sie ihn entdeckte. Doch irgendetwas hielt Emma davon ab. Vielleicht war es die Haltung seiner Schultern, die leicht gerunzelte Stirn, mit der er die Anzüge betrachtete, die in seinen Händen irgendwie noch kleiner wirkten.

Emma sah ihren Chef einfach nur an, drehte sich dann wieder zu der Verkäuferin um, die geduldig wartete, und senkte dann höflich den Kopf.

„Vielen Dank. Sie haben uns sehr geholfen.“

„Ja?“

„Ja, danke. Ich ...“

Emma nahm die drei grünen Anzüglein an sich und deutete mit dem Kopf auf Calmaro, der immer noch nicht zu ihr gestoßen war.

„Ich werde sie ihm zeigen.“

„Ja, gerne. Dankeschön.“

Es wurden noch ein paar 'Danke' ausgetauscht, bevor Emma sich loseisen konnte und mit den Strampelanzügen zu ihrem Chef hinüberging. Wenn sie sich auch ziemlich sicher war, dass sie keinen davon kaufen würde. Das mit dem Schlafsack – wenn das denn bei diesen Babydingern so hieß – fand sie eine bessere Idee. Oder ein Mobile!

Emma sah in einer entfernten Ecke so etwas wie Spiele und Plüschtiere. Da würde sie möglicherweise etwas finden.

„Ich hab noch eine Idee. Sie können sich ja kurz das hier ansehen. Das hat die nette Dame für uns herausgesucht.“

Sie drückte ihm die kleinen Kleidungsstücke in die Hände und steuerte dann direkt auf das Spielzeug zu.

„Bin gleich wieder da.“

 

Verdutzt blickte Cayden auf die drei grünen Anzüge in seinen Händen und fragte sich, ob Emma sich gerade mit ihm einen Scherz erlaubte, doch vermutlich hatte sie das wirklich ernst gemeint und die Schuld war bei der Verkäuferin zu suchen.

Nun, ob so oder so, diese Dinger würde er Stella auf jeden Fall nicht aufdrängen, also hängte er sie einfach zu den anderen Strampelanzügen dazu und sah sich weiter neugierig und teils auch irritiert um. Da Emma ihm erklärt hatte, sie wäre gleich wieder da, musste er sie nicht extra suchen gehen.

Während Cayden sich umsah, gewann er teilweise den Eindruck, manche Dinge hier kämen nicht von dieser Welt, da er sich zwar immer für den neuesten Stand der Technik interessierte, aber in Sachen moderner Babyausstattung, war er weit im Rückstand.

So blieb er einen Moment lang vollkommen verwirrt vor etwas stehen, das sich schließlich als Milchpumpe herausstellte.

Perplex legte er das seltsame Teil wieder zurück und fragte sich, ob die Mütter von heute ihre Kinder denn nicht mehr selbst stillten oder was sonst der Grund dafür sein mochte, dass sie sich selbst … Milch abpumpten.

Allein der Gedanke war schon mehr als skurril für ihn.

Schließlich fand er etwas, das ihm zumindest schon vom Aussehen her etwas sagte – Tragetücher.

Es gab sie in verschiedenen Farben, Muster und Textilien und sogar mit bildlicher Anleitung, auf welche Weise man die Tücher binden konnte, um das Baby unterschiedlich am Körper tragen zu können. Also das wäre zumindest schon einmal sehr praktisch.

 

Es war gar nicht so leicht, sich in der Spielzeugecke nicht ablenken zu lassen. Emmas Finger fanden doch ziemlich schnell einen Karton mit Sichtfenster, in dem ein Loch und ein kleines Schildchen prangten. Als sie auf den durchsichtigen Glitzerstern im Bauch des Hasen drückte, fing dieser an eine Melodie zu spielen, mit den Ohren zu wackeln und den Mund auf und zu zusperren.

„Gruselig.“

Sie stellte die immer noch rappelnde, singende Schachtel zurück ins Regal zu den Anderen und widerstand diesmal der Versuchung aller Knöpfe, während sie einen Blick über ihre Schulter warf.

Auf ihren Lippen zeichnete sich ein breites Lächeln ab.

Wenn Emma eines gegen den Strich ging, war es mit jemandem einkaufen zu gehen, der drängelte. Das passierte meistens dann, wenn einer etwas Bestimmtes suchte oder bummeln wollte und der Andere mit dem Laden gar nichts anfangen konnte. Oder einfach auf alles keine Lust hatte. Dann fühlte Emma sich immer unter Druck gesetzt und fand meistens bestimmt nicht das, was sie suchte und bekam außerdem schlechte Laune. Da lohnte es sich gar nicht erst, loszugehen und mit dem Shoppen anzufangen.

Über einen Begleiter wie Calmaro konnte man da nur glücklich sein. Er würde sich bestimmt keine Babysachen – geschweige denn das, was er da inspizierte – kaufen, aber er sah sich um, ohne irgendwelche Anstalten zu machen oder herumzunörgeln, wie lange sie wohl noch brauchen würden.

Was Emma allerdings wieder dazu brachte, warum sie überhaupt hier waren.

Sie durchforstete die Regale, bis sie ein paar Mobiles fand, die man über das Babybett hängen konnte. Anfangen bei kleinen, quietschbunten Plüschfiguren, über Sonne, Mond und Sterne, bis hin zu ... man rate dreimal … Hello Kitty.

Alles war mit Leucht- oder Musikfunktion ausgestattet und gefiel Emma überhaupt nicht. Das würde vielleicht zu ihr selbst passen, wenn jemand ihrer guten Freunde ihr etwas schenkte, aber nicht zu Stella. Stella war aufgeräumt, auch im Bezug auf das Baby und alles, was damit zu tun hatte.

Manchmal wirkte sie auf Emma sogar so, als müsse das Kind schon nach Zeitplan arbeiten, bevor es überhaupt auf der Welt war.

„Vermutlich macht dir dein Baby in ein paar Monaten einen ganz schönen Strich durch die Rechnung.“

Was aber nicht schlimm war. Das tat Stella vielleicht sogar ganz gut. Außerdem wusste Emma ja nicht, ob ihr Mann möglicherweise der ausgleichende Pol für Stella war. So etwas gab es ja öfter.

„Oh ... Na, du siehst doch so aus ...“

Sie zog eine der unteren Schachteln aus dem Regal, drehte sie um und besah sich das Mobile, das aus kleinen Stoffwimpeln und Halbedelsteinen bestand, die zu winzigen Tierfiguren gearbeitet waren. Alles nicht in solchen krachigen Farben, wie sie sonst hier vorherrschten. Was das Spielzeug in Emmas Augen sehr positiv hervorhob. Leider war es natürlich auch preislich eine ganz andere Liga.

„Aber es ist wirklich hübsch.“

Emma drehte die Box wieder herum, strich mit der flachen Hand über den Deckel und zeichnete die Linien eines sehr natürlich gestalteten Bären aus Rosenquarz nach. Ja, wirklich sehr hübsch.

 

Cayden hatte Emma beobachtet, wie sie durch eines der Sichtfenster eines Spielzeuges griff und dort einen Knopf oder so etwas in der Art drückte, woraufhin das Spielzeug zum Leben erwachte.

Er persönlich hatte sich nie für Kinderspielsachen interessiert, da er damals, als er selbst noch ein Kind gewesen war, solche Dinge wie Plastik, Plüsch oder Batterien nicht gekannt hatte. Was natürlich daran lag, dass es diese Sachen damals noch nicht hatte geben können, aber wenn man es nicht kannte, ging es einem auch nicht ab. Und groß geworden war er auch ohne diesen ganzen bunten Kram, von dem er das meiste für absolut überflüssig hielt.

Aber Emma schien das Spielzeug mit dem Knopf und der Zappelfunktion interessiert zu haben, weshalb er sich unwillkürlich zu fragen begann, was sie noch alles interessierte.

 

„Haben Sie etwas gefunden?“

Er hatte sich schon zu ihr herumgedreht, als Emma ein ganzes Stück weit entfernt gewesen war.

Wieder war dieses unsichere Gefühl in ihrem Magen hochgekommen, ob sie die ganze Zeit zu ihm hinsehen und grinsen oder doch lieber wegschauen sollte. Jetzt, da sie vor ihm stand, wusste Emma gar nicht mehr, für was sie sich eigentlich entschieden hatte. Und noch weniger wusste sie, warum Calmaro sie heute so … komisch nervös machte.

 

Als sie mit einem Karton in den Händen zu ihm herüberkam, wartete er bereits, hatte aber zuvor noch einmal die Beschreibung des Tragetuchs durchgelesen, so als hätte er es gerade erst entdeckt und nicht seine Assistentin beobachtet.

„Ja“, beantwortete er ihre Frage, klemmte sich allerdings das Tragetuch unter den Arm und berührte den Karton, den Emma in der Hand hielt.

„Sie offenbar ebenfalls.“

Neugierig darauf, was sie gefunden hatte, studierte er die Abbildung auf dem Karton und strich mit seinen Fingern über das Bild eines Bären aus Rosenquarz.

Emma hatte ein Mobile gefunden und es war einmal nicht so verdammt bunt und übertrieben, wie alles andere hier, sondern, wirkte fast schon edel. Außerdem waren die richtigen Halbedelsteine immer etwas Gutes, vor allem der Rosenquarz. Also eine überaus gute Wahl, die sie da getroffen hatte.

„Ich muss schon sagen, ob es nun daran liegt, dass Sie eine Frau sind oder eine sehr gute Intuition haben, ich denke, Sie habe den Gewinner als Geschenk für Stella gefunden. Das wird ihr mit Sicherheit gefallen.“

Cayden nahm seine Hände von dem Karton und lächelte Emma an, ehe er ihr das Tragetuch zeigte.

„Was meinen Sie. Wäre das als kleine Beigabe obendrauf noch in Ordnung?“

 

Emma erkannte zuerst gar nicht, was er ausgesucht hatte. Es sah aus, wie ein hübsch bestickter Stoff, aber was man damit tun konnte ... Erst als sie die Fotos und die Anleitung sah, die dem Tuch beigelegt waren, machte es Pling und Emma nickte begeistert.

„Oh ja, die sind toll. Hab ich zumindest gehört. Eine Freundin von mir trägt ihr Baby auch in solchen Tüchern und ist davon total hin und weg.“

Wenn sie allerdings einen flüchtigen Blick auf das Preisschild warf, konnte man in Emmas Welt nicht von 'kleiner Beigabe' sprechen. Sie hätte nicht gedacht, dass so ein Tuch so viel kosten würde. Allerdings hatte alles, was mit Babys zu tun hatte und auch noch gute Qualität sein sollte, natürlich seinen Preis. Und das war an sich auch gut so.

„Super. Dann haben wir uns doch ganz gut geschlagen, oder?“

Sie grinste ihn an und sofort verschwamm der Ausdruck in ihrem Gesicht. Irgendwie schaffte Emma es einfach nicht, ihrem Chef gegenüber kumpelhaft unverbindlich zu bleiben. Sie selbst hatte das Gefühl, da war immer irgendwie ... mehr.

Und dabei fiel ihr das bei vielen Männern so leicht. Es ärgerte sie sogar ein bisschen, dass sie bei Calmaro immer das Gefühl hatte, ein wenig anders zu sein. Nein, auch nicht anders. Aber irgendwie ...

Emma konnte es selbst nicht erklären. Sie bemühte sich natürlich, nicht immer so geradeheraus zu sein, wie es normalerweise ihr Stil war. Immerhin war sie von dem Mann abhängig. Aber so viel Mühe sie sich auch gab, irgendwie klappte es einfach nicht. Ihr rutschte oft doch etwas mehr heraus, als sie vermutlich hätte sagen sollen. Oder sie berührte ihn, wie vorhin auf der Rolltreppe. Ganz so, als stünden sie sich näher, als bloß geschäftlich verbunden zu sein.

Sie hoffte bloß, dass sie für diese Anwandlungen nicht irgendwann ganz schön eins auf den Deckel bekam.

 

Sein Lächeln wurde breiter, als Emma ihn begeistert angrinste und offenbar mit der Wahl des Tuches zufrieden war.

Sehr schön. Mehr positive Bestätigung hätte er gar nicht verlangen können.

„Das finde ich auch. Ich denke, wir haben uns dafür ein frühes Abendessen als Belohnung verdient. Lassen Sie uns doch sehen, was man hier so essen kann.“

Cayden nahm Emma das Mobile ab, um mit ihr gemeinsam zur Kasse zu gehen.

18. Kapitel

Obwohl es sehr viele neue Eindrücke in dem Babyladen gegeben hatte, war Cayden doch froh, als sie endlich in einer Umgebung für Erwachsene saßen und dabei zusahen, wie ihr Essen vor ihren Augen zubereitet wurde.

Er selbst hatte sich Nudeln mit Gemüse bestellt und war nicht unbedingt erfreut darüber, als er schließlich eine Schüssel mit einem Berg von Nudeln darin hingestellt bekam.

Wer in Gottes Namen sollte das alles essen können?

Doch anstatt sich seine leichte Missbilligung anmerken zu lassen, nahm er die Stäbchen in die eine und die Schüssel in die andere Hand und drehte sich leicht zu Emma herum, damit er sie ansehen konnte.

Dann würde eben etwas stehenbleiben, außerdem sah er durchaus so aus, als wäre er ein großer hungriger Mann, der zwei von diesen Portionen wie nichts hätte verdrücken können. Er konnte es dem Koch also nicht übel nehmen, dass er ihm nur etwas Gutes tun wollte.

„Wie schmeckt Ihnen die japanische Küche?“, wollte er wissen, da das Essen hier doch irgendwie anders war, als es in Wellington serviert zu bekommen. Natürlich konnte man in diversen Restaurants wirklich ausgezeichnet Chinesisch und Japanisch essen, aber wie viele konnten es zuhause ebenso gut nachkochen? Ihm zumindest würde die Geduld für die vielen raffinierten Details fehlen, welche die Japaner für ihr Essen aufwandten.

 

Staunend sah sie dabei zu, wie der Koch mit einem riesigen Messer auf den unschuldigen Tofu einhackte, bevor er in den Wok zu den Sprossen und dem Gemüse wanderte und dann auch noch herumgeschwenkt und in die Luft geworfen wurde.

Emma lief das Wasser im Mund zusammen, als sich der Geruch nach Gewürzen noch stärker ausbreitete und sie erkennen konnte, dass ihre Portion dem fertigen Zustand immer näher kam.

Sie war unglaublich froh, dass der Japaner es gut mit ihr meinte und zwei Tofuwürfel nah daran waren, aus dem sehr vollen Schälchen zu fallen.

Oh man, sie hatte so einen Kohldampf!

Beim Frühstück hatte sie vor Nervosität kaum etwas hinuntergebracht, und seit sie mit Calmaro unterwegs war, hatte sie nicht gewagt, ihren Schokoriegel auszupacken, den sie für echte Notsituationen aus der Minibar entführt und in ihre Handtasche gepackt hatte.

Wie hätte das denn auch ausgesehen, wenn sie im Einkaufszentrum plötzlich angefangen hätte, Schokolade zu mampfen. Zumal sie keinen zweiten Riegel hatte, den sie Calmaro der Form halber hätte anbieten können.

Vorsichtig zupfte sie mit den Stäbchen den obersten Tofuwürfel von dem Schälchen, steckte ihn sich in den Mund und jubilierte gleichzeitig mit ihrem glucksenden Magen, als die süßsauere Soße sich auf ihrer Zunge ausbreitete. Mmh ... lecker!

Mit glücklichem Lächeln drehte sie sich ein Stück zu Calmaro herum, dem sie erst antwortete, als sie ordentlich heruntergegessen hatte.

Emma lernte ja dazu. Außerdem entging ihr nicht, wie langsam ihr Boss aß. Immer nur in winzigen Häppchen, die er so lange kaute, dass sein Magen bestimmt gar nicht viel davon abbekam, wenn er endlich schluckte. Bestimmt war er deshalb so schlank.

Verstohlen musterte Emma ihn kurz und zog dann ihren eigenen Bauch ein bisschen ein, der für ihren Geschmack zu sehr in den Vordergrund rückte, wenn sie auf einem Barhocker saß. Womöglich sollte sie sich an dem orientieren, was ihr Chef so aß?

Oh, scheiß drauf.

Sie hatte so einen Hunger! Und außerdem war es verdammt lecker!

Zumindest das sagte sie ihm auch.

„Ich finde es toll. Gestern habe ich schon original japanisches Sushi probiert. Unglaublich. Und dabei haben wir zu Hause ja auch wirklich Glück, was frischen Fisch angeht. Ich denke mal, das ist einfach die Umgebung. Das Flair hilft.“

Sie grinste, bevor sie sich wieder einen Bissen gönnte.

„Schmeckt Ihres?“

 

„Oh ja, es ist sehr gut. Ich persönlich finde die Gewürze, welche die japanische Küche verwendet, sehr geschmackvoll. Überhaupt alles, was mehr in die fernöstliche Richtung geht, daher noch einmal vielen Dank für das Curry. Es war sehr lecker.“

Cayden nahm noch einen genießerischen Bissen, kaute, bis er jeden noch so kleinen Geschmacksimpuls herausgekostet hatte, ehe er hinunterschluckte.

Essen war für ihn etwas, auf das er nie verzichten könnte. Nicht etwa alleine, wegen des Energiewerts, den ihm jede Mahlzeit bot, sondern allein wegen all der verschiedenen Geschmacksrichtungen, die man ohne Essen gar nicht wahrnehmen könnte. Manche Speisen waren sogar so gut, dass man fast einen Orgasmus im Mund davon bekam. Einfach göttlich!

„Und es schreckt Sie nicht ab, rohen Fisch zu essen? Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe Sushi wegen des Geschmacks sehr gerne, aber wenn zum Beispiel Leute so von Kaviar schwärmen, kann ich das nicht nachvollziehen. Ich meine rohe Fischeier? Da sind mir gebratene Heuschrecken noch lieber.“

 

„Sehr gern.“

Wenn er immer noch an das Curry dachte, musste ihm das wirklich ziemlich gut geschmeckt haben. Oder die Überraschung darüber, dass sie ihn einfach so damit überfallen hatte, war hängen geblieben. Warum Calmaro sich daran erinnerte, war Emma eigentlich egal. Solange es eine positive Erinnerung war – und das schien der Fall zu sein.

„Nein.“

Emma sah auf ihre Schüssel und überlegte kurz.

„Ich kann Ihnen gar nicht sagen, warum. Denn eigentlich bin ich kein großer Fischfan. Wo mein Mitbewohner in Lobeshymnen aufgehen und einen ganzen Fisch auf den Grill werfen kann, denke ich nur immer an die Gräten und dass es mir zu sehr nach Salzwasser schmeckt. Zu ... naja ... fischig. Wie gesagt, ist eben nicht gerade meins. Aber bei Sushi ist das irgendwie was Anderes. Vielleicht, weil es gar nicht nach Fisch schmeckt.“

Sie hob eine Augenbraue und aß langsam weiter, während sie in gegebener Pause auch den Rest seiner Fragen beantwortete.

„Kaviar zu essen, kann ich mir nicht recht vorstellen. Das finde ich schon deshalb irgendwie abartig, weil es nun einmal Eier sind. Und wird der nicht sogar vom noch lebenden Stör genommen?“

Emma schauderte bei dem Gedanken.

„Haben Sie denn schon mal gebratene Heuschrecken probiert? Ich wollte schon immer mal zum Freaky Food Festival in Auckland – oder wie es genau heißt. Da kann man sowas ja einfach mal testen. In Schokolade gibt es die Insekten ja auch. Würde mich schon interessieren.

Was seltsames Essen angeht, kann ich zum Beispiel frittierten Schokoriegel nicht empfehlen. Das hab ich schon gegessen. Bei frittierter Pizza hab ich aber gepasst.“

 

„Vielleicht sollten Sie einmal Süßwasserfische probieren. Es gibt Forellensorten, die haben so große Gräten, dass man sie als Stockfisch auf einem Stock brät und man sie einfach so davon herunter essen kann, ohne ständig eine kleine Gräte in den Mund zu bekommen.“

Aber was den Geschmack von Sushi anging, gab Cayden ihr recht. Es schmeckte nicht wirklich nach Fisch, sondern einfach nur … unbeschreiblich. Vor allem mit den verschiedenen Beilagen war es eine delikate Speise.

„Wenn Sie mich fragen, finde ich es überhaupt abartig, Tierkinder zu essen. So etwas wie Lammkeule, Kalbsbraten oder in diese Richtung, finde ich einfach nur grausam.“ Wobei er hier nicht die Art erwähnen wollte, mit der viele Tiere gehalten und getötet wurden. Das war kein Gespräch, das man am Tisch und beim Essen führen sollte.

Cayden nahm nachdenklich einen weiteren Bissen und spürte bereits, wie er langsam satt wurde, obwohl er die Schüssel vielleicht zu einem Viertel geleert hatte.

„Ich wusste gar nicht, dass es in Auckland so ein Fest gibt. Und auch wenn ich noch keine Heuschrecke im Schokoladenmantel probiert habe, hört es sich doch sehr interessant an. Vor allem die Sache mit der Schokolade.“

Er lächelte etwas verschmitzt, weil er nicht leugnen konnte, dass er Schokolade in den verschiedensten Ausführungen liebte.

„Aber um zu Ihrer Frage zurückzukommen, ich habe schon gebratene Heuschrecken gegessen. Genauso wie Larven, Puppen, Termiten und andere Sachen, die viele Menschen als eklig ansehen würden. Aber wenn man einmal darüber hinweg sieht, was man da eigentlich genau isst, schmeckt es richtig zubereitet wirklich gut und es ist im Grunde genommen vor allem in den ärmlicheren Ländern logisch, sich an die Insektenküche zu halten, wo Fleisch von Säugetieren unerschwinglich wäre. Zudem weisen zum Beispiel Termiten mehr als das doppelte so viel Eisen in gleicher Menge wie mageres Rindfleisch auf und Insekten enthalten viele wertvolle Aminosäuren, haben zudem einen hohen Proteinwert und nur einen äußerst geringen Fettanteil. Eigentlich das ideale Nahrungsmittel, da Insekten bis auf das ewige Eis überall in der Natur vorkommen.“

 

Emma lachte.

„Sie hören sich ein bisschen so an, als würden Sie dieses Gespräch nicht zum ersten Mal führen.“

Das Gefühl hatte sie in seiner Gegenwart schon mehrmals gehabt. Gerade so, als hätte er immer die perfekte, geschliffene Antwort parat und würde nie von etwas überrascht. Manchmal wirkte das ein bisschen ungelenk und einstudiert, selbst wenn Calmaro das mit dem einen oder anderen Lächeln wieder gut machen konnte. Außerdem glaubte Emma nicht, dass er auf wirklich alles so eine Antwort parat hatte. Vielleicht bewegte er sich einfach gern in ruhigen Gewässern und konnte Menschen so leiten, dass er nie auf Themen stieß, die ihn unvorbereitet trafen.

„Ehrlich gesagt würde ich sowas schon gern mal probieren. Zwar könnte ich mir vorstellen, dass ich dann doch kneife, wenn die gegrillte Larve sich erst meinem Mund nähert, aber trotzdem ...“

Wieder musste sie lachen. Diesmal über sich selbst.

„Was ich aber gern versuchen würde, wäre gegrillte Schlange. Als Kind hab ich furchtbar gern diese Abenteuerdoku im Fernsehen gesehen ...“

Sie grübelte und tippte sich dabei mit den Stäbchen an die Unterlippe.

„Hm ... mir fällt der Titel nicht ein. Na, jedenfalls war da ein Mann in OZ unterwegs und hat sich öfter mal von Larven – roh und gegrillt – und Schlangen oder Ähnlichem ernährt. Das scheint mir irgendwie nachzuhängen.“

Sie wunderte sich schon wieder, dass ihr Begleiter so aussah, als würde ihm das Essen nicht schmecken. Er hatte es kaum angerührt und auch jetzt ruhten seine Stäbchen.

„Sehen Sie eigentlich überhaupt fern? Einmal von Börsenkursen und Nachrichten abgesehen?“

 

Emmas Lachen verursachte ihm eine prickelnde Gänsehaut auf den Armen, was sie zum Glück nicht sehen konnte, da er immer noch seine Jacke trug, dennoch musste er sich von ihrem Mund losreißen, als sie weiterzusprechen begann.

Leicht irritiert über seine Reaktion nahm er den Faden des Gesprächs wieder auf und bekam gleich den nächsten gefühlsmäßigen Stups verpasst.

Zuerst sah er sein Gegenüber nur an, ehe er etwas unsicher, und gespielt zerknirscht, lächelte.

„Oh nein. Ich hab’s schon wieder getan, oder?“

Lächelnd schüttelte er den Kopf über sich selbst und fuhr fort, bevor Emma ihn verwirrt ansehen konnte.

„Ich meine, dass ich so klinge, als würde ich einen Vortrag halten. Es tut mir leid. Aber ich kann Ihnen versichern, dieses Gespräch habe ich noch nicht allzu oft geführt und es ist garantiert nicht meine Absicht wie ein Redner zu klingen. Aber ich garantiere, wenn Sie mir etwas von Themen erzählen, von denen ich nicht die geringste Ahnung habe, werde ich Sie vermutlich einfach nur verständnislos ansehen und brav nicken.“

Nun grinste er doch ein bisschen.

„Okay, vielleicht nicht ganz so extrem, aber Sie wissen, was ich meine.“

Als Emma sich mit den Stäbchen nachdenklich an die Unterlippe tippte, während sie über den Namen des Filmes nachdachte, der offenbar irgendeine Abenteuerdoku sein musste, konnte Cayden nicht anders. Er musste ihren Mund anschauen, und zwar dieses Mal so deutlich und bewusst, wie er ihren Mund vermutlich noch nie angesehen hatte.

Emmas Lippen waren voll, sinnlich geschwungen und das Gesamtbild ergab einen Mund mit dem man so einiges anstellen woll–

Cayden räusperte sich leise, um eine Grund zu haben, seinen Blick von Emma zu nehmen und steckte sich noch einen Bissen in den eigenen Mund, obwohl er bald das Gefühl hatte, zu platzen. Sehr viel mehr ging bei ihm nicht mehr rein.

„Nein. Zumindest nicht, seit ich die Firma gegründet habe. Aber davor war ich auch an alle möglichen Dokumentationen interessiert, genauso wie Fachzeitschriften und Vorträgen. Und sehen Sie gerne fern, einmal von Abenteuerdokumentationen abgesehen? Vielleicht irgendwelche Filme?“

 

Ein breites Grinsen schlich sich in ihr Gesicht, obwohl Emma erst jetzt merkte, dass sie ziemliches Glück gehabt hatte. Den Kommentar hätte Calmaro ihr auch ganz schnell krummnehmen können. Aber scheinbar war sie nicht die Erste, die über seine glatte Art zu sprechen gestolpert war.

„Ach, machen Sie sich nichts draus.“

Lächelnd winkte sie ab.

„Ich weiß tatsächlich, was Sie meinen. Manchmal hat man auch das Bedürfnis, sich einem bestimmten Thema einfach zu entziehen. Da ist freundlich zu lächeln und nicken die beste Variante an Reaktion, die ich kenne. Nur dumm, wenn einen dann jemand etwas fragt.“

Diesmal wandelte sich ihr Lächeln ins Verschwörerische und Emma schob sich noch einen ziemlich großen Würfel Tofu in den Mund und gleich zwei glasierte Minikarotten hinterher.

„Welche Fachzeitschriften denn? Ich lese zwischendurch ganz gern die National Geographic. Deren Reportagen und Dokus sehe ich mir auch gern im Fernsehen an. Hauptsächlich, wenn etwas über Tiere läuft. Und sonst ... sehe ich eigentlich nicht sooo viel fern. Dafür schauen wir in der WG oft DVDs. Alles Mögliche: von Actionfilmen angefangen, über Liebesschnulzen, bis zu Fantasy. Auf Komödien stehe ich nicht so. Da kann ich meistens einfach nicht mitlachen.“

 

Cayden zuckte leicht mit den Schultern.

„Eigentlich so ziemlich jede Fachzeitschrift, die es gibt.“ Vor allem nicht nur beschränkt auf die englischen Zeitschriften, sondern Zeitschriften rund um den Erdball. Eine Tatsache, die er besser unerwähnt ließ, da es vielleicht verraten hätte, wie viele Sprachen er in Wirklichkeit tatsächlich sprechen, aber vor allem auch lesen und schreiben konnte. Die meisten davon fehlerfrei und fast ohne Akzent.

„Sie interessieren sich also sehr für Tiere. Das kann ich verstehen. Es gibt so viele verschiedene Tierarten auf der Welt, mit den unterschiedlichsten sozialen Gewohnheiten, Lebensarten, Überlebenstaktiken und die Brautwerbung einiger Tiere finde ich auch sehr ausgefeilt und spannend.“

Es folgte noch ein Bissen, den er winzig klein kaute und dann gezwungenermaßen auch hinunter schluckte.

„Interessant. Ich hätte eigentlich angenommen, dass Sie Komödien mögen. Dass dem nicht so ist, hätte ich nicht gedacht. Und warum finden Sie die meisten davon nicht zum Mitlachen? Bei einigen kann ich es natürlich verstehen, wenn es ins Übertriebene geht, aber bei den anderen …“

 

„Dann mögen Sie auch so richtig technisches Zeug? Sie hatten ja schon erwähnt, dass sie viel Elektronik zu Hause haben. Sowas wie die neueste Generation Fernseher, PC und Garagentoröffner? Oder auch andere Sachen?“

Damit hatte Emma eher weniger am Hut. Sie war nur froh, wenn das funktionierte, was sie brauchte. Schnickschnack war ohnehin meistens zu teuer. Aber das war vermutlich nicht Calmaros Problem.

„Ich habe einmal ein tolles Buch über die Entwicklung der Tiefsee gelesen. Das kann ich nur immer weiter empfehlen. Es war leicht verständlich, trotzdem nicht langweilig und stellenweise sogar witzig. Wenn es Sie interessiert –“

Emma ließ den Rest des Satzes im Sande verlaufen. Keine Zeit. Das würde die Antwort sein. Daran sollte sie sich einfach gewöhnen.

Im nächsten Moment hob sie sehr interessiert die Augenbrauen und sah ihn unverhohlen neugierig an.

„Ach ja? Wieso dachten Sie denn, dass ich Komödien mag? Sehe ich nicht aus, wie ein Actionjunkie?“

Sie lächelte warm, da sie ihm das bestimmt nicht übel nahm. Emma lachte nun einmal gern, da war das ein naheliegender Schluss gewesen.

„Das kann man schlecht erklären, finde ich. Meistens sind mir die Filme, die als tolle Komödien angekündigt sind, einfach zu flach. Da kommt bei mir mehr der Hang zum Fremdschämen auf, als wirklicher Spaß. Ich finde eher skurrile Sachen witzig.“

 

„Wenn Sie das Buch meinen, das auch ich für eines der Besten in diesem Gebiet halte, dann habe ich es bereits gelesen. Trotzdem vielen Dank. An Wissen bin ich immer interessiert.“ Selbst wenn er sich das Buch zunächst nur kaufen und es erst Jahre später lesen würde.

Sein Lächeln vertiefte sich, während sein Nacken zu kribbeln begann, als Emma ihm diesen komplett neuen Blick schenkte, den sie ihm noch nie geschenkt hatte.

„Um ehrlich zu sein, Sie sehen aus wie eine Frau, die man nicht leicht einschätzen kann. Ich weiß, dass Sie fleißig sind. Sich mit allen Kollegen gut verstehen und gewissenhaft arbeiten. Ich weiß, dass Sie oft und gerne lachen und auch andere mit ihrer Art anstecken können und ich weiß, dass Sie vor neuen Aufgaben nicht zurückschrecken, weshalb ich glaube, dass Sie auch durchaus abenteuerlustig sind. Ein Actionjunkie würde daher ebenso naheliegen.“

Cayden bemerkte gar nicht, wie sein Dauerlächeln, inzwischen seine Augen vollkommen in Anspruch nahm und wie er sich auch auf nonverbaler Ebene immer weiter für Emma und das Gespräch zwischen ihnen beiden öffnete.

Da er sich davor hütete, noch mehr zu essen, weil ihm nicht auch noch schlecht werden sollte, stocherte er nur noch darin herum. Zudem konzentrierte er sich ohnehin viel lieber auf ihr Gespräch.

„Also, wenn Sie sagen, dass Sie skurrile Sachen witzig finden, nehme ich an, dass Sie auch Horrorfilme nicht allzu ernstnehmen. Wobei ich hierbei eher diejenigen mit irgendwelchen Monstern und Sagen meine. Ich persönlich finde nichts an einer hirnlosen Handlung, in der irgendein gestörtes Individuum Leute abschlachtet. Zumal die heutige Technik das alles schon so unglaublich echt aussehen lässt.“

Für einen winzigen Augenblick huschte ein dunkler Schatten über seine Augen, denn er wusste, wie solche Sachen in Wirklichkeit aussahen, und fand es daher erschreckend, dass man so etwas bereits im Fernsehen serviert bekam, während die meisten Menschen doch keine Ahnung über wahres Leid und Schmerz hatten.

Doch so schnell dieser Gedanke auch gekommen war, so schnell verschwand er auch wieder.

„Für was für eine Art von Fantasy interessieren Sie sich denn üblicherweise?“

 

„Danke. Das ... ist eine sehr nette Einschätzung.“

Und das machte sie gerade irgendwie verdammt nervös. Ungefähr in dem Maße, in dem sie auch der Tanz mit ihm auf der Spendengala nervös gemacht hatte. Mit einem prickelnden Unterton, den es auch damals hatte und von dem Emma wusste, dass er nicht gut sein konnte. Zumindest nicht im Bezug auf den Mann, der vor ihr stand.

„Hm.“

Sie wedelte als Übersprungshandlung mit den Stäbchen in der Luft herum, während sie leicht den Kopf schüttelte.

„Nein, diese Thriller-Blut-Fetzen sind nichts für mich. Mir reicht es manchmal schon bei Krimis, die ich lese. Da geht mir teilweise die Phantasie durch. Wobei ich zum Beispiel Zombiefilme tatsächlich nicht ernstnehmen kann.“

Sie sah ihn unter gesenkten Wimpern an und lächelte.

„Was aber nicht heißt, dass ich nicht jedes Mal erschrecke, wenn die Regisseure es geplant haben.“

Von dem Thema, das ihr gerade unglaublich weit weg schien, ließ sich Emma bestimmt nicht den Appetit verderben. Ihre Schüssel war fast leer, obwohl sie so viel quasselte. Aber vielleicht hätte sie sich verbieten sollen, sich mit Calmaro zu vergleichen.

Ein einziger Blick auf seine Portion – die fast überhaupt nicht geschrumpft war – vermittelte ihr sofort ein schlechtes Gewissen.

So wurde sie ihren breiten Po niemals los!

Mit einem winzigen Seufzen sah sie auf ihren Essensrest, das leckere Tofustückchen und riss sich dann zusammen, indem sie ihre Schale auf die Bar stellte und damit ihr Essen für beendet erklärte.

Um sich davon abzulenken, dass sie gern noch mehr gegessen hätte, ging sie lieber auf Calmaros Frage ein.

„Oh, ziemlich viel in Richtung Fantasy. Ich mag echte Heldengeschichten – sowas wie Herr der Ringe, was in anderen Welten spielt. Aber auch Vampirsachen. Dracula fand ich schon als Teenager toll! Und diesen Film mit Tom Cruise und Brad Pitt „Interview mit einem Vampir“. Gott, da hab ich als Teenie-Mädel geschmachtet! Jetzt steh ich eher auf die bösen Jungs. Naja ... Sie wissen schon. Frauen bleiben ihr ganzes Leben lang auch irgendwie 'Mädels'.“

 

Cayden nickte auf genau die Art, wie sie sie vorhin noch angeprangert hatten.

„Genauso wie Männer auch immer irgendwie kleine Jungs bleiben.“

Er sah Emma nicht an, sondern kramte nachdenklich mit seinen Stäbchen in seiner Schüssel herum, pickte sich doch noch einen kleinen Pilz heraus, den er sich in den Mund steckte, nur allein um sich durch das Kauen noch ein bisschen mehr Zeit zu verschaffen.

Er wusste nicht genau, was er von Emmas Ansicht über Vampire halten sollte, zumal das ja gerade doch noch irgendwie eine recht dürftige Erklärung war. Aber sie stand auf böse Jungs …

War nur die Frage, in welchem Sinne böse. Da gab es ebenfalls mehrere Abstufungen davon, bevor man jemanden als wirklich schlecht bezeichnen konnte.

„Hm … Entschuldigen Sie meine Neugier, aber das hat mich als Mann schon immer interessiert“, log er glatt ohne mit der Wimper zu zucken, weil er ihr nicht einfach die Wahrheit sagen konnte.

„Wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie als junge Frau von toten Männern geschwärmt, die – laut Anne Rice – impotent sowie kalt wie Stein sind und noch dazu jede Nacht mehrere Menschen leersaugen? Oder ist es eher die Faszination der ewigen Jugend und Schönheit?“

Cayden fragte sich insgeheim, ob man ihn in irgendeiner Realität ebenfalls als bösen Jungen bezeichnen konnte und ob Emma Vampire nur deshalb mochte, weil sie glaubte, sie wären nichts weiter als mystische Figuren aus Legenden.

Es war tatsächlich genial, dass seine eigene Art für die ganzen falschen Vampirannahmen verantwortlich war, damit ihre Identität noch besser geschützt war, wenn sie schon nicht verhindern konnten, dass man über sie sprach.

So war es leicht, als Mensch durchzugehen, wenn man unter dem Sonnenlicht wandeln konnte, während alle Menschen glaubten, Vampire würden dann sofort zu Staub zerfallen oder in Flammen aufgehen.

Trotzdem fand er gerade das so seltsam an der menschlichen Faszination über Vampire. Schließlich war an einem impotenten, mörderischen, blutgeilen Kerl, der kalt wie Stein war, nicht wirklich etwas Sinnliches dran. Oder er bekam da einfach irgendwie die Pointe an der ganzen Sache nicht mit.

 

„Sie lesen Anne Rice?!“

Diesmal dauerte es, bis Emmas Lachen sich zu einem glucksenden Kichern heruntergeschraubt hatte und sie sich leicht mit der Hand auf die Lippen drückte, um sich weiter zu beruhigen. Laut los zu lachen war in Japan – zumindest in der Öffentlichkeit eines Restaurants – wohl nicht so wirklich angesehen. Dumme Touristen.

„Nein, um Gotteswillen. Wie gesagt, Dracula war ja eher mein Vorbild, was den 'Vampir' angeht. Er war auch nicht tot, sondern zu ewigem Leben verdammt, weil er mit Gott gebrochen hat. Weil ihm – so wie er es verstanden hat – seine große Liebe durch Gottes Willkür geraubt wurde. Romantisch bis zum Herz erweichen. Außerdem war Dracula in seiner jungen Form recht attraktiv und keinesfalls impotent.“

Zumindest hatte Bram Stoker das bestimmt nicht andeuten wollen, als der Vampir im Park über Lucy 'hergefallen' war und sie sich danach für ihre 'Hingabe' geschämt hatte.

„Was die Jugend und Schönheit angeht ... Ich glaube, dass man sich trotz dieser Dinge nach hunderten von Jahren ziemlich einsam fühlen müsste. Ich meine, es muss ziemlich traurig sein, wenn alle Freunde oder auch Geliebte irgendwann sterben und man bleibt allein zurück und muss von vorn anfangen.“

Emma sah in sein Gesicht und fand eine verschlossene Miene vor. Etwas, das ihr sofort und sehr nachhaltig den Mund schloss, wäre es nicht um einen Themenwechsel gegangen, den sie aber mit klopfendem Herzen und sehr viel weniger Enthusiasmus über die Lippen brachte.

„Mögen Sie denn auch andere Sportarten? Außer Schwimmen?“

 

Wie zuvor schon angemerkt, war es unmöglich, sich Emmas Lachen zu entziehen, auch wenn er der Grund ihrer Erheiterung war.

Cayden musste trotzdem grinsen und er fühlte sich auf merkwürdige Art beruhigt, das Emma Vampire für romantisch und all das Drum und Dran hielt, anstatt einfach nur nach den Lektüren von Anne Rice zu gehen. Die er persönlich höchstens historisch interessant fand und auch in Sachen der gepeinigten Seelen der Vampire sehr oft ins Schwarze traf, aber ansonsten gab es bessere Autoren von Vampirromanen.

Der leicht schmunzelnde Zug um seine Lippen erlosch, als Emma weiter ihre Ansicht der Dinge darstellte und nun dieses Mal ziemlich deutlich ins Schwarze traf, was ihn persönlich anbelangte. Etwas das ihm ganz und gar nicht behagte und doch nicht gänzlich missfiel, weil sie es irgendwie zu verstehen schien. Auch wenn sie diese Art von Drama niemals so nachvollziehen konnte, wie er selbst es tat.

„Ja, durchaus. Sogar sehr viele Sportarten.“

Cayden hatte kein Problem mit dem Themenwechsel und er nahm ihn auch voll und ganz auf.

„Von Skifahren, Snowboarden, Tauchen und Fallschirmspringen angefangen, über Kanufahren, Segeln, Joggen bis hin zu Bogenschießen, ein paar Kampfsportarten und Yoga. Reiten ist auch einer meiner meist begehrtesten Favoriten. Oder war es. Das alles liegt schon länger zurück.“

Viel zu lange.

„Und was weckt Ihr Interesse so? Einmal von Sport abgesehen. Irgendwelche Hobbys?“

 

Nun war Emma ganz froh, dass Calmaro nicht darauf bestand, sie nach ihren sportlichen Hobbys auszufragen. Denn viel hätte sie da leider nicht zu berichten gehabt.

Kathy wollte sie zwar immer einmal wieder dazu überreden, zum Hot Yoga mitzukommen, aber Emma war bis jetzt immer eine gute Ausrede eingefallen. Außer Tanzen und Skifahren machte sie einfach nicht viel und auch nicht sehr gerne Sport. Man konnte sogar sagen, Emma hielt sich für einen durchaus faulen Menschen, was Sport anging.

„Bei mir sind es die üblichen Verdächtigen. Wie ich Ihnen schon mal erzählt habe, gehe ich gern ins Kino und ich lese viel. Kreuz und quer. Teilweise auch ziemlich viele Jugendbücher, aber dann auch wieder Sachwissen oder Krimis. Wobei ich im Moment nicht so gerne Krimis lese. Das kommt immer in Wellen. Mal lese ich viele, dann wieder eine Zeitlang fast überhaupt keine.“

Gerade kam einer der Kellner und holte Emmas Schale ab. Auch Calmaro reichte dem Mann sein Geschirr und Emma bat ihren Chef, dem Japaner zu sagen, dass das Essen wirklich unglaublich lecker gewesen sei. Das Lächeln und das höfliche Nicken, das sie daraufhin erntete, freute Emma.

„Was meinen Sie, sollen wir zum Hotel zurück spazieren?“

 

Es war vielleicht keine Seltenheit, aber doch immer wieder einmal ungewohnt für Cayden, dass er sich auch in Zeiten von Arbeit mit einem außerfamiliären Menschen so lange und einfach unterhalten konnte wie mit Emma.

Normalerweise trat irgendwann ein Moment ein, in dem einfach immer öfter Schweigen aufkam und man die Lücken fast schon mit verbaler Gewalt zu füllen versuchte. Was meistens ein Problem war, wofür Cayden sich verantwortlich fühlen musste, da er selten etwas von sich preisgab. Obwohl genau die Dinge, die er Emma so leicht erzählte, wirklich keine Gefahr für ihn darstellen konnten. Schließlich passte er bei allem auf, was er sagte.

Auf jeden Fall gestaltete sich der Nachhauseweg zum Hotel als auch weiterhin interessant und kam zu einem überraschenden Abschluss, als Emma ihn doch tatsächlich fragte, ob er nicht Lust hätte, morgen mit ihr die Tempelanlagen zu besichtigen.

Cayden hatte nur kurz gezögert und an den Stapel von Arbeit gedacht, den er in seinem Zimmer herumliegen hatte, ehe er ihr zusagte.

Er war nicht oft in Tokio und schon gar nicht in Begleitung mit einer Person, der er ununterbrochen zuhören könnte und von der er immer seltener die Augen lassen konnte.

Ja, Emma war ein Mensch, aber sie war auch eine Frau, und obwohl er sich gerne etwas anderes glauben machen wollte, war auch er nur ein Mann, der sich ab und zu nach etwas sehnte.

Es war nicht das, woran man sofort bei diesem Gedanken denken würde, obwohl er sich schon einmal vorgestellt hatte, wie Sex mit Emma sein könnte. Nein, es war einfach ihre Nähe und das Gefühl nicht ständig alleine und irgendwie – isoliert zu sein.

Bei ihr hatte er nicht das Gefühl, als müsse er ständig beweisen, was für ein knallharter Geschäftsmann er war. Er musste sich auch nicht zwingend ihrer positiven Ausstrahlung verweigern, sondern ließ sich sogar immer wieder davon beeinflussen. Er lächelte, wenn ihm danach war und nicht, wenn es angemessen gewesen wäre. Er durfte in ihrer Nähe wieder ein Stück der sein, der er einmal war, ohne ständig Angst haben zu müssen, dass er es irgendwann hundertfach zurückbekam.

Nur allzu schnell hatte er vergessen, dass er ihr Boss und sie seine Assistentin war und es eigentlich nicht so zwischen ihnen sein sollte.

Cayden genoss es einfach und ging schließlich mit einem willkommenen Gefühl von Vorfreude auf den nächsten Tag ins Bett.

Wenigstens einen Tag lang, wollte er nicht an die Arbeit denken müssen und was das alles für Pflichten mit sich brachte. Morgen würde er, soweit er das überhaupt konnte, etwas von seinem Workaholictum im Hotelzimmer lassen und stattdessen einfach abwarten, was der Tag bringen würde.

19. Kapitel

Es waren einfach unglaublich viele Menschen!

Obwohl sie gleich nach dem Frühstück losgegangen waren, hatte Emma das Gefühl, in dem Touristenstrom zu ertrinken, der sich auf die Tempel und Schreine zubewegte. Vor allem aus den U-Bahn-Aufgängen drängten immer mehr Menschen. So viele, dass Emma sich gar nicht vorstellen konnte, wie viele U-Bahnen gleichzeitig hatten ankommen müssen, um so viele Leute ausspucken zu können.

„Ich bin froh, dass wir gelaufen sind“, meinte sie zu Calmaro, der sie aber vermutlich bei dem Lärmpegel gar nicht hatte hören können.

Sie wurden mehr geschoben, als sie auf den Park zugingen, bis ... es auf einmal besser wurde. Kaum waren sie an einem großen Tor vorbei, durch ein Weiteres hindurch und auf eine gekieste Fläche getreten, wurde es so plötzlich ruhig, dass Emma sich erstaunt umsah. Die Menge schien halb vor dem Tor zurückgeblieben zu sein und die andere Hälfte hatte sich verteilt.

Mit einem kleinen, erleichterten Seufzen ließ Emma ihre Handtasche los, die sie bis jetzt krampfhaft festgehalten hatte, und schüttelte kurz ihre Füße in den schwarzen Turnschuhen aus. Sie zog einen kleinen Plan, den sie im Hotel bekommen hatte, aus der Jackentasche und faltete ihn auf.

Nach einem bisschen Herumdrehen hatte sie ihn so in der Hand, dass sie genau sehen konnte, wohin sie von hier aus als Erstes marschieren könnten.

„Ich würde gern den Tempel mit dem riesigen Lampion sehen.“ Ihr Finger deutete auf einen Schnappschuss und eine kleine Erklärung neben der Karte.

„Ansonsten bin ich für alles offen. Waren Sie schon mal hier?“

 

„Nein, bis jetzt noch nicht.“

Und das freute in mehr, als angemessen sein dürfte, aber so war das nun einmal bei ihm, wenn er Sachen sah, die er noch nicht schon wenigstens einmal gesehen hatte. Da war die Überraschung wenigstens noch nicht vorüber.

Cayden stellte sich leicht hinter Emma, um über ihre Schulter hinweg auf den Plan sehen zu können, den sie in der Hand hielt, und studierte auch gleich die anderen möglichen Stationen.

„Der riesige Lampion scheint mir ein gutes Ziel zu sein. Wenn es irgendwo auf dem Weg dorthin einen Teich mit Kois gibt, bin ich eigentlich schon zufrieden.“

Es war ein bisschen Schade, dass sie die Sakurablütensaison nicht erleben konnten, aber die Bäume machten auch jetzt ein schönes Bild und die Tempelanlage war hübsch gestaltet.

Von der hektischen Stadt war in dieser Oase der Ruhe kaum noch etwas mitzubekommen, von den vielen Touristen einmal abgesehen.

„Es ist lange her, dass ich in einer Tempelanlage war, daher würde ich sagen, ich hänge mich einfach an Sie dran und wir sehen, was sich so ergibt.“

Damit gab Cayden ihr offiziell die Erlaubnis, die Führung über ihre Zweiergruppe zu übernehmen, ohne dass er irgendwelche Einwände erheben würde.

 

„Okay.“

Emma steckte den Plan ein, auf dem leider kein Koi-Teich verzeichnet gewesen war. Aber vielleicht gab es irgendwo im Inneren der Tempelanlage einen.

„Sie mögen also Kois? Ich finde sie auch toll. Irgendwann habe ich mal im Fernsehen einen Bericht gesehen, in dem es darum ging, einen Koi zu züchten, der die japanische Flagge darstellt. Am Ende ist der Fisch für mehrere tausend Dollar verkauft worden.“

Für einen Fisch!

Emma gefielen die hübschen Fische. Einfach weil sie so groß waren und in so vielen Farben vorkamen.

„Mir gefallen die Dreifarbigen am besten. Und die in Weißorange.“

Sie sah zu Calmaro hoch und lächelte, während sie auf einem Kiesweg an mehreren Kirschbäumen vorbeigingen und man in einiger Entfernung schon einen Pagodenturm sehen konnte. Irgendwo dort in der Nähe musste der Lampion-Schrein sein.

„Haben Sie vielleicht sogar Kois? Wobei die ja sehr viel Pflege brauchen.“

Vielleicht hatte er auch den passenden Gärtner.

 

Cayden musste fast lachen, bei der Vorstellung, man könnte ihm ein richtiges Haustier anvertrauen.

„Ich finde Kois auch toll, wobei mir die vollkommen Goldfarbenen am besten gefallen. Aber nein, ich habe keine. Eigentlich besitze ich nichts, was mehr Pflege bedarf als ein paar Topfpflanzen und kleine Zierfische. Selbst die gieße und füttere ich nicht selbst.“

Außerdem starben die meisten Haustiere viel zu schnell weg. Da müsste es schon eine Schildkröte oder etwas derartig Langlebiges sein und die wären ihm dann doch zu langweilig.

Sein Aquarium diente da mehr dem Zweck einer Dekoration. Wobei …

„Wussten Sie, dass einzelne Exemplare von Kois bei guter Haltung über 200 Jahre alt werden können? Das erstaunt mich immer wieder, weil man Fischen dann doch keine so hohe Lebenserwartung zuschreiben würde. Zumindest nicht, wenn sie einem im Hausteich so schnell wegsterben.“

Das Gekreische eines kleinen Kindes lenkte ihn kurz ab und sein Blick wandte sich dem kleinen Drama zu, gerade als die Mutter das Kind vom Boden aufhob, wo es offenbar in seiner Freude über seine eigenen kleinen Füße gestolpert war.

Das gab ihm den Anlass, sich einmal genauer die Menschen um sie herum anzusehen.

So gut wie alle hier waren Touristen und manche schon so übertrieben auffällige, dass es einem fast schon peinlich war, ebenfalls zu dem Schlag zu gehören.

„Sind Sie eigentlich eine waschechte Wellingtonerin?“, fragte er ziemlich unvermittelt, während sie in Ruhe den Kiesweg entlang schlenderten, aber manchmal war es nicht ganz so leicht, seinen Gedankensprüngen zu folgen, zumal er selbst nicht immer mitkam.

 

Emma kaute auf ihrer Unterlippe herum, während sie beobachtete, wie die Mutter ihr kleines Kind zu beruhigen versuchte, das heulte, als hätte es sich wirklich wehgetan. Sowas bewunderte sie wirklich. So gern Emma Kinder auch mochte, sie fühlte sich in Situationen, wo sie losweinten – ob es nun schlimm war oder nicht – immer ziemlich hilflos. Im Trösten war sie nicht besonders gut.

Aber die Kleine stand bald schon wieder auf den kurzen Beinchen, hatte ihren Sturz scheinbar schon ganz vergessen, auch wenn ihre Bäckchen noch rot vom Weinen waren. Sie tapste sofort wieder drauflos und die Mutter glücklich lächelnd hinterher.

Emma fragte sich, für was man sie selbst und ihren Begleiter hielt.

Freunde? Ein Pärchen? Nein, dafür gingen sie nicht nah genug nebeneinander. Außerdem berührten sie sich nicht. Es gab kein Händchenhalten oder eine Umarmung oder so etwas in der Richtung. Eigentlich ... gar nichts, was auf eine starke Verbindung hätte schließenlassen.

Was auch heißt, er ist nicht … auf diese Art an mir interessiert.

Warum dachte sie überhaupt an sowas?

Emma sah ihn kurz verwirrt an, bis sie schnell seine Frage beantwortete. Immerhin konnte sie glücklich darüber sein, dass er sie auf andere Gedanken brachte.

„Ja, bin ich. In Wellington geboren, aufgewachsen und immer noch dort. Meine Mom lebt aber in Nelson. Da hat sie vor ein paar Jahren einen besseren Job gefunden. Sie sind ursprünglich nicht aus Welly, oder?“

Irgendwie war Emma sich immer noch nicht schlüssig, ob er überhaupt Kiwi war.

 

„Nein. Ich lebe erst seit ungefähr 14 Jahren in Neuseeland“, erklärte Cayden gelassen, während er versuchte, sich an Fakten zu halten, aber dabei doch nicht gänzlich die Wahrheit zu sagen.

Bevor er allerdings weitersprechen konnte, wurden sie beide von einem Pärchen getrennt, das sich partout nicht loslassen wollte, weshalb Emma und er ausweichen mussten.

Wieder nebeneinander fuhr er im Plauderton fort: „Meine Vorfahren müssen vermutlich irgendwo aus Europa stammen, was meine Haut- und Haarfarbe erklären dürfte, aber aufgewachsen bin ich in Zentralamerika. Besser gesagt in Belize.“

Zumindest hieß die Region dort heute so. Danach hatte er sich sehr früh erkundigt, auch wenn er schon sehr lange nicht mehr dort gewesen war.

„Und Sie hatten nie das Bedürfnis einmal hinaus in die Welt zu gehen und etwas anderes zu sehen als Wellington, oder gab es dafür andere Gründe?“

Falls er ihr zu neugierig war, würde sie es ihm bestimmt sagen, weshalb er einfach munter drauflosfragte. Was das anging, hatte er kaum Hemmungen. Solange die Leute redeten, würde er zuhören.

 

„Ja, stimmt. Wie ein Zentralamerikaner sehen Sie nicht aus.“

Emma grinste, was aber durchaus einen freundlichen und auch irgendwie hintergründigen Touch hatte.

„Wobei ich sogar glaube, dass rote Haare in fast allen Kulturen vorkommen. Bei manchen eben häufiger, als bei anderen. Kommen rote Haare in ihrer Familie öfter vor?“

Eigentlich müsste einer seiner Elternteile rothaarig sein, überlegte Emma und gab einen Tipp ab, ob es seine Mom oder sein Dad war. Sie glaubte ... Daddy hatte dem Sohnemann die Haarfarbe vererbt.

„Oh, verstehen Sie mich nicht falsch. Es ist nicht so, dass ich noch nie aus Welly raus gekommen wäre. Ich war in NZ öfter unterwegs und auch mal in OZ. Bloß weite Reisen, wie nach Asien oder gar Europa hab ich mir bis jetzt nicht leisten können. Ist ja auch verdammt weit weg. Schon allein der Flug kostet fast dreitausend Dollar.“

Es war nicht so, dass sie noch nie darüber nachgedacht hätte. In Europa oder den USA gab es ein paar Dinge, die sie gern einmal sehen würde. Zum Beispiel diese alten Schlösser und Kirchen. Die Gargoyles auf Notre Dame in Paris ... Solche Sachen.

„Ich werde das bestimmt irgendwann noch nachholen. Muss eben ein bisschen sparen. Darf man denn fragen, was Sie dann nach Welly verschlagen hat? Ist ja von ihrer Heimat aus auch nicht gerade der nächste Weg.“

 

Cayden folgte Emma in eine Kirschbaumallee, von der aus sie zu dem riesigen Lampion kommen würden, was aber bei ihrem langsamen Tempo noch etwas dauern dürfte.

Er dachte etwas über ihre Frage nach, während er sich die alten Bäume anschaute. Ihm fielen zuerst einige Antworten ein, die er ihr hätte geben können. Zum Beispiel, dass er die Haarfarbe von seiner Mutter hatte und die Augenfarbe von seinem Vater, oder dass seine ganze Sippe so aussah, wie er es eben tat. Vielleicht auch, dass er die Ausnahme war und das Aussehen von einem der Großelternteile vererbt bekommen hatte.

Doch letztendlich verwarf er diese ganzen Möglichkeiten, weil sie alle nicht stimmten. Zumindest wusste er es nicht.

Vielleicht hätte er einfach gar nichts sagen sollen, doch irgendetwas trieb ihn dazu, sich an die Wahrheit zu halten.

„Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht. Meine Mutter starb bei meiner Geburt und mein Vater kam bei einem Schiffsunglück ums Leben. Ich habe aus purem Glück dabei überlebt und bin dann von einer einheimischen Familie aufgenommen worden, da ich auch keine näheren Verwandten hatte. Aber ich denke, es dürfte durchaus in der Familie liegen.“

Er lächelte und er meinte es sogar ernst damit. Das alles lag schon so weit zurück, dass er schon sehr lange ganz normal darüber reden konnte. Außerdem erinnerte er sich wirklich nicht mehr allzu genau an seinen wahren Vater. Dafür war er viel zu klein gewesen.

„Ja, es ist tatsächlich kein Katzensprung und eigentlich ist es in Neuseeland sehr schön. Sie haben also durchaus auch gute Gründe zu bleiben.“

Caydens Lächeln vertiefte sich, als er Emma von der Seite her ansah und dabei daran dachte, dass sie auch durchaus noch sehr viel länger bei ihm arbeiten durfte. Ihre Gesellschaft war sehr angenehm.

„Eigentlich hat mich tatsächlich das Land nach Wellington verschlagen. Ich bin schon sehr viel in der Welt herumgekommen und habe viele verschiedene Länder und Kulturen gesehen. Aber Neuseeland hat eine faszinierende Schönheit, wenn man aus den Städten herauskommt und zudem ist das Wetter ein bisschen dem ähnlich, was ich gewohnt bin. Nicht zu heiß und nicht zu kalt. Schnee ist zwar toll, aber wenn ein halbes Jahr lang alles davon erstickt wird, kann man ihm sehr schnell überdrüssig werden.

Sie sagten, Ihre Mutter lebe in Nelson. Was ist mit Ihrem Vater? Haben Sie auch Geschwister?“

 

„Oh, das mit ihren Eltern tut mir leid.“

Mist. Emma konnte sich gerade noch so aus einem Loch schlechten Gewissens ziehen. Denn immerhin hatte sie nicht ahnen können, dass sie mit dieser Frage an einem Schicksalsschlag rührte. Trotzdem war es ihr unangenehm. Auch wenn Calmaro erstaunlich gefasst darüber hinwegging und ihre anderen Fragen beantwortete.

Da musste man vor Männern wirklich manchmal den Hut ziehen. Wäre ihr so etwas passiert, hätte sie zwanzig Jahre später mit einem fast Fremden vermutlich nicht so locker darüber sprechen können. Oder war es gerade die Tatsache, dass sie sich eigentlich nicht kannten, die es einfacher machte?

Emma versuchte nicht zu intensiv darüber nachzudenken, sondern ließ ihren Blick am penibel rasierten Rand des Rasens entlangschweifen, bis sie sich einem weiteren Tor näherten. Der Schrein, zu dem sie wollten, schien nicht mehr weit zu sein.

„Meine Mom und mein Dad waren zehn Jahre verheiratet, bis ich auf die Welt kam. Da ist meinem Dad ein Licht aufgegangen – eine Ehe und ein Kind waren einfach zu viel Arbeit und Verantwortung. Da hat er das Weite gesucht.“

Sie zuckte mit den Achseln. Da sie den Mann nur von ein paar alten Fotos kannte, machte ihr da nichts aus. Was man nie gehabt hatte, konnte man nicht vermissen und mit ihrer Mom allein war Emma immer sehr gut klargekommen. Auch wenn es manchmal geldmäßig ein bisschen knapp gewesen war.

„Angeblich hat er noch ein Kind, was heißen würde, dass ich noch Stiefgeschwister habe. Aber genau weiß ich das nicht.“

Emma war ganz froh, dass sie jetzt wieder von mehreren Menschen begleitet wurden, die ebenfalls auf den Eingang der Schreinanlage zusteuerten. Hinter dem Tor konnte man bereits kleine Buden und Souvenirstände erkennen und einen Durchgang, in dem wohl hoffentlich der riesige, rote Lampion hängen musste.

„Wir sind fast da, glaube ich.“

Eigentlich wollte Emma nur den Hals ein bisschen recken, um sehen zu können, ob es auch der richtige Schrein war. Dabei kam sie allerdings minimal ins Straucheln und stützte sich kurz an Calmaros Oberarm ab, bevor sie ihn vollkommen anrempelte.

„Entschuldigung.“

Sie lächelte und versuchte das Flattern ihres Herzens zu übertünchen, das ihr so seltsam und unpassend vorkam in diesem Moment.

„Es ist wohl der Richtige.“

 

„Das ist etwas, das ich noch nie verstanden habe“, meinte Cayden seufzend und fragte sich, was für ein Idiot Emmas Vater gewesen sein muss.

Zehn Jahre mit einer Frau verheiratet zu sein, war schon bemerkenswert und dann ein Kind zu bekommen, klang in seinen Augen auch nach einem Entschluss und nicht einfach nach einem Unfall. Dass der Kerl dann aber gekniffen hatte, war wirklich ungeheuerlich. Zumal Emma wirklich eine bemerkenswerte Persönlichkeit war, auf die man als Vater ruhig hätte stolz sein können.

„Ich meine, dass so einige Väter sich so einfach ihrer Verantwortung entziehen und gerade nach einer so langen Ehe, glaube ich nicht, dass sie einfach plötzlich da waren. Tut mir leid, dass ich das jetzt so sage, aber ihr Vater ist ein Feigling, während ihre Mutter nur zu bewundern ist. So eine Verantwortung alleine zu tragen ist sicherlich nicht leicht gewesen.“

Als Emma das Gleichgewicht verlor und sich an ihm abstützte, griff seine Hand automatisch nach ihrer Schulter, bis sie wieder einen guten Stand hatte. Danach ließ er sie langsam los.

„Nichts passiert.“

Er lächelte zurück und unterdrückte die Versuchung, Emma noch einmal an der Schulter zu berühren. Irgendwie kribbelte es plötzlich seltsam in seinem Bauch und er spürte, wie ihm Hitze in den Nacken hochstieg.

„Ja, das denke ich auch. Lassen Sie ihn uns ansehen.“

 

Der Lampion war wirklich gigantisch. Weitaus größer, als er angenommen hätte und auf jeden Fall sehenswert.

Cayden verstand sofort, warum Emma ihn hatte sehen wollen, und da er selbst nicht ganz vor dem Erstaunen gefeit war, musterten sie ihn beide schweigend, während sie in stiller Eintracht nebeneinanderstanden.

Der Touristenstrom nahm zu und schließlich waren so viele Menschen um sie herum, dass Emma und er näher zusammenrücken mussten, bis sich ihre Schultern berührten.

Die Wärme ihrer Köper schien deutlicher zu werden, dort wo sie sich berührten und irgendetwas daran, ließ Cayden leicht unruhig werden.

Zumindest war es nicht mehr der Lampion, auf den er sich hauptsächlich konzentrierte.

Verstohlen warf er einen Seitenblick zu Emma, bis sie ihm ebenfalls das Gesicht zu wandte, zu ihm hochsah und sich ihre Blicke trafen.

In diesem Moment blitzte etwas in seinem ohnehin grell erleuchteten Augenwinkel und Cayden wandte ruckartig seinen Kopf in diese Richtung. Wachsam und schon mit einem halben Schritt vor Emmas Körper geschoben, um sie wenn nötig, ganz hinter sich zu bringen, entspannten sich seine Schultern schließlich wieder, als er lediglich einen kleinen Jungen mit einem riesigen Fotoapparat entdecken konnte, der ihn mit einem Zahnlückenlächeln angrinste.

Er nahm etwas von seiner Kamera, schüttelte es und kam dann damit auf sie zugelaufen. In liebenswürdigstem Japanisch quasselte der kleine Junge auf sie beide ein und hielt ihm das Foto entgegen, das sich langsam zu einem sichtbaren Bild entwickelte, wo vorher nur Grau gewesen war.

Cayden konnte über so viel Unternehmensgeist nur lächelnd den Kopf schütteln, sein Portemonnaie aus seiner Hosentasche ziehen und dem Jungen einen Schein in die Hand drücken, ehe er das Foto entgegen nahm.

Er warf nur kurz einen Blick darauf, ehe er es an Emma weiterreichte.

„Ein Souvenir. Meint der Kleine und dass ich dumm wäre, wenn ich es nicht annehmen würde, da er uns richtig gut getroffen hat.“

Was stimmte. Denn auf dem Bild sahen Emma und er sich gerade an, Schulter an Schulter, während gerade keine Touristen durchs Bild liefen, sondern nur als Hintergrund in ihrer Nähe herumstanden.

 

Emma sah sich das Bild an und versuchte das Strahlen, das sich daraufhin in ihrem Gesicht ausbreiten wollte, wenigstens ein bisschen zurückzuhalten. Aber so richtig wollte das nicht funktionieren. Ihre Mundwinkel kämpften sich nach oben und auch ihre Augen erfüllte ein Lächeln, als sie auf das kleine Souvenir in ihren Händen hinuntersah.

Es war tatsächlich ein gelungenes Foto. Sie sahen beide ziemlich gut getroffen und vor allem fast schon übertrieben glücklich aus. Ganz so, als wären sie wirklich mehr, als … als wären sie nicht nur zusammen auf Geschäftsreise. Aber das entsprang vielleicht auch nur Emmas Phantasie. Der Hintergrund war ein bisschen verwackelt, was dem Bild auch noch ein kitschiges Sahnehäubchen aufsetzte.

Als Emma dem Jungen auf Japanisch danken wollte, war der schon in der Menge verschwunden. Vermutlich, um auch anderen Leuten den perfekten Moment einzufangen. Still dankte sie ihm trotzdem.

 

Sie spazierten weiter. Fast einmal um die gesamte Parkanlage, bis sie auf einem kleinen Wiesenstück eine steinerne Bank besetzten und das Bento auspackten, das Emma am Morgen besorgt hatte. Diesmal hatte sie darauf bestanden, dass sie die Runde ausgab. Es fühlte sich einfach besser für sie an, wenn sie ihrem Chef nicht die ganze Zeit auf der Tasche lag. Zumal sie ja auch etwas Geld für sich selbst mitgenommen hatte, um möglicherweise über die Stränge schlagen oder Geschenke einkaufen zu können.

Auch das tat sie, indem sie ihrer Mom und Kathy einen Glücksbringer an einem der Stände aussuchte und für Rob einen dicken, grünen Buddha, der so breit grinste, dass er Emma sofort gefiel. Sie kaufte sich auch selbst einen, der einen Ehrenplatz auf ihrem Fensterbrett bekommen würde.

Den Rest des Nachmittags verbrachten sie mit ein wenig Bummeln durch die Stadt. Emma ließ sich von Calmaro ein paar dieser elektronischen Neuheiten zeigen, für die er sich interessierte, und fand ein paar Sachen sogar ganz witzig.

 

„Mir fallen bald die Füße ab.“

Sie standen an einer Ampel, mit vermutlich hundert anderen Menschen und Emma konnte nicht anders, als sich ein bisschen zu schütteln. Einen ganzen Tag umringt, zusammen gequetscht zwischen so vielen Leuten ... das ging ihr irgendwie aufs Gemüt. Wie man so einen latenten Stress täglich ertragen konnte, war ihr schleierhaft. Aber manche mochten es ja sogar.

„Haben Sie noch etwas vor? Ich würde ganz gern ins Hotel zurück.“

Sie warf einen Blick in das Stück Himmel, das zwischen den Wolkenkratzern zu sehen war, und fügte mit einem lockeren Grinsen hinzu: „Ist auch schon Zeit zum Abendessen.“

 

Auch wenn Cayden sich nicht mehr wirklich an den letzten freien Tag erinnern konnte, den er ganz ohne mit der Arbeit im Kopf verbracht hatte, wusste er schon jetzt, dass der Tag mit Emma so ziemlich alles übertraf, was er seit einiger Zeit gemacht hatte.

Sie hatten sich noch über alles Mögliche unterhalten, während sie das Bento zu Mittag langsam verdrückt hatten und noch anschließend durch die Stadt gebummelt waren.

Eigentlich hätte er sich ihrer Meinung anschließen müssen, als sie schließlich zugab, wie anstrengend es für sie beziehungsweise ihre Füße gewesen sein musste, so lange unterwegs zu sein. Aber statt sich erschöpft zu fühlen, ging es ihm besser denn je.

Er hatte sich schon lange nicht mehr so viel bewegen können und da störten ihn auch die vielen Menschen um sie herum kaum. Obwohl er zugeben musste, dass auch seine Sinne langsam überreizt waren, von dem vielen Lärm, den Gerüchen und immer wieder die einstrahlende Sonne in seinen Augenwinkeln. Es war zwar nicht so schlimm, wie eine direkte UV-Einstrahlung, war mit der Zeit aber auch für seine Augen anstrengend.

„Nein, wir können sehr gerne ins Hotel zurückgehen. Für heute habe ich definitiv genug von der Stadt und einen ziemlichen Hunger. Aber wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich vorher noch gerne aus den Klamotten raus und mich etwas erfrischen. Wie wäre es, wenn wir uns in einer halben Stunde im Restaurant Peter treffen, nachdem wir im Hotel angekommen sind?“

Die dazu passende Bar hatte er auch noch nicht gesehen, vielleicht wäre das noch das letzte Reiseziel für heute Abend, bevor sie morgen abreisen würden. Laut der Broschüre war die Bar einfach absolut umwerfend eingerichtet. Mit all den Lichtern, dem Flair und ... Später.

 
 

***

 

In dieser halben Stunde schaffte Emma es leider nicht, ihre Haare zu waschen. Aber sie hüpfte noch schnell unter die Dusche, zog sich frische Kleider an.

Wieder etwas eleganter, als die Jeans und das Shirt, die sie tagsüber getragen hatte. Aber in ihre Büromontur zwängte sie sich diesmal nicht. Hübsche, schwarze Unterwäsche, eine schwarze Stoffhose mit Nadelstreifen und eine helle Bluse dazu.

Als sie sich im Spiegel betrachtete, die Haare noch durchkämmte und ihren Lidschatten ein bisschen auffrischte, war Emma ganz zufrieden. So konnte sie sich in diesem Nobelhotel doch durchaus zum Abendessen sehen lassen. Kurz kam ihr allerdings der Gedanke, dass sie neben Calmaro, in seinem asiatischen Dress ein bisschen fehl am Platz wirken könnte. Aber sie hatte eben nichts Entsprechendes anzuziehen.

Sie zuckte die Schultern und grinste ihrem Spiegelbild verschwörerisch zu, bevor sie sich ihre Schlüsselkarte schnappte und sich auf dem Weg zum Restaurant machte. Diesmal musste sie auch nicht auf ihr Glück hoffen, Calmaro auf dem Gang zu begegnen.

Stattdessen fuhr sie zielstrebig in die richtige Etage, stieg aus dem Fahrstuhl und fragte die junge Japanerin, ob ihr Boss schon eingetroffen war.

Diese bejahte und führte sie durch das wunderschöne Restaurant an einen edel gedeckten Tisch. Calmaro war so höflich sogar aufzustehen, als Emma an den freien Platz trat und ihm einen guten Abend wünschte.

Sie war wirklich so unglaublich froh für diesen Tag, den sie zusammen verbracht hatten. Jetzt hatte sie nicht mehr ganz so stark das Gefühl, sich jeden Moment daneben benehmen zu können.

Calmaro war ein netter Mensch und gar nicht so spießig, wie er manchmal nach außen hin den Eindruck machte. Emma leistete ihm sehr gern Gesellschaft und war endlich dieses nagende Gefühl im Nacken los, das sie bis jetzt immer irgendwie verfolgt hatte.

Sie konnte locker mit ihrem Chef umgehen. Das war ein Glück, das sie zu schätzen wusste. Das Privileg genoss nicht jeder Angestellte. Und auch nicht jede persönliche Assistentin.

 

Cayden hatte nicht allzu lange gebraucht, um sich schnell zu duschen und seine bequemere japanische Kleidung überzuwerfen. Im Restaurant hatte er dabei zugesehen, wie die letzten Sonnenstrahlen hinter der Skyline von Tokio verschwunden waren und es langsam Nacht wurde, während er auf Emma wartete.

Wieder einmal mit dem seltsamen Kribbeln im Bauch, das seiner Vorfreude entsprach, sie schon bald wiederzusehen.

Es war schon erstaunlich, aber nach dem Tag heute, ging sie ihm die paar Minuten bereits auf eine Weise ab, die er bisher nicht zu fassen bekommen hatte. Aber er würde auch das noch näher ergründen, spätestens, wenn sie wieder zuhause waren.

Zunächst allerdings konzentrierte er sich auf das Abendessen und das Gespräch bei Tisch. Dazu gab es ausgezeichneten Rotwein und ein Dessert, bei dem man dahinschmelzen könnte.

Gerade wurden auch die letzten Teller abserviert und Cayden spielte nebenher mit dem Stiel des Rotweinglases zwischen seinen Fingern, während er mit Emma Augenkontakt hielt.

„Vielleicht wäre es sogar eine ausgezeichnete Idee, wenn ich Sie des Öfteren auf Geschäftsreisen als Unterstützung dabei haben könnte. Immerhin würden Sie so auf Firmenkosten etwas von der Welt sehen und ich hätte jemanden, auf den ich mich verlassen kann. Vielleicht auch jemand, der mich wieder daran erinnert, mich zusammenzureißen, wenn ein möglicher Auftrag ins Wasser fällt und ich mich in eine Ecke verkrieche und wie ein kleines Mädchen heule.“

Er lachte leise, denn es war sehr unwahrscheinlich, dass er je so die Fassung verlor, aber sich vorzustellen, wie Emma ihn mit ihrer Art wieder auf Trab brachte, war auf jeden Fall erheiternd. Ihr würde das bestimmt ausgezeichnet gelingen.

„Was halten Sie eigentlich davon, wenn wir den Abend noch in der Bar nebenan ausklingen lassen? Vielleicht ein bisschen das erfolgreiche Meeting feiern. Stella war dafür seltsamerweise nie zu haben. Ich glaube, sie wollte ihren Boss einfach nicht betrunken sehen.“

Nun grinste er wirklich. Denn dass er einmal betrunken war, war noch unwahrscheinlicher, als wie ein kleines Mädchen zu heulen. Aber es sollte ja auch ein Scherz sein.

 

„Na, ich weiß nicht, ob mir da die Reisen um die Welt als Entschädigung reichen würden.“

Sie grinste. Selbst wenn sie sich sehr anstrengte – und an mangelnder Fantasie lag es bei Emma bestimmt nicht – konnte sie sich ihr Gegenüber nicht einmal im Ansatz heulend vorstellen. Nicht einmal mit Tränen in den Augen. Schon gar nicht, wenn es um so etwas, wie ein geplatztes Geschäft ging. Freudentränen vielleicht ... ja, das funktionierte eher. Aber auch nicht wirklich.

Auf seinen Vorschlag hin betrachtete Emma ihr Glas, in dem nur noch ein Schluck Grapefruitsaft übrig war und nickte dann lächelnd.

„Gern. Wenn Sie allerdings tatsächlich vorhaben, sich maßlos zu betrinken, werde ich nicht bleiben und zusehen. Und dann verlange ich für den Flug Morgen einen Sitz möglichst weit weg von Ihrem.“

Sie lachte ihn an, ließ ihn sein Weinglas leeren und stand dann mit Calmaro zusammen auf, verabschiedete sich von der Bedienung und ging ihrem Chef voraus in Richtung Bar.

Der schmalere, um diese Zeit ruhigere Raum, war durch zwei große Glastüren vom Restaurant getrennt. Als diese vor Emma aufschwangen, hätte sie zwischen sich selbst und Calmaro beinahe eine Karambolage verursacht, weil sie einfach stehenblieb und mit glitzernden Augen das Interieur betrachtete.

„Wow. Das ist ... toll.“

 

„Ja, nicht wahr?“, sprach er ganz dicht an ihrem Ohr, als er sich etwas von hinten über sie gebeugt hatte, um sie nach ihrem unerwarteten Stopp nicht direkt zu rammen.

Aber er stellte sich schließlich neben Emma, während er den Raum musterte und weiterredete.

„Hier könnte man sich durchaus maßlos betrinken und es vielleicht nur dank des heftigen Katers am nächsten Tag bereuen. Aber ich garantiere Ihnen. Egal wie trinkfest Sie sein mögen, ich kann Sie locker unter den Tisch trinken, wäre das nicht so … ungalant. Zudem bin ich nicht hier, um mich zu betrinken, sondern mit Ihnen das gelungene Meeting zu feiern. Ein Glas dürfen Sie mir also durchaus zutrauen, Emma.“

Mit einem charmanten Lächeln berührte er ihren Rücken und führte Emma direkt zur fast vollkommen menschenleeren Bar. Was auch immer hier abends so los war, es schien noch zu früh dafür zu sein.

Cayden selbst konnte auch nicht ganz die Augen vom Raum lassen, während er sich einen Cocktail bestellte. Purem Alkohol war er grundsätzlich abgeneigt. Er musste schon mit etwas Schmackhaftem vermischt sein.

 

Nein. Nein, nein, nein!

Emma motzte sich selbst in Gedanken zu kleiner Statur mit Hut zusammen, als ihr Calmaros Stimme dicht an ihrem Ohr und seine Gegenwart in ihrem Rücken, einen warmen Schauer die Wirbelsäule hinunter prickeln ließen.

Die Zähne fest zusammengebissen, hielt sie ihren Blick auf die vielen, hellen Lämpchen gerichtet und ließ sich von seiner Hand auf ihrem Rücken vorwärts und an die Bar schieben.

Dort angelangt bestellte Emma sich einen Manhattan und nahm dann die lockere Unterhaltung von vorhin wieder auf. Das erschien ihr zumindest sicherer, als sich weiterhin damit zu befassen, wie genau sie Calmaros so plötzliche Berührungen und ihre Reaktion darauf deuten sollte.

Eigentlich brauchte sie nur kurz einen Blick auf seinen Ehering zu werfen und sofort wurde es in ihrem Inneren kühler.

Guter Trick. Klappte immer wieder und einwandfrei. Also zurück zum Gespräch.

„Ein Glas, Mr. Calmaro. Wenn Sie anschließend schon dazu neigen, Ihre galante Art zu verlieren, werde ich Sie darauf hinweisen. Immerhin gehört das ja auch zu meinem Aufgabenkreis. Auf Sie zu achten.“

Sie hob ihren Manhatten.

„Auf Ihre guten Geschäfte.“

 

Cayden hob breit lächelnd sein Glas.

„Auf eine gute Zusammenarbeit.“

Er nahm einen kleinen Schluck und stellte das Getränk wieder ab, während er es sich auf dem Barhocker so bequem machte, dass er sowohl Emma, wie auch die nächtliche Stadt Tokios vor den Fenstern im Blick hatte.

„Und sollte ich bereits nach einem Glas dazu neigen, ungalant zu werden, haben Sie einen Freifahrtschein zur Verfügung, mich entsprechend zu maßregeln, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Denn wie Sie schon sagten, es gehört zu Ihrem Aufgabenkreis, auf mich aufzupassen. Ich bin nur froh, dass Sie es nicht auf Gluckenhafteweise tun, so wie Stella dann und wann dazu neigte. Manchmal kam sie mir schlimmer vor als die Supernanny. Erst recht, wenn sie mich dazu gezwungen hat, fünf Mahlzeiten am Tag einzuhalten. Bei Gott, ich bin schon groß genug, aber ich bin mir nicht so sicher, ob sie mir nicht doch ein Lätzchen umgehängt und mich eigenhändig gefüttert hätte, wenn ich nicht ihr Boss gewesen wäre.“

Er nahm einen weiteren Schluck.

„Aber nun zu Ihnen. Wie lebt es sich eigentlich mit den guten Freunden zusammen unter einem Dach? Ist das nicht manchmal auch ganz schön anstrengend?“

 

„Ach, sein Sie nicht so. Stella hat es bestimmt nur gut gemeint.“

Emma nahm genau im falschen Moment einen Schluck von ihrem Manhattan. In der nächsten Sekunde schlug sie sich die Hand vor den Mund und wurde gänzlich von dem zurückgehaltenen Kichern durchgeschüttelt, bis sie den Drink mit Tränen in den Augen doch noch sicher hinunterschlucken konnte.

„Das mit dem Lätzchen hätte sie hoffentlich für die Kantine fotografiert, wenn es dazu gekommen wäre.“

Emma konnte sich nicht einmal im Ansatz vorstellen, dass Stella so sehr auf ihren Chef geachtet hatte. Irgendwie ... passte das nicht in das Bild, das Emma von ihrer Kollegin hatte. Natürlich war sie hilfsbereit und tat oftmals mehr, als gefordert war. Aber bemuttern musste man Calmaro doch nicht. Er war erwachsen und schien bis jetzt ganz gut zurechtgekommen zu sein in seinem Leben.

„Nein, bis jetzt ist es absolut nicht anstrengend. Wir passen gut zusammen, würde ich sagen. Wenn ich es recht bedenke, bin sogar ich in unserem Haushalt diejenige, die am meisten begluckt wird – wie sie so schön sagen. Ich kann mich also bestimmt nicht beschweren. Außerdem sehe ich meine Mitbewohner gar nicht so häufig. Kathy schiebt ständig Überstunden bis zum Umfallen, ich bin abends zweimal die Woche an der Uni und Rob ... ist unterwegs.“

Sie grinste auf eine Art, bei der Calmaro bestimmt verstand, in welcher Mission ihr Mitbewohner abends durch Wellington zog. Da musste man nicht viel erklären.

„Wo in Welly wohnen Sie eigentlich? Haben Sie ein Haus?“

 

Cayden versuchte nicht zu lachen, als sich Emma beinahe verschluckt hätte, weil das für gewöhnlich nicht komisch war. Aber es gelang ihm nur mäßig und zum Glück stieg sie sofort auf den Themenwechsel ein.

Während er sein Glas zwischen den Fingern drehte und ab und zu einen Schluck davon nahm, fragte er sich, ob dieser Rob auch einmal zuhause mit Emma unterwegs gewesen war.

Cayden hatte zwar von Wohngemeinschaften keine Ahnung, aber der Gedanke war sicherlich nicht ganz abwegig. Auch wenn er sich sicher war, dass da nicht mehr zwischen Emma und Rob sein konnte. Sonst hätte sie anders von ihm erzählt, als bloß im gleichen Zusammenhang wie mit Kathy.

„Ich habe ein Haus an der Küste und ein Appartement direkt über den Büroräumen, da dieses Haus eigentlich Vanessa gehört. Zumindest hat sie es mit ihrem Innenausstatter so in Beschlag genommen, dass es mir nie wie ein Zuhause vorkam. Fast schon zu … ähm … weiblich oder märchenhaft. Auf jeden Fall nichts, worin ich mich als Mann wohlfühlen könnte. Meistens nehme ich mein Reich über den Büroräumen in Beschlag und so weit zur Arbeit ist es dann auch nicht.“

 

Das Sate, das sie zum Abendessen gehabt hatte, schien sich in ihrem Magen zu einem erdigen Klumpen zu verdichten, als Calmaro den Namen seiner Frau erwähnte. Emmas Lächeln krümelte etwas, als er von 'ihrem Haus' und ihrem gemeinsamen Zuhause sprach. Selbst wenn es ihm dank des zuckersüßen Innenausbaus nicht mehr so vorkam.

Ohne ihn anzusehen, nahm Emma einen großen Schluck ihres Manhattans wirbelte den Rest in dem Glas herum, bevor sie ihn kurze Zeit später hinterher schüttete und sich einen zweiten Cocktail bestellte. Der etwas bittere Nachgeschmack des Alkohols auf der Zunge gefiel ihr in diesem Moment. Genauso, wie das warme Brennen in ihrem Bauch, das zumindest den Kloß darin ein wenig anzugreifen vermochte.

Sie war auch selbst schuld. Wer dumme Fragen stellte, bekam eben ehrliche Antworten.

Wobei sie sich noch mehr dafür rügte, dass sie Calmaro immer noch nicht in die Augen sehen konnte und ihre Stimme ein bisschen belegt klang, als sie wieder anfing zu sprechen.

Mensch, reiß dich am Riemen! Mach den netten Abend nicht mit sowas Dummem kaputt!

„Vielleicht wäre es ganz gut, wenn Sie nicht so nah am Büro wohnen würden. Die Arbeit scheint sie sowieso zu stark in Beschlag zu nehmen. Auf Dauer ist das nicht gesund.“

 

„Ich kenne meine Grenzen und ich weiß, wie lange ich vorhabe, für meine Arbeit zu leben. Daher machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Ich bin schon ein großer Junge und weiß, wann es genug ist.“

Zumindest meistens.

Cayden sah Emma mit hochgezogener Augenbraue an, als sie ihren Drink so hinunterkippte und sich gleich noch einen bestellte. Das brachte ihn wieder auf die Frage, wie viel sie selbst vertrug. Aber wenn sie das heute Abend herausfinden sollten, dann war es so. Er war sicherlich nicht der Chef, der es sie am nächsten Tag spüren ließ, wenn sie einen zu viel intus gehabt und sich ein bisschen von der Rolle benommen hatte.

Da Emma ihn immer noch nicht ansah, beugte er sich etwas zur Seite, um ihren Blick einfangen zu können und lächelte sie offen an.

„Außerdem bin ich mir sicher, dass Sie mir sagen werden, wenn ich es übertreibe. Sie scheinen mir niemand zu sein, der mit seiner Meinung allzu oft hinterm Berg hält. Eine Eigenschaft, die ich durchaus schätze, solange man damit umgehen kann und damit niemandem auf den Schlips steigt.“

 

Es wurde ein kleines Lächeln, dann ein Großes und dann musste sie ihn doch wieder angrinsen. Wie er da so zur Seite gebeugt versuchte ihren Blick zu halten und gleichzeitig nicht vom Barhocker zu fallen.

Können Sie bitte aufhören, so süß zu mir zu sein?

Etwas, das sie ihm bestimmt nicht sagen würde. Schon gar nicht, wenn es bedeutet hätte, dass er es tatsächlich bleibenließ.

Stattdessen reagierte Emma auf sein neuerliches Kompliment, indem sie ein bisschen die Wimpern senkte und ihn mit einem Lächeln bedachte, das man auf viele Arten lesen konnte.

„Manchmal ist es vielleicht eine gute Eigenschaft, aber wieder andere Male sollte man einfach lieber denken, abwägen und dann erst reden.“

Sie zuckte die Schultern und lachte leise.

„Hab ich zumindest mal gehört.“

Wieder etwas lockerer sah sie sich nach den fünf Japanern um, die gerade durch die Schwingtüren gekommen waren und den Lärmpegel ganz schön hoben. Sie wirkte geradezu aufgedreht und Emma sah ihren ersten Eindruck von dieser ihr so fremden Sprache wieder bestätigt.

„Ich dachte immer, Japanisch klingt ganz anders. Viel weicher. Irgendwie passt es gar nicht so richtig zu den Menschen, die es sprechen.“

Versonnen schob sie sich eine verirrte Haarsträhne über die Schulter und sah schnell wieder von den Neuankömmlingen zu ihrem Chef. Schließlich war es in diesem Land fast noch unhöflicher als irgendwo sonst, jemanden länger als nötig anzusehen.

„Ist es schwierig zu lernen?“

 

Caydens Blick blieb an Emmas Lippen hängen, als sie ihm dieses ganz besondere Lächeln schenkte, das ihm schier die Nackenhärchen aufstellte und die zarten Spitzen knistern ließ.

Nur schwer löste er seine Augen wieder von ihrem Mund, als eine Gruppe Japaner hereinkam und er sie kurz sondierte und für unwichtig erachtete. Die kleine Gruppe wollte nur irgendetwas feiern.

„Und in ganz speziellen Fällen sollte man einfach ganz den Mund halten. Aber Ihnen rate ich das nicht. Ich höre Ihnen gerne zu.“

Sein Lächeln vertiefte sich, wurde charmant und auch eine Spur mehr.

Cayden nahm noch einen kräftigen Schluck von seinem Glas, das inzwischen nur noch halbvoll war und betrachtete für einen Moment die Eiswürfel darin, während er über Emmas Frage nachdachte.

„Ich weiß nicht genau. Ich habe ein ziemlich ausgeprägtes Sprachtalent und vielleicht hört sich Japanisch für Sie auch einfach so anders an, weil sie kaum ein Wort davon verstehen.“

Emma bewegte ein Stück ihren Kopf, so dass ihr erneut eine verirrte Strähne ihres Haares über die Schulter rutschte und ihren Hals umschmeichelte.

Ihre Haut dort war ebenmäßig und bestimmt zart, wenn man mit Fingerspitzen darüber streichelte. Außerdem konnte er sehen, wie der Puls ihrer Halsschlagader darunter lebendig pulsierte.

Cayden trank sein Glas leer und zerkaute auch einen kleinen Eiswürfel, um sich etwas abzukühlen. Denn irgendwie schien Hitze in seine Knochen und Muskeln gekrochen zu sein, von der er nicht wusste, woher sie kam.

Vielleicht eine schwache Wirkung des Alkohols, während sein Körper ihn verbrannte.

„Sprechen Sie denn auch andere Sprachen? In Ihrem Lebenslauf war zwar nichts angegeben, aber ich bin mir sicher, dass Sie mir noch so Einiges verschweigen.“

Er lächelte sie mehrdeutig an und bestellte sich einen anderen Cocktail mit unterschiedlichen Früchten darin.

 

„Aha, ein 'ziemlich ausgeprägtes Sprachtalent'. An Ihrer Bescheidenheit müssen Sie aber noch arbeiten.“

Sie winkte ab, um den Kommentar nicht böser erscheinen zu lassen, als er gemeint gewesen war und streifte wie beiläufig mit ihrer Hand seinen Oberarm.

Emma war kurz irritiert. Sie starrte auf den Rand ihres frischen Cocktailglases und stellte es auf der Bar neben sich ab, ohne einen Schluck davon getrunken zu haben. Vielleicht war das Getränk hier stärker als zu Hause? Zumindest kam ihr das Kribbeln in den Zehenspitzen und die Wärme in ihren Wangen, die unter Calmaros Lächeln bloß noch zunahm, irgendwie bekannt vor. So schnell konnte sie doch gar nicht angetrunken sein. Zum Essen hatte sie überhaupt keinen Alkohol gehabt und jetzt nur ein Glas. Auf vollen Magen!

Emma schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte sich lieber auf ihr Gespräch. Immerhin lief es schon wieder ziemlich rund. Und das freute sie.

„Und nein. Ich bin genauso hochnäsig, wie alle anderen englischsprechenden Menschen. Da wir in der Welt noch die sprachliche Oberhand haben, gehen wir meistens ganz automatisch davon aus, dass jeder unsere Muttersprache zumindest versteht und sie ansatzweise sprechen kann.“

Als der Barkeeper vorbeikam, bestellte Emma sich zu ihrem Manhattan ein Glas stilles Wasser und wandte sich dann wieder ihrem Gesprächspartner zu.

„Aber wenn ich mir Japanisch so anhöre, würde ich es schon gern sprechen können. Außerdem gefallen mir die Schriftzeichen. Das hat noch richtig etwas mit Mühe zu tun, wenn man etwas notiert oder einen privaten Brief schreibt.“

Ja, ja. Hatte es.

Emma blinzelte und hörte sich dann selbst etwas sagen, das ihr die Ohren ein bisschen glühen ließ.

„Was das Andere angeht ...“ Ihr Blick hielt sich an seinen Augen fest, die wieder hinter dieser grässlichen Brille steckten.

„Da können Sie aber davon ausgehen, Mr. Calmaro, dass ich Ihnen Einiges verschweige.“

 

„Sie haben recht. An Bescheidenheit fehlt es mir noch, aber da ich alle gängigen Fremdsprachen sprechen, schreiben und lesen kann und das meistens auch fehlerfrei, darf ich wohl ein bisschen damit angeben. Aber es ist auch nicht so, dass ich dieses Wissen für mich behalten würde. Wenn Sie einmal Nachhilfe in Japanisch brauchen, sofern Sie einen Kurs besuchen wollen, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.“

Cayden nahm einen langen Schluck von seinem neuen Cocktail und schloss für einen Moment genießerisch die Augen.

Gott, war der gut. So schön fruchtig und erfrischend!

„Ja, die Kalligraphien finde ich besonders schön an dem Japanischen. Genauso wie im Chinesischen. Das ist doch noch etwas völlig anderes als unsere dagegen sehr vereinfacht erscheinenden Buchstaben.“

Eine bequemere Position suchend, stützte er sich mit dem Unterarm auf dem Bartresen ab, drehte ab und zu das Getränk zwischen seinen Fingern, während er die andere Hand auf seinem Oberschenkel liegenließ.

Ihre Knie berührten sich fast und manchmal bei einer bestimmten Bewegung sogar ganz, weshalb ihr Bein nicht allzu weit von seiner Hand entfernt lag.

Es kribbelte in seinen Fingerspitzen, als er daran dachte und gerade wollte sich Cayden darüber wundern, als Emma ihn erfolgreich von dieser Tatsache ablenkte oder besser gesagt, das Kribbeln in seinen Fingerspitzen so verteilte, dass es auch auf andere Teile seines Körpers überging. Zum Beispiel in seinen Nacken, den Bauch und auch in den Fingerspitzen seiner anderen Hand.

„Oh, das hoffe ich doch. Es gibt doch nichts Langweiligeres als bloßgelegte Tatsachen. Ich bin mehr für Rätsel und Geheimnisse. Vor allem, wenn es mir gelingt, sie alle irgendwann zu lösen und bitte nennen Sie mich Cayden. Bei Mr. Calmaro komme ich mir noch älter vor, als ich ohnehin schon bin. Denn wissen Sie, es mangelt mir zwar an Bescheidenheit, aber Eitelkeit kann ich Ihnen im Übermaß anbieten.“

 

Emma lachte herzhaft über den Scherz mit den Fremdsprachen und seiner etwas überzogenen Selbstgefälligkeit. Immerhin konnte er einen Scherz vertragen. Und allmählich schien es ihm auch nicht mehr so schwerzufallen, selbst welche zu machen.

„Dann sind Sie also nicht nur ein Sprachgenie, sondern auch so etwas wie Indiana Jones?“

Verschwörerisch lehnte Emma sich vor, senkte die Stimme und legte ihre Hand auf seiner ab, die auf seinem Oberschenkel ruhte. Ihr Lächeln war keck und vielleicht auch ein wenig angriffslustig. Zumindest für Emmas Verhältnisse, die sonst nicht dafür bekannt war 'sexy' bei fremden Männern besonders gut draufzuhaben.

„Wissen Sie was, Cayden?“

Ihr Lächeln wurde noch breiter und sogar begleitet von einem vollendeten Augenaufschlag, als sie sah, wie auch seine Mundwinkel sich hoben.

„Wenn Sie sich anstrengen, könnten Sie auch irgendwann als einer von den bösen Jungs durchgehen.“

Sie kicherte los. Was zwar die unterschwellige Botschaft etwas verhunzte, es aber nicht so lächerlich klingen ließ wie eine billige Anmache.

Als Emma sich zurücklehnte und nach ihrem Wasser griff, grinste sie immer noch. Und erst nach einer halben Minute zog sie die Hand von seiner. Schließlich hatte sie sich dort nur abstützen wollen.

 

Ihre Hand auf seiner und wie sie sich damit auf seinem Oberschenkel abstützte, brachte seinen Puls zum Flattern.

Das Kribbeln, welches sich inzwischen in seinem ganzen Körper ausgebreitet hatte, wurde zu so etwas wie einem erwartungsvollen Ziehen.

Es machte ihn irgendwie unruhig und schärfte doch zugleich seine Sinne.

Cayden konnte Emmas Puls nicht nur sehen, sondern er glaubte ihn sogar bereits zu hören und ihr Duft schien ihm deutlicher als zuvor in die Nase zu steigen, als sie sich zu ihm lehnte.

Aus ihm unerklärlichen Gründen lief ihm das Wasser im Munde zusammen, weshalb er einen weiteren Schluck von seinem Glas nahm und Emma auf verwegene Art anlächelte, als sie sich wieder zurückgezogen hatte.

Cayden schloss seine Finger um ihre Hand, die ihr Getränk festhielt, so dass er ihren Blick einfing und nun war er es, der sich ein Stück nach vorne lehnte.

„Emma, sind Sie sich sicher, dass Sie einen bösen Jungen erkennen würden, wenn er direkt vor Ihnen säße? Vielleicht muss ich mich gar nicht anstrengen, sondern versuche ganz im Gegenteil harmlos auf Sie zu wirken. Schon einmal darüber nachgedacht?“

Als er sich wieder aufrecht hinsetzte, zog er seine Hand wieder zurück, ließ es sich aber nicht nehmen, mit seinen Fingerspitzen noch zuvor über ihren Handrücken zu streichen.

 

Emmas Atem wurde flach. Ein nervöses Knistern ging durch ihre Finger, ihren Arm hinauf und direkt in ihre Brust, als Calmaro – nein, als Cayden – nun seinerseits ihre Hand berührte. Und das eindeutig nicht, weil er sich abstützen musste.

Mit leicht geöffneten Lippen und einem überraschten Ausdruck in den Augen sah sie ihn an und brachte schließlich ein Schmunzeln zustande, während sie versuchte, sich an dieses verdammte Mantra zu erinnern, das sie davon abhalten sollte, sich vorzustellen, wie es wohl wäre ...

„Wissen Sie, was der Fehler in ihrer Frage ist? Selbst wenn ich Sie für einen von diesen Typen halten würde ... bin ich mir sicher, dass Sie zu intelligent sind, um mich in diesem Fall auch noch auf diese mögliche Gefahr hinzuweisen.“

Konnte er denn nicht diese doofe Brille abnehmen?

Emma konnte genau sehen, dass das Gestell, dass bestimmt so schwer war, wie es aussah, ein Stück seine perfekt gerade Nase heruntergerutscht war. Seine halb entfärbten, roten Wimpern blitzten im richtigen Winkel darunter hervor. Wenn er sie nur ein bisschen weiter hinunterschieben würde, dann könnte sie diese unglaublich glitzernden, grünen Augen sehen. So, wie man sie immer sehen sollte. Nicht dieses blöde, schlammige ...

„Wäre es Ihnen denn wirklich lieber, wenn ich mir Sorgen über die Absichten meines derzeitigen Gegenübers machen würde?“

Wieder begannen ihre Ohren, sich heiß anzufühlen. Aber inzwischen waren sie damit nicht mehr allein. Emma hätte sich zu gern das Glas mit dem kühlen Wasser an den Hals gehalten, um selbst ein bisschen Hitze abzulassen.

 

Unbewusst witterte er das Erhitzen ihrer Haut und wie sich ihre Blutzirkulation beschleunigte. Sein eigener Herzschlag reagierte darauf mit schnellerem Rhythmus, um bereit zu sein für ...

Cayden lachte leise und lehnte sich locker an den Tresen, während seine Finger auf seinem Oberschenkel ebenso unbewusst einen stetigen Rhythmus zu trommeln begannen, im Gleichklang mit dem Schlagen eines anderen Herzens als dem seinen.

„Wer weiß, vielleicht ist es auch einfach nur absolut brillant von mir durchdacht, und ich verrate es Ihnen genau deshalb, damit Sie sich vermeintlich in Sicherheit wiegen.“

Cayden blickte Emma für einen flüchtigen Moment über den Rand seiner Brille hinweg an, ehe er sein Kinn wieder hob und sich mit dem Zeigefinger die Brille wieder richtig auf den Nasenrücken schob. Zumindest konnte er so sichergehen, dass Emma seine stechenden Augen nicht verrieten, wie böse der Junge ihr gegenüber durchaus sein könnte, wenn er nur wollte.

„Es kommt darauf an. Machen Sie sich denn Sorgen über meine möglichen Absichten und wenn ja, wie kann ich Sie Ihnen wieder nehmen?“

Während Cayden auf eine Antwort von Emma wartete, trank er seinen Cocktail leer, um gegen die Hitze in seinem Inneren anzukämpfen. Inzwischen wurde das Gefühl, irgendetwas tun zu müssen, immer deutlicher.

Wieder zog es seinen Blick auf Emmas Hals und ihre sinnlichen Lippen, mit denen man so viel mehr tun könnte, als nur mit ihnen zu sprechen.

Cayden bestellte sich noch einen Cocktail.

 

Als er sich lässig gegen die Bar lehnte und sie ansah, als wäre er wirklich einer von diesen Haien, die das Blut von gebrochenen Herzen auf Kilometer im offenen Meer wittern konnten, senkte Emma kurz den Blick.

Die Gänsehaut, die ihr immer wieder in Wellen über den ganzen Körper lief, einmal, weil sie in heißen einmal in kalten Emotionen gebadet wurde – das durfte einfach nicht sein. Aber es war auch wirklich ziemlich heiß hier. Vielleicht gingen die Japanerinnen normalerweise nicht in Blusen mit langen Ärmeln in Bars. Oder es lag daran, dass Emma sich zu sehr auf das Wetter zu Hause eingestellt hatte. Ihr war auf jeden Fall schrecklich heiß. Ihre Wangen glühten und sie rutschte bis zum Rand ihres Barhockers, um mehr zu stehen, als zu sitzen.

Was allerdings mehr half, waren die automatischen Handgriffe, mit denen sie ihre Haare zusammenraffte, sie einmal um sich selbst schlang und damit ihren Nacken zumindest ein Weilchen freilegte, damit ein mögliches Lüftchen sie kühlen konnte.

„Ich habe doch nicht die geringste Ahnung, was Sie vorhaben, Cayden.“

Sie nippte an ihrem Manhattan, der in der Zwischenzeit fast schon ein bisschen zu warm geworden war, und versuchte den Impuls zu ignorieren, ihre Hand wieder auf seine zu legen.

Diesmal waren seine Finger sogar noch näher als zuvor. Emma schätzte die Entfernung zwischen ihrer und seiner Hand, die beide auf der Theke lagen, auf etwas mehr als zehn Zentimeter. Lächerlich kleiner Abstand. Sie mussten sich beide nur ein ganz winziges Stück entgegen kommen.

„Andererseits wissen Sie aber auch nicht, was ich vorhabe.“

Ihr Lächeln war klein und rund, die Unterlippe ein bisschen nach vorn geschoben, bis sie ihre Augen von seiner Hand lassen konnte und ihm wieder ins Gesicht sah.

„Und Sie machen sich ja auch keine Sorgen, oder?“

 

Seine Fänge pochten in ihren Startlöchern, als er dieses kleine, fast schon als Schmollmund zu bezeichnende Lächeln sah und beinahe körperlich registrierte, wie Emma näher an ihn heran gerutscht war, wenn auch vermutlich unabsichtlich.

Caydens Blick wechselte erneut zu ihrem verführerischen Nacken, als Emma sich die Haare zurück hob und sie etwas zusammendrehte und somit die Haut ihres Halses vollkommen freilegte.

Ein entblößter Hals war beinahe ebenso intensiv verführerisch für einen Vampir, wie ein zart bedeckter Nacken.

Das Gesamtbild war pure Sinnlichkeit in Form einer Frau.

Caydens Hand schloss sich fester um sein neues Glas und er nahm einen kräftigen Schluck, was zumindest vorerst, etwas das Pochen in seinem Mund beruhigte.

„Da stimme ich Ihnen voll und ganz zu, Emma“, raunte er leise mit Unterstützung eines intensiven Blickes, der Akzent seiner Herkunft war dabei deutlich herauszuhören, wo er ihn sonst so gut verbergen konnte. Was zugleich bedeutete, dass Englisch nicht seine Muttersprache sein konnte.

„Ich meine, was die Sorge angeht. Dafür wäre ich viel zu neugierig darauf, was Sie vorhaben könnten.“

Seine Hand ließ das Glas mit dem Cocktail los und glitt zu Emmas hinüber.

Er beobachtete, wie seine Fingerspitzen sachte und doch mit voller Absicht die ihren berührten.

„Ich überlege gerade …“, begann er gespielt nachdenklich und mit einem verwegenen Lächeln auf den Lippen, während er ihre Hand umdrehte und seine Fingerspitzen die ihren bedeckten.

Wie kleine Hände sie doch hatte!

„… ob Sie mir vielleicht einen kleinen Tipp geben könnten. Vielleicht einen kleinen Hinweis darauf, ob ich mir bei Ihnen nicht doch ein bisschen Sorgen machen müsste. Denn wie Sie schon sagten, Sie verbergen so Einiges vor mir. Gibt es da etwas, vor dem ich mich hüten sollte?“

Sein Lächeln wurde zu einem kleinen Grinsen, als er ihre Hand wieder losließ und erst einmal einen Schluck zur Abkühlung nahm. Inzwischen trommelten seine Finger auf seinem Oberschenkel schon ziemlich schnell und er hatte das Gefühl, bald nicht länger einfach nur untätig herumsitzen zu können.

 

Es war einfach viel zu faszinierend, um nicht konzentriert hinzusehen, wie seine Fingerkuppen sich sanft auf ihre legten. Eigentlich passierte nichts Großartiges. Die Zeit blieb nicht stehen, Emma hatte nicht das Gefühl, dass sie sich erheben und auf Wolken schweben würde. Aber es prickelte. Es knisterte und funkte sogar und Emmas Lächeln wurde eine Spur eindeutiger, als sie zu Cayden aufsah.

Sie wusste, was sie meinte und wollte. Und wovor er sich hüten sollte. Aber das war ihr egal.

Emma spürte die Hitze in ihren Wangen, spürte das Knistern in ihren Fingerkuppen, die sich genauso nach einer weiteren Berührung sehnten, wie es auch der Rest ihres Körpers zu tun begann. Sie brauchte sich gar nicht anzustrengen, um eine Gänsehaut über ihren Körper zu jagen, die sich noch verstärkte, wenn sie sich Caydens Hände vorstellte, die über ihre Taille, ihre Hüften und ihren Bauch streichelten.

„Ich denke, Sie müssten blind sein, um nicht längst zu wissen, über was sie sich Sorgen machen müssen.“

Emma leerte ihr Wasserglas und ihr Lächeln wurde für einen Moment weich und warm.

„Wie ich schon sagte, ich halte sie für intelligent. Es ist ihre Entscheidung, ob sie Indiana Jones rauslassen oder er für heute Nacht da drin schlummern bleibt.“

Sie legte ihre Hand flach auf seine Brust, zog sie dann aber so weit zurück, dass sie nur mit ihrem Zeigefinger eines der verschnörkelten Muster nachzeichnen konnte, die in den Seidenstoff gewebt waren.

 

Caydens Brust zog sich bei ihrer Berührung zusammen und sein Herz begann loszudonnern, als wäre es der Hufschlag eines wildgewordenen Pferdes.

Er sah sie an, lange ohne etwas auf ihre Worte zu erwidern und doch schien es sich nur um den Bruchteil einer Sekunde zu handeln, bis er schließlich seine Hand hob und in Emmas Nacken legte.

Ihr Puls in seiner Handfläche machte ihn zittrig und konzentriert zugleich.

„In einem Punkt irren Sie sich“, begann er leise, mit rauer Stimme, während seine Fingerspitzen bis zu ihrem Schlüsselbein hinabglitten und er genau sehen konnte, wie sie unter der Berührung erschauderte.

„Diese Entscheidung wurde bereits getroffen. Aber ich kann Ihnen versichern, die Peitsche habe ich zuhause gelassen. Ich bevorzuge es, mich mit anderen Mitteln ins Abenteuer zu stürzen.“

Seine Hand glitt über ihre Schulter, ihren Arm hinab und ergriff schließlich die ihre.

Als er aufstand, drückte sich ihre Hand wieder deutlich gegen seine Brust und Hitze schien wie Flammenzungen davon ausgehend auf ihn überzugreifen.

Sein Hals fühlte sich trocken an, während er auf Emma herabsah, doch seiner Stimme war davon nichts anzumerken.

„Erlauben Sie mir, mich mit Ihnen im Tanz zu messen? Sie sagten einmal, Sie könnten es und dieses eine Mal, war leider nur ein kleiner Vorgeschmack auf dessen, was ich von Ihnen erwarte.“

 

Die Art, wie er sprach, hörte sich auf einmal anders an. Es hatte etwas Rundes, Sprunghaftes an sich. Irgendwie rau, aber dann doch wieder mit einer erdigen Wärme, die Emma noch nie gehört hatte.

Es passte zu ihm. Auf jeden Fall besser, als das glatte Englisch, das er sonst an den Tag legte und das sich nun als genauso aufgesetzt herausstellte, wie seine immergleiche, versteinerte höfliche Miene. Cayden hatte die Fähigkeit, seine Gefühle über seine Mimik auszudrücken. Und das, was Emma da gerade entgegen sah, während seine Finger ihren Hals entlang, ein Stück den Kragen ihrer Bluse hinunter auf ihr Schlüsselbein glitten, wirkte verdammt nach dem, was in ihr selbst nur darauf lauerte, ihn anzuspringen.

„Na, da bin ich gespannt, ob sie mich ohne Indys liebstes Spielzeug beeindrucken können.“

Eigentlich hätte man ihre Wimpern bei diesem Augenaufschlag klimpern hören müssen. Emmas Wangen färbten sich pink und trotzdem sprach sie einfach weiter. Wie es ihr gerade in den Kopf kam, purzelte es auf ihre Zunge und sie konnte rein gar nichts dagegen tun, dass es auch nach draußen gelangte.

„Ich mochte sowieso den Hut immer am liebsten. Da braucht der passende Mann eigentlich kein anderes Kleidungsstück mehr.“

Als er ihre Hand ergriff und seine gesamte Haltung bereits klarmachte, dass es weniger eine Bitte, als eine echte Aufforderung zum Tanzen war, grinste Emma ihn ein wenig schief an.

„Solange ich nicht mit Ihnen Karaoke singen muss, bin ich dabei.“

 

„Dann werde ich mir bei nächster Gelegenheit sofort einen Hut kaufen und nur noch den tragen. Das käme im Büro sicher gut an.“

Cayden lachte leise, schüttelte den Kopf, um ihn etwas klarer zu bekommen, aber alles, woran er denken konnte, war Emma und wie sie für ihn etwas ganz Besonderes sang in einem Rahmen, wo Publikum auf keinen Fall erwünscht war.

Oh Gott, er würde Sie so gerne zum Singen bringen …

„Keine Sorge, Sie müssen sich nur bewegen. Mehr verlange ich gar nicht von Ihnen.“

Cayden zog Emma ganz von ihrem Barhocker und führte sie durch die inzwischen sehr viel vollere Bar auf die Quelle der Musik zu, die im hinteren Teil zu hören war.

Es war ein schnelles, westliches Lied, das gerade begonnen hatte und da sich sonst keiner auf die Tanzfläche zu trauen schien, hatten sie sehr viel Platz für sich alleine.

Als sie in der Mitte waren, erfasste Cayden Emmas Hüfte, nahm ihre Hand richtig in seine, wartete noch den richtigen Takt ab und legte auch schon ohne Vorwarnung los, während er ihr tief in die Augen blickte.

20. Kapitel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

21. Kapitel

Es war, wie aus eiskaltem Wasser aufzutauchen. Emma war mit einem Schlag komplett wach.

Ihre aufgerissenen Augen suchten etwas orientierungslos die nähere Umgebung ab, konnten sich aber an gar nichts richtig festhalten. Alles schien in viel zu hellen Farben zu verschwimmen, gegen die auch heftiges Blinzeln nicht half.

Da sie eine Haarsträhne an der Nasenspitze kitzelte, wollte sie den Arm heben – und erstarrte schon, als sich auch nur ihre Muskeln anspannten.

Erinnerungsfetzen prasselten auf sie ein, wie scharfe Schrapnells. Der Anblick von grünen Augen, Cocktails an der Bar, ein Tanz. Oh man, das war gar kein Tanzen mehr gewesen, das –

Emmas Puls raste in die Höhe, schien über ihren Scheitel hinauszuschießen und riss ihr dabei wieder die Augen auf.

Vorsichtig, als müsse sie so tun, als wäre sie nicht mehr als gar nicht vorhanden, schielte sie an ihrer Nasenspitze entlang nach unten. Dass sie nackt war, konnte sie schon erkennen, als sie sich selbst noch vor dem Anblick der Arme verschloss, die um sie geschlungen waren und auch den warmen Atem in ihrem Nacken erklärten.

Scheiße!

Auch wenn sie wusste, dass es nichts helfen würde, schloss Emma noch einmal die Augen und zählte bis drei. Wenn sie Glück hatte, würde der Mann in ihrem Rücken vielleicht nicht verschwinden, aber es wäre nicht –

Als ihr bekannte Muster und Linien auf den Unterarmen und vor allem ein ihr sehr bekannter Ehering entgegenstrahlten, konnte Emma einen verzweifelten Laut nicht unterdrücken.

Scheiße! SCHEIßE!!

 

Er hatte Kopfschmerzen.

Warum hatte er Kopfschmerzen? Er hatte doch so gut wie nie Kopf–

Caydens Sinne sprangen an, als er deutlich einen erhöhten Herzschlag und Puls in seiner Nähe hören konnte und kurz darauf ein seltsamer Laut die Stille des Zimmers durchbrach.

Sofort war er hellwach, bereit, sich auf jeden zu stürzen, der –

Astaga!

Fluchend riss er die Hand über seine Augen und rollte sich von der Sonne weg, die ihm schier die Netzhaut verbrutzelt hatte. Zumindest fühlte es sich so an, als hätte er in das Licht von tausend Sonnen geblickt, obwohl die eine ihm schon vollkommen reichte.

Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen, bis er sich so weit vor der Sonne zurückgezogen hatte, dass er neben dem Bett landete und blind nach dieser bescheuerten Fernbedienung für die Sonnenblenden auf seinem Nachttischchen tastete.

Als er das Teil endlich hatte und mit einer Hand den richtigen Knopf zu finden versuchte, während die andere seine Augen schützte, schien sein Kopf regelrecht zu explodieren, was nicht gerade bei der Suche half.

Pergilah ke neraka!”, fluchte er finster weiter. Wieder der falsche Knopf!

Doch schließlich fuhren die Sonnenblenden endlich mit einem leisen Surren herunter und es wurde immer dunkler im Raum. Nicht vollkommen dunkel, aber zumindest wurden seine Augen nicht mehr gebraten, sobald er sie öffnete.

Und als er sie öffnete und einen tiefen Atemzug der Erleichterung tat, hätte er am liebsten weiter geflucht. Doch stattdessen rieb er sich noch einmal über die schmerzenden Augen und drehte sich zu Emma herum, die da auf seinem Bett saß.

Er müsste sich noch nicht einmal daran erinnern, was sie gestern Nacht getan hatten, denn alle nötigen Beweise lagen in der Luft und waren für ihn nur allzu deutlich wahrzunehmen.

Sie. Er. Sex. Blut. Eigentlich blieben da keine Fragen mehr offen. Bis auf vielleicht eine: Was zur Hölle nochmal, war in diesen gottverdammten Drinks gewesen, oder hatte er komplett seine Trinkfestigkeit –?

Scheiße.

Er hatte auch noch von ihr getrunken und dann auch noch, nachdem sie Alkohol –

Caydens Blick huschte über ihren Hals, wo nur noch eine ganz sanfte Rötung festzustellen war, aber irgendwie wollte das seinen Puls gerade kein bisschen beruhigen.

„Guten Morgen …“, meinte er schließlich etwas misslungen in Ermangelung einer passenderen Reaktion und lehnte sich mit dem Rücken an das Nachtkästchen, während er sich über die brennenden Augen rieb.

 

Ihr Körper schien nicht zu wissen, ob ihm zuerst schlecht werden oder er davonrennen sollte. Wo Emmas Puls vorher schon in Schwindel erregenden Höhen geklopft hatte, wurde ihr jetzt wirklich etwas schwarz vor Augen, als sie sich zu schnell auf dem Bett aufsetzte. Egal, in welcher Sprache er sich da gerade gebärdete, allein der Tonfall sprach für sie Bände. Und ihr ... Er sprühte nicht vor guter Laune.

Leider konnte sie so schnell nichts finden und auch die Decke war zu gut unter der Matratze festgeklemmt, als dass Emma sich vor irgendwelchen Blicken hätte verhüllen können.

Wenn schon ein mieser Start in den Tag, dann aber richtig.

Jeder Mensch hatte einen angeborenen Instinkt, der ihm sagte, wann er sich besser aus einer Situation zurückziehen sollte. Und genau dieser Instinkt schien Emma gerade mit fuchtelnden Gesten ins Gesicht zu brüllen. Ein Mann, der sofort nach dem Aufwachen wie der Henker losfluchte, von dem sollte Frau sich fernhalten.

Selbst wenn sie nicht ganz glaubte, dass die Wut nur ihr allein gegolten hatte. Es hatte wohl irgendetwas mit den Fenstern zu tun. Aber hier oben konnte doch niemand hereinschauen ...

Da sie sowieso nicht zu einem befriedigenden Ergebnis kam, ließ Emma das Grübeln sein.

Ihre Wangen waren blass und ihr war seltsam zittrig zumute, als sie sein „Guten Morgen“ erwiderte und sich schließlich anschickte, aufzustehen.

Scheiße nochmal!

Sie hatte absolut keine Ahnung, wo das Zimmer war, in dem ihre Klamotten herumlagen. Und hatte nicht ihre Bluse ganz schön etwas abbekommen?

Emma kratzte sich über eine Stelle am Hals, die ein bisschen juckte, und wunderte sich, dass sie ein wenig auf Druck reagierte. Aber sie tat es damit ab, dass er eben ein Beißer war.

Er ... von dem sie gerade wirklich keine Ahnung mehr hatte, wie sie ihn nennen sollte. Schließlich waren sie gestern eindeutig über „Mr. Calmaro“ hinausgekommen.

 

Als Emma kurz davorstand, aufzustehen und sich suchend umsah, kam Cayden wieder in die Gänge.

„Warte“, sagte er leise und stand auf.

Auf dem Weg zu dem begehbaren Kleiderschrank wandte er das Gesicht von der Tür ab, die ein breites Band an Sonnenlicht hereinließ, und verschwand kurz.

Er zog sich rasch einen Morgenmantel über.

Da das Hotelpersonal allerdings nicht mit einem weiblichen Gast in seiner Suite gerechnet hatte, nahm er für Emma eines seiner Hemden mit.

Er legte es ihr aufs Bett, ohne sie anzusehen, da sie ja immer noch so gut wie vollkommen nackt darauf saß.

„Ich … hol deine Sachen.“

Sofern er sie fand und leider fiel ihm nur zu detailliert ein, was mit ihrem Slip passiert war. Von ihrer Bluse ganz zu schweigen.

Still fluchte er erneut innerlich und verließ den Raum mit geschlossenen Augen und vor der Tür presste er sich auch noch die Hand darüber.

Es dauerte zwar ein bisschen länger, bis er blind ins Esszimmer kam, aber dafür fand er umso schneller ihre gemeinsamen Sachen, da überall ihr gemeinsamer Duft daran hing.

Obwohl seine Augen schmerzten und sein Schädel dröhnte, begannen seine Fänge bei dem intensiven Duft von heißem Sex erneut zu pochen. Doch er zwang diese Reaktion ziemlich leicht, mit den Tatsachen zurück, dass er in dieser Nacht seine Assistentin wortwörtlich vernascht hatte und daran im Grunde gar nichts Gutes war. Nicht, wenn man es realistisch und mit klarem Verstand betrachtete. Er war schließlich ihr Boss und es war auch nicht so, dass sie sich mehr für ihn interessierte, als er sich für sie.

Wenigstens das machte alles etwas erträglicher. Es war nur Sex. Doch die Sache mit dem Blut ließ sich nicht so leicht abtun.

Zurück im Schlafzimmer legte er ihre Sachen auf dem Bett ab und durchsuchte seine eigene Hose, da er sich wieder daran erinnert hatte, wo seine Brille war.

Als er allerdings die kläglichen Überreste des Gestells aus der Hosentasche zog, wurde ihm klar, was gestern so geklungen hatte, als er darauf gestiegen war.

Wunderbar. Einfach nur wunderbar.

Cayden ließ sich geschlagen auf einem Sessel in der Nähe des begehbaren Kleiderschranks nieder und massierte sich die Schläfen.

Das hieß, er würde seine Kontaktlinsen benutzen müssen. Verdammt. Er hasste diese verfluchten Teile!

 

„Danke.“

Emma setzte ziemlich vorsichtig beide Fußsohlen auf den weichen Bettvorleger, stützte sich mit den Händen auf der Bettkante ab und stand dann mit einer zögerlichen Bewegung auf.

Sofort surrte es wieder unangenehm in ihrem Kopf und kleine Lichtpunkte tanzten vor ihren Augen. Sie versuchte den Schwindel, mit ein paar flachen Atemzügen hinunterzukämpfen. Schließlich war das alles hier irgendwie peinlich genug. Da musste sie nicht auch noch umfallen, wenn sie versuchte, sich die Hose anzuziehen.

Zwischen ihren zusammen geknuddelten Klamotten fand sie auch das Stück Stoff, das von ihrem Slip übrig war, und stopfte das nutzlose Teil in ihre Hosentasche. Bis in ihr Zimmer würde es auch ohne gehen.

Den Rücken Cayden zugewandt zog Emma sich vorsichtig und fast lautlos an. Zuerst die Hose, den BH, sein Hemd. Dann die Socken und Schuhe.

Emma zwirbelte ihre Haare zu einem Knoten im Nacken zusammen und versuchte einigermaßen gefasst auszusehen, obwohl ihr immer noch flau im Magen war und sie absolut keine Ahnung hatte, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Das hier war ... so verdammt dumm von ihr!

Allein dafür hatte sie den Schwindel und die leichte Übelkeit verdient. Genauso, wie die zittrigen Muskeln.

Ja, okay. Sowas wie letzte Nacht konnte passieren. Im Eifer des Gefechts. Weil sie einen netten Tag zusammengehabt hatten und sich nicht unsympathisch waren. Aber ... scheiße nochmal! Er war verheiratet!

Emma ging um das Bett herum und blieb kurz vor dem Sessel stehen, in den Cayden sich geworfen hatte.

„Ich werd dann gehen.“

Ihr fiel einfach nichts Besseres ein.

 

Cayden sah nicht hoch, während Emma sich anzog, stand dann aber sogar auf, als sie vor ihm stehenblieb und ihm mitteilte, dass sie jetzt gehen würde.

Er sah auf sie hinab, sein Blick immer noch leicht verschwommen von dem Kuss der Sonnenstrahlen.

„Okay.“

Es klang weder erfreut noch das Gegenteil davon, sondern mehr wie Resignation.

„Ich werde unten beim Frühstück sein.“

Eine Tatsache. Nicht mehr. Vielleicht kam sie auch, oder auch nicht. Er überließ es ihr, ob sie sich zu ihm gesellte.

 

Nachdem Emma gegangen war, duschte er gründlich mit kaltem Wasser bei vollkommener Dunkelheit und versuchte wenigstens für einen Moment lang, nicht über die gestrige Nacht nachzudenken. Aber natürlich blieb das einfach nicht aus.

Es hatte so gut begonnen. Er hatte Spaß gehabt, so viel mehr wie schon lange nicht. Und der Tanz … Gott, wann hatte er das letzte Mal so mit einer Frau tanzen können?

Doch alles danach, als sie in seinem Zimmer verschwunden waren, gehörte nicht unbedingt zu dem, was er guthieß.

Es war nicht unbedingt die Tatsache, Sex mit Emma gehabt zu haben. Das wäre vollkommen in Ordnung gewesen, wenn es ihnen beiden einfach nur um Spaß gegangen wäre. Aber um ehrlich zu sein. Er wusste nicht, was ihn geritten hatte, mit ihr so weit zu gehen. Der Alkohol konnte es nicht –

Der Alkohol …

Warum hatte er so stark auf den Alkohol reagiert? Pur getrunken bewirkte er bei ihm höchstens ein leichtes Hitzegefühl, aber ansonsten absolut gar nichts. Dennoch war es zum Flirt mit Emma gekommen. Zu diesem Tanz, den Küssen im Hotelflur und die Sache … danach.

Cayden biss die Zähne zusammen, als er zitternd aus der Dusche stieg und daran dachte, was genau alles danach gewesen war.

Das war nicht einfach nur Sex gewesen. Er war … vollkommen enthemmt gewesen. Und nicht nur das. Als er auch noch von ihrem Blut getrunken hatte – was an sich schon ein verdammt großes Risiko bedeutete – war er nicht wiederzuerkennen gewesen.

Cayden fand es schrecklich im Nachhinein festzustellen, wie er so vollkommen durchgedreht war, bei einer Person, der er diese Seite seines Wesens nicht gefahrlos zeigen konnte. Zudem sollte niemand diesen Teil seines Wesens sehen müssen. Er konnte sie ja nicht einmal selbst leiden.

Getrieben von Instinkten, war der eigene Nutzen alles für ihn gewesen.

Wie er Emma da auf dem Tisch …

Cayden fluchte leise, trocknete sich ab und zog seinen Kulturbeutel näher heran. Es war nicht einmal annähernd Strafe genug, dass er seine eigene Brille zertreten hatte und nun Kontaktlinsen tragen musste, für das was er getan hatte. Nein, nicht einmal ansatzweise.

Die nächsten fünfzehn Minuten kam er nicht dazu, weiter über sein unverzeihliches Verhalten nachzudenken, sondern quälte sich mit den flexiblen Kontaktlinsen ab, bis er endlich beide drin hatte und seine Augen noch mehr wehtaten.

Das würde sich wieder legen, aber er hasste dennoch das Gefühl, ständig etwas auf den Augen zu haben. Denn im Gegensatz zu Menschen vergaß er es nicht so einfach, sondern war sich dessen stets bewusst.

Zudem waren seine Augen nun nicht Grün, sondern irgendwie schlammig braun mit dunkelroten Rändern um die sonst grünliche Farbe, da die Linsen größer als seine Iris und wie seine getönte Brille normalerweise rotgetönt waren.

Als er auch diese Marter hinter sich und sich schnell eine Stoffhose und ein dunkles Hemd angezogen hatte, ging er schließlich hinunter, um sich so viel Orangensaft reinzuschütten, wie er brauchte, um die seltsamen Erscheinungen eines Katers aus sich hinauszuspülen. Umso mehr vitaminreiche Flüssigkeit, umso besser.

 

Die Haare in ein Handtuch zu einem Turban auf ihren Kopf getürmt sah Emma sich im Spiegel ins Gesicht. Zum zweiten Mal schon kniff sie sich in die Wange. Und zwar so fest, dass ihr eine einzelne Träne aus dem Augenwinkel lief.

Nichts. Sie war so blass, dass ihr bei ihrem Anblick selbst elend wurde. Und irgendwie fühlte sie sich krank.

„Alles bloß Einbildung.“

Und selbst wenn sie sich damit so weit brachte, dass sie sich vom Frühstück entschuldigen konnte, würde das überhaupt nichts helfen. Sie hatten einen ewig langen Flug vor sich und Sitze direkt nebeneinander. Emma würde Cayden nicht aus dem Weg gehen können, auch wenn sie im Moment nichts lieber getan hätte.

Unter anderen Umständen wäre ihr die Sache gar nicht wirklich peinlich gewesen. Sie hatten miteinander geschlafen. Nein, wenn man es sich eingestand, waren sie wie hirnlose, wilde Tiere übereinander hergefallen und hatten sich aneinander befriedigt.

Eine heiße Gänsehaut wanderte Emmas Wirbelsäule hinunter, als sie daran dachte.

„Oh Emma ...“

Da hatte sie es bis jetzt immer sein lassen. Kein Kerl, der in einer Beziehung steckte, sei sie auch noch so locker, hatte auch nur einen Kuss von ihr bekommen. Und jetzt hatte sie mit einem verheirateten Mann geschlafen. Daran war nichts zu beschönigen. Das war einfach nur sowas von falsch!

Mit einem leisen Stöhnen kniff sie sich erneut in die Wange und glaubte diesmal sogar einen rosa Fleck zu sehen, der aber immer noch nicht mit der Rötung an ihrem Hals mithalten konnte. Diesmal schüttelte sie den Kopf, nahm das Handtuch ab und frisierte sich die Haare so, dass der Knutschfleck, den ihr verheirateter Boss ihr beim One-Night-Stand verpasst hatte, nicht zu sehen war. Immerhin war das Verschleiern bei dem anderen Liebesbiss nicht nötig. Den hatte er ihr an einer Stelle verpasst, die niemand so schnell wieder sehen würde.

„Schon gar kein Mann, der verheiratet ist!“

Sie ging die paar Schritte zum Schlafzimmer hinüber und ließ sich einfach bäuchlings auf das unbenutzte Bett fallen. Es roch frisch und allein nach ihr. Ganz anders als das kleine Häufchen Klamotten, das Emma vorhin neben dem Bett abgestreift und bis jetzt unbeachtet liegengelassen hatte.

Sie seufzte theatralisch in die Kissen und vergrub ihr Gesicht in der Tagesdecke.

Wie hatte sie bloß ...?

 
 

***

 

„Guten Morgen.“ Nochmal.

Emma setzte sich und nahm die Karte von ihrem Platz. Die nette Dame hatte sie sofort an ihren Tisch geführt und nahm jetzt Emmas Bestellung auf, auch wenn sie vorerst nur aus einem großen Glas Grapefruitsaft bestand.

Eine Weile funktionierte es, sich hinter der Frühstücksauswahl zu verstecken, aber dann musste Emma doch hochsehen und fand es lächerlich ihr Gegenüber weiterhin zu ignorieren. Sie waren doch keine Teenager mehr.

„Oh man. Alles in Ordnung? Du siehst –“

Emma hielt die Klappe, sobald sie sich von der ersten Überraschung erholt hatte. Aber er sah wirklich ... Ehrlich gesagt sah Cayden aus, als hätte er Rotz und Wasser geheult.

 

„Ja, alles in Ordnung … Naja … Vielleicht auch nicht.“

Cayden seufzte und nahm noch einen Schluck von seinem Orangensaft und konnte Emma irgendwie nicht richtig in die Augen sehen. Vorhin noch, als sie die Menükarte studiert hatte, hatte er die Augen nicht von ihr nehmen können, aber jetzt wich er ihr lieber aus.

Verdammt. Sie war so unglaublich blass. Wie viel Blut hatte er gestern von ihr genommen?

„Ich hasse Kontaktlinsen“, erklärte er ehrlich und gabelte sich eine Erdbeere von seiner Schüssel voll mit frisch geschnittenen Früchten, ehe er sie sich in den Mund steckte.

„Wie geht es dir?“

 

„Oh ...“

Emma hätte sich am liebsten selbst verflucht, als unerwartet eine sanfte Welle von Erleichterung durch sie hindurchrieselte. Sie waren also noch beim Du. Auch wenn sie es nicht geglaubt hätte und ziemlich überrascht davon war, freute Emma sich ehrlich darüber.

Ihr Tag zusammen war wirklich nett gewesen. Sie hatten sich gut unterhalten, hatten Spaß gehabt und sich verstanden. Warum sollten sie sich also nicht duzen?

„Ja, das mit deiner Brille ...“

Jetzt sah sie sich seine Augen genauer an. Sie waren schlammbraun, wie sie es auch unter den getönten Gläsern der Brille immer gewesen waren. Bloß musste Emma zugeben, dass im Vergleich zur jetzigen Variante sogar das alte Gestell noch vorteilhaft ausgesehen hatte.

„Wenn dich das tröstet: Sie stand dir nicht besonders gut.“

Komisch, dass sie die ganze Zeit über mit sich gehadert und sich diese Worte so oft überlegt hatte. Und jetzt hatte Emma sie einfach ausgesprochen. Und er hatte sie nicht in einem Anfall von Wut zusammengestaucht.

„Warum trägst du sie eigentlich? Ich meine, warum getönt?“

Bevor sie dieses Thema, oder bevor sie erörtern konnten, wie es Emma an diesem Morgen ging, kam die Kellnerin mit einem riesigen Glas voll Grapefruitsaft und Emma bestellte sich ein üppiges Frühstück. Jetzt, wo sie um sich herum die vielen Essensdüfte wahrnehmen und an den Nachbartischen schon leckere Gerichte erspähen konnte, fiel ihr erst auf, wie hungrig sie eigentlich war. Ihr Magen knurrte leise und Emma versuchte ihn, vorerst mit einem großen Schluck Saft zu beruhigen. Der Obstsalat auf Caydens Platzdeckchen sah auch ziemlich verführerisch aus.

 

Cayden konnte nicht anders. Das Lachen über Emmas Aussage steckte ihm in der Brust und er konnte lediglich noch damit abwarten, bis die Kellnerin wieder abgezogen war. Dann begann er wirklich, leise zu lachen.

„Oh Gott, ja, und wie mich das tröstet!“, meinte er schmunzelnd und spülte den Rest seines kleinen Humoranfalls mit einem ordentlichen Schluck Orangensaft wieder hinunter, wobei er sich fast verschluckte und es mit einem Räuspern tarnte.

Danach wurde er allerdings schnell wieder ernster.

„Das mit den getönten Gläsern ist eine lange Geschichte“, winkte er ab, da er für gewöhnlich noch nicht einmal riskieren konnte, die offizielle Version zu erzählen, weil es im Grunde keine offizielle Version gab. Zumindest hatte Cayden noch nie bei Menschen von einem Phänomen, wie es bei jedem Vampir gang und gäbe war, gehört.

Lichtempfindlichkeit mag vielleicht eine Sache sein, aber die genauen medizinischen Untersuchungen, waren etwas ganz anderes und jeder, der einen Computer und Internet besaß, könnte herausfinden, dass es so eine 'Krankheit' wie er sie hatte, einfach nicht gab.

Nicht unter Menschen.

„Sagen wir einfach, ich hätte noch die Auswahl zwischen schwarzen, violetten und blauen Kontaktlinsen. Wobei die nicht so cool sind, wie man sie sonst bekommen kann, da sie die eigene Augenfarbe nicht komplett überdecken, sondern eben auch nur 'getönt' sind.“

 

Emma überlegte sich, ob sie sich eine der anderen Farbvarianten vorstellen konnte, und sah Cayden dabei unausweichlich direkt in die stark geröteten Augen.

„Gibt es sie denn nicht auch in Grün?“

Ihre Frage klang überlegend. So, wie sie es aus seiner sehr knappen Erklärung interpretiert hatte, ging es darum, dass seine Augen wohl überempfindlich auf Licht reagierten. Vielleicht eine Art Allergie. Von so etwas hatte sie schon irgendwann mal gehört. Er musste die Lichteinstrahlung also auf jeden Fall dämpfen.

Schwarz würde total seltsam und unheimlich aussehen. So, als würde man immer in Löcher in seinem Kopf sehen. Emma schauderte innerlich und verwarf die Farbe sofort. Violett hätte vermutlich das gleiche Ergebnis wie jetzt das Rot. Und Blau ...

„Blau ginge wohl auch. Das würde jedenfalls deine Augenfarbe nicht so verschandeln. Auf das Grün könnte man nämlich glatt neidisch werden. Schade, es in dieses ... Braun zu verwandeln.“

Emma unterließ es, das ’Braun' näher zu definieren und nahm stattdessen dankbar ihr Frühstück entgegen, das aus allem Möglichen und Unmöglichem zu bestehen schien. Na, Hauptsache lecker und viel.

 

Ihr gefiel seine Augenfarbe?

Cayden verwarf den Gedanken rasch wieder und schob ein paar Erdbeeren durch seine Schüssel.

„Nein, Grün hat nicht –“, er stockte kurz und lächelte dann einfach.

„Grün geht nicht. Nur die von mir genannten Farben. Und wenn ich wieder in Wellington bin, werde ich mir ohnehin wieder eine Brille zulegen. Wenn schon zu sonst nichts, passen die rotgetönten Gläser wenigstens zu meiner Haarfarbe. Alles andere wäre etwas unpassend und das Schwarz wäre in Meetings sogar unhöflich, da man es leicht mit einer Sonnenbrille verwechseln kann.“

Er zuckte mit den Schultern und hatte wirklich keine Ahnung, warum Emma das eigentlich interessieren sollte. Sobald er wieder zuhause war, würde er den Spezialisten für Vampirmedizin kontaktieren und eine neue Brille in Auftrag geben. Vielleicht hätte er das schon eher tun sollen. Seine letzte Brille war schließlich schon uralt für eine Brille gewesen.

„Aber jetzt wieder zurück zu dir. Wie geht’s dir?“, verlangte er noch einmal zu wissen, da ihm das einfach wichtig war.

 

„Es geht mir gut“, beantwortete Emma schließlich seine Frage und lächelte sogar. Ihr war wirklich leichter ums Herz, weil sie sich immer noch ganz normal unterhalten konnten. Wenn sie Glück hatten, und sich anstrengten, konnten sie diesen kleinen ... Ausfall ... der letzten Nacht vielleicht vergessen und so tun, als hätte er nie stattgefunden.

 

Erneut glitt sein Blick über ihre blasse Haut, und auch wenn sie ihn verbarg, wusste er doch immer noch, wo der Fleck lag, an dem er sie gebissen und anscheinend auch ziemlich fest daran gesaugt hatte. Für gewöhnlich ließ er dabei keine Spuren zurück.

Die Ironie des Ganzen war, dass er zwar keine Ahnung hatte, wie er gestern so die Kontrolle hatte verlieren können, aber dennoch konnte er sich an jede Empfindung, an jedes Gefühl und vor allem an jede Nuance ihres Geschmackes erinnern.

Das machte es irgendwie noch schlimmer.

Cayden hätte ihr am liebsten geraten, sie sollte Rindfleisch essen oder eben die Insektenküche kosten, von der sie gesprochen hatten, um ihren Eisenhaushalt wieder auszugleichen. Aber stattdessen meinte er nicht ganz ernst zunehmend: „Tut mir leid, ich hätte dich warnen sollen. Manchmal beiße ich.“

Er lächelte leicht, obwohl ihm das immer noch irgendwie schwerfiel. Aber er wollte nicht länger diese geknickte, schwere Atmosphäre zwischen ihnen. Wenn sie es jetzt schon zum Du geschafft hatten, dann wäre alles irgendwie umsonst gewesen, wenn sie sich jetzt gar nicht mehr riechen könnten. Denn eines stand fest. Obwohl er keine Ahnung hatte, wie es gestern Nacht wirklich so weit hatte kommen können, so mochte er Emma doch immer noch so wie davor.

Ja, er hatte vielleicht Aspekte von ihr gesehen und Dinge mit ihr getan, die nicht ihrem Verhältnis zueinander entsprachen, aber das änderte nichts an der Sympathie, die er für sie empfand.

 

Aus reinem Reflex zuckten ihre Finger im nächsten Moment in Richtung ihres Halses, an dem sie den Bluterguss jedes Mal spüren konnte, wenn sie ihren Kopf ein Stück weit drehte.

„Hab ich gemerkt.“

Jetzt grinste Emma in ihr Glas, spülte aber jede weitere Gefühlsregung mit einem großen Schluck Saft hinunter. Sie sollte das hier nicht gar so nett finden.

 

Cayden folgte Emmas Bewegungen mit der Hand und senkte rasch wieder den Blick auf seinen Früchteteller.

Er musste nicht einmal wirklich hinsehen, um einen ziemlich genauen Flashback von letzter Nacht zu bekommen, weshalb er es nicht auch noch herausfordern sollte. Zumal seine Fänge schon wieder zu pochen angefangen hatten.

Verdammt noch mal, eigentlich sollte man meinen, er hätte mehr als genug getrunken, um damit locker einen Monat über die Runden zu kommen.

Aber es war ja schließlich auch nicht der Blutdurst, der seine Sinne reizte, sondern der Rest, der gestern damit einhergegangen war.

Das Pochen wurde stärker.

„Hast du auch genug Souvenirs, um deine Mitbewohner zufrieden zu stellen?“, versuchte er das Thema von gestern Nacht zu umschiffen und sich damit selbst auf andere Gedanken zu bringen.

Er würde sich noch damit befassen. Daran bestand kein Zweifel, aber nicht, wenn Emma dabei ihm gegenüber am Tisch saß.

 

„Ja, ich hab nette Kleinigkeiten gekauft. Die beiden werden sich bestimmt freuen. Normalerweise schreibe ich auch eine Karte, aber irgendwie hab ich das diesmal verschwitzt.“

Nichtmal ihrer Mom hatte sie geschrieben.

Emma machte sich eine mentale Notiz, sich am Flughafen noch eine Karte mitzunehmen und diese ihrer Mom von Welly aus zu schicken. Wobei eigentlich ...

„Sag mal, machst du eigentlich irgendwann in absehbarer Zeit mal Urlaub?“

Er sah sie an, als verstünde er die Bedeutung der Worte gar nicht. Was Emma zum Grinsen brachte.

„Ich meine, weil Stella doch bald geht und ich dann ja nur frei bekommen kann, wenn sehr wenig los ist oder du auch in den Urlaub fährst. Ist da was geplant?“

Sie würde gern ihre Mom besuchen. Ein paar Tage die Füße hochlegen.

 

„Bis zur Abfahrt wäre noch Zeit, wenn du also noch Karten schreiben willst, wäre das kein Problem.“

Cayden stocherte etwas in seinen Früchten herum, bis er sich eine Mango herauspickte und sie sich in den Mund schob. Eigentlich war er schon voll, aber damit konnte er wenigstens den Anschein von einem Frühstück wahren, während Emma schließlich gerade erst zu Essen begonnen hatte.

Als sie ihn doch tatsächlich fragte, ob er denn einmal Urlaub nahm, konnte er sie nur anstarren, bis ihr Grinsen ihn wieder zurückholte.

„Nein.“ Das war alles. Er plante keine Urlaube, weil er sich keine nahm und da er auch so gut wie nie krank wurde, fiel das auch weg. Er war also immer präsent, weshalb Emma in diesem Sinne kein Glück haben würde.

„Was hast du denn vor? Ein paar Tage werden bestimmt gehen, dass du dir frei nimmst. Ich konnte schließlich Stella auch nicht die ganze Zeit beanspruchen.“

 

Nur innerlich schüttelte sie über ihn den Kopf. Wie man 365 Tage im Jahr arbeiten konnte und das auch noch für einen normalen Zustand hielt, würde ihr nie klar sein. Aber das war seine Entscheidung. Fakt war, dass er ihr irgendwann freigeben musste. Ganz ohne Urlaub konnte er selbst eine persönliche Assistentin nicht an ihrem Schreibtisch anketten.

Das schien auch Cayden klar zu sein, der gar nicht so entsetzt auf ihren Wunsch reagierte, wie Emma angenommen hatte. Vielleicht lag es auch daran, dass sie ihn so unvorbereitet erwischt hatte.

„Ich möchte meine Mom besuchen. Ungefähr eine Woche, wenn das geht. Vielleicht ...“ Sie überlegte, ob ihr gleich jetzt ein passender Zeitraum einfiel. Aber da ihr Mom auch arbeitete, war da auf die Schnelle nichts zu machen.

„Ich würde auf jeden Fall rechtzeitig Urlaub einreichen. Sobald wir zu Hause sind, werde ich mal nachfragen, wie es passt. Dann gebe ich Bescheid.“

Der Gedanke mit dem Urlaub war Emma gerade erst gekommen. Und sie wusste ja nicht, ob ihre Mom etwas geplant hatte oder gar selbst unterwegs sein würde. So locker am Frühstückstisch würde sie das jetzt und hier nicht entscheiden können.

„Und danke.“

Sie nahm einen Bissen von ihrem Frühstück und erklärte sich erst, als sie hinunter geschluckt hatte.

„Ich werde einfach am Flughafen eine Karte kaufen und ihr gleich einen längeren Brief schreiben.“

22. Kapitel

Da der Flug für Nachmittag angesetzt war, hatten sie noch in Ruhe Zeit, ihre Sachen zu packen, aus dem Hotel auszuchecken und sich in das Chaos des Flughafens von Tokio zu stürzen. Wo es definitiv lebhafter zu ging, als auf dem Wellingtoner Flughafen und somit auch weiterhin keine Zeit blieb, über die Ereignisse der vergangenen Nacht nachzudenken.

Cayden war ganz froh darüber. Sie hatten schließlich noch einen langen Flug vor sich und somit genügend Zeit, das Thema anzusprechen. Obwohl er es, zumindest vor Emma, am liebsten ganz vermieden hätte.

Überraschenderweise schien sie die gestrige Sache ebenso wenig ansprechen zu wollen wie er, als sie im Flugzeug saßen und er einmal nicht von seinem Blackberry in Beschlag genommen wurde – den hatte er in seinem Koffer verstaut. Stattdessen unterhielten sie sich sogar sehr nett – wie Cayden fand – und es gab nicht die geringste Andeutung darauf, dass einer von ihnen sich irgendwie an das Thema Sex während Alkoholeinflusses heranpirschen wollte.

Als Emma schließlich immer wieder leise gähnte und ihm seine Augen schon ziemlich wehtaten, beschloss er, die Tortur mit den Kontaktlinsen noch einmal zu vollziehen, nur dieses Mal mit dem Ergebnis, dass er sie heraus statt hinein bekommen wollte. Womit er gleich noch länger brauchte, als beim ersten Mal.

Als er zurück zu seinem Platz kam, war Emma bereits eingeschlafen.

Ihr Kopf von ihm abgewandt, lag auf ihrer Schulter und gewährte ihm somit einen wunderbaren Blick auf ihren entblößten Hals.

Cayden starrte geschlagene fünf Minuten darauf, ehe er es schaffte, sich zu setzen.

Den Biss hatte er auf ihrer andern Halsseite gesetzt, weshalb ihre Haut hier makellos von ebenmäßiger Farbe war.

Durch ihre Haltung war die Sehne an ihrem Hals angespannt und deutlich hervorgetreten, so dass er genau sehen konnte, wo und wie er am besten zubeißen müsste, um von ihrem köstlichen –

Cayden drehte sich weg und schloss die Augen, um sich selbst davon abzuhalten, noch einmal ihren Hals anzustarren.

Die Ironie des Ganzen war, dass er noch nicht einmal Durst hatte. Für gewöhnlich war immer ein gewisses Maß an Durst da, auch wenn er gerade erst getrunken hatte. Aber da er gestern vermutlich viel zu viel von Emma getrunken hatte, war selbst dieses ständig begleitende Gefühl gänzlich verschwunden und das machte ihm irgendwie einen noch größeren Knoten im Magen, anstatt sich darüber zu freuen, einmal wirklich satt zu sein.

Für den Rest des Flugs und während Emma schlief, versuchte auch Cayden nicht mehr daran zu denken und ebenfalls zu schlafen. Aber so wirklich gelingen wollte es ihm nicht, denn jedes Mal wenn er die Augen schloss, sah er sie vor sich. Nackt, mit geröteten Wangen, seufzend und stöhnend, direkt unter ihm.

Cayden gab sich damit zufrieden, sich über sich selbst zu ärgern und sich zu fragen, was zur Hölle noch mal mit ihnen beiden los gewesen war. Doch vor allem, was ihn selbst dazu gebracht hatte, von ihr zu trinken, während sie betrunken war. Damit hatte er ihnen endgültig den Gnadenschuss gegeben. Hatte er doch genau gewusst, was es in ihm auslösen und wie er dann werden würde.

 

Emma wachte auf, als ihr Kopf unkontrolliert auf ihre Brust sank und sie sogar das peinliche Gefühl beschlich, geschnarcht zu haben.

Blinzelnd und müde sah sie sich um. Neben ihr schien Cayden auch nicht gerade Ruhe zu finden, wenn man seine zuckenden Augen unter den geschlossenen Lidern betrachtete. Allerdings tat Emma nicht nur das. Sie sah sich seine geschlossenen Augen an, diese interessant gefärbten Wimpern, die bei Rothaarigen immer irgendwie gescheckt und durchsichtig wirkten. Außerdem die gerade Nase, die hohen Wangenknochen und die Lippen, von denen sie wusste, dass –

Obwohl sie schnell den Blick senkte, hörte das Gefühl in Emmas Innerem nicht auf, zu zerren. Schon gar nicht, als ihre Augen seine Hand einfingen, die entspannt auf der Armlehne zwischen ihnen lag. Er hatte so schlanke, lange Finger. Mit Sommersprossen.

Emmas Blick huschte zu seinem Gesicht, als wäre sie ein Dieb in der Nacht und er der Wächter mit dem Schlüssel.

Ihre Finger streckten sich langsam und vorsichtig aus und sie fuhr fast zusammen, als ihre Jacke viel zu geräuschvoll von ihrem Schoß auf den Boden der Kabine glitt.

Caydens Augen bewegten sich noch mehr. Mit angehaltenem Atem wartete Emma darauf, bis seine Wimpern nicht mehr so verräterisch zuckten, und wagte sich dann weiter vor. Nur immer ein kleines Stück. Zentimeterweise, bis ... bis sie seine Hand unter ihren Fingerkuppen spüren konnte. Sie war leicht kühl und glatt.

Mit einem winzigen Lächeln fuhr Emma mit ihren Fingerspitzen seine Finger entlang, legte ihre Hand ganz sanft auf seine und musste breiter lächeln, als ihr auffiel, wie klein ihre eigene in seiner Hand aussehen musste. Eigentlich sehr –

Er holte tief Luft und zog die Hand unter ihrer heraus, um sie mit seiner Rechten auf seinem Bauch zu falten.

Emmas Lächeln verschwand und sie sah aus dem Fenster, bis der Kapitän den Landeanflug ankündigte und auch Cayden wieder die Augen öffnete.

 
 

***

 

Ein paar Stunden später warf Emma ihre Sachen in die Waschmaschine und sich selbst anschließend auf die Couch. Der Flug steckte ihr noch ziemlich in den Knochen. Als wäre das das Einzige.

Zwar starrte sie den Fernseher an, auf dem ein Disney-Film flackerte, aber in ihrem Kopf liefen ganz andere Bilder ab, von denen die Corporation bestimmt keines hätte auf Leinwand bannen wollen. Oh man, wie hatte sie nur?

 
 

***

 

Als er nach Hause kam, fiel ihm sofort die veränderte Atmosphäre auf.

Es war still, so als wäre keiner vom Personal im Haus und würde seiner Arbeit nachgehen. Aber es wirkte nicht verlassen still. Den Unterschied erkannte er sofort, weil er wusste, wie es war, in sein verlassenes Apartment zukommen, wo nie jemand auf ihn wartete.

Es war also jemand zuhause und nach dem Duft nach, war er sich ziemlich sicher, dass es Vanessa sein musste.

Cayden stöhnte innerlich entnervt. Hatte er doch gehofft, dass sie noch ein paar Tage länger in Aspen geblieben war, so wie sie es angekündigt hatte.

Diese Frau jetzt ertragen zu müssen, war nach einem langen, unruhigen Flug neben einer Frau, mit der er Sex gehabt hatte, obwohl er ihn nicht hätte haben dürfen, das Schlimmste an Strafe, das er sich momentan vorstellen konnte.

So leise wie möglich ging Cayden mit seinem Koffer durch die riesige Eingangshalle und stellte ihn so neben der Treppe ab, dass er für Vanessa hinter dem großen Blumenarrangement nicht gleich zu sehen war. Danach ging er hoch, achtete sorgsam darauf, dass sie nicht in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer war, und zog sich aus.

Eine heiße Dusche war alles, was er nach fast 24 Stunden Flug wollte. Und schlafen.

Vom Bad ging er noch ein bisschen tropfend und nackt direkt in ihren Umkleideraum und suchte sich eine seidene Schlafhose heraus.

Als er schließlich ins Schlafzimmer zurückkam, lag Vanessa halbnackt im Bett und wartete bereits auf ihn.

Deshalb halbnackt, weil sie noch so viel Unterwäsche tragen konnte, die Art, welche sie trug, stellte trotzdem mehr zur Schau, als sie wirklich verdeckte. Gerade wegen der durchsichtigen roten Spitze.

Zudem hatte sie auch ein paar Kerzen angezündet, die meistens bisher nur als Dekogegenstände den Raum verziert hatten, aber nun einen Duft nach Honig und Vanille verströmten.

Das dämpfte zwar für gewöhnlich den intensiven Geruch von Vanessas Parfum, beeinträchtigte aber auch seinen Geruchssinn, was er eigentlich nicht wirklich mochte.

Außerdem war der Anblick seiner Frau auf ihrem gemeinsamen Ehebett gerade alles andere als erbauend.

Verdammt, er wollte einfach nur schlafen und sich nicht auch noch mit ihr 'herumschlagen' müssen.

„Willkommen zuhause, Schatz“, gurrte sie leise und schlug eine Seite ihres langen, durchsichtigen Oberteils zur Seite, das nur in der Mitte zwischen ihren Brüsten von einer dünnen Schleife gehalten wurde.

„Vanessa …“, setzte er schon an, um sie von seinem Bett zu scheuchen, doch irgendetwas in seinem Tonfall ließ ihre Augen blitzen und schon war sie aufgestanden. Flinker, als er es ihr zugetraut hätte, stand sie plötzlich vor ihm und zeichnete mit ihrem Zeigefinger irgendeine Linie auf seiner Brust nach, während sie ihn von unten herauf anlächelte und einen kleinen Schmollmund machte.

„Ich weiß, dass du müde bist. Du hattest einen langen Flug“, erklärte sie leise, in schnurrendem Tonfall, der ihn vermutlich besänftigen sollte, in was für einer Stimmung er auch immer war, doch eigentlich machte es Cayden nur gereizter.

Das alles hier war viel zu eindeutig, um nicht zu verstehen, worauf sie hinaus wollte und das war etwas, das er heute sicherlich nicht wollte. Nicht nach dieser einen Nacht mit Emma in Tokio. Sex mit Vanessa war momentan das Letzte, worauf er Lust hatte und das wollte er auch seiner –

„Es ist mehr als eine Woche her, dass wir uns gesehen haben. Du musst am Verdursten sein.“

Vanessa strich mit ihren Händen seine Brustmuskeln nach und drängte sich näher an ihn heran, entblößte dabei ihren Hals, den sie dank ihrer hochgesteckten Haare freigehalten hatte, und bot sich geradezu an.

Cayden wollte ihr schon sagen, dass er keinen Durst hatte, aber das hätte nur wieder ein Frage-Antwort-Spiel in Gang gesetzt, auf das er jetzt absolut keine Lust hatte.

Zudem, sie würde ohnehin nicht merken, ob er weniger von ihr nahm, als gewöhnlich.

Also schloss er einmal kurz die Augen, atmete durch und ergriff sie schließlich im Nacken, um ihren Hals in den richtigen Winkel zu bringen.

Sofort merkte er, dass sie falsch roch. Natürlich nicht falsch im Sinne von – sie benutzte neuerdings ein anderes Parfum oder dergleichen – das nicht. Aber sie duftete eben einfach nicht wie …

Denk nicht daran. Beiß einfach zu. Denk nicht an … sie.

Cayden legte seine Lippen zögerlich auf Vanessas Hals. Ihr Puls beschleunigte sich bereits und ihre Hände wanderten zu seinen Hüften hinab, wo sie erwartungsvoll innehielten.

Es ging nicht.

Cayden ließ sie los und richtete sich wieder auf, als er einen Schritt von ihr zurücktrat.

Es ging einfach nicht.

„Ich habe keinen Durst, aber ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mich jetzt schlafen lassen würdest.“

Cayden wartete nicht erst Vanessas Reaktion ab, sondern ging durch den Raum und blies jede einzelne Kerze aus.

Er kam sich dabei zwar irgendwie wie ein Arschloch vor, weil sie das alles extra für ihn hergerichtet hatte, aber wenn er es einmal von der realistischen Seite her betrachtete, war das alles ganz und gar nicht so liebevoll, wie es nach außen hin wirkte.

Vanessa wollte nur Blut und Sex von ihm. Gefühle für ihn hatte sie nicht. Zumindest glaubte er nicht, dass es gute Gefühle waren. Ihr ging es doch am Ende nur um ihre Schönheit und Jugend. Das erleichterte es etwas, ihr mit kühler Gleichgültigkeit entgegen zu treten.

„Aber …“, versuchte sie es noch einmal, sichtlich verdutzt über seine Abweisung.

„Nein, Vanessa. Morgen. Heute hab ich keine Lust, also such dir jemand Anderen zum Spielen.“

Mit diesen Worten schlug er demonstrativ die Tagesdecke zur Seite, kroch auf seiner Seite des Bettes unter die Decke, zog sie sich bis übers Kinn und schloss die Augen.

Manchmal hatte er dieses Leben so satt!

Vor allem, da gerade nicht nur die Nacht mit Emma an ihm nagte, sondern auch sein Stolz etwas Schlagseite abbekommen hatte.

Ob durstig oder nicht, seine Fänge kamen immer heraus, wenn die Aussicht auf Blut lockte, nur dieses Mal eben doch nicht.

Manchmal war es echt keine schöne Abwechslung, wenn einen der eigene Körper noch überraschen konnte.

Nachdem Vanessa endlich eingesehen hatte, dass sie sich heute nicht mehr mit ihm anzulegen brauchte, war sie verschwunden, um ihn schlafen zu lassen. Doch Schlaf fand er am Ende noch lange nicht.

 
 

***

 

„Ha!“

Eiswasser lief ihr durch den Körper und stellte ihr sämtliche Nackenhaare zu Berge. Ihre Muskeln verkrampften sich, zogen ihren Körper in eine gekrümmte Haltung zusammen und zitterten vor Anspannung.

Emma schreckte hoch, war im nächsten Moment hellwach und schlug mit der flachen Hand auf ihren Lichtschalter ein, bis endlich ein leises Klick ertönte und sie aus der Dunkelheit ihres Zimmers erlöst wurde.

Gehetzt und mit klopfendem Herzen sah sie sich um, schob sich bis ans Kopfende des Bettes, um an der Wand Schutz zu suchen und warf einmal einen Blick durchs gesamte Zimmer, bevor sie es auch nur ansatzweise wagte, durchzuatmen.

Auch ihr Atem klang aufgebracht und gleichzeitig zittrig, während Emma sich mit ihren Fingern ein paar schweißnasse Strähnen aus der Stirn und aus dem Nacken schob.

Was für ein Scheißtraum! Da hatte sie so lange schon Ruhe davor gehabt und jetzt steckte ihr die Angst auf einmal wieder in den Knochen. Ganz so, als würde jemand hinter dem Vorhang stehen, der sich wegen der undichten Fenster ein bisschen wölbte. Als wolle jemand –

Wie sie das hasste! Vor allem, weil sich vor den eigenen Gespenstern so schlecht davonlaufen ließ. In ihrem Kopf wusste Emma ja, dass sie keinen Grund hatte, Angst zu haben. Da war niemand, der ihr mit einem Monstergebiss und wilden Raubtieraugen an den Kragen wollte. Niemand wollte ihr Blut sehen oder sie zuckend in einer Lache davon sterben lassen, so wie sie es geträumt hatte.

Aber dass sie das eigentlich wusste, nützte ihr leider im Moment überhaupt nichts.

Immer noch bis ins Innerste erschrocken zog sie die Decke um sich und lehnte sich mit der Schulter an das Bücherregal neben ihrem Bett. So schwer, wie ihre Augenlider waren, sollte sie lieber sitzen bleiben. Das würde zumindest für den Anfang verhindern, dass sie trotz des eingeschalteten Lichts wieder einschlief und in diesen fiesen Traum zurückfiel.

Während ihre Atmung ruhiger wurde und Emma anfing in ihrem durchgeschwitzten T-Shirt zu frösteln, überlegte sie, ob sie den Inhalt des Traumes noch fassen konnte. Das würde es vielleicht einfacher machen, die Gründe dafür herauszufinden. Allerdings fiel ihr beim besten Willen kein Grund dafür ein, warum sie so einen Stuss träumen sollte. Sie wurde im wahren Leben nicht verfolgt. Kein Kerl, der an die fieseste Sorte Filmmonster erinnerte, die Emma sich ausmalen konnte, wollte ihr wehtun. Warum also?

„Stress.“

Vielleicht auch der lange Flug zurück aus Tokio.

Emma schloss mit einem kleinen Seufzen kurz die Augen.

Wenn sie jemanden hätte, der sie nachts im Arm halten könnte ... dann hätte sie solche Träume bestimmt nicht. Dann würde sie sich sicher fühlen und ...

Ob er gerade gut schlief?

 

Vanessa schlief tief und fest in seinem Rücken. Ihr Atem schlug in regelmäßigen Abständen gegen seine Wirbelsäule, während ihre Finger sich an seinen Bauchmuskeln festhielten.

Wenn sie wach war, würde sie sich nicht so an ihn kuscheln, da sie wusste, dass er das nicht mochte. Zumindest nicht mit ihr, doch im Schlaf schien sich dieses Bedürfnis nach Nähe durchzusetzen und dagegen wollte er nichts tun. Im Schlaf war sie friedlich und harmlos. Da war Vanessa sie selbst, sofern man das so nennen konnte. Da erlaubte er es ihr, von ihrer Seite des Bettes auf seine herüberzukommen. Denn für gewöhnlich schlief er dann selbst.

Cayden wusste zwar immer, wann sie da war, aber das störte seinen Schlaf kaum noch, so wie es das früher getan hatte, nur dass er heute einfach nicht wirklich schlafen konnte.

Zu viel ging ihm im Kopf herum.

Dass er so viel von Emma getrunken hatte, zum Beispiel. Oder, dass er überhaupt von ihr getrunken hatte. Zudem hatte er auch sein eigenes heiligstes Gebot gebrochen, in dem er von ihr getrunken hatte, während er Sex mit ihr praktizierte.

Auch wenn Cayden zugeben musste, dass es ihn irgendwie nicht so sehr störte, wie der Rest davon. Zum Beispiel die Frage, wie es überhaupt zu dieser Nacht gekommen war. Diese Sache im Bett war verständlich und mehr als nur eine Folge auf den ersten Biss an ihrem Oberschenkel. Aber das erste Mal auf dem Tisch … Warum hatte er sie überhaupt geküsst?

Nicht, dass er sich nicht schon einmal gefragt hätte, wie ihre Lippen wohl schmecken würden oder wie es sich anfühlen würde, mit ihr zu schlafen. Doch das waren ganz normale Gedanken, wie sie jeder Mann mindestens hundert Mal am Tag hatte, wenn es da eine Frau gab, die er begehrenswert fand. Das war nicht das wahre Problem.

Das wahre Problem bestand darin, dass es nicht bei diesen Gedanken geblieben war. Dass irgendetwas zwischen dem Abendessen und dem Tanz in dieser Nacht dafür verantwortlich gewesen war, sie so weit gehenzulassen.

Er konnte nicht betrunken gewesen sein. Nicht von den paar Drinks, die er gehabt hatte. Dass sie für Emma schon zu viel gewesen sein könnten, war möglich. Er wusste schließlich nicht, wie viel Alkohol sie vertrug. Aber bei ihm?

Gott, es musste da doch irgendetwas geben, was er übersehen hatte!

Aber Cayden kam einfach nicht darauf und spätestens, nachdem Vanessa sich nuschelnd noch ein Stück enger an seinen Rücken schmiegte, war auch an Schlaf nicht mehr zu denken.

Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, nahm er ihre Hand von seiner Seite und glitt dann lautlos aus dem Bett.

Das einzige wirksame Mittel, um ihn vom vielen Denken in diese eine Richtung abzuhalten, war arbeiten, und da er das morgen ohnehin wieder würde tun müssen, konnte er auch gleich wieder damit anfangen.

Außerdem musste er noch eine Nachricht an den Mediziner abschicken, um einen Termin zu vereinbaren, damit er endlich eine neue Brille bekam.

Wie bei Menschen mussten die Gläser perfekt auf seine Augen angepasst werden, da manche Mal mehr und manche Mal weniger empfindlich auf Licht reagierten und auch eine andere Farbzusammenstellung in den Gläsern brauchten, um trotz der Tönung, die Farben genau so zu sehen, wie sie es ohne sie tun würden.

Ein guter Plan. Zumindest der Einzige, der ihm gerade einfiel.

 
 

***

 

Emma fuhr herum und drehte die Herdplatte herunter, bevor sie wie wild in dem blubbernden Porridge rührte und einen Löffel Kakao und ein paar Schnitze Erdbeeren dazugab. Als die Konsistenz so war, wie sie es mochte, schob sie sich ihr Frühstück mit einem großen Löffel in eine Müslischüssel und ging zum Tisch hinüber, auf dem eine aufgeschlagene Zeitung herumlag.

Nicht viel Neues. Für Winter eigentlich das Übliche. Ein paar Schafe waren auf der Südinsel so stark eingeschneit worden, dass man sie für Tage nicht gefunden hatte. Der Hütehund, der schließlich die Schafe entdeckte, hatte wohl für sein Leben gut ausgesorgt. Zumindest sah der Schäfer, der seine Arme um den Hund geschlungen hatte und in die Kamera grinste, nicht so aus, als hätte der Held des Tages je wieder nach Essen zu betteln.

Emma schleckte genüsslich an ihrem Löffel und streckte mit einem gedehnten Atemzug ihre Beine unter dem Tisch aus. Die Nacht saß ihr immer noch in den Knochen. Nach dem Albtraum war nicht mehr wirklich an erholsamen Schlaf zu denken gewesen und selbst nach einer ausgiebigen Dusche fühlte sie sich noch wie gerädert.

Ihr Blick wanderte zu den Zimmertüren ihrer Mitbewohner hinüber. Aber Emma wusste schon, dass sie keine Chancen auf eine morgendliche Unterhaltung hatte. Rob schlief noch und Kathy war schon längst unterwegs. Na gut. Dann los.

 

Im Gebäude der C&C angekommen fing Emmas Körper an, irgendwie seltsam zu reagieren. Ihr wurde auf einmal ziemlich warm, obwohl ihre Finger sich wie Eisklötze anfühlten. Außerdem hatte sie das Gefühl, nicht ruhig in einer Position stehenbleiben zu können. Dauernd wackelte sie mit den Zehen und stieg von einem Bein auf das Andere. Sie war ... nervös.

Ihr Blick schoss zu einem der Anzugträger der Chefetage, der fast jeden Morgen mit ihr im Aufzug fuhr. Er war meistens sehr früh dran, weil er auch als Erster ging, um nachmittags bei seiner Familie sein zu können. Emma mochte den Mann, auch wenn sie seinen Namen nicht kannte.

„Guten Morgen.“

Er lächelte, was Emma sofort erleichtert aufatmen ließ. Warum, wusste sie selbst nicht so genau.

„Na, wie war Tokio?“

Jetzt blinkten ihre Wangen in einem Alarmrot auf, das jeden Feuerlöscher vor Neid hätte platzen lassen.

„Schön! Ich ... Ich meine ... voll. Stressig! ... Aber ganz nett.“

Oh Gott.

 

Stella sprang so schnell von ihrem Stuhl auf, wie sie es in ihrem Zustand eben schaffte und kam mit einer Hand auf die deutlich sichtbare Rundung um den Schreibtisch herum und direkt auf Emma zu, die gerade ihren Mantel aufhängte.

„Mein Gott, bin ich froh, dass du da bist. Ich platze fast, konnte aber nicht vom Schreibtisch weg, weil Calmaro ständig was von mir wollte und heute irgendwie neben der Rolle ist. Sag mal, ist denn das Meeting schlecht verlaufen oder so? Ich hab leider nichts aus ihm rausgebracht, aber … warte! Erzähl’s mir, wenn ich wieder zurück bin.“

Damit eilte sie auch schon direkt auf die Toiletten zu und verschwand für eine ganze Weile.

 

Vollkommen überflüssigerweise strich Emma ihren Mantel an der Garderobe glatt und wandte sich erst ihrem Schreibtisch zu, als Stella mitsamt ihrem Redeschwall in Richtung Toilette verschwunden war.

Ein Lächeln spielte um ihre Lippen.

Stella war so süß. Gerade weil Emma am Anfang mit ihrer Einschätzung vollkommen daneben gelegen hatte, freute sie sich jetzt umso mehr, dass sie mit ihrer Kollegin so gut auskam. Und dass Stella Emma anscheinend nie als Konkurrentin gesehen hatte. Ganz im Gegenteil schien sich die erfahrene Assistentin inzwischen gern auf ihre Nachfolgerin zu verlassen.

Emma setzte sich an ihren Schreibtisch und schaltete erst einmal den Mac ein, schloss ihre Schreibtischschublade auf und holte ihr Notizbuch heraus. Als sie alle nötigen Programme geöffnet und sich eingerichtet hatte, erschien auch schon Stella und fing an, Emma mit Fragen zu überhäufen.

 

„Ich sag dir, wenn das Baby noch mehr auf meine Blase drückt, brauch ich bald selbst Windeln. Zum Glück nur noch ein paar Wochen, dann darf ich endlich die Füße hochlegen.“

Stella griff nach ihrem Tee und nahm einen kleinen Schluck, ehe sie auch schon wieder in ihrer Rede fortfuhr.

„Also, die heutigen Unterlagen, Layouts und Terminpläne hat er schon. Genauso wie einen Kaffee, dazu Kekse und die Morgenzeitung. Vorerst dürfte er also Ruhe geben. Also erzähl mal, wie war Tokio und vor allem, wie war das Meeting? Nicht ganz so verlaufen, wie es sollte? Weil das nämlich erklären würde, wieso er heute so … naja nicht direkt aufgekratzt, aber so unruhig hab ich ihn das letzte Mal nach dem geplatzten Donelli-Deal gesehen.“

 

„Guten Morgen erstmal.“

Sie schaffte es, vollkommen nichtssagend, aber freundlich zu lächeln. So etwas wie vorhin im Aufzug durfte ihr nicht noch einmal passieren. Schon gar nicht Stella gegenüber! Die Gute würde sofort Lunte riechen und Emma derartig löchern, dass sie ihr am Ende sonst was erzählte! Nein, auf keinen Fall! Das ... durfte einfach nicht rauskommen!

Emma liefen kalte Gruselschauer den Rücken hinunter, wenn sie nur daran dachte, was passieren würde, wenn jemand von dem erfuhr, was in Tokio zwischen Cayden und ihr gelaufen war.

Also einfach nur auf die gestellten Fragen antworten. Nicht mehr.

„Tokio war beeindruckend. Für ein paar Tage ist es wirklich toll. Es gibt viel zu sehen und vor allem viele lustige und schräge Dinge, die ich gern in meinem Koffer gestopft und mit nach Hause gebracht hätte. Schon allein die süßen Schlüsselanhänger überall waren genau das Richtige für mich!“

Sie grinste und holte etwas aus ihrer Hosentasche, was sie am Flughafen noch erstanden hatte.

„Schau mal. Der ist für dich.“

Die kleine Hello Kitty im grünen Frosch-Strampelanzug und mit Babyfläschchen in der Hand grinste fröhlich, als sie an einem Schlüsselring von Emmas Zeigefinger baumelte.

„Ich fand ihn so süß. Ich hoffe, dass er dir gefällt.“

Emma stand auf und setzte das verkleidete Kätzchen auf Stellas Schreibtisch, bevor sie sich dem kleinen Warnton einer neuen E-Mail an ihrem Mac zuwandte.

„Was das Meeting angeht ...“, meinte Emma ruhig, während sie die E-Mail einmal überflog und als eher unwichtig ablegte.

„Es lief eigentlich so, wie er sich das vorgestellt hatte. Zwar langwierig, aber erfolgreich.“

 

„Oh, vielen Dank. Das wäre doch nicht nötig gewesen.“

Aber das sich Stella über den Anhänger freute, war ihr nur allzu deutlich vom Gesicht abzulesen, ehe sie sich kurz räusperte und die kleine Hello Kitty neben ihr Telefon setzte, wo man sie gut sehen konnte.

„Also kann es das nicht sein. Muss wohl am Jetlag liegen. Aber gut, dass das Meeting so erfolgreich verlaufen ist. Mr. Yamato ist wirklich ein schwieriger Verhandlungspartner und das schon seit Jahren …“

 

Er konnte sie vor seinem Büro reden hören, weshalb er sich seine Gänge vor das Büro hätte ersparen können, um zu sehen, ob Emma schon hier war. Aber irgendwie war er sich am Ende doch nicht sicher gewesen, ob er ihr Kommen wirklich mitbekommen hätte.

Da Stella unaufhörlich auf Emma einredete, was er eigentlich nicht wirklich von seiner Assistentin gewohnt war, beschäftigte Cayden sich für eine Weile wieder mit den vor ihm liegenden Unterlagen und trank dabei seinen Kaffee, um seine müden Lebensgeister etwas zu wecken.

Vermutlich hatte Stella Emma irgendwie ein bisschen vermisst, denn auch wenn es ruhiger im Büro zu ging, wenn der Chef nicht im Haus war, hieß das doch noch lange nicht, dass man einfach so die Füße hochlegen konnte. Das Geschäft ging auch ohne ihn weiter und in Stellas Zustand musste das umso anstrengender sein.

Nicht mehr lange und er würde sie in Mutterschaftsurlaub schicken müssen, was bedeutete, dass Emma voll und ganz den Posten als seine neue Assistentin ausfüllen würde.

Und genau dieser Gedanke war es, der es ihm derzeit unmöglich machte, sich vollkommen auf die Arbeit zu konzentrieren und der ihn nervös machte. Auf eine ungewohnte Art und Weise.

Denn Cayden stand schließlich schon wieder auf, mit den Zetteln in der Hand und ging in seinem Büro auf und ab, während er den Worten zu folgen versuchte, die sich da vor ihm ausbreiteten.

Könnte er schwitzen wie ein Mensch, wäre ihm schon vor dem ersten Kaffee die Suppe den Rücken hinuntergelaufen. Da war er sich sogar ziemlich sicher, denn sein erhöhter Herzschlag sorgte auch für eine erhöhte Körpertemperatur.

Verdammt, wieso musste er sich gerade jetzt so richtig bewusst werden, dass er mit seiner Assistentin geschlafen hatte?

Nicht, dass er das nicht schon vorher gewusst hätte. Aber irgendwie war es in den vertrauten Büroräumen nun sehr viel realer.

Dabei fand er die Tatsache an sich gar nicht einmal schlimm. Dann hatten sie eben Sex und damit auch ihren Spaß, aber Cayden wusste gerade wirklich nicht, wie er damit umgehen sollte.

Er würde wieder schauspielern müssen. Er würde Emma wieder siezen und als eine Angestellte ansehen müssen, doch das war nach allem, was passiert war, einfach nicht mehr so leicht.

Cayden mochte sie. Er mochte sie über ein Angestelltenverhältnis hinaus, weshalb er sich auch nicht mehr vorstellen konnte, sie einfach nur im Büro zu sehen und sie wegen irgendwelcher belanglosen Termine zu fragen, oder ihr Unterlagen zu geben oder von ihr entgegen zu nehmen.

Er wollte sich wieder mit ihr unterhalten. Wollte einmal abschalten und die Arbeit verge–

„Hör auf damit!“, zischte er leise zu sich selbst und setzte sich mit einem Ruck wieder zurück in seinen Schreibtischsessel.

Er drehte sich zur Fensterfront herum und starrte in den grauen, kalten Anblick der Stadt hinaus.

Manchmal fühlte sich die Phase der Arbeit ebenso an wie dieser Ausblick. Farblos, kühl und irgendwie abweisend.

Er wollte wieder Farbe in seinem Leben … Wenn auch nur für ein paar Stunden.

Kurz überlegte er noch, ehe er seinen Blackberry vom Tisch nahm und Emma eine E-Mail schickte: Hast du in der Mittagspause Zeit? Müssen reden. MfG Cayden

 

„Und du hast nebenbei Japanisch gelernt? Das ist wirklich beeindruckend. Bei dieser Sprache habe ich nicht einmal die unterschiedlichen Wörter auseinanderhalten können – geschweige denn irgendwelche davon wiedererkannt. Das ist ...“

Das klingelnde Telefon unterbrach Emma und sie nahm den Anruf freundlich entgegen.

„Switch 'n Sweet? Nächste Woche?“

Emma warf einen hilfesuchenden Blick zum Schreibtisch ihr gegenüber und stellte erleichterte fest, dass Stella nicht nur nickte, sondern ihr auch ein Zeichen gab, dass sie wusste, worum es ging und sich selbst darum kümmern würde.

„Ja, natürlich. Ich verbinde Sie mit der Kollegin, mit der Sie gesprochen haben. Ja, danke. Ihnen auch.“

Da Stella also nun beschäftigt war und sich im Posteingang die E-Mails stapelten, holte Emma sich einen Tee und machte sich dann daran, den Schriftverkehr der vergangenen Woche durchzuarbeiten, damit sie wieder auf dem Laufenden war.

Termine verschoben, Bandmanager krank geworden, Anfrage wegen eines Meetings im Frühjahr ... Das Übliche.

Gerade wollte Emma sich die neuen Termine in ihren Kalender eintragen, als das Geräusch ihres internen Posteingangs sie erneut hochsehen ließ.

Schon als sie den Absender las, schoss ihr Puls in die Höhe.

Ihr Herzschlag trommelte in Emmas Ohren und sie sah sich verstohlen nach Stella um, die allerdings immer noch stark konzentriert am Telefon beschäftigt war. Dann lieber noch ein kurzer Blick in Richtung Bürotür.

Emma, hallo! Er wird dir keine E-Mail schreiben und dann aus der Tür spähen, um zu kontrollieren, ob du sie auch liest!

Hast du in der Mittagspause Zeit? Müssen reden. MfG Cayden

Die Maus in ihrer Hand zog wilde Schlangenlinien auf dem Bildschirm, als Emma zusammenzuckte.

Müssen reden?!

Jetzt steckte ihr auch noch ein Kloß im Hals, der sich bei jedem pochenden Herzschlag irgendwie unangenehm auf und ab zu bewegen schien.

Über was müssen wir denn reden? Kann ja nichts Gutes sein, wenn du mich so darauf vorbereitest.

Hallo. Ja, ich habe Zeit. Gleich um 13 Uhr?

Der Cursor blinkte an seinem Platz unter dem großen 'J' und wartete. Sein 'MfG' klang nach offizieller Nachricht. Andererseits hatte er mit seinem Vornamen unterschrieben und sie auch geduzt. Sollte sie nun auch 'MfG' unter ihre Mail setzen? Oder 'LG'? Nein, das war vermutlich zu freundschaftlich. Vermutlich ...

Emma tippte 'Grüße! Emma' und schickte die E-Mail ab, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

Zu ihrem Glück klingelte auch sofort wieder das Telefon, was zumindest für zehn Minuten verhinderte, dass sie ihrem Bedürfnis nachgab, aufzuspringen, in Caydens Büro zu stürmen und ihm zu sagen, dass man so etwas nicht machte.

Man schickte keine Mails mit 'müssen reden' an persönliche Assistentinnen, mit denen man vor zwei Nächten unerlaubten, wilden Sex gehabt hatte und die nicht wussten, was sie ... wie sie ... Das machte man einfach nicht!

 

Cayden merkte erst, dass er lächelte, als er ungefähr zum dreißigsten oder vierzigsten Mal Emmas Nachricht auf seinem Blackberry gelesen und immer bei den Worten 'Grüße! Emma' hängengeblieben war.

Sofort erlosch sein Lächeln und er legte den Blackberry wieder auf den Tisch, um sich erneut seiner Arbeit zu widmen, die sich während seiner Abwesenheit ganz schön gestapelt hatte. Doch irgendwie wollte sich der Enthusiasmus nicht mehr einstellen, den er sonst bei einem so großen Berg voll Arbeit für gewöhnlich empfand.

Gerade, als er eine völlig unangemessene Klausel durchgestrichen hatte und sie neu formulieren wollte, schoss es ihm ein, dass Emma ihn ja etwas gefragt hatte!

Sofort warf er seinen Kugelschreiber zur Seite, nahm wieder den Blackberry zur Hand und tippte mit dem kleinen Stift langsam auf den Bildschirm ein, da er zunächst erst einmal die Buchstaben der Tastatur suchen musste. Sehr geübt war er in diesen Dingen noch nicht.

13 Uhr passt. Wie wär’s mit Mittagessen? Das kleine Restaurant um die Ecke?

Cayden las noch einmal die E-Mail durch und entschied, dass es jetzt wohl keinen Gruß mehr bedurfte, zumal ihm das MfG nicht mehr allzu passend erschien und er Emma nicht kopieren wollte. Also schickte er die Nachricht ab und nahm wieder den Kugelschreiber zur Hand. Allerdings hatte er schon völlig vergessen, wie genau er die Klausel hatte ausbessern wollen. Weshalb er den Vertrag noch einmal durchlas.

 

„Nein, tut mir leid.“

...

„Ja, wie ich bereits sagte.“

...

„Nein, nächste Woche ist gar nichts mehr frei.“

...

„Nein, auch abends nicht.“

Emma riss mit diesem Kunden langsam der Geduldsfaden. Sollte Cayden auch noch um Mitternacht im Büro nur darauf warten, dass irgendjemand irgendetwas mit ihm besprechen wollte? Na ganz bestimmt nicht!

„Hören Sie, Mr. Grandon. Ich verstehe natürlich, dass Sie Ihren Termin so bald wie möglich brauchen. Und ich werde den nächstmöglichen Termin eintragen. Das ist in einer Woche gleich am Montag. Ich kann Ihnen sogar den ersten Termin an diesem Tag anbieten, wenn Sie ... Ja, genau. Um acht. ... Also Montag in einer Woche? Gut, ich danke Ihnen, Mr. ... Ja, wird er. Danke. Wiederhören.“

Emma warf den Hörer auf die Gabel und trug den Termin mit einem Vermerk 'dringlich' in den elektronischen Kalender ein. In ihren eigenen schrieb sie 'nervig' neben den Namen des Kunden und beschloss schon jetzt, dass sie Cayden dafür am Freitag seine Lieblingskekse besorgen würde.

So jemanden wie Mr. Grandon konnte man so früh am Morgen nur mit Schokolade ertragen.

Auf ihrem Bildschirm sprang eine violette Ente in die Höhe und quakte, als eine weitere Mail in ihrem Posteingang landete.

Absender: C&C Corporations - Intern - C.Calmaro

Diesmal schmunzelte Emma bei der E-Mail in sich hinein und merkte gar nicht mehr, wie ihr Herz immer noch aufgeregt in ihr herumhüpfte. Diesmal gar keine Grüße. Dafür eine Einladung zum Mittagessen?

Doch keine schlechten Nachrichten? Oder bist du so gut erzogen, mir zum Ausgleich ein Essen auszugeben?

In Ordnung. :)

 

Als Cayden das Smiley am Ende von Emmas kurzer Nachricht las, schlug sein Herz noch ein bisschen schneller, als es das ohnehin vor Aufregung tat. Mit diesen gelben Dingern hatte er noch nie viel Erfahrung gemacht, aber irgendwie hob dieses lächelnde Gesicht einfach seine Stimmung.

Mit plötzlich mehr Elan, als er für den heutigen Tag eigentlich gehabt hätte, machte er sich schließlich daran, den Berg an Arbeit durchzuackern, um rechtzeitig bis zur Mittagspause damit durch zu sein.

23. Kapitel

Letztendlich schaffte er es nur, weil er seine eigene Mittagspause um ein gutes Stück kürzte. Danach schickte er Emma noch eine kurze Nachricht, ob sie sich nicht vielleicht unten vor der Tür treffen könnten, ehe er sich wie gewohnt, seiner Entspannungsübung hingab, um wieder runter zu kommen, auf was für einen Trip er auch immer war.

Fünf Minuten nach 13 Uhr kam er schließlich aus den Türen zum Bürogebäude, vor denen Emma etwas abseits bereits auf ihn wartete.

„Tut mir leid, wegen der Verspätung. Da war noch ein Anruf von … meinem Optiker. Den musste ich annehmen.“

 

Emma hatte eine Weile vor der Tür gestanden, immer wieder zu den Fahrstühlen hinübergelinst und sich schließlich dazu entschlossen, einen gewissen Sicherheitsabstand zwischen sich und die Tür zu bringen. Dann sah es vielleicht nicht so offensichtlich danach aus, dass sie auf jemanden wartete.

Dass sie zusammen in das Restaurant gleich um die Ecke gingen, war ohnehin schon auffällig genug, wenn man –

Emma stoppte ihre Gedanken, bevor sie sich selbst auch nur ansatzweise zur Affäre abstempeln konnte. Was sollte das denn? Bloß, weil sie einmal Sex gehabt hatten.

„Ouuu ...“

Emma presste die Augen zusammen und wollte sich am liebsten mit der flachen Hand vor die Stirn schlagen. Fing es nicht so an? Dass man sich selbst davon zu überzeugen versuchte, dass es ja nur einmal gewesen war? Dass es gar nicht so schlimm war, wie es aussah?

Emma, du willst doch nicht als gelegentlicher Entspannungs-Büro-Pop enden!

„Tut mir leid, wegen der Verspätung. Da war noch ein Anruf von … meinem Optiker. Den musste ich annehmen.“

Emma merkte, wie sie strahlte.

Aufhören!

„Ist schon in Ordnung. Ich kenne ja deinen Terminkalender. Geht das schnell mit deiner neuen Brille?“

Sie sollte sich nicht dieses Quäntchen besorgt anhören. Und sie sollte vermutlich auch nicht so direkt in seine Augen sehen, die sie mit den Kontaktlinsen an den Morgen nach ... dieser Nacht erinnerten.

 

Während sie sich auf den Weg machten, sah sich Cayden in ihrer Umgebung um, allerdings nicht, weil er befürchtete, von jemandem mit Emma erkannt zu werden, sondern weil es so ungewohnt war, bei hellem Tageslicht hier entlang zu gehen. Normalerweise kam er aus dem Büro, wenn es schon längst dunkel und kaum noch was auf den Straßen los war.

„Heute Abend, nach meiner letzten Besprechung habe ich einen Termin, um die neuen Gläser anzupassen. Ich werde mir gleich eine Reservebrille anfertigen lassen. Nur für alle Fälle.“

Und blaue Kontaktlinsen wären eine Überlegung wert. Zumindest, da sie Emma besser gefielen als die, die er jetzt trug. Ihre Meinung war ihm wichtig, gerade weil sie sich traute, sie ihm zu sagen. Die meisten sagten ihm nur das ins Gesicht, was er hören wollte, obwohl er wusste, dass sie logen und das nervte ihn, da er sie nicht darauf ansprechen konnte. Schließlich war er kein Spürhund, sondern sollte als Mensch durchgehen.

„Es dürfte also nicht allzu lange dauern, bis ich diese Kontaktlinsenquälerei wieder los bin“, fuhr er rasch fort, ehe er Emma die Tür zu dem kleinen Restaurant aufhielt und dann ihren Mantel abnahm, um ihn aufzuhängen.

Das Restaurant war vielleicht klein und etwas billig, aber sehr gemütlich.

Cayden war seit seiner Zeit bei C&C noch nie hier gewesen.

Kurz überflog er den großen und doch leicht vollgestopften Raum, ehe er Emma zwischen Tische, Stühle, Gäste und Kellner in eine der hinteren Ecken lotste, wo sie den ganzen Raum überblicken konnten, aber dennoch nicht davon erdrückt wurden.

Cayden sah gerne, was um ihn herum geschah, weshalb er sich auf die Bank in einer kleinen Nische setzte, wo um die Ecke noch genug Platz für Emma wäre, es sei denn, sie bevorzugte den Stuhl.

„Und spürst du auch den Jetlag?“, versuchte er das Gespräch locker anzugehen, während sie auf einen Kellner warteten.

 

Emma ließ sich auf der gepolsterten Bank nieder, zupfte an ihren Klamotten herum, legte ihre Handtasche neben sich ab und sah einmal in die Runde, bevor sie sich Cayden zuwandte.

Irgendwie machte sie die Sache nervös. Und dass sie nicht genau einschätzen konnte, auf welche Art es sie nervös machte, half nicht unbedingt, um sich wohler zu fühlen. Emma wusste, dass sie sich mit Cayden unterhalten konnte. Das wäre nicht das Problem. Was ihr nicht klar war, blieb der Grund dieser ganzen Einladung. Wollte er nur mit ihr essen?

Das passte irgendwie nicht in das Bild, das sie bis jetzt von ihm hatte. Und schon gar nicht, wo sie jetzt wieder in Welly und damit in 'normalen Gefilden' waren.

Was aber nicht hieß, dass sie sich in seiner Gegenwart wirklich unwohl fühlte. Es lag bestimmt nicht an ihm als Person. Ihn mochte sie. Zumindest das war sicher.

„Dann scheint dein Optiker gute Verbindungen zur Herstellung zu haben. Normalerweise dauert es doch ewig, bis man seine neue Brille bekommt“, fasste sie das Thema von vorhin noch einmal auf.

„Hast du dir dann schon überlegt, in welche Richtung das neue Gestell gehen soll? Ich glaube ja, dir steht ein echtes Gestell schon. Also nicht ganz randlos. Aber das braune Plastik war einfach ...“

Sie schüttelte sich demonstrativ, grinste ihn dann aber breit an.

„Wie wäre es mit Gold?“

Der Kellner unterbrach höflich und Emma bestellte sich ein Sandwich mit Putenstreifen und Avocado. Dazu eine Cola light. Kaffee würde sie später noch trinken, wenn es auf den Abend zuging und sie den Kick für die letzten Runden brauchte.

„Und der Jetlag ... es geht. Angeblich ist der Trick ja der, zu ganz normalen Zeiten ins Bett zu gehen und aufzustehen. Bloß nicht den eigentlichen Rhythmus durcheinanderbringen.“

 

„Ich bin bei einem privaten Optiker, der gute Beziehungen hat. Da geht sowas ziemlich schnell.“

Das war zwar nicht die Wahrheit, aber Emma zu sagen, dass es nun einmal sehr viel mehr Menschen als Vampire auf der Welt gab und die nicht alle in Wellington hockten, wäre nicht ganz das Tischgespräch gewesen, das er sich vorgestellt hatte. Also ließ er es bleiben.

„Hm … Wenn du meinst, dass Gold gut wäre, probier ich das auf jeden Fall einmal aus. Aber eins ist schon einmal sicher, das alte Gestell lasse ich nicht mehr auf die Welt los.“

Er lachte.

„Ich meine, das Ding war wirklich fast schon antik. Aber in diesen Sachen bin ich einfach nur faul. Da es ja schließlich doch wieder einen zeitlichen Aufwand bedeutet und die Gläser ja noch in Ordnung waren. Ich meine das Teil hat mehr als 16 Jahre überstanden.“ Wohl eher 36, aber laut seinem Aussehen, dürfte er da noch nicht einmal geboren worden sein. Also wieder eine Lüge.

„Wurde wirklich Zeit, dass sie in den Ruhestand geht.“

Cayden bestellte sich bei dem Kellner einen Mangosaft und einen Salat mit gebackenen Putenstreifen darauf.

„Ja, das stimmt. Nur blöd, wenn man dann nicht schlafen kann … Ich bin schon seit vier Uhr morgens im Büro und versuche die angesammelte Arbeit wieder aufzuholen.“

Cayden fuhr den Rand seiner Serviette nach und schob das Besteck noch einmal gleich, ehe er Emma ansah.

„Du siehst auch nicht gerade so aus, als hättest du lange geschlafen.“

Wenigstens war sie nicht mehr so blass im Gesicht. Zumindest das war schon einmal eine kleine Erleichterung. Aber die leichten Ringe unter ihren Augen sorgten ihn ebenfalls mehr, als sie sollten. Ob es ihr gesundheitlich gut ging?

Cayden hatte zwar versucht, darüber nachzudenken, wie viel er von ihr wirklich getrunken haben könnte, wusste es bis jetzt aber immer noch nicht genau. Ein Liter müsste es jedoch schon gewesen sein und das war nicht gerade wenig für eine Frau in Emmas Größe.

 

„16 Jahre? Wow! Und dir hat nie jemand gesagt, dass sie ... etwas aus der Mode geraten ist und dir nicht gerade schmeichelt?“

Das konnte sich Emma nun wirklich nicht vorstellen. Jedem seiner Freunde musste das doch aufgefallen sein und seiner –

„Bestimmt findest du was Cooles. Es gibt so viele Brillengestelle. Und so, wie ich das kenne, ist das so eine Sache, bei der man sofort weiß, dass man die Richtige gefunden hat, wenn man sie in den Händen hält.“

So war es zumindest bei ihrer Mom immer gewesen, wenn Emma mit ihr Brillen ausgesucht hatte. Ewig war herumprobiert worden, bloß um dann die Richtige herauszuziehen und sich sofort einig zu sein, dass es die und keine Andere sein musste!

„Oh man, du hältst wirklich nicht viel von Pausen, oder?“

Sie sah ihn vollkommen ernsthaft an und überlegte, warum man ihm wohl so wenig ansehen konnte, dass er so übel mit sich selbst umging.

„Um vier sollte man entweder auf einer Tanzfläche stehen, mit Freunden rumhängen oder im Bett liegen und schlafen.“ Oder andere Dinge im Bett tun, die sie jetzt sicher nicht ansprechen würde.

Sie sah weg und antwortete erst dann.

„Nein, ehrlich gesagt hab ich nicht gut geschlafen. Fiese Träume.“ Sie zuckte die Schultern und wandte sich mit einem kleinen Lächeln wieder Cayden zu.

„Passiert.“

 

„Du meinst, ob mir mal jemand gesagt hat, wie grottenhässlich das Teil in Wahrheit ist? Nein, die Courage hattest bisher nur du.“

Cayden schenkte Emma ein Lächeln und dankte dem Kellner, der leise ihre Getränke brachte, um ihr Gespräch nicht zu stören.

„Hm. So ist es mir noch nie ergangen. Ich meine mit dem Aussuchen von Brillen. Ich weiß auch nicht, ich denke da vermutlich viel zu rationell und praktisch. Hauptsache das Teil hält was aus, anstatt viel herzumachen. Dafür fehlt mir wohl einfach irgendwie der passende Durchblick.“

Bevor er über seinen kleinen Scherz lachen konnte, nahm er einen erfrischenden Schluck von seinem Mangosaft und lehnte sich entspannt zurück, während er einen Blick durch den Raum schweifen ließ.

Alles nur fremde Gesichter, obwohl er sich ziemlich sicher war, dass viele Leute hier regelmäßig in der Mittagspause zum Essen herkamen. Vielleicht gingen die Mitarbeiter von C&C lieber in den Starbucks gegenüber des Bürogebäudes.

Emmas nächste Worte ließen ihn wieder aufhorchen. Das mit den Dingen, die man eher noch um vier Uhr morgens machen sollte, war zwar nicht falsch, ließ er aber einfach links liegen, als er ihren Tonfall hörte, was das danach anging.

Sie lächelte zwar, als sie es locker mit einem Schulterzucken abtat, aber ihr Duft sagte etwas anderes, vor allem auch die Art, wie sie sich unmerklich anspannte.

Der Kellner erschien erneut an ihrem Tisch, doch dieses Mal mit wohlduftendem Essen. Dennoch rührte Cayden sein Besteck nicht an, sondern sah weiterhin unverwandt zu Emma hinüber.

„Ja, das passiert. Aber meistens nicht ohne Gründe.“

Er hatte es ausgesprochen, bevor er richtig darüber nachgedacht hatte. Denn wenn er es getan hätte, hätte er es einfach auf sich beruhen lassen. Immerhin wüsste er da schon ein paar Gründe, die Emma eine ruhige Nacht versauen konnten. Zum Beispiel die Sache zwischen ihnen beiden.

Es war zwar dunkel gewesen, aber er …

Nein, das hatte damit bestimmt nichts zu tun. Menschen hatten doch andauernd schlechte Träume und das konnte selbst daran liegen, was sie zuvor gegessen hatten. Das musste er nun wirklich nicht auch noch auf den Berg seiner Gewissensbisse laden.

Entschlossen nahm er schließlich die Gabel zur Hand und probierte seinen Salat.

Er war eigentlich ganz lecker.

 

„Manche nennen es Courage, andere nennen es, das Talent kopfüber in Fettnäpfchen zu springen.“

Emma lachte leise und drehte ihren Teller so herum, dass das Sandwich direkt auf sie zeigte, und zog dann die Zahnstocher aus dem Brot, um sie zur Seite zu legen.

Sie ließ einen kleinen Grummellaut hören, als sie in ihr Mittagessen biss und sich gleichzeitig eine Antwort auf Caydens Hinweis überlegte. Es war ja bestimmt nicht so, dass sie nicht darüber nachgedacht hätte, was ihr diesen Traum beschert haben könnte. Bloß war sie dabei auf keinen grünen Zweig gekommen.

„Hm. Ich hab gegrübelt, aber mir ist wirklich nichts eingefallen, was den Traum hätte auslösen können. Normalerweise haben meine Träume sehr direkt mit dem zu tun, was ich so tagsüber erlebe. Aber um Gotteswillen, ich kann mich nicht daran erinnern, in letzter Zeit irgendwelchen Raubtieren begegnet zu sein, die mich mit Reißzähnen, die ungefähr so lang waren, auseinanderreißen wollten.“

Sie zeigte mit Daumen und Zeigefinger die Länge der Zähne in ihrem Traum an und verlor dabei eine Tomatenscheibe aus ihrem Sandwich.

Während sie weiter redete, legte Emma daher ihr Brot auf dem Teller ab, klappte es auf und legte die Tomate wieder an die Stelle, an der sie wohl verloren gegangen war. Auf solche Kleinigkeiten achtete sie beim Essen.

„Also echt keine Ahnung. Angeblich hat man solche Verfolgungsträume ja im Teenageralter. Aber da bin ich ja jetzt auch schon raus. Hoffe ich zumindest.“

 

Cayden lief es eiskalt den Rücken runter, während er Emma zuhörte und zugleich weiter zu essen versuchte. Doch irgendwie wollten die dünnen Salatblätter nur sehr widerspenstig seine Speiseröhre hinunter wandern, weshalb er mit einem Schluck Mangosaft nachspülte und dann nur noch die Gabel untätig in der Hand hielt.

Er sah Emma nicht an, sondern schien viel mehr zu beurteilen, ob seine gebackenen Hühnchenstreifen genau richtig oder eine Spur zu lange der Hitze ausgesetzt gewesen waren.

Dennoch sah er im Augenwinkel die Größe der geträumten Reißzähne, die sie ihm zeigte, was ihm noch mehr die Kehle zuschnürte.

Seine waren vielleicht nicht einmal annähernd so lang, aber dafür umso schärfer, und auch wenn er sie bestimmt nicht hatte auseinanderreißen wollen, so hatte er sie doch gebissen und ihr Blut getrunken. Für viele schon Grund genug, Alpträume zu haben, aber er musste ja auch noch eins draufsetzen, in dem er sie dabei auch noch so hart …

„Vielleicht noch ein Überbleibsel von dem Überfall vor einigen Wochen?“, versuchte er schwach mit ihr eine Erklärung zu finden und wurde sich erst im nächsten Moment klar, dass der Vampir damals sie ja noch nicht einmal gebissen hatte.

Verdammt!

„Ich meine, wenn einem Gewalt angetan wird, dann kann sich das in vielerlei seltsamen Dingen … äußern. Zum Beispiel Alpträume. Soweit ich weiß, hattest du damals auch keinen sehr gesegneten Schlaf.“

Cayden zwang sich dazu, ein Stück Hühnerfleisch zu essen, obwohl es gerade nicht besser, als ein alter Kaugummi schmeckte. Überhaupt hatte er gerade einen ziemlich bitteren Geschmack im Mund.

Wieder begannen ihn die Gewissensbisse, anzunagen.

„Aber das wird sicher wieder. Schließlich hast du es auch beim ersten Mal überstanden. Nicht wahr? Wenn du aber darüber reden willst … Ich hab Zeit … Zumindest gerade eben.“

Er lächelte schwach.

 

Emma sah ihn schweigend an. Ihre Hände hatte sie sinken lassen und das Sandwich auf ihren Teller zurückgelegt. Nur eine Winzigkeit zuckten ihre Augenbrauen zusammen, während es in ihrem Hirn auf Hochtouren ratterte. Warum sie gerade jetzt jedes seiner Worte so genau in ihrem Kopf wiederholte, sie auf die Goldwaage legte und sich damit irgendwie trotzdem nicht ... gänzlich sicher fühlte, wusste sie nicht. Aber es war nun einmal, wie es war und Emma konnte ein kleines Maß an Skepsis einfach nicht vertreiben. Auch wenn sie trotzdem über ihren Schatten sprang und einfach weiter redete.

„Stimmt schon.“

Ihre Stimme war ruhig, und obwohl Emma sich sehr lebhaft an die Zeit vor diesen 'paar Wochen' erinnerte, war es trotzdem nicht dasselbe. Die Träume hatten das gleiche Motiv, aber irgendetwas ... war anders.

„Vielleicht lag es auch am Jetlag oder dem langen Flug, dass mein Hirn das wieder ausgegraben hat. Wobei ich ja nicht behaupten kann, dass ich mich in Tokio-“

Etwas machte hinter ihrer Stirn so laut 'klick', dass Emma Cayden so erstaunt ansah, dass sogar er seine Gabel sinken ließ.

„Du ... Ich hoffe, das hast du nicht gemeint.“

Ihr wurde heiß und sie sah ihn nun nicht erstaunt, sondern wirklich peinlich berührt an.

„Also du sagtest 'beim ersten Mal'. Du glaubst doch nicht, dass ich ... also dass ich glaube, mein Albtraum hätte mit ...“

Während sie mit dem Zeigefinger zwischen ihnen beiden hin und her zeigte, wurden Emmas Wangen rosa.

„Bitte, das wollte ich nicht sagen. Das war doch ... kein Überfall.“

Die letzten Worte hatte sie mehr genuschelt, bevor sie sich einen riesigen Bissen ihres Sandwiches in den Mund schob, um ihn so für eine Weile ordentlich zu verschließen.

Nein, nein, nein. Das war wirklich kein Vorwurf gewesen!

Emma hoffte mit immer noch glühenden Wangen, dass Cayden das nicht so verstanden hatte. Sie war doch einverstanden gewesen. Und eigentlich hatte sie das Thema bestimmt nicht aufwühlen wollen.

 

Cayden legte die Gabel aus der Hand und lehnte sich zurück, während er den Salz- und den Pfefferstreuer auf dem Tisch anstarrte, ohne ein Wort zu sagen, nachdem Emma ihre Sicht der Dinge mehr oder weniger gestammelt hervorgebracht hatte.

Ihm entging nicht, wie ihr Puls zu rasen begann. Wie ihr das Blut in die Wangen schoss und ihr Herz heftig klopfte.

Seines passte sich ihrem an, auch wenn ihm nicht heiß, sondern viel mehr noch eine Spur kälter wurde. Es war ihm nicht peinlich. Nein. Es tat ihm leid.

Viel mehr noch, da seine Fänge plötzlich wieder pulsierten, als er ihre erhöhte Blutzirkulation mit seinen Sinnen wahrnahm.

Kurz schloss er die Augen und atmete einmal tief durch, ehe er sie wieder öffnete, Emma dabei aber nicht ansah.

„Das war zwar nicht ganz das, worüber ich mit dir reden wollte, aber ich denke, wir sollten es dennoch nicht einfach totschweigen.“

Wieder ein tiefer Atemzug, ehe er sich dazu zwang, Emma in die Augen zu sehen.

„Es tut mir leid, wie ich dich behandelt habe. Du sagst zwar, es war kein Überfall, aber …“

Cayden senkte den Blick.

„… mir kam es so vor. Ich meine, mich würde es nicht wundern, wenn ich für die Alpträume verantwortlich bin. Schließlich habe ich dich in meinem Zustand gebissen. Zwar nicht so fest, dass man großartig davon etwas gesehen hätte, aber du … du hast doch die Flecken gesehen und dann die Art, wie ich dich …“

Er sah sie wieder an. Entschlossen, aber auch entschuldigend.

„Das war alles andere als charmant und das tut mir wirklich sehr leid. Ich hatte wirklich Spaß mit dir, was den Tag davor anging und auch das Abendessen fand ich nett. Aber alles danach … Du bist eine bemerkenswerte Frau, Emma und hättest etwas anderes als diese … Rohheit verdient.“

 

Plötzlich schmeckte das leckere Sandwich nur noch nach Wellpappe und Emma konnte sich nur gerade so davon abhalten, es mitsamt dem Teller von sich zu schieben.

Cayden hatte nicht darüber reden wollen. Und dem Seufzen nach war es ihm nicht gerade angenehm, dass Emma es doch auf den Tisch gebracht hatte. Noch dazu so ungeschickt, wie sie selbst fand.

Als er seinen Blick hob und seine Augen sie trotz der Kontaktlinsen stark fixierten, wollte sich Emma der Magen zusammenkrampfen.

Er ... entschuldigte sich?

Als er auch noch wie ein geschlagener Hund wegsah, wurde es Emma zu viel.

„Cayden, hör mal. Das ist doch kein Drama. Dir sind vielleicht ein bisschen die Pferde durchgegangen, aber ich hatte bestimmt nicht –“

Emma sah sich zum ersten Mal in dem gut gefüllten Restaurant um und wollte ihre Stimme senken. Auch wenn unter den Gästen keine Angestellten der C&C waren, die Cayden oder sie selbst erkannten, sollte man in aller Öffentlichkeit vielleicht trotzdem nicht herausposaunen, wie derb man sich in der Nacht verhalten hatte.

Als sie sich wieder zu ihm drehte und ihn weiter beschwichtigen wollte, sah er sie wieder an.

Ein Blick reichte schon, um Emma zum Schweigen zu bringen.

Ihre Lippen waren fest geschlossen, während sie ihm zuhörte und mit jedem Wort immer weniger zu verstehen schien, was er ihr sagen wollte. Zuerst hörte es sich so an, als wolle er sicherstellen, dass sie nicht zu viel in diese eine Nacht hinein interpretierte.

ls wolle er das Emma schon altbekannte Schild 'es ging nur um Spaß' aufstellen. Aber irgendwie ... schien das nicht genau das zu sein, was er meinte.

Wollte er sagen, dass er zwar am Tag Spaß gehabt hatte, aber nachts nicht? Aber er war doch –

„Du bist eine bemerkenswerte Frau, Emma ...“

Warum fing sie an zu zittern? Und warum waren ihre Wangen so verdammt heiß und ihr Blick so verschwommen?

Emma versuchte ruhig zu atmen und sich ihren leichten Schock nicht anmerken zu lassen. Was wollte er denn jetzt hören? Ein Danke? Oder ...

„Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was du mir sagen willst.“

Es war aus ihr heraus, bevor sie es aufhalten konnte, aber zumindest hatte sie so leise gesprochen, dass es sich nicht wie ein Vorwurf angehört haben konnte. Vielmehr war es fast schon nah an einem Wimmern gewesen, was Emma genauso wenig wollte.

„Ich wusste doch ... Ich meine, es ist nett, dass du dich entschuldigst. Und ich hatte auch einen schönen Tag und ich unterhalte mich gern mit dir. Diese Nacht kam doch nicht von ungefähr.“

Sie blinzelte, riss sich aber zusammen und behielt ihre Hände, wo sie waren. Sich jetzt über den kratzenden Augenwinkel zu wischen hätte nur mitleiderregend gewirkt.

„Cayden, ich hab mir nichts davon erwartet. Wenn das deine Sorge sein sollte. Und ganz ehrlich ...“

Sie warf ein bitteres Lächeln in die Richtung seines Eherings.

„Spiel bite nicht mit dem Gedanken. Zur Affäre tauge ich nichts.“

 

 

Cayden ballte die Hand mit dem Ehering zur Faust, ehe er sie unter dem Tisch versteckte, wo Emma sie nicht länger sehen konnte.

An dieses Hindernis hatte er bisher noch überhaupt nicht gedacht. Denn um ehrlich zu sein, gerade jetzt verspürte er den heftigen Drang, den Ring vom Finger zu ziehen und im nächsten Gully zu versenken, da es nur eine falsche Botschaft vermittelte, die im Grunde gerade überhaupt nichts mit diesem Augenblick hier zu tun hatte.

„Du hast recht, Emma“, begann er ruhig, nachdem er die Fesseln der Scheinehe wieder von sich geschoben hatte, die ihm einen Moment lang den Hals zugeschnürt hatten, bis er sich wieder daran erinnerte, was eine Ehe für ihn wirklich ausmachte.

„Diese Nacht kam nicht einfach von ungefähr und darum entschuldige ich mich auch nicht dafür, dass sie überhaupt stattfand. Für mich ist einfach nur mein Verhalten beschämend. Normalerweise behandle ich Frauen nicht so rücksichtslos und gerade bei dir tut es mir leid, da wir uns doch offenbar gut verstehen. Und glaub nicht, dass ich dich zu einem Sexobjekt degradieren will. Ich möchte keine Affäre, ob du nun dazu taugst oder nicht. Der eigentliche Grund, weswegen ich heute mit dir sprechen wollte, war der, dass ich die Gespräche mit dir genieße und auch die Spaziergänge. Mit dir Zeit zu verbringen, macht Spaß und ist erholsam, aber ich werde dich nicht offen im Büro duzen können, obwohl ich das gerne würde. Die Leute würden ins Gerede kommen und keinem von uns beiden wäre damit geholfen.“

Cayden legte den Kopf leicht schief und sah Emma sanft und mit einem kleinen warmen Lächeln an.

„Emma, ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass du es mir nicht übel nehmen darfst, wenn ich dich im Büro sieze. Das hat nichts zu bedeuten. Ich würde mich trotzdem gerne öfter so wie jetzt mit dir unterhalten. Nun, vielleicht nicht unbedingt über dieses Thema, aber ich will mit dir einfach reden. Freundschaft verstehst du? Keine Affäre.“

 

Zuerst langsam nur, aber Emma nickte.

„Sicher.“

Gott, war sie bescheuert? Wie konnte sie so etwas so locker dahin sagen, wenn ihr doch gerade einfach nur danach war, ihren Kopf mit voller Wucht auf die Tischplatte zu hämmern.

Freundschaft. Toll. Ganz große Klasse! Eigentlich hätte sie sich darüber freuen sollen.

Cayden entschuldigte sich für den Ausrutscher, war im Grunde doch ein treuer Kerl und wollte mit Emma befreundet sein, weil er sie nett fand.

Das war es doch. Nett.

Warum hätte sie ihn dann am liebsten bei den Schultern gepackt, ihn geschüttelt und ihm ins Gesicht gesagt, dass er doch bestimmt etwas ganz Anderes meinte? Dass er ... mehr meinte.

„Das ist doch kein Problem. Es wäre schon allein Stella gegenüber sehr seltsam, wenn wir uns auf einmal duzen würden.“

Sie machte eine kleine Pause und lächelte dann.

„Hast du ihr eigentlich unser Geschenk schon gegeben?“

 

Cayden kaufte ihr dieses 'Sicher' nicht ganz ab, ging aber schließlich doch auf ihren Themenwechsel ein, da es wohl einfach die beste Idee war.

Wenn Emma nicht weiter darüberreden wollte, war das in Ordnung, denn er wollte es ebenfalls nicht. Es war ihm schon so unangenehm genug.

„Nein, um ehrlich zu sein, habe ich es ganz vergessen. Aber es wäre ohnehin eine gute Idee, wenn wir es ihr gemeinsam geben. Schließlich hast du dieses schöne Mobile entdeckt.“

Cayden nahm seine Gabel wieder auf, doch wirklich schmecken tat ihm das Essen nicht mehr, weshalb er die meiste Zeit darin herumstocherte und schließlich auf die Uhr sah.

Es wurde langsam Zeit. Ihre Mittagspause war bald vorbei.

24. Kapitel

„Hier, bitteschön.“

Stella stellte den Becher mit dem dampfenden Tee auf Emmas Schreibtisch ab und setzte sich dann etwas umständlich wieder an ihren Schreibtisch, ohne etwas von ihrem eigenen Tee zu verschütten.

Seit sie schwanger war, hatte sie sich angewöhnt, Tee statt Kaffee zu trinken, da das gesünder für das Baby war. Wenn Emma also Kaffee wollte, musste sie sich selbst einen machen und dann durfte Stella ein klein wenig neidisch immer hinüber zur Teeküche linsen, wenn mal wieder der herrliche Duft von frischgemahlenen Bohnen zu ihr herüberwehte.

„Und danke nochmal für die wunderschönen Geschenke. Das war echt lieb und wirklich sehr überraschend. Das hätte ich wirklich nicht erwartet. Wir freuen uns total.“

Es war sofort klar, wen Stella mit 'wir' meinte, da sie dabei eindeutig über ihren Babybauch strich und dieses gewisse Lächeln auf den Lippen hatte.

„Habt ihr –“

Die Tür zu Calmaros Büro ging auf und sofort saß Stella aufrecht in ihrem Bürosessel, auf der Stelle bereit, jede Arbeit zu erledigen, die man ihr aufgab. Was das anging, hatte sie beim Anblick ihres Bosses, immer noch nicht die Ruhe weg. Das würde sie vielleicht nie haben und in diesem Augenblick erst recht nicht.

Sein Gesichtsausdruck verriet nichts, was bedeutete, dass er so fröhlich war, wie ein vor sich hinschmelzender Eiszapfen. Etwas, das nie etwas Gutes verhieß.

„Miss Barnes. Hätten Sie die Güte in mein Büro zu kommen? Jetzt gleich.“

Er verschwand so schnell wieder, wie er gekommen war, aber die Gänsehaut, die er Stella auf den Unterarmen beschert hatte, blieb.

Fragend sah sie mit großen Augen zu Emma hinüber.

Scheiße, wen hast du umgebracht, Schätzchen? Seine geliebte Großmutter?

 

„Oh, das freut mich. Es war auch wirklich nicht einfach, zwischen dem pinken Plastik etwas für euch zu finden.“

Dass sie selbst ein bisschen auf solche abgefahrenen Spielsachen stand, verschwieg Emma an dieser Stelle. Immerhin hatte sie auch einen Mr. Potatoehead auf ihrer Fensterbank stehen.

Im nächsten Moment stellten sich Emmas Härchen im Nacken in Reih und Glied auf.

Cayden war aus seinem Büro gepoltert, wie sie es vorher nur selten erlebt hatte. Schon gar nicht, wenn vorher niemand seine Telefonleitung belegt oder zum Meeting bei ihm im Büro gewesen war.

Emma schluckte, als ihr klar wurde, wen damit eindeutig seine schlechte Laune traf.

Mit großen Augen sah sie zuerst die bereits wieder geschlossene Tür und dann Stella an.

Keine Ahnung, formte sie stumm mit ihren Lippen, bevor sie sich ihr Notizbuch schnappte und mit schnellen Schritten bei der Tür war, um die Klinke hinunterzudrücken. Wenn sie schon hinein beordert wurde, konnte sie sich wohl auch das Klopfen sparen.

Trotzdem trat sie nur vorsichtig ein und blieb stumm vor dem Schreibtisch stehen, ihr Notizbuch und einen Stift in den Händen.

 

Als Emma das Büro betrat, wartete Cayden ab, bis sie vor seinem Schreibtisch stand, ehe er in seine Schreibtischlade griff, um die kleine Fernbedienung, die darin neben anderem nützlichen Kleinkram lag, hervorzuholen und die Sonnenblenden herunterfahren zu lassen.

Er merkte, dass dadurch ihre Anspannung noch mehr stieg, aber es waren ja alle Lichter im Raum an, weshalb es keineswegs dunkel war.

Erst, als wirklich kein Sonnenstrahl mehr zu ihnen hereindrang, richtete er seine Aufmerksamkeit auf die große flache Schachtel, die vor ihm lag und mit einem golden imprägnierten Emblem in der Mitte verziert war.

Er strich einmal darüber, ehe er sie weiter auf Emma zu schob und sie dann anlächelte.

„Setz dich doch. Ich brauche deinen Rat“, meinte er sanft und doch mit einem gewissen Schalk in der Stimme. Schließlich hätte sie jetzt wohl ein ordentliches Donnerwetter erwartet, das er ihr aber nicht geben konnte. Immerhin hatte sie gar nichts angestellt.

Um das Rätsel über den Inhalt der Schachtel zu lösen, klappte Cayden den Deckel auf, bis er zu ihm selbst zeigte, und offenbarte somit ein kleines Sortiment an verschiedenen Brillenmodellen. Sie alle waren rotgetönt, da das einfach seine bevorzugte Farbe war, aber es gab sie in den unterschiedlichsten Varianten, was das Gestell anging. Er hatte zur Auswahl nicht nur Gold gewählt, sondern auch Silber und Platin. Zudem auch welche mit markanten schwarzen Bügeln, dafür ohne Ränder und noch einige mehr. Alle feinsäuberlich in blauem Samtfutter eingebettet.

Seine neuen Kontaktlinsen trug er bereits und Emma hatte Recht behalten. Die blaugetönte Farbe sah vermischt mit seinen grünen Augen einfach phänomenal aus. Zwar etwas seltsam und nicht wirklich natürlich, aber auf jeden Fall ein Hingucker.

 

Emma hibbelte in ihren Ballerinas hin und her und versuchte die gegensätzlichen Eindrücke, die sie von ihrem Chef bekam, irgendwie übereinzubringen.

Was sollte sie davon halten, dass er sie kaum ansah und die Sonnenblenden im Raum herunterfahren ließ? Das passte doch nicht wirklich dazu, dass er sie auf einen Fehler oder etwas in dieser Art aufmerksam machen wollte. Zumal sich Emma auch nicht vorstellen konnte, was sie falsch gemacht hatte. Die wenigen Tage, die sie aus Tokio zurückwaren, war alles gut gelaufen.

Was sollte das also?

Erst als er sie bat, sich zu setzen, fiel Emma die Schachtel auf dem Schreibtisch auf, die sie irgendwie an eine Schmuckschatulle erinnerte.

„Meinen Rat?“

Kurz huschte ein heißer Blitz durch Emmas Herz, als sie schon befürchtete, er wolle sie nach ihrer Meinung zu einem Schmuckstück fragen. Einem Schmuckstück, das er nicht ihr schenken würde, sondern seiner zickigen Mistkuh von Ehefrau.

„Oh.“

Im nächsten Moment schämte sie sich ein bisschen, obwohl er die Bezeichnung seiner Frau ja nicht mitbekommen haben konnte. Trotzdem hatte Emma böse über sie gedacht, bloß um jetzt auf eine glitzernde Auswahl an Brillen mit roten Gläsern zu gucken, die in der Schachtel lagen.

Erstaunt sah sie zu Cayden auf, von dem sie angenommen hatte, er habe sich bereits für die Kontaktlinsen-Variante entschieden. Die Neuen trug er nämlich schon ein paar Tage und mit sehr viel mehr ... gelassener Selbstverständlichkeit als die roten zuvor.

„Wow, das ging wirklich fix. Darf ich?“

Sie deutete mit dem Kinn auf die Schachtel und zog sie sich näher heran, sobald Cayden freundlich genickt hatte.

„Hast du schon welche anprobiert?“

Vorsichtig zog sie eine Brille mit goldenem Rahmen heraus und hielt sie so hoch, dass sie durch die roten Gläser hindurch in Caydens Gesicht sehen konnte.

 

„Nein, noch nicht. Sie sind heute erst angekommen und ich wollte unbedingt eine konstruktive Meinung bei der Auswahl haben. Du weißt ja, wie meine letzte Wahl ausgesehen hat.“

Er schenkte Emma ein Lächeln, während sie die erste Brille begutachtete.

„Aber bevor wir mit der Anprobe beginnen, werde ich mal diese Folterwerkzeuge von Kontaktlinsen los. Sonst bringt es ja nicht wirklich etwas.“

Aus Caydens Tonfall war herauszuhören, dass er die Kontaktlinsen schon fast liebevoll beschimpfte, da er es nicht mehr ernst meinte und sie ihm mittlerweile schon ganz gut gefielen. Denn, auch wenn er sie ständig spüren konnte, so hatten sie doch einen Vorteil: Er sah auch in den Augenwinkeln genau so, wie etwas, auf das er seine volle Aufmerksamkeit richtete. Das war bei den Brillen nicht der Fall, hatte ihn aber bisher auch nicht wirklich gestört.

„Sie dir ruhig einmal alle an, ich bin gleich wieder da.“

Cayden verschwand hinter einer Tür, die ganz im letzten Winkel im Raum lag und von den meisten Besuchern gar nicht bemerkt wurde, da diese ihre Aufmerksamkeit auf den wuchtigen Schreibtisch richteten.

Aber natürlich hatte er sein eigenes kleines WC mit Waschbecken und Spiegel, so dass er sich dort in Ruhe die Kontaktlinsen herausnehmen konnte, ohne dass Emma ihm dabei zusah. Er wusste schließlich nicht, wie erfolgsversprechend die Entnahme im Beisein von Publikum sein würde.

Wieder zurück, setzte er sich bequem in seinen Stuhl und sah Emma mit fast schon irgendwie aufgeregter Miene an.

„Und? Womit kann ich deiner Meinung nach loslegen?“

 

„Okay.“

Emma zog sich die Schachtel ganz über den Schreibtisch, während Cayden in seinem kleinen Bad verschwand. Vorsichtig legte sie die Erste an ihren Platz zurück und zog stattdessen eine mit Platingestell und breiten Bügeln heraus, die sie auseinanderklappte und sich vor die Augen hielt.

„Uuh.“

Irgendwie hatte das was von Drogenrausch. Emma sah sich einmal langsam in dem Büro um, das auf sie sowieso immer ein wenig wie aus einer anderen Welt wirkte, und stellte dann fest, dass ihr bei diesen seltsamen Farbtönen und Verwischungen schwindelig wurde.

In den Deckel der Schachtel war ein kleiner Spiegel eingelassen, in dem sie sich mit Brille betrachtete.

Wenn sie die Brille fast bis auf die Nasenspitze hinunter schob und die Haare zu einem Dutt –

Beinahe wäre ihr der Schachteldeckel auf den Schreibtisch geknallt, als Emma ihn plötzlich losließ und zu Cayden hochsah, der wie aus dem Nichts aus dem Bad zurückgekommen war.

Mit den Fingerspitzen zupfte Emma sich die Brille wieder von der Nase und schmunzelte über Caydens Gesichtsausdruck. Ohne Brille oder Kontaktlinsen gefiel er ihr immer noch am besten. Was natürlich nicht hieß, dass er mit Brille schlecht aussah. Es war nur ... Irgendwie war er so am ... Süßesten.

Emmas Augen wurden rund und sie bemerkte, dass sie eigentlich auf eine Frage hätte antworten sollen. Was ihr in diesem Moment bloß zu gelegen kam.

„Ich würde die mit dem silbernen Gestell mal versuchen. Obwohl ich glaube, dass die bei deiner hellen Haut zu blass sein könnte.“

 

„Ist blass nicht mehr in?“, wollte Cayden schmunzelnd wissen, während er Emma die Brille abnahm und sie sich aufsetzte.

Er betrachtete sich nicht im Spiegel, sondern sah Emma an, die offenbar wirklich nicht mit ihrer Wahl zufrieden war, also nahm er die Brille ab und legte sie zur Seite.

Die also nicht.

„Ich meine, wenn du Brathähnchen magst, könnte ich es ja mal mit Sonnenstudio versuchen. Aber ich fürchte, da kommt dann eher Tomate heraus.“

Cayden nahm die nächste Brille entgegen und setzte sie auf.

„Bist du auch sehr empfindlich, was die Sonne angeht, oder kannst du dich auch im Sommer ohne Sunblocker vor die Tür wagen?“

 

„Naja, kommt auf die Kreise an, in denen du dich bewegst“, kicherte sie zurück und schüttelte kurz den Kopf, als sie Cayden mit der Brille betrachtet hatte. Die war es auf jeden Fall nicht.

„Nein, Brathähnchen sind nicht mein Fall. Aber wenn ich dich durch sowas dazu bringe, mal zehn Minuten gar nichts zu tun und auf einer Sonnenbank zu liegen, werde ich mir das überlegen.“

Sie grinste ihn an und gab ihm die nächste Brille in die Hand. Randlos und mit dunklen Bügeln.

„Die finde ich gar nicht schlecht, aber zu dir passt eher etwas Strengeres. Zumindest zu deinem Geschäftslook.“

Ups. Emma sollte sich wirklich ein bisschen zusammenreißen. Sonst vergaß sie am Ende noch, dass Cayden zwar ein netter, sympathischer Mann, aber immer noch ihr Boss war.

„Nein, ich bin diesbezüglich eine echte Kiwi. Klar creme ich mich im Sommer ein – das ist hier einfach gar nicht anders möglich, wenn man das Ozonloch bedenkt. Aber ich bekomme nicht wirklich schnell einen Sonnenbrand. Allerdings mag ich auch wirkliches Sonnenbaden nicht. Das ist mir zu langweilig, einfach rumzuliegen und zu schwitzen.“

 

„Na, dann weißt du ja, wieso ich mich für dich nicht einfach zehn Minuten auf die Sonnenbank legen werde. Viel zu langweilig. Aber vielleicht gibst du dich auch damit zufrieden, mich in Badehosen zu stecken und ein paar Bahnen schwimmen zu lassen. Dazu würde ich mich schon eher überreden lassen.“

Cayden warf einen Blick in den Spiegel, um zu sehen, was Emma mit etwas Strengerem meinte.

Ja, er gab ihr recht. Für Meetings, wo er den Boss raushängen lassen musste, wäre das wirklich nicht gerade passend.

„Okay, du hast da einen sehr wichtigen Punkt angesprochen. Einmal ganz rein hypothetisch betrachtet könnte es ja passieren, dass ich auch eine Freizeitbrille brauche. Also sollten wir vielleicht eine fürs Büro und eine für den unwahrscheinlichen Fall auswählen, dass man mich auch einmal wo anders zu sehen bekommt.“

Cayden griff nach einem sportlicheren Model, das vielleicht für seinen Freizeitlook passen könnte, und setzte sie sich auf.

„Also wäre Sauna oder so etwas in der Art, auch nichts für dich? Ich meine, da schwitzt man auch und liegt oder sitzt nur herum.“

In öffentliche Saunas durfte er persönlich auf keinen Fall gehen.

Sein Körper vertrug diese Art von Einrichtung zwar ganz gut, aber es fiel nun einmal auf, wenn einem dabei nicht der Schweiß in Bächen über den Körper lief. Die einzige Feuchtigkeit, die er dann am Leib trug, war das Kondenswasser von den Dampfschwaden. Mehr aber auch nicht.

 

„Ja, aber klar. Ich bin da gar nicht wählerisch. Solange du mal etwas Anderes tust, als hier zu sitzen und zu arbeiten. Oder in deinem Penthouse zu sitzen und zu arbeiten ... oder woanders zu sitzen und zu arbeiten.“

Dass er sich eine Freizeitbrille anschaffen wollte, klang schon fast so, als meine er das mit dem Ausspannen tatsächlich ernst. Was Emma zwar ein breites, aber auch ein bisschen ungläubiges Lächeln ins Gesicht zauberte. Wenn er es dann auch wirklich tat, war ihr das nur Recht. Auf Dauer konnten nämlich so viel Arbeit und Zurückgezogenheit vor der Welt für niemanden gut sein. Und wenn sie es richtig sah, hatte er schon in Tokio nicht mehr so negativ gewirkt. Ein paar Mal in der Woche schwimmen und er könnte sich vielleicht sogar zu einem echten Lächeln durchringen, wenn er mal wieder zu einer Spendengala ging.

„Die finde ich gar nicht schlecht.“

Es handelte sich um eine Brille in dunklem Platin mit sehr dünnem Rand. Die Form war viereckig und dadurch etwas strenger als die runden Gläser der silbernen Brille.

Emma legte den Kopf schräg und nickte dann.

„Die würde ich in die engere Auswahl nehmen. Was meinst du? Und nein, Sauna mag ich nicht. Ich war ein paar Mal mit einem Ex in der Sauna, aber da war das nur wegen der gemeinsamen Unternehmung angenehm. Allein würde ich da niemals hingehen.“

 

„Ach, erzähl das jemand anderem. Du willst doch nur nicht so oft Überstunden machen und mich deshalb vom Büro fernhalten. So sieht’s aus.“

Cayden grinste und nahm die Brille entgegen, die Emma ihm hinhielt, und setzte sie sich auf.

Er sah sich auch selbst im Spiegel an, nachdem sie entschied, dass diese unbedingt in die engere Wahl müsste.

„Ja, die hat was.“

Also legte er sie auf die andere Seite der Schachtel, wo sich noch keine ausgeschiedenen Brillen stapelten.

„Ich denke ja, Saunagänge sind etwas, auf die man schon scharf sein muss, wenn man es auch gerne alleine tut. Zu zweit wird einem dadrin wenigstens nicht langweilig, auch wenn man bei der Hitze sich nicht wirklich bewegen mag.“

Cayden setzte sich eine selbst ausgesuchte Brille auf und sah sich im Spiegel an.

„Oh nein, die sicher nicht. Damit sehe ich ja aus wie ein Professor!“

Sofort landete das Teil bei den Ausgeschiedenen.

Während er sich eine kurze Kaffeepause gönnte, lehnte er sich wieder in seinem Sessel zurück und nahm einen Schluck von seinem Becher. Dabei sah er Emma an und musste plötzlich wieder lächeln.

„Übrigens, Miss Barnes. Ein Dutt steht Ihnen nicht wirklich.“

Ihm war vorhin nicht entgangen, wie sie sich einen am Hinterkopf gedreht hatte, um zu sehen, wie die Haarpracht mit einer Brille aussah. Grässlich. Um ehrlich zu sein. Überhaupt nicht ihr Stil.

 

Zu den vielen Überstunden sagte Emma lieber nichts. Es war ja nicht so, dass sie das zusätzliche Geld dafür nicht gern auf ihrem Konto sah. Ein paar Abende weniger die Woche wären zwar auch nicht schade gewesen, aber in erster Linie ging es ihr wirklich nicht um die Mehrarbeit oder das Geld. Obwohl sie durchaus verstehen konnte, dass Cayden ihr das nicht so leicht abnehmen konnte. Schließlich war es selbst für Emma etwas seltsam, sich über ihren Chef und seine Art, mit sich selbst umzugehen, solche Gedanken zu machen. Wobei ...

„Freunde dürfen dir sowas auch einfach um deiner selbst willen sagen, Cayden.“

Sie zwinkerte.

„Wobei ich gegen so manchen freien Abend nichts einzuwenden hätte.“

Sie lachte, als er sich selbst mit der nächsten Brille zu ältlich fand und sie weglegte, bevor Emma sie wirklich gesehen hatte. Inzwischen hatten sie schon ganz schön aussortiert. Wenn das so weiter ging, würde er doch Kontaktlinsen tragen müssen.

Emma suchte in dem Samtkästchen herum, um vielleicht doch noch das wahre Schmuckstück zu finden, als sie plötzlich zu Cayden aufsah und ihn leicht anfunkelte.

„Dir entgeht wohl gar nichts, was?“

Ein Lächeln schlich sich in ihr Gesicht, bis sie ihm eine doch recht dunkle Brille hinhielt und wirklich grinste.

„Probier mal die hier, Professor.“

 

„Ich hätte manchmal nichts dagegen einzuwenden, glaub mir.“

Cayden stellte seine Kaffeetasse wieder weg und nahm eine weitere Brille von Emma entgegen, während er sie nicht aus den Augen ließ, da ihr dieses Funkeln darin sehr gut stand und ihn zum Lächeln brachte.

„Nein, meistens nicht. Und wenn doch, dann bist du sicher die Letzte, vor der ich das zugeben würde.“

Er setzte sich die Brille auf und sah Emma genau an und wie diese reagierte.

„Und? Kann ich damit ein paar unfähigen Bandmanagern in den Hintern treten, oder zumindest kleine Kinder erschrecken? Ach, bitte sag mir, dass ich damit wenigstens zum Anbeißen aussehe, sonst bleib ich am Ende doch einfach bei den Kontaktlinsen. Obwohl … eigentlich bin ja ich derjenige, der beißt. Hmm …“

Cayden legte seine Hand ans Kinn und dachte offenbar überlegend nach, während er sich mit dem Zeigefinger gegen die Lippen tippte.

„… egal. Also, was sagst du?“

Er schenkte ihr sein schönstes Zahnpastawerbungslächeln, das er auf Lager hatte.

 

„Du siehst ...“ ... eigentlich immer zum Anbeißen aus.

Emma schaffte es für einen Moment nicht, sich seinem Blick zu stellen, sondern schob eine der Brillen in der Schatulle einen Millimeter von links nach rechts. Dieses Lächeln war wirklich ... Es hatte ein warmes Knistern in Emma verursacht, das sie eigentlich gar nicht empfinden sollte. Es kam ihr verdammt bekannt vor und genau deshalb sollte sie sich darauf nicht einlassen.

Das wäre gar keine gute Idee.

Erst nach einem tiefen Atemzug und nachdem sich wieder ein ehrliches Lächeln in ihr Gesicht getraut hatte, das nicht zu viel von ihren Gefühlen verraten konnte, sah sie ihn wieder an.

„Ich glaube, die ist es. Genau das richtige Maß an Ernsthaftigkeit, Mode und Schmiss. Und ja, außerdem siehst du genau das Quäntchen gefährlich aus, auf das die Frauen stehen.“

 

Caydens Nasenflügel bebten leicht und er atmete tiefer ein, als einer seiner Sinne ihm zu verstehen gab, dass sich gerade irgendetwas hier im Raum verändert hatte.

Nicht viel, doch so subtil es auch gewesen sein mag, es war ihm nicht entgangen, auch nicht, dass Emma seinem Blick einen Moment lang auswich und er sie auf einmal deutlicher riechen konnte.

Ob es nun daran lag, dass sich seine Sinne automatisch geschärft hatten, oder etwas in ihr vorgegangen war, wusste er nicht. Er hatte es aber auf jeden Fall registriert.

Als sie schließlich weitersprach, war irgendwie die witzig lockere Art in der Atmosphäre zwischen ihnen abgeklungen und hatte etwas schwererem Platz gemacht.

Eigentlich interessiert mich nur, was du von mir denkst, dachte er bei sich und starrte Emma einen Moment lang intensiver an, als es eigentlich angebracht war, ehe er sich wieder ein Lächeln aufsetzte und die Brille wieder abnahm.

„Gut, dann ist das die Glückliche.“

Er hatte sie noch nicht selbst an sich gesehen. Aber er vertraute Emma darin vollkommen.

„Danke, dass du mir bei der Auswahl geholfen hast. Sonst hätte ich mich nämlich am Ende noch für die hier entschieden …“

Cayden zog eine ganz andere Brille aus einer seiner Schubladen und setzte sie sich auf.

Sofort war seine Welt in rosa Farbtönen getaucht und bestimmt war auch das pinke Herzchenbrillengestell mit dem Glitter darauf ein absoluter Kracher.

Nur mit Müh und Not konnte er sich einen ernsten Gesichtsausdruck beibehalten, wusste er doch, wie lächerlich er mit diesem Teil aussah.

 

Es dauerte eine Schrecksekunde, in der sie Cayden mit offenem Mund anstarrte, bevor Emma in schallendes Gelächter ausbrach. Eigentlich wollte sie etwas dazu sagen, aber dieses ... Ding auf seiner Nase und dazu dieses schiefe Lächeln war einfach nur göttlich!

Emma gluckste, wurde von ihrem Lachanfall fast vom Stuhl geschüttelt und kriegte sich jedes Mal nur ein bisschen wieder ein, bevor sie das Glitzergestell auf Caydens Nase erneut ansah und wieder nicht an sich halten konnte. Es biss sich einfach auch so großartig mit seinen Haaren!

Emma kicherte und kicherte, bis ihr die Tränen aus den Augenwinkeln liefen und ihre Wimperntusche verwischten.

„Damit ... hättest du früher rausrücken sollen.“

Bevor sie noch einmal losprusten konnte, hielt sie sich kurz die Hand vor den Mund, um sich zu sammeln.

„Ein Traum in Pink würde ich sagen.“

 

Cayden konnte nicht anders. Er wurde von Emmas Lachen so erbarmungslos mitgerissen, wie ein Blatt von einem Tornado und lachte ebenfalls so derart stark, dass sein ganzer Brustkorb zu vibrieren schien. Trotzdem behielt er das pinke Teil auf der Nase, nur um einen weiteren Lachanfall heraufzubeschwören.

„Ein Traum in Pink würde ich sagen.“

Cayden grinste schief.

„Oh ja, davon habe ich schon immer geträumt und natürlich konnte ich das Teil nicht gleich am Anfang auspacken. Schließlich kommt das Beste immer zum Schluss!“

Trotzdem setzte er die lächerliche Brille schließlich doch ab und grinste das Teil an, während er es zwischen den Fingern hin und her drehte.

Ihm tat der Bauch weh.

Oh Gott, so viel gelacht, hatte er schon lange nicht mehr.

„Was meinst du, sollte ich die einmal beim Yamato-Meeting tragen? Vielleicht würde das beim nächsten Mal ein bisschen die Stimmung heben. Naja, eine Überlegung wäre es auf jeden Fall wert. Die wird also sicher aufbewahrt.“

Cayden legte die Herzchenbrille wieder zurück in seine Schublade, faltete dann die Hände vor der Brust und lächelte Emma an.

„Nein, jetzt aber mal ernst. Danke für deine Hilfe.“

 

„Ich weiß nicht, ob Mr. Yamato so viel Spaß versteht, aber du könntest bestimmt ein paar Argumentationsfehler vertuschen, wenn du ihn mit diesem Ding ablenkst.“

Emma kicherte immer noch, auch wenn sie sich wirklich Mühe gab, es nicht zu tun. Selbst, als die pinke Herzchenbrille wieder sicher in der Schreibtischschublade verstaut war, grinste Emma fast im Kreis.

Cayden hatte sie damit wirklich kalt erwischt – so viel Eigenironie hätte Emma ihm einfach nicht zugetraut. Umso positiver überraschte sie das Ganze.

„Sehr gern geschehen. Immerhin sehe ich dich fast jeden Tag. Da ist es doch auch in meinem Interesse, dass du noch besser aussiehst, als ohnehin schon.“

Sie lächelte und stand schließlich nur deshalb aus ihrem Besucherstuhl auf, weil ihr Stella eingefallen war, die bestimmt annahm, Cayden habe Emma inzwischen aus dem Fenster geworfen. Immerhin hatte es vorhin wirklich so ausgesehen, als wolle er ihr die Hölle heißmachen.

„Ich werd mich mal wieder draußen sehen lassen. Sonst ruft Stella vielleicht den Sicherheitsdienst oder räumt vorsichtshalber schon mal meinen Schreibtisch aus. Du sahst vorhin nämlich wirklich gruselig aus.“

Sie packte ihr Notizbuch und den Stift zusammen, drehte sich aber an der Tür noch einmal um und musterte Cayden für einen ausführlichen Moment.

„Gute Wahl, wirklich.“

 

Cayden lächelte, als Emma ihm noch einen letzten Blick schenkte.

„Das habe ich dir zu verdanken, und falls Stella fragt, sag ihr, ich habe dich wegen des fehlenden Zuckers zur Schnecke gemacht.“

Sorgsam nahm er das verbleibende Zuckerpäckchen von dem kleinen Tablett und versteckte es in seiner Hand, während er breit grinste und Emma schließlich aus seinem Büro entließ.

25. Kapitel

Am folgenden Dienstag saß Emma an ihrem Schreibtisch, tippte eine Antwortmail für einen Veranstalter in OZ und bekam nur am Rande mit, wie Stella immer wieder von ihrem Platz aufstand, um durch die gesamte Chefetage zu pirschen.

Emma wunderte sich nur deshalb darüber, weil die Assistentin normalerweise, selbst in letzter Zeit, da sie öfter zu den Waschräumen musste, nie wirklich lange von ihrem Schreibtisch wegblieb. Andererseits war um diese Zeit schon nicht mehr wirklich viel los und Emma schaffte den Rest auch allein.

Vielleicht hatte Stella wegen des Babys den Drang sich zu bewegen? Gut für die Beine vielleicht ...

Emma zuckte die Achseln und tippte weiter, bis ihr das Gemurmel einer Gruppe auffiel, die sich um Stella geschart hatte.

Zuerst spähte sie nur sehr ungelenk und neugierig an ihrem Mac vorbei, bis Stella sie sah und aufgeregt winkte, Emma solle zu der Gruppe herüberkommen.

„Was macht ihr denn?“

„Es geht um Calmaros Geschenk.“

Emma stutzte.

Geschenk?

„Er hat doch noch gar nicht Geburtstag.“

 

Stella winkte nachsichtig, als Emma die falschen Schlüsse wegen dieses kleinen Aufmarsches zog.

„Nein, kein Geschenk für seinen Geburtstag, sondern ein Geschenk für seinen 10. Hochzeitstag. Er und seine Frau feiern am Sonntag ihr Jubiläum, und da dachten wir, es wäre nett, ihnen dazu zu gratulieren.“

Sie drehte sich zu den anderen Mitarbeitern herum.

„Danke Leute für eure Unterstützung. Und gebt es auch noch an die anderen Abteilungen weiter, dann muss ich nicht so weit laufen.“

Stella drückte einem von ihnen die Liste und den kleinen Beutel mit dem bereits gesammelten Geld in die Hand und drehte sich dann wieder zu Emma herum, um mit ihr zusammen wieder den Posten vor Calmaros Büro einzunehmen.

„Es wundert mich gar nicht, dass du es noch nicht weißt. Hätte ich ihn am Freitag nicht daran erinnert, hätte er es selbst vergessen. Was das angeht, ist er wirklich wie alle Männer.“

Stella lachte und setzte sich wieder hin, um ihre Beine zu entlasten.

„Willst du denn auch etwas zu dem Geschenk beitragen? Wird zwar nichts Großartiges werden, aber ich denke, so eine Flasche mit einem zehnjährigen Champagner kostet bestimmt eine ganze Stange. Oh, ehe ich es vergesse ...“

Stella setzte sich ruckartig auf und begann in ihrem Terminkalender herumzukramen, ehe ihr Finger auf einer Seite zum Liegen kam.

„Könntest du mir einen riesigen Gefallen tun?“

Sie setzte ihr hilfsbedürtigstes Schwangerschaftslächeln auf, das sie auf Lager hatte.

„Mr. Calmaro hat bereits etwas beim Juwelier für seine Frau in Auftrag gegeben. Am Mittwoch soll es abgeholt werden, aber da habe ich erst meinen Arzttermin und dann muss ich zur Schwangerschaftsgymnastik. Könntest du das vielleicht für mich übernehmen?“

 

„Klar, mach ich ...“

Emma war so neben der Mütze, dass sie gar nicht wusste, ob sie Stella ins Gesicht sehen konnte. Ihre Hände fühlten sich so an, als müssten sie zittern, taten es aber nicht. Und ihr Hals war kratzig und irgendwie war ihr ... zum Heulen. Ja, wenn sie ganz ehrlich sein sollte, dann müsste sie zugeben, dass sie gern nach Hause gegangen wäre, diesen Hochzeitstag verflucht und sich für den Nachmittag heulend in ihrem Bett verkrochen hätte.

Daher hörte sie Stellas Dank gar nicht richtig, sondern überlegte sich stattdessen, ob sie ehrlich sein und eine Spende zum Geschenk ablehnen sollte.

Sie wollte den beiden nichts schenken! Noch dazu einen Champagner, den sie zusammen in der Badewanne trinken würden, bevor sie sich für Jubiläumssex besprangen.

„Emma?“

Das Telefon klingelte, bevor Stella sie noch mehr mit diesem doofen Hochzeitstag zumüllen konnte. Emma sprang auf, nuschelte ein „geh du bitte ran“, und verschwand in die Toiletten, wo sie wütend die Kabinentür zuknallte, bevor sie sich auf den zugeklappten Klodeckel sinken ließ.

10 Jahre ...

Emma trat gegen die geschlossene Tür, sodass es ordentlich knallte, bevor sie einmal schnaubte und dann versuchte, sich wieder zu beruhigen.

10 Jahre mit dieser dummen Kuh und er schenkte ihr auch noch etwas extra Angefertigtes vom Juwelier!

„Na, herzlichen Glückwunsch.“

 
 

***

 

Cayden sah auf die Uhr.

Eigentlich müsste Stella bereits mit dem Collier und den dazu passenden Ohrringen hier sein. Immerhin hatte er ihr sogar extra den Fahrer mitgegeben, damit sie mit dem wertvollen Schmuckstück und in ihrem Zustand nicht ein Taxi nehmen musste. Dennoch war sie noch nicht aufgetaucht. Aber im Grunde wusste er nicht wirklich, wie lange sie brauchen würde. Das konnte er nur schätzen.

Und da ihn diese ganze Sache mit dem 10. Hochzeitstag ohnehin nicht wirklich interessierte, war ihm das mit dem Schmuck auch egal.

Er hatte es nicht vergessen, obwohl Stella das nur allzu gerne angenommen hatte.

Natürlich hatte er sich daran erinnert, dass es bald genau zehn Jahre waren, die Vanessa bereits mit ihm unter Vertrag stand. Und so wie die Dinge derzeit standen, würden es noch ungefähr zehn weitere Jahre sein, bis er sich wieder ohne gute Gründe zu nennen, von ihr lösen konnte.

Etwas, das ihn nicht gerade erfreute und in letzter Zeit machte es ihn sogar regelrecht gereizt. Er begann sich tatsächlich, schon langsam wie verheiratet zu fühlen. Mit genau den gleichen Ketten um den Hals, wie sie andere verheiratete Männer ertrugen.

Wenn es eine gute Frau war, an die man gekettet war, fiel es einem nur allzu leicht, mitzumachen. Man tat es gerne. So viel Erfahrung hatte er auf jeden Fall schon sammeln können. Aber Vanessa war ein Alptraum.

Cayden wusste nicht, ob er noch ein weiteres Jahrzehnt mit ihr durchstehen würde. Oder ob er es überhaupt bis zum nächsten Hochzeitstag aushielt.

Sie ging ihm von Tag zu Tag mehr an die Substanz.

 

Emma hörte kaum auf das 'Pling' der Aufzugtüren. Sie wartete nur die Lücke ab, die sie brauchte, um zwischen ihnen hindurchzuschlüpfen. Dann stapfte sie schnell den Weg zu Caydens Büro hinunter, riss die Tür auf, stürmte ins Büro und knallte ihm das schwere Päckchen in der edlen Papiertüte auf den Schreibtisch.

„Da. Viel Spaß damit und mit dem, was du dafür bekommst ...“

Emma grinste böse in sich hinein. Oh ja, ungefähr so sollte sie es machen. Wenn sie schon dieses doofe Zeug beim blöden Juwelier abholen musste, damit Cayden es seiner bescheuerten Tussi zum Hochzeitstag schenken konnte!

Grummelnd ließ sie sich mit verschränkten Armen gegen die Rückwand der Fahrstuhlkabine sinken und schoss all ihre Verachtung auf die glänzende Papiertüte mit dem eingeprägten Schriftzug des Juweliers, die neben ihren Füßen stand.

Am liebsten hätte Emma dagegen getreten. Sie hatte das Collier und die Ohrringe im Laden kurz gesehen. Der nette Angestellte hatte sie sogar nach ihrer Meinung gefragt. Und was das Schlimmste war: Der Schmuck war wunderschön.

Viel zu schön für diese dumme Kuh.

Immer noch stinkig packte sie die Papiertasche und verließ nicht ganz so stürmisch, wie in ihrem Tagtraum den Lift, um sich zu Caydens Büro aufzumachen. Ringsherum war es bereits recht ruhig. Die meisten Angestellten der Chefabteilung waren nach Hause gegangen.

Vor der Tür angekommen warf Emma noch einen giftigen Blick auf die Tasche in ihrer Hand und erkannte selbst nicht, dass sich auch etwas ganz anderes in ihre Augen mischte. Sie klopfte und trat in den großen Raum, kaum dass sie das „Herein“ dazu aufgefordert hatte.

„Hier. Ich mach noch schnell die Unterlagen für das Meeting Morgen fertig und bin dann weg.“

Sie hatte ihn nicht einmal angesehen, während sie das sagte. Wollte sie auch nicht. Lieber drehte sie sich um, damit sie endlich diesen Schmuck bei ihm lassen und bald verschwinden konnte.

 

Cayden blickte mit hochgezogenen Augenbrauen von der edlen Tragetasche hoch, die Emma ihm auf den Tisch gestellt hatte, und wunderte sich nur kurz darüber, sie hier zu sehen anstatt Stella. Denn im nächsten Moment war das vollkommen egal, weil ihm der scharfe Geruch von Emmas Wut nur allzu deutlich in die Nase drang. Hinzu kam noch ihr farbloser Tonfall und dass sie ihn nicht einmal ansah.

Was war nur los?

„Warte.“

Er stand auf, die Hände auf dem Schreibtisch abgestützt, bereit, darum herumzugehen, um sie tatsächlich aufzuhalten.

„Ich hatte doch Stella den Auftrag gegeben, zum Juwelier zu gehen …“

Cayden biss sich auf die Lippen und seine Nasenflügel bebten, als er noch einmal einen tiefen Atemzug von Emmas Wut in sich aufnahm. Wenn er sich nicht vollkommen täuschte, war sie sogar verdammt wütend.

Warum?

 

Emma blieb stehen, drehte sich auf sein „Warte“ allerdings nicht herum. In ihre Wut mischte sich die Empfindung von schlechtem Gewissen und sie fühlte sich verdammt nochmal ziemlich ertappt.

„Stella konnte nicht gehen. Sie hatte einen Termin und ...“ ... außerdem hat sie wie jeder andere Besseres zu tun, als dir und deiner Schnepfe irgendwelche Juwelen hinter herzutragen!

„Sie ist schwanger.“

Damit war für Emma die Argumentation gegessen. Sie griff nach der Türklinke und war schon halb draußen.

„Was ist los, Emma?“

Ihr Nacken prickelte und ihr Magen krampfte sich unter dem sanften Tonfall von Caydens Stimme zusammen.

Was sollte sie denn sagen? Dass sie sich wegen seines Hochzeitstags beschissen fühlte? Dass sie nicht verstehen konnte, dass er bei dieser egozentrischen, fiesen Kuh blieb? Dass er glücklich mit dieser Schnepfe war und sie ... liebte?

Bevor sie ihm irgendetwas in dieser Art sagte oder am Ende noch ihren Emotionen nach außenhin nachgab, griff Emma zu der Waffe, die Frauen schon seit Urzeiten in solchen Situationen nutzten.

„Gar nichts.“

 

Gar nichts.

Cayden hatte schon den Mund geöffnet, um darauf etwas weniger Sanftes zu erwidern, schloss ihn allerdings wieder mit einem lautlosen Knurren und setzte sich hin.

„Gut, danke. Dann kannst du gehen“, meinte er knapp, da er sonst den Drang verspüren könnte, sie zu packen und sie so lange mit Fragen zu löchern, bis sie mit der Sprache herausrückte.

Wie oft hatte er schon von Frauen diesen Satz gehört und jeder Mann, der keine so guten Sinne oder ein richtig gutes Einfühlungsvermögen hatte wie er, hätte es auf sich beruhen lassen. Obwohl gerade dann etwas im Busch war.

Cayden wusste es. Er witterte es, aber er hatte nicht das Recht, Emma darauf anzusprechen. Vielleicht eine private Angelegenheit, die ihn nichts anging.

Was ihm nur wieder sehr deutlich zu verstehen gab, dass sie beide sich zwar gut verstanden und sie sich auch immer wieder nett unterhielten, aber das war dann eigentlich schon alles. Und das … nagte irgendwie an ihm.

Cayden starrte noch eine ganze Weile die Tür an, hinter der Emma verschwunden war, ehe er die Tasche mit den Juwelen vom Tisch nahm und etwas rüde mit dem Fuß unter seinem Schreibtisch versteckte, damit Vanessa sie nicht gleich sah, wenn sie kam, um ihn zum Abendessen abzuholen. Gerade darauf hatte sie so dringlich bestanden, wie schon lange nicht mehr, bis er schließlich nachgegeben hatte, um ihrer schleimigen Bettelei endlich ein Ende zu bereiten.

 
 

***

 

Heute war sie der feuchte Traum eines jeden Mannes in Ferrarirot.

Vanessa hatte sich für das Abendessen sorgfältig gestylt und nichts dem Zufall überlassen. Sie war beim Friseur, hatte sich ein professionelles Make-up machen lassen und trug ein hautenges Cocktailkleid von einem der angesagtesten Designer der Welt. Dazu einen weißen Pelzmantel, der ihre schlanken Modelkurven betonte und sie nicht, wie so viele andere Frauen, pummelig machte. Dazu noch heiße rote Schuhe und einen dazu passenden Lippenstift.

Kein Parfum dieses Mal, nur edelster Seifenduft, gegen den ihr Mann wohl nichts haben konnte, war er doch nur der Hauch einer Geruchsempfindung. Kaum wahrnehmbar für ihre eigene Nase, und da sie ihn absichtlich eine Woche hatte hungern lassen, dürfte heute auch wieder der nötige Appetit für mehr in ihm vorhanden sein. Darum auch das Abendessen. Denn danach würden sie nach Hause fahren, wo die Wahrscheinlichkeit auf heißen Sex höher war als hier im Büro.

Sehr viel höher, um ehrlich zu sein.

Seltsam, für prüde hätte sie Cayden eigentlich nie wirklich gehalten, aber er war es doch irgendwie.

Obwohl es sie verdammt nervte und es absolut unter ihrer Würde war, ging Vanessa nicht sofort in das Büro ihres Mannes, sondern meldete sich wohl oder übel zuerst bei seiner pummeligen Assistentin an.

Mit der er vor kurzem in Tokio gewesen war. Wonach er nicht den geringsten Appetit aufgewiesen hatte.

Verdammte Schlampe!

Vanessa schenkte ihr ein herablassendes Lächeln, als sie vor den mickrigen Schreibtisch dieser kleinen Durchschnittstussi ohne Stil trat.

Eigentlich wollte sie fragen, ob ihr Mann schon fertig sei, doch eine böse, eifersüchtige Seite in ihr, ließ sie stattdessen fragen: „Wie war Tokio? So viel Luxus muss doch etwas völlig Neues für Sie gewesen sein, und dann auch noch die ganze Zeit arbeiten. Ich hoffe, mein Mann hat Sie nicht zu hart rangenommen.“

 

Zuerst wanderte eine von Emmas Augenbrauen tanzend in die Höhe, dann tippte sie die E-Mail zu Ende, schickte sie ab und machte ihr Zeichen für 'erledigt' neben den Termin, damit Stella Morgen Bescheid wusste. Erst dann drehte sie sich zu ihrer 'Besucherin' um.

Auf der Höhe, auf der Emma hinter ihrem Schreibtisch saß, konnte sie Vanessas flachen Bauch mit den hervor stehenden Hüftknochen inspizieren, die heute in knallroten Stoff geschoben waren. Langsam und mit einem Funkeln in den Augen, das man nur sehr selten an Emma sah, ließ sie ihren Blick zu Mrs. Calmaros Gesicht wandern.

Du hast dir heute den falschen Tag ausgesucht, um mich zu ärgern, Frauchen.

„Ja, Sie haben Recht. So viel Luxus bin ich tatsächlich nicht gewohnt. Die teuren Möbel, das gute Essen ... die Drinks.“

Emma lächelte liebenswürdig und derartig falsch, dass es ihr selbst eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

„Aber man sieht, dass Sie ganz gut mit diesem Luxus zurechtkommen. Das kleine Bäuchlein steht Ihnen gut. War das für die neue Frühjahrskollektion von den Designern gewünscht?“

Scheiß drauf, dass diese ... Person in einem Briefumschlag vermutlich auch noch gut ausgesehen hätte. Emma wünschte ihr Pickel an den –

 

Zuerst wurde Vanessa blass, ehe sie durch ihr perfektes Make-up hindurch leicht rot im Gesicht wurde.

Dieses verdammte Flittchen wagte es –!

Doch bevor sie ihre Wut herauslassen konnte, lächelte sie noch herablassender und strich sich über den flachen Bauch, ehe sie die Hand in die Hüften stemmte.

„Was wissen Sie schon von den neuesten Frühjahrskollektionen? Mit diesem Arsch passen Sie doch höchstens in billige Klamotten von irgendeiner Wühlkiste. Also legen Sie sich besser nicht mit mir an. Mein Körper landet wenigstens auf den Titelseiten von hochangesehenen Magazinen. Sie hingegen können schon froh sein, wenn irgendein Bauarbeiter oder schmieriger Müllmann Ihnen aus lauter Verzweiflung hinterher blickt. Ich frag mich wirklich, wie sich mein Mann nur mit Ihnen sehen lassen kann.“

 

Am liebsten hätte Emma ihr das Lächeln um ihre knochigen Hüften gewickelt.

„Wissen Sie, mein Arsch geht wenigstens nur mich was an. Mir persönlich wäre es nämlich unangenehm, von Männern nur als Wichsvorlage angesehen zu werden. Aber darüber brauchen Sie sich ja auch nicht mehr allzu viele Sorgen zu machen, nicht wahr? Wie alt sind Sie? Vierunddreißig? Ich schätze, in spätestens zwei Jahren sind ihre Silikonsäcke so ausgeleiert und ihre Falten eindeutig zu tief, um es auch nur noch auf das Cover irgendeines Katalogs zu schaffen, bei dem ich meine Klamotten bestelle.“

 

Vanessas Lächeln gefror, ehe es ganz erlosch.

Ihr ganzer Körper spannte sich vor Wut an und ihr war heiß und kalt zugleich, denn sie wusste, das würde eines Tages passieren. So ungern sie diesem Miststück auch Recht gab, wenn der Vertrag mit Cayden beendet war, würde das passieren und sie konnte nichts dagegen tun, es sei denn, sie brachte ihn dazu, dass er sie in einen Vampir verwandelte. Dass er ihr ewige Jugend schenkte. Doch das würde er nicht tun, oder?

Er liebte sie nicht. Begehrte sie noch nicht einmal wirklich.

Vanessa hätte dafür getötet, wenn er sie nur einmal so angesehen hätte, wie er dieses hässliche Weib vor ihr angesehen hatte.

Was fand er nur an dieser fetten ...

„Jetzt hör mir mal ganz genau zu, du verdammte Speckschwarte!“, zischte sie leise, so dass niemand außer besagte Person sie hören konnte, während sie sich aggressiv auf den Schreibtisch abstützte und Emma offen drohte.

„Ich bin achtundzwanzig, und selbst wenn ich achtunddreißig werde, werde ich immer noch um Längen besser aussehen, als du mit deiner Orangenhaut und den Hängetitten es jetzt tust. Du gehörst nicht in die Schicht, in der mein Mann und ich leben. Also verpiss dich gefälligst wieder in die untere Preisklasse, wo du hinge-“

Ein eiskalter Schauer überlief Vanessa, ehe sie sich abrupt aufrichtete und herum wirbelte, sodass ihr der Pelzmantel von der Schulter rutschte.

Cayden stand in der offenen Bürotür, die Arme vor der Brust verschränkt und in einer scheinbar lässigen Haltung. Aber seine giftgrünen Augen blitzten auf eine Art, die Vanessa regelrecht die Luft aus den Lungen trieb.

„Sch-Schatz …?“, brachte sie mit brüchiger und überraschter Stimme hervor, und hoffte, er hätte nichts von dem fast schon geflüsterten Gespräch gehört. Aber sein nichtssagender Blick war alles, was sie wissen musste.

Scheiße …

„Sehr interessante Ansicht, die du da vertrittst, Darling.“

Es hörte sich ganz und gar nicht wie ein Kosewort an. Eher wie eine stille Drohung.

„Warum sprichst du nicht weiter? Mich hätte wirklich noch das Ende deiner kleinen Rede interessiert.“

Vanessa wurde kalkweiß im Gesicht und konnte nicht atmen.

Scheiße. Scheiße. Scheiße …

Sie begann zu zittern.

„Eine kluge Entscheidung“, meinte Cayden immer noch frostig und stieß sich von der Tür ab. Er war zwar nur um ein paar Zentimeter größer als Vanessa, aber momentan schien sie vor ihm regelrecht zusammenzuschrumpfen.

An seine Assistentin gewandt, meinte er abscheulich sanft: „Sie können nach Hause gehen, Emma. Wir wollen den Tisch für unsere Verabredung nicht verpassen, und Sie wollen sich doch sicher noch einen schönen Abend machen. Gute Nacht.“

Als Cayden ihr den Mantel wieder über die Schulter zog und seine Hand auf ihren Rücken legte, wäre sie beinahe zusammengezuckt. Genauso wie die Betonung des Kosenamens für sie, versprach auch die Art, wie er Verabredung hervorgehoben hatte, kein gemütliches Abendessen. So wütend hatte sie ihn noch nie gesehen.

Unfähig, irgendwie darauf zu regieren, ließ sie sich einfach von ihm zum Aufzug führen.

Sie hatte einen Fehler gemacht.

 

Speckschwarte?!

Emmas Augen wollten aus ihrem geröteten Gesicht fallen, als Mrs. Calmaro sich über ihren Schreibtisch beugte und sie damit noch einmal davon abhielt, ihr lautstark ihre Meinung zu geigen.

„Na klar. Und meine Oma ist der Weihnachtsmann. Kauft dir die 28 je jemand ab?“

Verdammte Kuh!

Normalerweise hätte Emma sich gar nicht so weit provozieren lassen. Sie hätte von Anfang an die Klappe gehalten und sich sogar wegen dem, was ihr an den Kopf geworfen wurde, schlecht gefühlt. An jedem anderen Tag und von jeder anderen Person hätte sie die verbalen Prügel eingesteckt, aber nicht von –

Emma zuckte zusammen, als Vanessa sich auf einmal umdrehte und den Blick auf die Bürotür freigab, der Emma genau gegenübersaß.

„Cay-“

Sie klappte den Mund sofort wieder zu, konnte aber nichts gegen die Röte machen, die ihr vor Scham in die Wangen stieg.

Scheiße. Sie hatte sich aufgeführt, wie eine tollwütige und gleichzeitig läufige Hündin. Und noch dazu gegenüber seiner Ehefrau!

„Sie können nach Hause gehen, Emma. Wir wollen den Tisch für unsere Verabredung nicht verpassen und Sie wollen sich doch sicher noch einen schönen Abend machen. Gute Nacht.“

Sie sollte irgendetwas sagen. Dass Vanessa gar nicht allein Schuld hatte. Dass sie –

Emma musste nur an die Bezeichnung denken, die Mrs. Calmaro ihr verpasst hatte – und an die Spendengala – um einfach die Klappe zu halten.

Sollten die beiden doch machen, was sie wollten.

 

„Hör zu, ich –“

„Nein“, unterbrach Cayden seine Frau leise und kühl, während sie in seinem Wagen durch die Stadt fuhren.

Das Abendessen konnte sie vergessen. Der Appetit war ihm vergangen. In vielerlei Hinsicht.

„Ich will keine Erklärungen hören.“

„Aber sie hat mich provoziert und beleidigt!“, verteidigte sich Vanessa mit einem verärgerten Schmollen auf den Lippen, während sie zugleich versuchte, dennoch irgendwie unterwürfig zu bleiben. Irgendwie konnte sie das ziemlich gut.

„Vanessa, ich kenne dich. Deine Zunge ist schärfer als meine Rasierklingen, also erzähl mir nicht, meine Assistentin hätte angefangen. Ich wittere genau, dass du lügst.“

Auch wenn er sich sicher war, dass Emma zurückgebissen hatte, obwohl er das Gespräch nicht von Anfang an verfolgt hatte und demnach auch nichts dazu sagen konnte, außer: „Ich habe dir schon einmal gesagt, du sollst sie in Ruhe lassen und noch einmal werde ich es nicht wiederholen.“

Er war immer noch ruhig. Immer noch verdammt wütend, aber seine Wut verrauchte langsam.

Kurz glaubte Cayden daran, Vanessa zum Schweigen gebracht zu haben, doch er sollte es besser wissen. In letzter Zeit wurde sie immer aufmüpfiger.

„Dann hätte die Schlampe auch dich in Ruhe lassen sollen!“

Caydens Miene blieb unbewegt, er hielt sogar genau das Tempolimit ein und fuhr ordentlich, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.

„Sprich nicht in Rätseln. Sag mir lieber, was dir nicht passt.“

Vanessa entfuhr ein spitzer Laut, als könne sie seine gleichgültige Miene nicht fassen. Aber er würde ihr keine Angriffsfläche für bloße Spekulationen geben. Schließlich hatte sie ihm auch schon einmal vorgeworfen, eine Affäre mit Stella zu haben und dass das absoluter Blödsinn war, konnte er nur bestätigen.

Sie war glücklich verheiratet und erwartete ein Kind. Warum sollte sie also interessant für ihn sein?

„Nun gib’s doch schon zu, dass du von ihr getrunken hast, als du in Tokio warst! Oder warum wolltest du sonst nach mehr als einer Woche nicht von mir trinken?“

„Glaub nicht, du bist meine einzige Blutquelle. So oft, wie du unsere Termine sausen lässt, wäre ich schon längst verdurstet oder du vollkommen leergesaugt. Also wirf mir nicht vor, dass ich zu unserem beider Wohl Vorräte horte.“

Vanessa schnaubte.

„Vorräte nennt man das also heutzutage!“

Cayden holte still tief Luft. Langsam ging ihm dieses Gespräch auf die Nerven.

„Wie würdest du es sonst nennen?“, wollte er gelassen wissen und setzte den Blinker, um in ihre lange Einfahrt zu biegen.

Vanessa schwieg. Aber er wusste trotzdem, was sie dachte. Sie dachte an Affäre. An Ehebruch und Herumhurerei. Doch sie konnte es ihm nicht vorwerfen, da sie es selbst tat.

Als der Wagen schließlich stand, stieg keiner von ihnen beiden aus.

„Ich halte es für besser, wenn wir uns erst am Sonntag wieder sehen. Deine Eifersuchtsattacken sind sowohl unbegründet, wie auch lästig und zudem vollkommen unangebracht, bedenkt man, wie es zwischen uns wirklich steht. Also komm wieder runter.“

Vanessa blieb aus purem Protest noch ein bisschen länger sitzen, ehe sie sich geschlagen gab und schließlich ausstieg.

Sie drehte sich nicht um, als sie mit wütenden Schritten die Eingangstreppe hinaufging und er sah nicht in den Rückspiegel, als er die Auffahrt erneut entlang fuhr, um wieder ins Zentrum von Wellington zu fahren.

Vielleicht hatte Helen heute Abend für ihn Zeit.

26. Kapitel

"Gott, ist das kalt."


Emma schlang sich die Strickjacke fester um die Schultern und sah sich ihre Zehen an, die in einem normalen und einem Paar Wollsocken steckten.


"Guten Morgen."


Kathy trug wie Emma auch noch ihren Schlafanzug, dazu aber kuschelige Hausschuhe und einen dicken Pullover. Ihre Mitbewohnerin holte gerade Milch aus dem Kühlschrank und schüttete sie in einen kleinen Topf auf dem Herd, in den Emma interessiert hinein linste.


"Morgen. Was machst du denn?"


Zuerst breitete sich ein Grinsen auf Kathys Gesicht aus, aber als sie Emma wirklich ins Gesicht sah, änderte sich ihre Miene. Sehr zum Negativen.


"Du hast wieder schlecht geschlafen."


Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Man brauchte Emma inzwischen nicht sonderlich gut zu kennen, um die Augenringe deuten zu können, die sich langsam einen ständigen Platz in ihrem Gesicht erkämpften. Die Albträume waren mal schlimmer, mal weniger schlimm - aber sie waren immer da.


"Aber es ist Sonntag. Ich kann mich später nochmal hinlegen und heute Abend früh schlafen gehen."


"Dann mach das aber auch."


Emma legte ihr Kinn auf Kathys Schulter und setzte das liebste Lächeln auf, das sie im Repertoire hatte.


"Versprochen."


Ein Zittern ging durch ihren Körper und sie rubbelte sich die Arme warm, während sie zum Schrank hinüber ging und das Toastbrot heraus holte.


"Dann bekommst du auch Kakao zum Frühstück."


"Danke Kathy."


Emma deckte den Tisch für drei, auch wenn nicht so sicher war, dass Rob um diese Zeit schon aus den Federn finden würde. Es gab Toast, Marmelade, Schinken, Käse und Kathy zog gerade wieder die Kühlschranktür auf, um die Packung Eier heraus zu holen.


"Gerührt oder geschüttelt?", wollte sie mit einem Lachen wissen.


Doch Emma schien in diesem Moment irgendetwas in den Magen gefallen zu sein. Sie sah Kathy an. Dann die Packung mit Eiern in deren Hand.


"Ich glaub... ich verzichte. Danke."


Emma konnte fühlen, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich, bevor sie auch schon losstürmte und es gerade noch so schaffte, die Badtür hinter sich zu schließen, bevor sie sich über die Kloschüssel hängte.
 

Da es in letzter Zeit wieder sehr viel Arbeit auf seiner Seite gab, kam Cayden nicht großartig dazu, über die Geschehnisse kurz vor der Jubiläumsfeier nachzudenken, die da passiert waren. Er war froh, dass dieses unangebrachte Ereignis vorüber war, aber es tat ihm leid, dass sich seitdem irgendwie wieder etwas verändert zu haben schien.

Stella ging inzwischen bereits zu Mittag heim und übertrug Emma immer mehr ihrer Aufgaben, so dass diese nun vollkommen ausgelastet war und regelmäßig Überstunden machen musste.

Cayden kam nicht allzu oft aus seinem Büro raus und hatte ein Meeting nach dem anderen, während das Geschäft boomte, aber ihm entging bei seinen Auswärtstreffen nicht, wie die Augenringe unter Emmas Augen immer dunkler zu werden schienen, wenn er an ihr vorbei ging.

Sie hatten schon lange nicht mehr privat miteinander gesprochen, sondern nur beruflich, weil keiner von ihnen beiden wirklich zu mehr Zeit hatte. Zumindest wollten sie das wohl gerne glauben.

Cayden hatte den Vorfall mit Vanessa kein einziges Mal erwähnt und er drückte sich auch offensichtlich davor. Doch langsam konnte er eine Sache nicht mehr leugnen.

Er vermisste Emma…

Ja, sie sahen sich jeden Tag im Büro, aber das war einfach nicht das Selbe.

Gerne wollte er wissen, ob er sie überforderte. Ob sie vielleicht krank war oder einfach nur schlecht schlief. Er wollte wissen, wie es ihr einfach so ging. Er wollte … einfach wieder mit ihr reden.

Es war kein besonderer Tag. Die gewohnten Überstunden. Der gewohnte Ablauf und noch nicht einmal eine ungewöhnliche Zeit, doch als Cayden hörte, wie Emma ihren Schreibtischstuhl zurück schob und in die Teeküche ging, stand er einfach auf und ließ seine Arbeit links liegen, obwohl es wichtig war.

Bei Überstunden ließ er oft die Bürotür offen, um mitzubekommen, wer noch da war und wer ging, weshalb er durchaus hörte, wie sie in der Teeküche handierte.

Inzwischen gelang es ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, über den Abwehrmechanismus zu gehen und auch wenn er sich nicht ganz wohl damit fühlte, so war es dennoch nicht mehr so schlimm, wie noch am Anfang.

"Hi.", begrüßte er sie leise mit einem Lächeln und trat näher.

"Wenn ich dir helfe, bekomme ich dann auch einen?"
 

Sie gähnte ungefähr zum zehntausendsten Mal in den letzten zwei Stunden und wischte sich mit den Fingern über das kratzende linke Auge. Emma rubbelte nicht gern über das Make-up, das sie neuerdings trug, um nicht mehr ganz so fertig auszusehen. Das hieß nämlich, dass sie alles verschmierte und bloß noch müder und abgekämpfter wirkte, als es ohnehin der Fall war.


Noch ein Gähnen und die Buchstaben auf dem Bildschirm verschwammen vor ihren Augen.


Zeit für einen Tee.


In letzter Zeit schien sie sich an das Teetrinken gewöhnt zu haben. Stella trank überhaupt keinen Kaffee mehr und auch Emma schien das starke Getränk nicht gut zu tun. Sie hatte irgendwie überhaupt kein Bedürfnis danach. In der Früh schon gar nicht, wenn die anderen Angestellten der Chefetage sich zum Schwatz in der Kaffeeküche trafen und der Duft auch zum Vorzimmer herüber wehte. 
Im schlimmsten Falle wurde Emma von dem Duft, den sie sonst wirklich gerne mochte, so übel, dass ihr sämtliche Farbe aus dem Gesicht wich.


Jetzt stand sie auf, ging in den kleinen Nebenraum hinüber und schaltete den Wasserkocher an. Da die Auswahl an Teesorten seit Stellas Schwangerschaft gestiegen war, musste Emma sich zwischen vier Sorten entscheiden. Schwarzer Tee kam nicht in Frage. Also entweder Hagebutte, Kamille oder Pfirsich.


Emma zog sich einen Beutel Pfirsichtee aus der Packung und hätte ihn beinahe mitsamt ihrer Tasse fallen lassen, als auf einmal Cayden hinter ihr stand.


"Hi!"


Oh man, konnte es wirklich sein, dass sie sich so freute ihn zu sehen?


"Klar. Such dir einen aus, ich hab eh viel Wasser aufgesetzt."


Emma hielt ihm die Teepäckchen hin und lächelte, als ihr der typische Duft nach Caydens Rasierwasser in die Nase stieg. Sie hatte wirklich das Gefühl, schon ewig nicht mehr mit ihm gesprochen zu haben.


"Wie geht's dir? Ist ja ziemlich viel los in letzter Zeit."
 

Cayden bediente sich bei der Pfirsichteesorte und holte sich eine Tasse aus dem Schrank, während das Wasser erst heiß werden musste.

"Ganz gut. Die Arbeit läuft, das merkt man wirklich."

Er lehnte sich mit dem Rücken an die Arbeitsplatte, die leere Teetasse mit dem Beutel darin in der Hand, die andere auf der Kante abgestützt und ließ Emma dabei nicht aus den Augen.

Sie sah heute besser aus, auch wenn er das Gefühl hatte, dass das an dem Make-up lag, das sie trug. Es war zwar dezent, aber er konnte dennoch mit seinem scharfen Sehsinn auf diese Entfernung den feinen Puderstaub sehen.

Sie roch auch irgendwie … anders. Intensiver und-

Cayden rutschte näher an die Zuckerdose und somit auch an Emma heran, um sie besser wittern zu können.

Ja, eindeutig. Sie duftete ausgesprochen gut. Vielleicht ein neues sehr dezentes Parfum?

"Ich würde dich ja auch gerne fragen, wie es dir geht. Aber irgendwie glaube ich, die Antwort schon zu kennen.", meinte er schließlich sanft und auch deutlich besorgt.

"Emma, du musst mir sagen, wenn es dir zu viel wird. Ich bin schließlich kein Sklaventreiber, der das nicht berücksichtigen würde."
 

Sie konnte gar nichts weiter tun, als zurück zu lächeln. Schon allein, dass er näher gerutscht war, verursachte ihr ein warmes Klopfen im Bauch. Aber dass er auch noch so nett zu ihr war... irgendwie war das nach dem Desaster mit seiner Frau vor dem Hochzeitstag fast unfassbar. Emma hätte weiterhin ziemliche Funkstille erwartet. Auch wenn ihr das Gegenteil jetzt natürlich umso mehr Freude bereitete.


"Und ich bin kein kleines Mädchen mehr, Cayden. Ich würde es dir sagen, wenn ich nicht mit der Arbeit zurecht käme."


Der Wasserkocher fing an zu rappeln und Emma machte ihn aus, bevor das heiße Wasser vorne heraus spritzen konnte. Sie machte diese Dinger immer zu voll.


"Ich schlafe einfach nicht gut. Und ich befürchte, dass ich mir an irgendwas den Magen verdorben habe. Wenn das nicht bald aufhört, werde ich aber zum Arzt gehen."


Sie schenkte zuerst Cayden und dann sich selbst Wasser in die Tassen und beobachtete dann den Teebeutel, wie er aufgeblasen darin herum schwamm.
 

Das Wasser war zu heiß, um jetzt schon den Tee trinken zu können, außerdem musste er sowieso erst noch ziehen, weshalb Cayden seine Tasse abstellte und stattdessen nun wirklich besorgt aussah.

"Ich weiß, dass du kein kleines Mädchen mehr bist. Aber ich halte dich auch für ziemlich stur, wenn du willst und das verträgt sich nicht unbedingt gut, mit einem vom Schlafentzug geschwächten Körper. Hast du denn immer noch Alpträume?"

Er richtete sich wieder auf und trat noch ein Stück näher, um ihr besser ins Gesicht sehen zu können.

"Vielleicht eine Magendarmgrippe. Hast du denn Fieber?"

Bevor er großartig darüber nachdenken konnte, lag schon seine Hand auf ihrer Stirn. Sie war sogar etwas kühler als sein eigener Körper. Auch, als er seine Hand über ihre Wange streichen ließ.

"Nein. Normale Temperatur würde ich sagen.", meinte er leise, weil ihn gerade mehr die Tatsache ablenkte, wie ungewöhnlich gut es sich anfühlte, Emma nach all den Wochen zu berühren und zwar weil er es bewusst wollte.

Irgendwie schienen die Stellen auf seiner Haut zu prickeln, dort wo er sie berührte und das verwirrte ihn etwas. Aber es war auch sehr angenehm.
 

"Stur?"


Sie hauchte das Wort nur, obwohl es eigentlich ein bisschen aufmüpfig hatte klingen sollen. So stark und abwiegelnd wie immer. 
Aber so klang es nicht. Und Emma fühlte sich auch nicht so, wie sie es normalerweise gewohnt war. Sie war ehrlich kurz überrascht, als er einfach seine Hand auf ihre Stirn legte und ihr damit noch ein Stück näher kam. Doch anstatt wie sonst einfach zurück zu weichen und so zu tun, als ginge es ihr blendend, schloss Emma kurz die Augen und genoss Caydens Gegenwart und den Eindruck von jemandem, der sich um sie sorgte. Vielleicht würde er sie auch einfach umarmen, wenn-


Emma schlug die Augen wieder auf, bevor sie sich einfach an Cayden lehnen und sich diesem Gefühl von Schwäche hingeben konnte. Ja, sie war müde. Und wenn man ihr Gespräch von damals bedachte, konnten sie sich auch Freunde nennen. Aber das hieß noch lange nicht, dass sie sich an ihm anlehnen durfte.


Und dabei war es so schön, dass er über ihre Wange streichelte...


"Ich bin nicht krank, glaub mir. Nur ein bisschen... na gut, ziemlich müde."


Sie lächelte und sah zu ihm auf. So nahe waren sie sich schon ewig nicht mehr gekommen. Vom Gefühl her, das sich in Emma ausbreiten wollte, waren sie sich sogar trotz dieser Nacht in Tokyo noch nie so nah gekommen.


"Cayden?"


Selbst wenn er sie gleich fragen sollte, wusste Emma nicht, was sie eigentlich hatte sagen wollen. Emma wusste nur, dass sie eigentlich ihre Hände auf seine Seiten legen wollte. Dass sie sich an ihn kuscheln wollte und ... dass sie das nicht tun durfte.
 

Vielleicht war es die Art, wie Emma unter seiner Berührung langsam die Augen schloss. Wie sich dabei ihre Lippen eine Spur öffneten, sie sich eine Sekunde lang einfach nur dem Moment hinzugeben schien, oder nur diese kleine gehauchte Frage, was ihre Sturheit anging.

Cayden konnte es nicht genau beschreiben. Vielleicht war es auch einfach nur das Gefühl einer warmen Berührung, das sein Herz zunächst einen unkontrollierten Sprung machen und es dann wie wild weiterschlagen ließ. Zudem prickelte es in seinem Bauch wie Sektperlen und ohne es zu bemerken, war er noch ein Stückchen näher gerutscht, bis Emma erneut die Augen öffnete und dennoch irgendwie nicht die Anziehung … diese seltsame Nähe zwischen ihnen brechen konnte.

Ihr Lächeln war wunderschön, wenn auch müde und erschöpft. Ein Anblick, der in ihm noch mehr Dinge auslöste und seine Hand ihre Wange herab bis zu ihrem Hals streicheln ließ, wo sie warm und beschützend auf ihrer nackten Haut liegen blieb.

Ihr Puls war kräftig und stark. Berauschend, wie er noch gut in Erinnerung hatte, doch er reizte ihn momentan überhaupt nicht.

Cayden konnte sich nicht aus dem Bann von Emmas Blick befreien. Nicht einmal, als sie seinen Namen sagte.

Eine Frage, die noch älter als er selbst zu sein schien und keine Worte bedurfte, wenn alles in ihm sie richtig verstanden hatte. Vielleicht war es auch nur reines Wunschdenken. Vielleicht wollte er etwas, was nicht wirklich da war, weil er es schon so lange nicht mehr gespürt hatte.

Aber ob nun real oder nicht, er konnte sich dem nicht entziehen.

Cayden trat noch näher heran. Seine andere Hand schloss sich automatisch um Emmas Teetasse und nahm sie ihr aus der Hand, um noch näher zu kommen.

Er beugte sich weiter zu ihr herab, während er das dampfende Gebräu auf der Arbeitsfläche abstellte, aber immer noch nur Augen für Emma hatte.

Ein Zittern lief durch seinen Körper, als er sich bewusst wurde, was er da eigentlich tat. Ein köstliches Zittern.

Seine Nasenspitze berührte fast die ihre, doch es waren schließlich seine Lippen, die sie streiften und gegen die er hauchzart flüsterte: "Ja?"

Dass er keine Antwort erwartete, machte sein Mund Emma zärtlich klar, in dem er sanft an den ihren nippte. Sie auskostete, wie er es schon beim ersten Mal hätte tun sollen und dabei seine Augen sich langsam und genießend schlossen.
 

Bestimmt hätte sie die Tasse festhalten sollen. Anstatt sie sich aus den warmen Händen nehmen zu lassen und sich danach ein bisschen so zu fühlen, als wisse sie nicht, was sie mit ihren Fingern anstellen sollte.


Mit jedem Atemzug roch sie seine Gegenwart. Es fühlte sich warm an. Und sogar so viel mehr als das. Er war anziehend und strahlte gleichzeitig aus, dass er sie festhalten würde. Vielleicht war es auch nur Wunschdenken. Oder Einbildung.


Emma schmiegte sich trotzdem unbedacht der Hand entgegen, die sich sanft auf ihren Hals gelegt hatte und wollte schon wieder die Augen schließen.


Sich einfach kurz fallen lassen. Nur für einen Moment. Das konnte gar nicht falsch sein...


Doch Cayden hielt sie mit seinem Blick gefangen. Auf eine Art, die Emma noch nie erlebt hatte und unter der sie dahin schmolz, wie Eis in der Sonne.


Sie sah, wie er sich zu ihr hinunter beugte, sie glaubte sogar die Wärme seiner Haut zu spüren, bevor sie sich überhaupt berührten. Und kurz wunderte sie sich, dass da nichts war, was gegen das protestierte, was gleich passieren würde. Im Gegenteil drängte alles in ihr sogar auf Cayden zu, strahlte mit ihrem klopfendem Herzen um die Wette, als sie seine Lippen auf ihren schließlich mehr erahnen als wirklich spüren konnte.


"Ist... nicht so wichtig..."


Emmas Augen fielen ihr nun doch zu und ihre Hände fanden endlich den Ort, wo sie sich festhalten konnten. Bald gab sie ihren eigenen Widerstand auf und kuschelte sich so weit sie konnte in Caydens Arme. 
Sie ließ sich von ihm küssen. Und sie küsste ihn sanft zurück.


Es war... so viel besser.
 

Als ihre Hände tastend an ihm entlang strichen und schließlich etwas fanden, woran sie sich festhalten konnten, verlagerte Cayden seine eigene Haltung ebenfalls.

Zuerst war es nur zögerlich und immer auf der Hut, so wie sich ihre gegenseitigen Küsse anfühlten. Doch schließlich schlossen sich seine Arme ganz um Emmas Körper und zogen sie näher an sich heran.

Ihre Wärme war wie eine streichelnde Liebkosung an seiner Brust und ihre Küsse waren ebenso sanft und vorsichtig, wie sie zu knistern schienen.

Es fühlte sich so gut an. So unglaublich gut.

Mit einem leisen Seufzen des Genusses schob Cayden seine Hand in Emmas Nacken, um seine Lippen etwas deutlicher auf ihre legen und den Kuss intensiver spüren zu können.

Ihr Mund war warm, weich und nachgiebig an seinem und schmeckte so gut, dass-

Cayden erschauderte, als seine Fänge sich langsam aus seinem Zahnfleisch schoben und sich von innen gegen seine Lippen drängten, so wie sein Mund an den von Emma drängte.

Er zögerte. Wusste, dass es klüger wäre, sich zurück zu ziehen und sich wieder zusammen zu nehmen, dennoch stahl er sich noch ein paar weitere Küsse, bis das Risiko – enttarnt zu werden – einfach zu groß wurde.

Dennoch ließ Cayden schließlich nicht ganz von Emma ab. Ganz im Gegenteil, er schmiegte seine Wange an ihren Hals, schlang seine Arme noch deutlicher um sie und hielt sie einfach fest, während der Duft ihres Haars ihm in die Nase strömte.

Er wollte sie gar nicht loslassen. Hatte er doch das Gefühl, sie gerade jetzt festhalten zu müssen. Sie … beschützen zu müssen.

Es ging ihr nicht gut. Dass hatte er nicht vergessen.

Seine Hand streichelte über ihr Haar, die Wirbelsäule hinab und blieb schließlich in ihrem Kreuz kraulend liegen.

"Hast du heute schon etwas Richtiges gegessen?", wollte er sanft und leise wissen. Die anstehende Arbeit war im Augenblick mehr als nur zweitrangig. Emma ging vor.
 

So zögerlich hatte Emma noch nie einen Mann geküsst. Sie war voller Freude, wagte es aber nicht in dem Maße zu zeigen, wie sie es gern getan hätte. Denn wenn sie den Gefühlen voll und ganz nachgegeben hätte, wenn sie sich erlaubt hätte, sehr deutlich das auszudrücken, was sie ihm gern mitteilen wollte, hätte sie sehr viel mehr getan, als sich nur sanft an ihm festzuhalten, während er sie umarmte. 
Denn es war eine wirkliche, echte, warme und vor allem ehrlich wirkende Umarmung.


Das war alles so...

Cayden war so...


Es lief Emma eiskalt und stechend den Rücken hinunter, als sie sein Zögern in jeder Faser ihres Körpers spüren konnte. Sofort war es für sie vorbei mit der kuscheligen Wärme, der sie sich wahrscheinlich schon viel zu leichtgläubig hingegeben hatte. 
Fast so etwas wie Verzweiflung wollte in ihr aufsteigen, die augenblicklich von Erleichterung abgelöst wurde, als Cayden sie nicht losließ. Noch ein paar gestohlene Augenblicke mehr durfte sie sich in seinen Armen wohlfühlen. Durfte vergessen, dass-


"Hast du heute schon etwas Richtiges gegessen?"


Erst jetzt bemerkte sie, dass sie die Augen immer noch geschlossen hatte.


"Nein... Du?"
 

Wie er es sich gedacht hatte.

"Nicht wirklich.", war seine eigene Antwort. Aber das wäre im Grunde egal gewesen, da er ohnehin keinen Hunger hatte, sondern es hier rein um Emma ging. Sie brauchte zumindest einmal am Tag etwas Richtiges im Magen. Diese Snackautomaten in der Firma waren zwar nicht schlecht, aber auf Dauer konnten sie auch nicht gesund sein.

"Hmm…"

Cayden tat überlegend, doch eigentlich brauchte er noch mehr Zeit.

Noch einmal strich er sich mit der Zungenspitze über seine obere Zahnreihe … sie waren immer noch da, auch wenn das Pochen in ihnen sich sehr zurückhielt, so weigerten seine Fänge sich doch hartnäckig, sich wieder zurück zu ziehen.

Seine Hand strich noch einmal über ihren Rücken, ehe er sich zögerlich und unwillig von Emma löste. Er hätte sie die ganze Nacht so halten können. Selbst im Schlaf…

"Dann gehen wir jetzt etwas essen."

Das war keine Bitte, sondern ein Befehl, auch wenn die Strenge davon durch seine Fingerspitzen zerschlagen wurde, die über Emmas Wange strichen.

Cayden lächelte sanft, ohne die Zähne zu zeigen und war dankbar dafür, dass er schon sehr lange die Fähigkeit besaß, zu sprechen, ohne dabei vampirisch auszusehen.

Als er sie schließlich ganz los ließ, war da ein deutliches Verlustgefühl in ihm, das ihn sofort wieder dazu bringen wollte, sie fest zu halten. Doch er hatte – obwohl er wünschte, es wäre anders – nicht das Recht dazu. Also ließ er die Teetassen stehen und holte stattdessen Emmas Mantel.

Soweit er wusste, hatte das Restaurant an der Ecke auch um diese Zeit immer noch geöffnet.
 

"Okay."


Sie nickte und schaffte es dann sogar zu lächeln. Obwohl sie leise Enttäuschung spürte, als er sie schließlich ganz losließ und auch Emma gezwungener Maßen ihre Hände von seinem Hemd lösen musste. Beinahe hätte sie etwas schamhaft die Augen nieder geschlagen, als ihr auffiel, dass sie sich dabei sogar unter sein Jackett gewagt hatte.


"Sehr gerne."


Verunsicherung steckte ihr in den Knochen, als Cayden ihr in ihren Mantel half und sie noch ihre Handtasche holte, um ihm zum Fahrstuhl zu folgen. Gerade weil noch ein paar Leute hinter ihren Computern saßen, brachte es Emma nicht über sich, wirklich vom Fußboden aufzusehen. Irgendwie nagte zu viel Angst an ihr, man könne an ihrer Nasenspitze erkennen, was sie gerade getan hatte. Zwar kam sie sich bestimmt nicht wie eine Verbrecherin vor, aber allein die Möglichkeit, dass sie jemand beobachtet haben könnte, saß Emma unangenehm im Nacken.


Das änderte sich allerdings schon im Aufzug, wo sie wieder absolut allein mit Cayden war und diesen garantiert unbeobachteten Moment dazu nutzte, kurz seine Hand zu nehmen.


Es fühlte sich... bemerkenswert an. Emma schien in einer Seifenblase zu sitzen, die sich in buntesten Regenbogenfarben um sie und ihren Begleiter wölbte. Und selbst als sie ihn wieder loslassen musste, um an der Theke in der Lobby nach draußen zu gehen, brachte das ihre kleine, schillernde Welt nicht zum Platzen. Im Gegenteil warf Emma einen strahlenden Seitenblick auf Cayden, während sie ihm zu dem Restaurant folgte, in dem sie schon einmal zusammen gegessen hatten.


Der gleiche Tisch war zwar nicht frei, aber dafür einer in der Nähe der Fensterfront, von wo aus sie nach draußen sehen konnten, aber nicht direkt auf dem Präsentierteller saßen.


Sobald sie sich ihre Plätze gesucht hatten, sah Emma in die Karte, nahm aber fast gar nichts von dem auf, was ihre Augen lasen, sondern entschied sich einfach für das Nächstbeste. Immerhin hieß das, dass sie sich wieder Cayden widmen konnte, von dem sie noch viel weniger als jemals zuvor, glaubte, dass er wirklich neben ihr saß. Und dass er sie gerade geküsst hatte. Einfach so.
 

Caydens Gefühlswelt war auf eine Art durcheinander, wie er sie – wenn überhaupt – schon sehr lange nicht mehr gespürt hatte. Er fühlte sich irgendwie euphorisch, aufgewühlt mit einer seltsamen Erregung im Bauch. Zugleich war er aber auch vollkommen ruhig und entspannt, fühlte sich wohl in Emmas Nähe und genoss ihre Gesellschaft einfach sehr.

Er sog diese Gefühle förmlich in sich auf, wie ein Schwamm den man viel zu lange im Trockenen gelassen hatte.

Während Emma kurz die Menükarte überflog, beobachtete er sie mit leicht schief gelegtem Kopf. Eine Hand ruhte entspannt auf dem Tisch, mit der anderen stützte er sich auf der Sitzbank ab

Es war so anders, als bei ihrem ersten Mal, wo sie hier gemeinsam gegessen hatten. Diese Anspannung war einfach weg, die damals über ihnen gelegen hatte.

Dieses Gefühl, etwas Falsches getan zu haben und das aus den falschen Gründen, war verblasst. Sie hatten es inzwischen akzeptiert und auch wenn Cayden sich immer noch fragte, was damals wirklich passiert war oder besser gesagt, wie es dazu überhaupt gekommen war, so plagte ihn diese Frage nur noch ab und zu. Ein anderer Teil in ihm fragte sich stattdessen, ob er Emma näher gekommen wäre, wenn die Reise nach Tokyo tatsächlich rein geschäftlich geblieben wäre. Ob er nicht doch seine Fassade aufrecht erhalten und sie jetzt immer noch gesiezt hätte.

Nein, eigentlich war er ganz froh darüber. Vielleicht hätten die Umstände besser sein können, aber das Ergebnis war auf jeden Fall erfreulich.

Cayden konnte und wollte diese Nacht mit ihr nicht bereuen, ebensowenig den Kuss vorhin, der einfach so über ihn gekommen war.

Gott, er hatte sie so vermisst…

Sobald Emma die Menükarte weggelegt hatte, ergriff Cayden nun seinerseits ihre Hand und hielt sie sanft zwischen dem Freiraum auf der Bank fest, den ihre beiden Körper bildeten.

Der Kellner kam, ehe er auch nur ein Wort hatte sagen können und so bestellte er sich kurz einen kleinen Salat, mit extra vielen Kirschtomaten darin.

Soviel dürfte sein appetitloser Zustand noch bewerkstelligen können.

Als der Kellner schließlich abrauschte, um ihre Getränke zu bringen, richtete Cayden seine volle Aufmerksamkeit wieder auf Emma.

Er sah ihr in die Augen, ehe er ein bisschen unsicher lächelnd auf ihre beiden ineinander verschlungenen Hände hinab blickte.

"Ich weiß, das klingt vielleicht etwas seltsam … aber ich habe dich vermisst.", gestand er schließlich und sah wieder in ihre Augen. Seine Unsicherheit war zwar immer noch in Form von knisternder Aufregung in seinem Bauch vorhanden, aber sein Blick zeigte nur Offenheit und auch Ehrlichkeit, so weit er es ihr zeigen konnte.

"Ich meine, wir haben uns zwar jeden Tag gesehen, aber irgendwie war das … einfach nicht das gleiche."

Er seufzte und lachte leise über seine eigenen Worte.

"Das hört sich selbst in meinen Ohren, ziemlich dumm an. Aber was soll ich sagen … so sehe ich das nun einmal. Außer mit dir, hatte ich schon lange keinen solchen Spaß mehr und in den letzten Tagen … ist mir das immer deutlicher bewusst geworden."
 

Emma lächelte verstohlen und folgte kurz Caydens Blick hinunter auf ihre Hände, die schon fast zu perfekt in einander lagen und sich gegenseitig festhielten. Seine Finger waren ungewöhnlich warm und doch kein bisschen feucht, wie es ihre Handflächen leider wurden, als sie zu sehr über die Situation nachdachte, in der sie sich gerade befanden.


Mit heißen Ohren und einem nervösen Flattern im Magen hörte sie Cayden zu, ließ ihn ausreden und sah ihn dann groß an. Es war nicht so leicht, ihm seine Worte zu glauben. Und das, obwohl es Emma genauso ging. Gerade jetzt, da sie ihn so nah bei sich hatte, seine Hand halten durfte und es sich wirklich gemütlich anfühlte, mit ihm hier zu sitzen, fiel ihr auf, wie wenig sie in letzter Zeit mit einander wirklich zu tun gehabt hatten. Und dass sie ihn auch 'vermisst' hatte.


"Das ist... süß von dir, das zu sagen."


Emma lächelte und drückte ein wenig seine Hand. Unter Anderem deshalb, um sich zu vergewissern, dass er sie nicht sofort wieder loslassen würde.


"Und es hört sich gar nicht dumm an. Ich... fühle mich auch sehr wohl mit dir."
 

Cayden schenkte Emma ein strahlendes Lächeln, das erst wieder kleiner wurde, als der Kellner ihre Getränke brachte.

Er hielt ihre Hand immer noch fest, während er an seinem Mangosaft nippte und in seinem Inneren vor Freude Luftsprünge hätte machen können. Wie viele Menschen hatten ihm denn in letzter Zeit gesagt, sie fühlten sich wohl bei ihm? Und bei wie vielen, bedeutete es ihm auch etwas?

Die Antwort war ziemlich einfach und klar definiert. Es war eine Person gewesen und nur weil es Emma war, freute es ihn umso mehr.

"Erzähl mir von deinen Alpträumen. Deshalb schläfst du doch so schlecht, nicht wahr? Immer noch die gleichen?"

Caydens Daumen strich wie von selbst beruhigend über ihren Handrücken, während er sich insgeheim Vorwürfe machte.

Er war schuld an den schlechten Träumen und wenn er irgendetwas deswegen unternehmen könnte, er würde es auf der Stelle tun. Aber vermutlich konnte er nichts tun.
 

Wow...


Emma war so perplex, dass sie kurz gar nicht auf den Kellner reagieren konnte, der einen Orangensaft vor ihr abstellte. Erst als er sich schon grinsend zum Gehen wandte, bedankte sie sich ein bisschen stotternd und konnte immer noch nicht glauben, was gerade passiert war. 
Cayden hatte... sie angestrahlt. Wirklich angestrahlt, wie man es tat, wenn man sich über etwas freute. Oder über jemanden.


Emma grinste wie albern in ihr Saftglas. 
Das hatte er noch nie gemacht. Nicht ihr gegenüber und auch sonst hatte sie ihn nie so derartig lächeln sehen, dass ihr ganz warm davon geworden wäre. Emma fühlte sich einerseits sehr geehrt. Andererseits war es irgendwie ... verdammt sexy.


Deshalb behielt Emma auch immer noch ihr eigenes Grinsen bei, obwohl Cayden ein ganz anderes Thema ansprach und sie damit schließlich noch mehr aus dem Konzept brachte.


"Was?"


Wieder warf sie einen kleinen Kontrollblick auf ihre Finger und war beruhigt, dass Caydens Hand immer noch ihre hielt. Trotzdem versteifte sie sich ein bisschen, bevor sie noch einen Schluck Orangensaft trank und sich dann überlegte, wie genau sie seine Frage beantworten sollte.


"Ja, immer noch der Gleiche. Mal schlimmer, mal weniger schlimm. Aber meistens irgendeine undefinierbare Bestie, die mich verfolgt."


Emma seufzte schwer und schüttelte etwas abgekämpft den Kopf.


"Das ist alles so blöd. Ich würde so gern etwas dagegen tun, aber..."


Sie warf Cayden einen Seitenblick zu und lehnte sich dann in die gepolsterte Bank zurück.
 

"…aber du weißt nicht wie.", beendete Cayden für sie den Satz und sprach somit das aus, was er sich schon gedacht hatte. Er wusste ja selbst nicht, wie man gegen Alpträume ankam. Meistens hatte er keine und wenn, dann waren sie eine einmalige Sache, die selten vorkam. Selbst nach all den Dingen, die er bereits in seinem Leben gesehen hatte, verfolgte ihn das nicht. Vielleicht, weil es nur wenig gab, vor dem er wirklich Angst hatte und das nicht wirklich gruselige Monster waren, die ihn verfolgten. Mit denen würde er kurzen Prozess machen und das wusste er auch instinktiv. Aber Emma…

Gerade jetzt sah sie wirklich erschöpft und viel mehr als nur müde aus. Ausgezehrt, könnte man fast schon sagen und doch schien das alles für sie kein Ende zu nehmen.

Cayden tat es unendlich leid, dass er ihr das angetan hatte. Jetzt, mehr denn je.

"Verzeih mir die Frage, aber gibt es niemanden, der bei dir ist? Ich meine nachts, wenn du aufwachst? Keiner der die Träume verjagt?"

Sein Daumen hatte bei dieser Frage inne gehalten und auch das glückliche Glitzern war aus seinen Augen verschwunden. Er wollte sich gerade nicht vorstellen, wie Emma neben einem anderen Mann schlief. Von ihm gehalten wurde und noch viel mehr als das.

Die Vorstellung alleine daran, wollte die Bestie in ihm wecken, auch wenn die Eifersucht erst jetzt so richtig urplötzlich zugeschlagen hatte.

Beinahe hätte er geknurrt.
 

Wenn sie ihn schon vorher etwas irritiert angeblickt hatte, sah Emma jetzt wohl so aus, als hätte sie einen dummen Scherz nicht verstanden. Ihre Miene blieb irgendwo zwischen einem verunsicherten Lachen und einem fragenden Ausdruck stehen und sie wusste wirklich einen Moment nicht, ob er sie veralbern wollte.


Langsam zog sie ihre Hand ein Stück zurück, sodass sich ihre Finger entwirrten und sie mit den Fingerkuppen über Caydens Handrücken streichen konnte. Ein Bild flackerte kurz vor ihrem inneren Auge auf, bis Emma es mit einem nachdenklichen Lächeln zur Seite schob.


"Willst du mich jetzt ärgern?"


Fragend sah sie wieder zu ihm auf und fand einen Gesichtsausdruck bei Cayden vor, der sie noch mehr verwirrte.


Emma nickte zu seiner anderen Hand hinüber, um sich ein bisschen zu erklären und hob dann ihre eigenen Finger so, dass er sie nackt vor sich sehen konnte.


"Ungebunden. Also nein zu deiner Frage. Niemand, zu dem ich mich nachts flüchten kann."


Ihre Stimme war bei den letzten Worten leiser geworden. Denn Emma war sich nicht sicher, ob es so etwas wie eine versteckte ... Bedeutung oder Bitte enthalten hatte.
 

Emma trug keinen Ring, so wie er. Weshalb er auch nicht angenommen hätte, sie wäre verheiratet. Aber gerade in diesem Zeitalter, hieß ein Ring noch lange nichts. Weder, dass man frei war, noch dass man für den Rest seines Lebens an diesem einen Partner hängen bleiben wollte, der das goldene Gegenstück zu dem eigenen Ring trug.

Cayden schüttelte über seine eigene Unachtsamkeit innerlich den Kopf. Manchmal konnte er wirklich ganz schön dumm sein. Wie zur Hölle noch mal musste das alles auf Emma wirken?

Er fragte sie um mehrere Ecken, ob sie gebunden war, dabei war doch für sie sofort ersichtlich, dass er es war. Mehr oder weniger. Seine geistige Haltung hatte da eindeutig noch ein Wörtchen mitzureden.

"Nein… Nein, tut mir leid, ich wollte dich damit nicht ärgern…"

Cayden zog seine beringte Hand vom Tisch und ließ sie in seinen Schoß sinken. Bevor er noch etwas hinzufügen konnte, kam der Kellner und brachte ihnen das Essen, ehe er sich auch schon wieder mit einem leicht fragenden Ausdruck auf dem Gesicht verzog. Offenbar verwirrten ihn die Stimmungsschwankungen an diesem Tisch.

Cayden wartete, bis der Kellner ganz verschwunden war, ehe er seine Hand von Emma weg zog und damit den Ring an seinem Finger nachdenklich hin und her drehte.

"Vielleicht…", begann er nun vorsichtig, ohne Emma in die Augen zu blicken.

"…fangen wir das alles vollkommen falsch an. Oder ich fange das vollkommen falsch an. Ich weiß auch nicht genau."

Er strich sich über den Nacken. Ein Zeichen von Nervosität bei einem Mann, der nie nervös wirkte. Aber Cayden fiel das Momentan nicht einmal auf, weil er nachdachte.

Schließlich zog Cayden den Ehering von seinem Finger und hielt ihn vor Emma hoch. Er wusste, er ging damit ein verdammt großes Risiko ein, aber er glaubte, dass er bei ihr darauf vertrauen konnte, dass sie nicht gleich zur nächsten Klatschpresse ging.

"Emma … der hier bedeutet nicht das, was du denkst. Er zeigt zwar an, dass ich mit Vanessa verheiratet bin, aber darüber hinaus sagt er nichts darüber aus, wie diese Ehe aufgebaut ist."

Cayden schob sich den Ring wieder zurück auf den Finger, obwohl er das Teil am liebsten einfach weggeworfen hätte.

Er konnte Emma nicht ansehen, während er weiter sprach.

"Ich liebe sie nicht und habe sie auch nie geliebt. Was uns beide verbindet ist ein Vertrag. Nicht mehr und auch nicht weniger. Sie besitzt etwas, das ich brauche und im Gegenzug dafür, bekommt sie etwas von mir, das sie braucht. Ein Deal. Und eine Lüge, für die allgemeine Öffentlichkeit. Aber für mich hat es bis auf den geschäftlichen Teil nicht die geringste Bedeutung und soweit ich das beurteilen kann, für sie auch nicht. Ich weiß allerdings nicht, ob du das verstehen kannst."

Und das Gefühl in seiner Brust, das ihm da das Herz zuschnüren wollte, machte ihm plötzlich doch klar, dass er vor etwas Angst hatte. Nämlich davor, dass er mit dieser Offenbarung, Emma verjagt hatte. Vielleicht gehörte sie nicht zu den Menschen, die das verstehen konnten und ihn deshalb für schlecht oder sonst was hielt.
 

Emma legte den Kopf etwas schräg und versuchte mit ihren Blicken mehr aufzunehmen, als allein das, was sie sehen konnte. Caydens Satz gerade war so unglaublich gewesen, dass Emma nicht ganz sicher war, ob sie sich nicht verhört hatte. Ihr Herz schlug hart in ihrer Brust, weil es ebenfalls nicht genau wusste, was los war. 
Manchmal konnte man doch wirklich sein Gehirn verfluchen, weil es so einen Satz nicht hinnehmen konnte, sondern sofort damit begann, ihn in seine Einzelteile zu zerpflücken.

Hoffnung quoll in Emma hoch, wurde von Zweifeln herunter gedrückt, nur um sich dann wieder zu erheben und neuerdings gestoppt zu werden. Es war ein Hin und Her, das sich in Sekunden abspielte und Emma absolut unsicher zurück ließ.


Und ihr blieb auch keine Zeit, sich zu seinem Kommentar zu äußern, denn Cayden überfuhr sie mit mehr Informationen, als Emma jemals erwartet hätte.


Mit einem flachen Atemzug drückte Emma sich noch mehr in die weiche Lehne der Bank und legte ihre Arme über ihren Bauch. Vor ihr dampfte ihre Tomatensuppe in einer Schale, die Emma aber gerade herzlich wenig interessierte.


Sie starrte eine ganze Weile vor sich hin, in der sie versuchte, Caydens Worte zu sortieren. Und sie auf mögliche Fallen und doppelte Böden zu durchleuchten. Erzählen konnte er ihr viel. Möglicherweise war sie auch nicht die Erste, der er sagte, das mit Vanessa sei nur eine Scheinehe. Aber trotzdem...


"Nein... Nein, ich denke nicht, dass ich das verstehen kann."


Weil sie irgendwie ihre Finger beschäftigen wollte, nahm sie ihren Löffel von der Serviette und drehte ihn zwischen ihren Fingerspitzen hin und her.


"Aber vielleicht muss ich das auch gar nicht."


Sie sah zu Cayden und betrachtete einmal wieder seine ungewöhnlichen Augen, die inzwischen hinter sehr viel schöner geschliffenen Brillengläsern steckten.


"Cayden, es... Was genau hast du gemeint mit: etwas anfangen?"
 

Sie musste es nicht verstehen. So viel gab er vor sich selbst zu. Es reichte ihm schon, wenn sie es akzeptieren konnte oder wenn sie wenigstens nicht gleich aufstand und wegging. Ja, das genügte ihm schon, weshalb er fast erleichtert darüber sein wollte, dass sie blieb. Aber eben nur fast.

Irgendwie schien das alles noch nicht vorüber zu sein.

"Um ehrlich zu sein, ich weiß es selbst nicht genau.", gestand er leise und blickte sie über den Rand seiner Brille hinweg an, rührte sich dabei keinen Millimeter, obwohl er wieder zu gerne ihre Hand ergriffen hätte.

"Ich weiß nur, dass … ich mir mehr Sorgen um dich mache, als normal wäre. Ich weiß, dass du mich meine Arbeit öfter vergessen lässt, als etwas anderes seit mehr als zehn Jahren. Ich … es fühlt sich gut an, dich zu küssen, wenn ich nüchtern bin. So viel besser, als diese Nacht damals…"

Er schloss kurz die Augen und schüttelte ganz sachte den Kopf. Nein, eigentlich wollte er nicht an damals denken.

"Ich weiß nicht genau, was das alles zu bedeuten hat. Aber ich weiß, dass ich bei dir irgendwie loslassen kann. Alles, das ich normalerweise zurückhalten muss."

Und dass er sehr wohl nach Berührungen dieser Art, wie sie sie austauschten, hungerte.

Cayden war kein Einzelgänger, obwohl er so wirkte. Er war ein Familienmensch. Er brauchte Nähe, Intimität und Geborgenheit, wie die Luft zum Atmen.

Lange Durststrecken konnte er zwar ertragen, aber das hieß nicht, dass er es nicht umso mehr zu schätzen wusste, wenn er diese Gefühle wieder geschenkt bekam.

Als er Emma vorhin umarmt hatte, war ihm so richtig warm in der Brust geworden und etwas in ihm war wieder für kurze Zeit aufgeblüht, was sonst im ewigen Winterschlaf verharren musste.

"Was ich eigentlich sagen will, ist, dass ich im Grunde nichts weiß und somit ebenfalls im Dunklen tappe. Aber zumindest will ich, dass du über die Ausgangssituation aufgeklärt bist. Ich bin verheiratet, das ja. Aber im Herzen, im Verstand und in der Seele bin ich niemals an diese Frau gekettet."
 

Emma brachte ein Lächeln zustande. Allerdings ein undurchsichtiges, denn so wie jetzt hatte sie sich eigentlich nicht fühlen wollen. Nicht, nachdem sie in der Teeküche so begonnen hatten. Nicht, nachdem sie sich so wohl gefühlt hatte und vergessen konnte, was er ihr gerade zu erklären versuchte.


Irgendwie wurde ihr Körper immer schwerer und Emma lehnte ihren Kopf erschöpft an die Wand, um kurz die Augen zu schließen. Die einzige Frage, die sich ihr stellte, war die: Was sollte sie bloß tun?


"Das hört sich alles sehr... schön an.", begann sie leise, öffnete aber dabei die Augen nicht.

"Dass du mit positiven Gefühlen an mich denkst, dass du... mich gerne küsst."


Eine Pause trat ein, in der Emma nun doch die Lider wieder öffnete und sich Caydens Anblick stellte, von dem sie geglaubt hatte, er würde ihre innere Mauer einfach einreißen. Und sie hätte ihm in diesem Moment sogar gern dabei geholfen.


"Ich küsse dich auch gern. Ich unterhalte mich gern mit dir. Ich lache gern mit dir und würde dir oft am liebsten die Akten vom Schreibtisch zerren, damit du nicht immer darüber brütest, anstatt dich um dich selbst zu kümmern und es dir gut gehen zu lassen."


Sie lächelte und streckte die Hand nach eben der Hand aus, die Cayden immer noch unter dem Tisch versteckte. Er gab sie ihr nach kurzem Zögern und Emmas Zeigefinger berührte den goldenen Ehering.


"Du bist verheiratet...
Cayden, für mich ist das... ein Problem. Egal, wie du dich in deiner Ehe fühlst, ob du Vanessa liebst oder nicht. Du bist mit ihr verheiratet - zehn Jahre schon. Was bedeutet..."


Nun sah sie weg und zog auch ihre Hand zurück, um sie wieder auf ihren Bauch zu legen.


"Was immer wir da 'anfangen'... so wie es jetzt aussieht, wird es eine Affäre sein. Und dazu hab ich dir schon einmal meine Meinung gesagt. Ich tauge nicht dazu. Ich will es nicht, weil..."


Emmas Augen schimmerten, als sie ihm jetzt direkt ins Gesicht sah.


"Ich kann nicht einfach teilen. Egal, wie es weiter gehen würde, ich hätte immer im Kopf, dass deine Frau... Vorrechte hat. Das kann ich einfach nicht."
 

Als Emma ihren Kopf zurück legte und die Augen schloss, verfluchte er sich selbst innerlich.

Er sollte sie ins Bett stecken und sie nicht auch noch auf den Beinen halten bei einem Essen, das sie noch nicht einmal anrührten. Aber er sagte nichts. Schluckte dieses schlechte Gefühl einfach runter, weil er es verdiente und wartete ab, was Emma zu sagen hatte. Egal wie schwer es ihm fiel, einfach dabei zuzusehen, wie es ihr schlecht ging.

Da drang noch nicht einmal die Freude ganz zu ihm durch, die ihre weiteren Worte auslösten und bestätigten, dass es ihm mit ihr nicht alleine so ging. Doch das Nächste war wohl der schwerste Brocken, den er schlucken musste und eine für ihn komplett neue Erfahrung.

In so einer Lage war er noch nie gewesen.

Bei seinen anderen Ehefrauen war es nie eine Frage gewesen, ob er eine Affäre anfing oder nicht. Entweder es hatte ihn ohnehin zu sehr die Arbeit in Anspruch genommen, oder die Frau hatte ihm zumindest so viel bedeutet, dass sie ihm das gegeben hatte, was er an Zuneigung brauchte. Dadurch war Ehebruch für ihn nie in Frage gekommen.

Eigentlich hielt Cayden sich sogar für ziemlich treu, auch wenn der Begriff bei Ehefrauen wie Vanessa eine war, sehr weit strapaziert werden konnte. Denn wenn nichts vorhanden war, das man auch nur mögen könnte, warum sollte man dieser Person dann die Treue halten?

"Ich verstehe sehr gut, was du meinst.", meinte er schließlich leise und nachdenklich.

"Ich könnte auch nicht einfach teilen." Dennoch tat er es bei Vanessa immer wieder. Aber sie war eine Schlange. Er war ganz froh, wenn sie sich ihren Spaß wo anders abholte.

Wenn er jedoch daran dachte, dass Emma…

Der Gedanke alleine genügte, um sich zu verspannen und … nun ja, den Stich der Eifersucht zu verspüren, mit dem er durchaus vertraut war. Auch wenn sein Verstand ihm immer noch sagen wollte, dass er kein Recht dazu hatte.

"Und ich verstehe, dass du keine Affäre sein willst. Das verstehe ich sogar nur allzu gut. Es ist nur…"

Er holte tief Luft und sah Emma schließlich ehrlich an.

"…der Vertrag, der mich an Vanessa bindet, ist für mich … zurzeit noch sehr wichtig. Ginge es nur um die Ehe, hätte ich schon vor fünf Jahren das Handtuch geworfen, weil sie total… sagen wir einfach, keine leichte Gesellschaft ist, wie du ja leider schon bemerkt hast. Daher kann ich nicht einfach sagen, dass ich mich von ihr Scheiden lasse und du somit keine Affäre wärst. Das geht einfach nicht. Tut mir leid."

Cayden rückte seine Salatgabel auf der Serviette zurecht und versuchte seine Gedanken richtig zu formulieren. Doch er hatte keine Erfahrung in diesen Dingen, er musste also einfach ganz frei aussprechen, was er dachte.

"Ich meine, wir wissen doch noch nicht einmal genau, was das zwischen uns eigentlich ist. Aber das heißt nicht, dass ich nicht herausfinden möchte, was es werden könnte. Denn das würde ich sehr gerne. Es heißt nur, dass ich mich vorerst nicht von Vanessa scheiden lassen kann und das aus geschäftlichen Gründen. Aber wenn dir das mit ihren Vorrechten so wichtig ist … kann ich dir versprechen, dass sie keine hat. Das was alle über uns denken und wie glücklich wir in dieser Ehe sind und das ganze Tamtam rundherum, ist eine Lüge, um die Presse von uns fern zu halten. In Wahrheit schlafe ich öfter alleine in meinem Appartment, als man meinen würde und darüber bin ich ganz froh. Ich will sie gar nicht öfter sehen, als ich es muss."
 

Emma lehnte sich nach vorn, stützte einen Ellenbogen auf den Tisch und legte ihr Kinn auf ihre flache Hand, um Cayden ruhig anzusehen. Im ersten Moment hatte sie wirklich keine Idee, was sie darauf antworten sollte. Ihr Kopf war müde und fing an wehzutun und doch war es ein anderer Teil von Emma, der das hier nicht so einfach zu den Akten legen wollte. Sie wollte so gern wissen, woran sie war. Und doch konnte man alles Mögliche und irgendwie auch Verwirrende aus Caydens Worten lesen.


Zuerst einmal, dass er gern so etwas wie vorhin, wieder mit ihr tun würde. Was Emma ein sanftes, warmes Kribbeln in die Magengegend schickte. Mit einem winzigen Lächeln erinnerte sich wieder an den Kuss - das Verspielte und Vorsichtige daran, das ihr so gut gefallen hatte. Und ihr wurde gleich wieder ein bisschen wärmer, als bisher. 
Aber zugleich sagte Cayden auch klipp und klar, dass er sich nicht scheiden lassen würde. Das versetzte Emma einen dumpfen Schlag in den Magen. Sie schob ihre Suppe von sich und sah dabei zu, wie das Rot zuerst aufwirbelte und sich dann wieder legte, um eine spiegelnde Fläche zu bilden.


"Nein, wissen wir nicht. Aber vielleicht..."
Gott, wie konnten ihr in diesem Moment die Lider so schwer werden? Wie konnte sie nur daran denken, zu gähnen, wenn ihr... wenn so viele Gefühle auf dem Spiel standen?


"Ich... kann mir nicht ansehen, wie du sie küsst."

Das hörte sich fast träge an, aber allein die Vorstellung, wie Vanessa ins Büro gestakst kam, ihre dünnen Arme um seinen Hals schlang und ihre Modellippen auf seinen Mund presste... Jetzt wurde Emma wirklich schlecht. Nein, das könnte sie sich nicht ansehen. Und allein das Wissen, dass Vanessa das tun durfte - es in der Öffentlichkeit tun würde - machte Emma geradezu krank.
 

Ihm entging keine noch so kleine Geste. Wie müde Emma doch schon sein musste und dass das Gespräch eigentlich für heute nicht mehr wirklich sinnvoll war.

Cayden zweifelte nicht daran, dass Emma alles ernst meinte, was sie zu ihm sagte. Denn das war es. Aber es war wohl besser, sie nicht länger wach zu halten, als nötig. Dennoch musste die Entscheidung jetzt fallen. Irgendwie hatte er es im Gefühl, dass es nicht von Vorteil wäre, noch länger damit zu warten.

Cayden rutschte näher und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht, während er sie ernst ansah.

"Emma … wenn wir uns wirklich darauf einlassen… Wenn wir wirklich herauszufinden versuchen, was es sein könnte, dann wird Vanessa in dieser Art und Beziehung für mich keine Rolle mehr spielen. Es ist mir egal, was die Presse dazu sagen wird, oder andere, die sich dafür interessieren. Wenn … wir uns wirklich darauf einlassen, dann wird es für mich nur noch dich geben."

Seine Fingerknöchel streichelten über ihre Wange, während seine Stimme sich zu einem warmen Flüstern herab senkte.

"Wenn du es kannst, dann bitte ich dich, mir in dieser Sache zu vertrauen. Ich werde mich zwar immer noch mit Vanessa wegen des Vertrages treffen müssen. Aber darüber hinaus, hast du mein Wort, dass da nichts sein wird, was dich verletzen könnte. Denn das ist das Letzte, was ich will."

Und er wäre zugleich unendlich erleichtert, wenn er nicht mehr bei dieser Farce von einer Ehe mitspielen müsste. Sie konnten immer noch verheiratet sein und doch nicht wie Eheleute zusammen leben. Das Gesetz machte es möglich, solange keiner von ihnen beiden Einspruch dagegen erhob und sein Hauptwohnsitz immer noch das Haus war, in dem er eigentlich ohnehin nicht lebte.

Die Frage war am Ende nur, ob das Emma momentan genügte. Aber eigentlich wollte er ihr jetzt keine Antwort abringen. Denn sie sah so aus, als würde sie gleich am Tisch einschlafen.

"Du musst dich nicht gleich entscheiden, Emma. Viel lieber würde ich dich jetzt ins Bett stecken und dich schlafen lassen. Du siehst unglaublich müde aus."

Seine Hand berührte sie immer noch. Streichelte über ihre Wange, hinab zu ihrem Nacken, der sich total verspannt anfühlte.
 

Sie gab einen murmelnden Ton von sich und schüttelte leicht den Kopf. Als das allerdings Caydens Streicheln zum Erliegen brachte, erschrak Emma und ihr wurde bewusst, dass er ihre Reaktion auch falsch hätte verstehen können. Sofort kam wieder Leben in ihren Körper und Emma legte so schnell ihre Hand auf seine Seite, dass sie gar nicht wirklich darüber nachdenken konnte.

Ihre Augen weiteten sich ein bisschen, doch dann wurde ihr Blick weich und Emmas Daumen streichelte ganz leicht über den Stoff von Caydens teurem Hemd.


"Ich denke nicht, dass ich schlafen könnte."


Mit einem blassen Lächeln setzte Emma sich wieder auf und nahm sich nun auch noch heraus, sich ein Stück weiter an ihren Begleiter heran zu schieben und endlich ein bisschen zu gähnen. Dabei wurden ihre Augen wässrig und Emmas Blick trübte sich für einen Moment, bevor sie sich wieder fing und diesmal schon breiter lächelte.


"Eins solltest du gleich über mich wissen. Ich bin zwar schrecklich neugierig, aber nicht in dem Maße, dass es unkontrollierte Folgen für mich haben könnte. Cayden..."


Emma nahm vorsichtig seine Hand - diejenige, an der immer noch der Ehering steckte - und streichelte darüber, während sie weitersprach.


"Ich hätte mich gar nicht von dir küssen lassen. Und ich hätte dich gar nicht geküsst, wenn ich es nicht würde versuchen wollen."


Die Stimme in ihr, die sie davor warnte, war ziemlich laut. Aber vielleicht war sie zu müde, vielleicht wollte sie auch zu naiv sein, um auf ihren Verstand und die verletzte Seite zu hören, auf der schon so viele Männer herum getrampelt hatten.
 

Cayden musste lächeln, als er Emmas Gähnen sah.

Sie wehrte sich so deutlich gegen die Müdigkeit, dass es einfach nicht zu übersehen war und ihn zur gleichen Zeit amüsierte und auch seine Sorge verstärkte.

Sanft strich er ihr mit den Fingerspitzen die Kieferpartie nach, streichelte mit seinem Daumen ihr Kinn und sah ihr tief in die Augen.

"Ich bin froh, dass du das sagst. Weil ich nicht wüsste, was ich tun soll, wenn ich dich nicht noch einmal hätte küssen dürfen."

Cayden kam auch Emma entgegen und beugte sich weiter zu ihr hinüber, doch anstatt sie zu küssen, wischte er sanft mit dem Daumen eine Wimper von ihrer Wange und auch ein kleines Bisschen Make-up, das verschmiert war.

Ihre Augen glänzten vor Müdigkeit, sie brauchte also gar nicht erst zu versuchen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.

"Ich hätte da einen Vorschlag.", begann er sanft mit einem beruhigenden Ton in der Stimme, der leicht als Schnurren hätte durchgehen können.

"Wie wäre es, wenn wir es ab heute - ab diesem Zeitpunkt jetzt miteinander versuchen, ohne noch einmal eine Nacht darüber zu schlafen und im Ausgleich für dein Vertrauen verspreche ich dir, dass du heute keine Alpträume haben, sondern endlich einmal durchschlafen wirst. Wäre das in Ordnung für dich? Wenn nicht, rufe ich dir ein Taxi, damit du wenigstens so schnell wie möglich ins Bett kommst." Wenn auch nicht in seines…
 

Emma blinzelte und spürte noch eine ganze Weile die sanfte Berührung auf ihrer Wange. Es war ein bisschen schade gewesen, dass er sie nicht geküsst hatte. Nicht einmal auf die Stelle, an der sein Daumen ihr Gesicht flüchtig gestreift hatte. Aber noch war es vielleicht... ein bisschen früh.

Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass ihr Gehirn eingeschlafen war, ohne dem Rest von ihr vorher Bescheid zu geben. Denn um ganz ehrlich zu sein, verstand Emma nur zum sehr geringen Teil, was Cayden gerade gesagt hatte. Allerdings war das, was zu ihr durchgedrungen war, sehr in ihrem Sinne.


Sie lächelte. An einem anderen Tag wäre es ein glückliches Strahlen geworden, das sich jetzt allerdings auf ihre blitzenden Augen beschränkte.


"Ist gut."


Emmas Lächeln wurde sogar breiter und sie kniff ihn mit ihrer freien Hand ganz sanft in die Seite. Oh ja, sie wollte es versuchen. Sehr gern sogar - jetzt gleich. Und ohne Nachdenken.


"Ich hoffe doch, dass du mich nicht betäuben willst oder so etwas in der Art?"


Der Hinweis mit dem guten Schlaf war ein bisschen zu kompliziert für sie gewesen. Zumindest für heute. Wollte Cayden ihr tatsächlich etwas gegen die schlechten Träume geben? Etwas... Gegenständliches?

Mit schief gelegtem Kopf sah sie ihn an, zwinkerte wieder müde und wartete kurz ab, bevor ein leises Knurren die Situation unterbrach.


Zuerst kapierte Emma auch das nicht, da sich ihre Gedanken wie in Sirup getaucht, verhielten. Aber als das Geräusch sich wiederholte und sie diesmal das Rumpeln auch in ihrem Inneren spüren konnte, schaffte es Emma, sich von Caydens Anblick für eine Sekunde zu lösen und begierig auf die Suppe zu spähen, die immer noch auf dem Tisch stand.


"Ich bin gerade wirklich zu müde, um anständig zu sein, mein Lieber. Was war das denn genau für ein Angebot?"


Sie stibitzte sich ein Stückchen Brot, tunkte es in die nur noch lauwarme Suppe und schob es sich in den Mund, kaute und schluckte hinunter, bevor sie hinzu fügte: "Und lass' das mit dem Taxi gleich mal weg."
 

"Okay. Kein Taxi. Keine einschläfernden Drogen und du bist zu müde, um anständig zu sein. Lass' mich mal überlegen…"

Cayden begann zu grinsen und lehnte sich noch weiter zu Emma hinüber, die endlich zu essen begonnen hatte.

Wenigstens konnte sein Salat nicht kalt werden.

Dicht an ihr Ohr flüsterte er schließlich: "Ich werde heute einmal den Job deines Sandmännchen übernehmen. Bin mal gespannt, wer die bessere Arbeit macht. Und versprochen, ich werde anständig genug für uns beide sein."

Cayden hauchte ihr einen Kuss auf die Schläfe, ehe er sich gerade hinsetzte und nach seiner Gabel griff. Seine Hand lag auf Emmas unterem Rücken, ohne noch weiter nach unten zu tendieren, während er sich eine Kirschtomate in den Mund schob.

Sein Hunger war zwar immer noch nicht wieder gekehrt, aber wie lange würde Emma schon für ihre Suppe brauchen? Und wie lange, bis er sie endlich ins Bett bringen durfte? Vor allem … in seines?

Ohne Taxi wäre eine andere Alternative äußerst schwierig, weshalb er annahm, dass sie damit einverstanden war. Schließlich war es von hier nicht weit zu Fuß. Eben genau so weit, wie ins Büro.

Cayden hatte die Arbeit dabei schon vollkommen vergessen.
 

Die Suppe war wirklich großartig! Emma war sich schon irgendwie im Klaren darüber, dass er vermutlich nicht an der Spitzenqualität, sondern an der Mischung aus Bärenhunger und guter Laune bei ihr lag. Aber das war egal, solange das Endergebnis stimmte.


Nachdem Cayden so lieb erklärt hatte, dass er sie wirklich nur ins Bett bringen wollte und das ausschließlich zum Schlafen, stürzte Emma sich geradezu auf das Essen. Wenn man es recht bedachte, hatte sie den ganzen Tag hauptsächlich von Porridge, Tee und einem Müsliriegel gezehrt. Oh! Und einem Apfel, den Stella ihr gegeben hatte - wegen der Vitamine.

Jetzt fiel der Hunger wie ein wütender Wolf über Emma her und ließ sie die Tomatensuppe so schnell verputzen, dass sie kaum mitbekam, dass die Speise nicht mehr so heiß war, wie sie hätte sein sollen. Naja, so verbrannte sie sich wenigstens nicht die Zunge und der Geschmack war trotzdem gut.


Nachdem auch Cayden aufgegessen hatte, war Emma stolz, dass sie nicht eingeschlafen war. So nah neben einem Mann, bei dem man sich wohl fühlte, seinen Arm ein bisschen um sie gelegt... das konnte schon ganz schön viel Gemütlichkeit ausstrahlen, die Emmas Körper noch mehr nach dem lange vermissten Schlaf und der Erholung gieren ließ, die Cayden versprochen hatte.


Wie er das anstellen wollte, war ihr allerdings immer noch ein Rätsel. Da empfand sie ihre stürmische Begegnung in Tokyo fast schon als etwas Beruhigendes. Denn wenn sie eines daraus schlussfolgern konnte, war es wohl, dass Cayden nicht zu übertriebener Romantik neigte. Er würde ihr keine Gedichte rezitieren oder ihr die Füße durchkneten. Emma hoffte zumindest, dass seine Unterstützung für sie darin bestehen würde, dass er auch ins Bett ging und sie sich an ihn kuscheln konnte.


Oh ja... Allein bei der Vorstellung bezahlte sie voller Schwung ihre Suppe und stand dann auf, um leicht fröstelnd in den Abend hinaus zu treten und zum Bürogebäude hinüber zu gehen.

Immer wieder schüttelte sie ein unterdrücktes Gähnen und Emma war so unendlich dankbar, dass sie nicht mehr bis nach Hause mit dem Bus fahren musste. Sie wollte einfach nur noch in einem Bett liegen, sich in eine große Decke mummeln und schlafen. Tief und fest und... ohne Albträume.


Sobald sie allerdings das Gebäude betraten und die beiden Sicherheitsmänner an der Theke Cayden ein wenig ehrfürchtig grüßten, wurde Emma nervös.

Die beiden hatten sie gesehen. Wenn es sein sollte, würden sich die Männer am nächsten Tag daran erinnern, dass Emma nicht wieder aus dem Büro gekommen war.


Mit einem seltsamen Gefühl im Bauch versuchte sie nicht daran zu denken. Oder sich zumindest kein schlechtes Gewissen selbst einzureden. Stattdessen ging sie zielstrebig auf den Lift zu, den sie immer benutzte, wenn sie ins Büro hinauf fuhr, und überließ Cayden den Rest.

Dass neben dem Knopf für das Penthouse ein Schloss prangte, war ihr schon früher aufgefallen. Aber erst jetzt, als er einen dazu passenden Schlüssel aus der Tasche zog und der Knopf hellblau aufleuchtete, bekam das wirklich eine Bedeutung für Emma.


Gespannt sah sie auf die Anzeige über der Tür und nahm wieder Caydens Hand. Schon ein bisschen seltsam, mit ihm in seine Wohnung zu fahren. Um dort zu übernachten. Ohne... Sachen zum Übernachten dabei zu haben.

27. Kapitel

Als Emma seine Hand ergriff und sie beide alleine mit dem Fahrstuhl nach oben fuhren, musste Cayden zugeben, dass er nervös wurde.

Nicht etwa alleine deshalb, weil sie ihn begleitete – was für sich betrachtet schon ein großes Ereignis war – sondern auch weil sie, von seiner Putzfrau einmal abgesehen, die erste Frau war, die überhaupt seine Wohnung zu Gesicht bekam.

Vanessa hatte ihn zwar immer wieder dazu gedrängt, dass er sie ihr zeigen sollte, doch das hier war sein Reich. Sein Rückzugsgebiet.

Seine 'Frau' hatte hier absolut nichts zu suchen.

Umso froher war Cayden jetzt, dass er Emma in sein ganz persönliches Reich führen konnte, woran keine einzige Erinnerung an Vanessa haftete und sie hier somit die obersten Privilegien besaß, die er ihr nur bieten konnte.

In seinem Apartment war Cayden nicht verheiratet. In seinem Apartment war er die Persönlichkeit, die seinem Wesen noch am ehesten entsprach. Hier konnte er fast er selbst sein und das war ein gutes Gefühl.

Ein sanftes 'Pling' kündigte ihre Ankunft in der obersten Etage an und automatisch schloss sich Caydens Hand noch um eine Spur fester um die von Emma.

Was sie wohl von seinem kleinen Reich halten würde?

Die Fahrstuhltüren glitten lautlos auseinander und noch ehe sie auch nur einen Fuß in sein Apartment gesetzt hatten, ergoss sich der herrlich vertraute Duft von zarten Orchideen, vermischt mit dem Geruch von verschiedenen dunklen Hölzern und natürlichen Ölpolituren über sie.

Es war kein aufdringlicher Duft, der synthetisch hergestellt worden war, um ankommende Gäste zu begrüßen, oder mögliche unangenehme Gerüche zu überdecken, sondern viel mehr das natürliche Ergebnis der in dem Apartment vorkommenden Möbel, Pflanzen und Gegenstände.

Caydens feine Nase nahm auch noch den Duft von nährstoffreicher Humuserde wahr, der ihn an einen feuchten Waldboden erinnerte und mit seiner etwas herben Note zu einem seiner Liebsten Gerüche in dieser Wohnung gehörte. Doch für Emma dürfte der Duft so gut wie nicht wahrnehmbar sein. So wie für alle anderen Menschen auch nicht.

Durch den hell erleuchteten Fahrstuhl sah man nur die ersten paar Meter in den breiten Flur hinein, der viel mehr wie ein großer Raum wirkte, wenn man es nicht besser wusste und sich nun vor ihnen erstreckte, aber gerade das, war ein wunderbares Empfangsbild, wie Cayden immer wieder feststellen konnte.

Direkt vor dem Fahrstuhl lag ein blutroter Teppich, der gerade noch klein genug war, um die Sicht auf den spiegelnd schwarzen Marmorfußboden nicht zu versperren, welcher stets eine angenehme Wärme abstrahlte, da Cayden eine Fußbodenheizung hatte einbauen lassen.

Für gewöhnlich ging er Barfuß durch seine Wohnung.

Links und rechts vom Lift wurden sie bereits von den breit gefächerten Blättern seiner großen Farnpflanzen begrüßt, die in fast riesigen Vasen voll mit schwarzer Erde ihren Platz gefunden hatten.

Daher auch der für ihn so deutlich wahrnehmbare Duft nach Waldbodenerde.

Irgendwo am Ende des Flurs konnte man die Lichter der Stadt blitzen sehen, doch vielleicht sah auch nur Cayden sie.

Ein etwas unsicheres Lächeln schlich sich auf seine Lippen, bis er Emma ansah und sich mit einem Mal absolut sicher war. Er wollte ihr sein Reich zeigen, egal was sie davon hielt.

Also küsste er ihren Handrücken und zog sie dann hinter sich aus dem Fahrstuhl auf den Teppich.

Als sich die Türen hinter ihnen beiden schlossen, war es dunkel um sie herum, weshalb Cayden ein Farnblatt zur Seite strich, um an einen der Lichtschalter zu kommen.

Als er ihn drückte begann der ganze Flur in einem kleinen funkelnden Sternenhimmel zu erstrahlen. Die winzigen weißen LEDs in der Decke machten es möglich, da sie sich in dem auf hochglanzpolierten schwarzen Marmor spiegelten und die Wände in tiefstem Dunkelrot erstrahlten, während die Decke vollkommen schwarz gestrichen worden war.

Am Tag sah alles eine Spur weniger beeindruckend aus, doch da er meistens ohnehin nachts hier zu Gange war, hatte er sich seine kleine Höhle genau nach seinen Bedürfnissen eingerichtet.

Präzise gesetzte Spiegel an den Wänden verstärkten den glitzernden Effekt der winzigen Lämpchen und vergrößerten den breiten Flur auch noch.

Wenn man eine Stufe hinunter gestiegen war, gab es rechts vom Fahrstuhl eine kleine Garderobe, wo Cayden Emmas Mantel auf einem Kleiderbügel aufhängte und auch er seine Schuhe auszog.

Links vom Fahrstuhl ging eine schwarze Tür ab, hinter der ein kleines Bad für mögliche Gäste oder Besucher lag, an das er sie jedoch einfach vorbei, weiter den sich leicht verschmälernden Flur entlang führte.

Er hätte sie bis ganz ans Ende und somit direkt in das riesige Wohnzimmer führen können, von wo aus die Lichter der Stadt nun durch die beeindruckende Fensterfront besser zu sehen waren, doch stattdessen führte er sie nach rechts, direkt in sein Schlafzimmer.

Wenn Emma es wollte, würde er ihr morgen eine ausführliche Führung durch sein Apartment geben, doch vorerst hatte sie oberste Priorität und dass sie endlich zu ihrem wohlverdienten Schlaf kam.

Caydens Schlafzimmer war nicht weniger beeindruckend, als es schon der Flur gewesen war. Überall war alles in dunklen Tönen, wie das bereits bekannte Schwarz und Blutrot gehalten. Auch hier war die Decke finster wie die Nacht, nur durchbrochen von kleinen weißen Lichtern, ebenso wie der riesige Kleiderschrank der sich links von der Tür bis fast zu den Fenstern erstreckte. Selbst das Gestell des großen Futonbettes an der gegenüberliegenden Wand erhob sich kaum von dem dunklen Meer der Einrichtung, doch dafür auf eine ganz andere Weise.

Caydens Bett stand auf einem Podest, ebenso wie die bequeme Couch vor dem breiten Fenster, die von riesigen grünen Topfpflanzen eingekesselt wurde und stets zum Faulherumliegen einlud.

Weiße Schaffellteppiche zu beiden Seiten des Bettes ermöglichten einen bequemen Zugang, und die indirekte Wandbeleuchtung hinter einer verschnörkelten Leiste an der Kopfseite, wies den Weg.

Der Raum an sich war groß. Viel zu viel Platz, wie man vielleicht glauben könnte und doch war er gemütlich, da sich viele kunstvolle Ölgemälde, zusammen mit Samuraischwertern und anderen Klingenwaffen auf nicht überladende Weise mit weiteren Grünpflanzen wie Efeu und Zierweinranken ablösten.

Eigentlich konnte Cayden gar nicht genug Pflanzen in seiner Wohnung haben, weshalb sich auch auf diversen Tischchen und Ablagen weitere tropische Pflanzen tummelten und selbst nahe an seinem Bett beeindruckend gewachsene Ficusbäume standen.

Im Gegensatz zum Flur war der Boden hier nicht aus schwarzem Marmor sondern dunklem, weichen Teppichboden, der den Füßen schmeichelte und vermutlich Caydens Putzfrau in den Wahnsinn trieb, aber für gewöhnlich ging hier niemand mit Schuhen ein und aus.

Wie alles in seinem Apartment vermischte sich auch hier modernes Design und Beleuchtung auf perfekt harmonische Weise mit Altertümlichkeit und Kunstgeschmack und schaffte somit genau den Charakter, dem Cayden tief in sich drin ähnelte.

"Setz dich doch kurz.", meinte er zu Emma und wies auf das Bett, nachdem er sie in die Mitte des Raumes geführt hatte, damit sie sich weiter umsehen konnte, während er zu einem der schwarzgläsernen Türen seines Schrankes ging und sie öffnete.

Er brauchte nicht lange, um ein passendes T-Shirt von sich zu finden, das er Emma für die Nacht geben konnte, da sie selbst natürlich keine Sachen mit hatte. Schließlich hätte an diesem Morgen wohl niemand von ihnen beiden damit gerechnet, dass sie heute Nacht hier schlafen würde.

"Hier, für dich. Zum Schlafen."

Cayden gab Emma das dunkle Baumwollshirt – er hielt nicht viel von Synthetikzeug, schon gar nicht beim Schlafen – und löste schon einmal den Knoten seiner Krawatte, während er sich unauffällig im Raum umsah, ob auch wirklich alles in Ordnung war.

Aber wie immer war alles ordentlich, was nicht nur seiner Putzfrau, sondern auch ihm selbst zu verdanken war, da er nicht besonders viel Mist machte.

Selbst die helle Tagesdecke war perfekt glatt gestrichen und darunter befand sich bestimmt auch frisch überzogene Baumwollbettwäsche, da er kaum mehr als ein paar Mal im gleichen Bettzeug schlief. Er mochte es gerne frisch und nicht muffig. Und schon gar nicht konnte er Seidenlaken ausstehen, da ihm dabei jedes Mal die Bettdecke im Schlaf davon lief und er das ganz und gar nicht bequem fand.

"Ich bin nur ganz schnell im Bad, du kannst dich also ungestört umziehen. Aber wehe du bist eingeschlafen, wenn ich wieder komme."

Cayden schenkte Emma ein warmes Lächeln.

Selbst wenn sie bereits schlafen sollte, wenn er zurück war, wäre das auch kein Problem für ihn gewesen. Aber eine kleine Warnung konnte ja nicht schaden und außerdem wollte er ihr die nötige Privatsphäre geben, um sich umzuziehen.

Nur weil sie einmal miteinander geschlafen hatten, hieß das noch lange nicht, dass sie bereits nackt und ungeniert vor einander herum hüpfen würden. Auch wenn Cayden mit Nacktheit an sich nicht sehr viele Schwierigkeiten hatte, aber Frauen waren da grundsätzlich anders.

Also verschwand er schnell in seinem angrenzenden Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen, sich das Gesicht zu waschen und dann in eine seidene Schlafhose zu schlüpfen.

Bevor er den Raum wieder mit einem heißfeuchten Waschlappen verließ, horchte er noch einmal an der Tür, ob Emma auch wirklich schon mit dem Umziehen fertig war und kam dann zu ihr.

"Hier. Ich dachte, wenn du schon so müde aussiehst, dass du im Stehen einschlafen könntest, wäre es wohl nicht zu viel von mir verlangt, dir noch eine kleine Erfrischung der etwas anderen Art anzubieten. Ich nehme nicht an, dass du gerne mit Make-up schlafen gehst."

Wieder lächelte er und berührte zärtlich Emmas Gesicht mit der einen Hand, während er ihr mit der anderen mit dem warmfeuchten Waschlappen über die Wange strich und ihre Haut zu säubern begann.

Emma wusste es vielleicht nicht, aber auch das war schon Teil seines kleinen Sandmannjobs, den er so gut wie möglich ausfüllen wollte und der ihm zugleich eine unheimliche Freude bereitete.

Sanft strich er ihr auch über die Augen, die Stirn, die Nase, das Kinn, ihre Lippen und den Hals. Er erkundete sie, strich ihre Züge mit seinen Fingerspitzen nach und hatte das Gefühl, ihr dabei immer näher zu kommen, obwohl er körperlich kaum näher gerückt war.

Als ihr Gesicht schließlich von jedem Vertuschungsmittel befreit war, das sie aufgetragen hatte, seufzte er besorgt.

"Ach, Emma…"

Mit dem Daumen strich er die dunklen Ringe unter ihren Augen nach und legte den Waschlappen dann zur Seite, um ihr Gesicht zwischen seine beiden Hände nehmen und die kleine Falte der Erschöpfung zwischen ihren Augenbrauen wegküssen zu können.

Seine Lippen streiften über ihre geschlossenen Augenlieder, ihre Schläfen und die Nasenspitze, doch kurz vor ihrem Mund hielt er noch einmal inne.

"Ich werde mich darum kümmern.", flüsterte er leise. Womit er ihren erschöpften Zustand meinte und ihr deshalb nur einen zärtlichen, besänftigenden Kuss auf die Lippen hauchte.

Ein Versprechen.

"Leg dich ins Bett. Mit dem Bauch nach unten und wag es ja nicht, dich zuzudecken, bis ich wieder komme."

Er grinste gegen ihren Mund, knabberte flüchtig an ihrer Unterlippe und löste sich dann, um den feuchten Waschlappen zurück ins Bad zu bringen.
 

Während sie sich die Bluse aufknöpfte, sah Emma sich nun wirklich einmal im Raum um. 
Bereits als sie das Penthouse durch den Privataufzug betreten hatte, war ihr die Sprache weggeblieben. Was sich bis jetzt nicht geändert hatte. Der ganze Luxus, der hier aus jeder Ecke strahlte, machte sie etwas unsicher. Es war so ein krasser Gegensatz zu ihrem Zuhause, das sie als gemütlich und einladend betrachtete. Was nicht heißen sollte, dass sie sich hier in Caydens Wohnung nicht eingeladen fühlte. Aber Emma fühlte sich ein bisschen so, als dürfe hier nichts berührt werden. Alles war so... teuer. Und es sah wirklich so aus, als gehöre es eher in ein Inneneinrichtungs-Hochglanz-Magazin.

Emma hatte seit dem ersten Schritt in diesen Palast das Gefühl, dass sie hier nicht herein passte. 
Was sie aber vor allem unsicher machte, waren die ganzen Waffen um sie herum, die auch durch die vielen Pflanzen nicht in ihrem aggressiven Eindruck reduziert werden konnten. Ein Schlafzimmer sagte etwas über den Bewohner aus. Vielleicht sogar so viel, wie ein Badezimmer es tat. Und Caydens Schlafzimmer war...

Emma streifte sich die Bluse von den Schultern und griff nach dem T-Shirt, das er ihr gegeben hatte, bevor sie sich ganz umzog.


Irgendwie war dieses Zimmer anders, als Cayden bis jetzt auf sie gewirkt hatte. Auf den ersten Blick wirkte es düster und sogar ein bisschen einschüchternd, mit der Kombination aus Schwarz und dunklem Rot. Etwas Mieses schoss ihr durch den Kopf, das Emma kurz stutzen ließ. Nein, das konnte nicht...

Bloß, um sich zu bestätigen, dass Cayden nicht 'so einer' war, machte sie ein paar Schritte auf das Bett zu und legte den Kopf in den Nacken. Kein Spiegel über dem Bett. 
Emma atmete erleichtert auf.


Sie setzte sich ganz vorsichtig auf die Überdecke, die so aussah, als würde jede halbe Stunde jemand kommen, um sie auf ungewollte Falten zu kontrollieren. Hier lag kein Staubkörnchen herum, keine Fluse wagte es, sich aus den kuscheligen und strahlend weißen Bettvorlegern zu lösen und Emma hätte zu gern ihren Mr. Potatoehead hergebracht, um etwas 'Unordentliches' zur Auflockerung aufzustellen. Zwischen diesen zugegeben wunderschönen Pflanzen auf dem asiatisch anmutenden Tischchen hätte er sich wunderbar gemacht.


Es überraschte sie gar nicht, dass sie kurz zusammen schrak, weil Cayden fast lautlos aus dem Badezimmer gekommen war. So müde, wie sie war, hätte er vermutlich direkt neben ihr stehen können und sie hätte es erst bemerkt, wenn er es darauf anlegte.


Noch immer sagte sie nichts, legte aber ihre Hände auf Caydens Oberschenkel, als er an sie heran trat und sie zu ihm aufsehen musste. Mein Gott, ihm war bestimmt gar nicht klar, wie glücklich er sich schätzen konnte, dass sie ihn mit so etwas an sich heran ließ. Unter anderen Umständen - wäre sie nicht so zerschlagen gewesen, wäre er nicht so... sonderbar wunderbar gewesen - hätte sie ihn vermutlich mit diesem Waschlappen wieder ins Bad geschickt oder ihm das Ding einfach aus der Hand genommen. Emma war doch kein kleines Kind, dem man das Gesicht waschen musste, weil sie es nicht mehr allein ins Bad schaffte!

Noch während sie im Geiste protestierte, spürte sie die Wärme auf den Wangen, das Prickeln, als die Feuchtigkeit auf ihrer Haut zuerst abkühlte und dann langsam trocknete, während Emma mit geschlossenen Augen am liebsten nach vorn gekippt und an Caydens Bauch eingeschlafen wäre.


Irgendwo ganz hinten in ihrem Kopf hörte sie so etwas wie eine besorgte Mahnung, bevor sie etwas viel Besseres davon ablenkte. Seine Lippen an ihrer Stirn, kleine Küsse auf ihrem Gesicht, die noch sanfter wirkten, als das Streicheln seiner Finger.


Es fühlte sich für Emma ungewohnt richtig an, dass er sich um sie kümmern wollte. Sobald Cayden sie losgelassen und etwas von ins Bett legen gesagt hatte, robbte Emma über die Tagesdecke, schob sie umständlich unter ihrem Körper hinunter und brachte dann mit geschlossenen Augen ihre Beine unter die kühle Bettdecke, bevor sie ihre Arme um eines der dicken Kopfkissen schlang und ihren Kopf hinein kuschelte. Sie war schon halb eingeschlafen, bevor sie auch nur zweimal tief durchgeatmet hatte. Allerdings war da doch ein Teil in ihr, der noch nicht ganz entspannen und sich fallen lassen konnte. Es war ein fremdes Bett, in einem fremden Raum und Cayden war auch hier...

"Kommauchinsbett...", nuschelte sie vollkommen unverständlich in das Kissen und seufzte leise. Wach bleiben war so anstrengend.
 

Als er wieder aus dem Bad zurück und nahe ans Bett heran getreten war, blieb er wie gefangen von dem Anblick, der sich ihm bot, stehen, während er ganz deutlich fühlte, wie sich etwas in ihm drin erneut in die bereits eingeschlagene Richtung verschob.

Cayden legte seine Hand auf seine Brust, genau dort wo sein Herz kräftig und schnell schlug und es ihm zugleich immer wärmer wurde.

Emma war so-

"Kommauchinsbett…"

Ihre Worte waren kaum zu verstehen und doch auch nicht misszuverstehen.

Caydens Beine setzten sich noch vor seinem Zutun in Bewegung, so dass er sich noch einmal zurückhalten musste, um die Tagesdecke ganz vom Bett zu ziehen und einfach auf den Boden fallen zu lassen, ehe er auf der anderen Seite des Bettes die Decke zurück schlug und zu Emma auf die Matratze glitt.

Sie schlief schon halb, als er neben ihr zum Liegen kam und sogar etwas zögernd den Arm nach ihr ausstreckte.

Das alles war auch für ihn ungewohnt. Vor allem sie in diesem Bett bei sich zu haben. Es schien mit allem zu brechen, was er sich in den letzten Jahren aufgebaut hatte und doch … vielleicht weil es ihm so ganz und gar nichts ausmachte, war er irgendwie aufgeregt und nervös.

Aber er hatte Emma versprochen, dass es ihr heute Nacht gutgehen würde, also legte seine Hand sich schließlich in ihren Rücken, nachdem er ihr die Decke weiter ihren Körper hinauf und sie ein Stück näher an sich heran gezogen hatte.

Cayden schob sie ihr in den Nacken, den er zuerst sanft streichelte und schließlich mit seinen Fingerspitzen zu massieren begann.

Sie war total verspannt. Eigentlich sollte es sie nicht wundern, dass sie nicht gut schlief, wenn ihr ganzer Körper sich verkrampfte und nicht loslassen konnte.

Also schob Cayden seinen anderen Arm unter Emma hindurch, so dass sie nun wirklich an seiner nackten Brust lag und hielt sie warm fest, während seine Hand die Verspannungen aus ihren Muskeln massierte.

"Schlaf ruhig, Emma. Ich werde da bleiben."

Er flüsterte es leise in ihr Ohr, nicht sicher, ob sie nicht bereits schlief, aber selbst wenn, sie würde ihn auf einer andere Ebene hören können und er hielt sein Wort. Er würde bei ihr bleiben und ihre Träume vertreiben.
 

"Danke."


Emma schaffte es noch zu lächeln, aber die Augen bekam sie beim besten Willen nicht mehr auf. Dafür war es neben Cayden einfach zu gemütlich. Mit einem entspannten, tiefen Atemzug genoss Emma die Finger in ihren Nacken, die sie sanft massierten und sie zusammen mit dem warmen Duft nach Männlichkeit einhüllten, der ihr so gut gefiel. In ihrem müden Hirn machte es noch irgendwie leise pling, woraufhin Emma das Gefühl bekam, irgendetwas, das sie erwartet hätte, fehle. Aber das machte gerade nichts. Ihr Gesicht an seine warme Haut gekuschelt, schlang Emma einen Arm um Caydens Seite, legte sich so gemütlich hin, dass es schon fast unverschämt war und erlaubte sich endlich einzuschlafen.


 

Sie stürzte. Irgendwo in dem dunklen Treppenhaus hatte sie eine Stufe verpasst, war abgerutscht und schlug sich jetzt das Schienbein blutig. Der Schmerz schabte sich durch ihren Körper und spiegelte sich neben der Panik kurz in ihren Augen. Sie musste weiter. Hinter sich konnte sie es schnauben hören. Krallen auf dem PVC des Treppenhauses. Sie musste rennen. Weiter!


Über ihr klaffte der Himmel, unter ihr verschlingende Dunkelheit. Das Treppenhaus ging immer weiter, verengte sich, weitete sich wie eine atmende Lunge, während dieses ... Ding hinter ihr her war. 
Schaben. 
Ein Knurren zerriss die Luft und knabberte sich Emmas Rückgrat hinauf.

Emma rannte einen weiteren Schwung Treppen hinauf. Der Himmel rückte in weite Ferne. Keine Türen, kein Ausweg, sie - wurde im Lauf herum gerissen. Erschrocken blickte sie nach unten, wurde aber von etwas geblendet, das sie an der Hüfte gepackt und sich vor sie geschoben hatte. Genau in die Bahn des Dings. 
Emma konnte Fangzähne blitzen sehen.



Sie riss wie immer die Augen so weit auf, dass es schmerzte. Ihr Atem ging schnell, aber... 
Ein Arm lag um ihre Hüfte. Warm und beschützend. Beinahe hätte Emma angefangen zu lachen. Oder zu weinen. Sie wusste es selbst nicht.
 

Cayden arbeitete sich noch ihre Schultern hinab, bis zu Emmas untersten Lendenwirbeln, während sie schon längst eingeschlafen war und löste sich dann nur kurz von ihr, um das gedämpfte Licht ganz auszumachen.

Praktisch veranlagt wie er war, musste er dafür nicht extra noch einmal aus dem Bett steigen. Was er gerade überhaupt nicht gewollt hätte.

In der Dunkelheit sahen seine Augen sie um so vieles intensiver, als er sie bei Licht hatte sehen können. Es war schwer zu beschreiben, wie man durch die Augen eines Vampirs bei Nacht sah, doch auf jeden Fall war da mehr, als nur Farben und Schärfe. Es hatte Tiefe und zugleich schien jeder Gegenstand im Raum oder eben auch Emma, von einem überirdischen Schimmer umgeben zu sein.

Emma war in seinen Armen wunderschön und Cayden war ihr dankbar dafür, dass sie ihm so viel Zeit schenkte, in der er sich ungestört jeden ihrer Züge einprägen konnte, bis er selbst müde genug war, um schließlich in einen wohligen Schlummer zu fallen.

Wirklich fest schlief er nie, außer sein Körper ließ ihm gar keine andere Wahl, weshalb Cayden schon davon wach wurde, dass Emma in seinen Armen leicht zu zucken begonnen hatte und immer unruhiger wurde.

Dass der Vampir in ihm natürlich auch den Geruch ihrer Angst nur allzu deutlich wittern konnte, trug zusätzlich dazu bei, dass er hellwach war, noch bevor Emma aus ihrem Alptraum hoch schreckte.

Ihre Augen waren weit aufgerissen und obwohl sie sich langsam zu beruhigen schien, weil sie spürte, wie er sie fest hielt, griff er schließlich über sich, um wieder das stark gedimmte Licht anzuschalten, damit sie ihn wenigstens sehen konnte.

Sanft strich er ihr eine feuchte Strähne aus dem Gesicht und stützte sich dabei auf einen Ellenbogen ab.

"Na, welchem Monster, darf ich heute in den Arsch treten, weil es dich vernaschen wollte?"

Seine Stimme war leise, ganz ruhig und nur ein klein wenig rau vom Schlafen.

Er lächelte.
 

Ihre Augen brannten, als er das Licht anschaltete und Emma blinzelte ein paar Mal, bis sich ihre überforderten Augen an die Umgebung gewöhnt hatten und sie Cayden richtig sehen konnte.

Ein bisschen war es ihr peinlich, dass ihm ihr Albtraum aufgefallen war. Hatte sie um sich geschlagen? Oder geschrien? Selbst wenn sie irgendetwas Anderes getan und Cayden damit aufgeweckt hatte, war das keine sonderlich angenehme Vorstellung. Auch wenn Emma wusste, dass sie dafür nichts konnte.


Mit einem unzufriedenen Laut ließ sie sich auf den Rücken sinken und fuhr sich mit beiden Hände übers Gesicht bevor sie ihre Handballen auf ihre Augen presste und noch schlechte gelaunter grummelte.


"Ich wollte dich nicht aufwecken."


Als sie unter ihren Händen hervor spähte, konnte Emma kurz nicht glauben, dass Cayden so aus dem Schlaf gerissen so frisch und munter aussah. 
Wie spät war es eigentlich?


"Tut mir leid."


Sie setzte sich ein Stück auf und suchte nach einer Uhr, konnte aber keine finden. Lediglich der Blick aus dem Fenster zeigte ihr, dass es noch mitten in der Nacht sein musste. Gut möglich, denn sie waren ja auch unglaublich früh ins Bett gegangen.


Emma gähnte so stark, dass ihr Körper durchgeschüttelt wurde und sie anfing zu frieren.


"Es war nicht so schlimm. Nicht so schlimm wie manche andere Male jedenfalls."


Sie sah sich seine Hand an, die wahrscheinlich auf ihrem Rücken gelegen und ihr den Eindruck eines Helfers im Traum vermittelt hatte.


Das war einer, aber bestimmt nicht der einzige Grund dafür, dass Emma sich vorlehnte und Cayden einen kleinen Kuss auf die Lippen drückte, bevor sie sich die Haare etwas ordnete und sich wieder neben ihn legte.


Mit einem weiteren Gähnen kuschelte sie sich an Cayden und sah ihn von unten her an.


"Was hältst du von weiterschlafen? Es ist... keine Ahnung. Hoffentlich noch lange nicht Zeit zum Aufstehen."
 

"Du musst dich nicht entschuldigen. Es macht mir nichts aus."

Cayden meinte es ernst, weshalb er Emma auch die Zeit ließ, um sich wieder zu sammeln, mit dem Geträumten zurecht zu kommen und dann zu beschließen, dass es ruhig wieder in die nächste Runde gehen konnte.

Der kleine Kuss, den sie ihm auf die Lippen gehaucht hatte, beschleunigte seinen Herzschlag kurzfristig, bis er sich auch wieder neben sie ausgestreckt und das Licht ausgeschalten hatte.

Seine Beine umwickelten sich mit denen von Emma und er zog sie wieder in seine Arme, so dass er sie angenehm vertraut, halten konnte.

Er mochte dieses Gefühl gebraucht zu werden, weshalb er regelrecht darin badete, so lange er es konnte.

Mit geschlossenen Augen, die Nase dicht an ihrem Haar, sagte er leise und gedämpft, während seine Hand über ihren Nacken kraulte: "Die Sonne geht erst in ein paar Stunden auf. Es bleibt also noch genug Zeit zum Schlafen."
 

Den Rest der Nacht hatte Emma, soweit er das beurteilen konnte, ruhig geschlafen. Cayden war noch eine ganze Weile wach geblieben und hatte auf ihre Atmung gehört, bis der gleichmäßige Rhythmus ihn selbst einschlafen ließ.

Erst, als die Sonnenblenden automatisch vor Sonnenaufgang beinahe lautlos hinunter fuhren, um ihn vor einem so bösen Erwachen zu retten, wie er es in Tokyo erlebt hatte, wachte er von dem leise summenden Geräusch auf.

Da es noch zu früh zum Aufstehen war, aber auch schon zu spät, um noch eine Runde weiter zu schlafen, blieb Cayden wach und genoss es in vollen Zügen, Emma so dicht an sich gekuschelt zu spüren. Eine ihrer Hände hielt sich an seiner Seite fest, die andere lag deutlich an seiner Brust, die Finger leicht gekrümmt, so als wolle sie sich selbst dort irgendwo fest halten.

Schon seltsam. Sie wirkte nicht wie eine dieser sonnengebräunten Frauen, eigentlich hätte er ihre Hautfarbe als hell und cremig bezeichnet. Doch selbst neben ihr, wirkte er geradezu weiß. Zum Glück nicht kränkelnd weiß, aber sie schien sich ziemlich krass von dem Weiß und Schwarz seines Körpers abzuheben.

Vielleicht schien ihr gerade deshalb sein T-Shirt so unglaublich gut zu stehen. Vielleicht aber auch nur, weil es ihm gehörte und dass sie es trug, etwas aussagte.

Sie gehört zu mir…

Zumindest alles in diesem Moment, schien das auszudrücken.

Caydens Herz raste erfreut in seiner Brust bei diesen Gedanken und in seinem Bauch kribbelte es. Erst recht, als er sich nach einiger Zeit über Emma beugte und seine Lippen ihren Nacken entlang wanderten, um sie sanft zu wecken.

Es wurde Zeit. Zumindest für's Frühstück.
 

Immer wieder war sie nahe daran gewesen aufzuwachen. Wenn sich Cayden ein bisschen bewegt hatte und Emma bewusst geworden war, dass sie nicht allein im Bett lag. Es hatte freudiges Klopfen in ihrem Bauch verursacht, das sie sanft aufwecken wollte, um seine Gegenwart voll und ganz genießen zu können. Aber der Drang nach Ruhe und Erholung war immer noch größer.


Erst als sie spürte, wie er sich bewegte und das intensiver, als es bis dahin der Fall gewesen war, tauchte Emma aus dem Schlaf auf. Sie spürte sanfte Küsse an ihrem Nacken und musste sofort lächeln. Ein Schaudern ging durch ihren Körper und sie zog die Schultern hoch. Das war wirklich schon fast quälend angenehm. Und Emma war ziemlich kitzelig, wenn sie nicht darauf vorbereitet war.


Sie trat die Flucht nach vorn an, drückte sich an Caydens Brust und schlang ihre Arme um ihn, ohne allerdings die Augen aufzuschlagen.


"Guten Morgen."


Oh nein.


Emma rollte sich ein bisschen zusammen, als ihr bewusst wurde, dass sie sich gestern gar nicht mehr die Zähne geputzt hatte. Mit diesem Morgenatem wollte sie Cayden lieber nicht zu nahe kommen. Zumindest nicht so nahe, wie sie-


"Gleich wieder da."


Sie lächelte ihn an, bevor sie sich aus seiner Umarmung riss und im Halbdunkeln ins Bad tappte, wo sie sich kurz frisch machte und sich etwas von Caydens Zahncreme auf den Zeigefinger drückte. Nicht wirklich ein Ersatz für ordentliches Zähneputzen. Aber ein paar Mal mit dem Zahnpastaschaum über die Zähne gerubbelt und dann ausgespült. Es würde hoffentlich gehen.


Als sie wieder ins Schlafzimmer ging, rieselte glückliche Erleichterung durch Emmas Körper. Ihr wurde erst jetzt klar, dass Cayden in der Zwischenzeit genauso gut hätte aufstehen können. Wenn sie es recht bedachte, hätte das sogar sehr viel besser zu ihm gepasst, als so im Bett sitzend auf sie zu warten. Und sie mit einem sehr undurchsichtigen Lächeln zu begrüßen.


Naja, jetzt konnte Emma sich einigermaßen beruhigt zu ihm gesellen und ihm einen anständigen Guten-Morgen-Kuss geben. Da hatte sich der kleine Ausflug doch gelohnt.
 

Als Emma so schnell aus dem Bett war, setzte sich Cayden leicht irritiert auf, da er plötzlich nicht mehr ihre Wärme spüren konnte. Aber sie würde ja wieder kommen und der Anblick, wie sein Shirt ihr nur ganz knapp bis über den Hintern ging, war auch nicht zu verachten gewesen.

Ganz im Gegenteil.

Cayden streckte sich einmal ausgiebig, rollte den Kopf auf den Schultern und strich sich etwas die zerzausten Haare gleich, da sie morgens dazu neigten, nach allen Richtungen abzustehen, als hätte er sich mit einem Tornado frisiert.

Danach drehte er das Licht an. Eigentlich nur, um Rücksicht auf Emma zu nehmen, da er nur schwer einschätzen konnte, wie viel sie in dem Halbdunkeln sehen konnte. Er selbst hätte es ja nicht gebraucht. Aber er wollte auf keinen Fall, dass sie irgendwo drüber stolperte. Schließlich musste man sich auch erst an die Stufe des Podestes gewöhnen, die zu seinem Bett führte.

Als sie aus dem Bad zurück kam, schlug er wieder die Decke beiseite, unter der es schön warm geblieben war und ließ sie darunter kriechen.

In seiner Wohnung war es zwar nicht wirklich kalt, aber er schlief gerne bei gemäßigteren Temperaturen, wenn es schon so etwas wie eine Decke zum Schlafen gab.

Emmas Guten-Morgen-Kuss überraschte ihn vielleicht nur ein bisschen, aber dafür kostete er ihn voll und ganz aus und er erwiderte ihn auch.

Irgendwie war es immer noch seltsam ungewohnt, sie zu küssen, oder lag es vielleicht einfach nur an der Aufregung dabei, die es nicht einfach banal werden ließ?

Ob so oder so, seine Hand schob sich automatisch in ihren Nacken, als er ihren Kuss erwiderte und dabei sanft an ihrer Unterlippe knabberte.

Das Kribbeln in seinem Bauch verstärkte sich, wurde zu einem prickelnden Ansturm, der sich durch seine Adern in seinem ganzen Körper ausbreitete und seinen Herzschlag beschleunigte.

Es war 'nur' ein Kuss und doch … schoben sich plötzlich ungefragt seine Fangzähne in den Vordergrund.

Beinahe hätte Cayden überrascht die Luft eingesogen und sich instinktiv von Emma abgewandt, weil das etwas war, das er vor ihr verbergen musste und doch kam er sich dabei auch wie ein unerfahrener Teenager vor, der seinen Körper noch nicht im Griff hatte und somit bestimmte Reaktionen einfach nicht vermeiden konnte.

Verdammt. Es war zwar nicht so, als wäre er schon allein von einem Kuss ohne Zunge steif geworden. Aber ausgefahrene Fänge ohne Blutlust waren sozusagen ein ähnlich deutlich messbares Indiz auf gewisse Gefühlsregungen, wie es eine Erektion war. Nur, dass die Bandbreite an Reizauslösern noch ein bisschen größer und die Sensibilität noch um einiges Höher war, als bei einem Glied. Doch im Grunde sagte es das gleiche aus.

Und das nicht unter Kontrolle zu haben, war für jeden Vampir ziemlich peinlich. Besonders in den Anfangsjahren, doch umso mehr, umso älter man wurde. Denn eigentlich sollte man es mit der Erfahrung langsam in den Griff bekommen.

Eigentlich. Das war der Punkt.

Cayden war es gestern in der Teeküche schon einmal passiert und er wusste, es würde wieder passieren, wenn die Küsse intensiver wurden. Das war einfach unabdingbar. Aber jetzt schon … das…

Um seine Fänge vor Emma zu verbergen, küsste er ihren Hals und schlich sich an ihr Ohr heran, ehe er ganz gelassen fragte: "Möchtest du etwas frühstücken? Ich könnte uns etwas machen. Pfannkuchen vielleicht?"
 

Emma kicherte leise. An diesem Morgen schien sie wirklich ziemlich empfindlich zu sein. Jedenfalls kitzelten sie Caydens Haare auf ihrer Wange gleichzeitig mit seinem Atem an ihrem Ohr und sie musste sich ein Stück vor ihm zurück ziehen, um nicht laut loszulachen.


Um ihm nicht das Gefühl zu geben, dass er ihr zu nahe getreten war oder sie es nicht mochte, dass er sie so berührte, lächelte sie ihn mit einem Strahlen in den Augen an. Natürlich hätte sie auch sagen können, dass er sie nur gekitzelt hatte, aber das war seinem Gesichtsausdruck nach gar nicht nötig. Er schien auch so nicht geknickt deswegen zu sein. Auch wenn Emma oftmals das Gefühl hatte, ihn schlecht einschätzen zu können. Aber bis jetzt war er immer offen und ehrlich zu ihr gewesen, soweit sie das beurteilen konnte. Und Emma schätzte, dass er es ihr sagen würde, wenn sie ihm auf den Schlips trat oder er eine ihrer Reaktionen als seltsam erachtete.


Es war schon seltsam, dass sie bei Cayden so viele Sachen, die sie normalerweise tat oder sagte, vorher sehr genau bedachte. Emma war es wichtig, was er über sie dachte, was sie für eine Reaktion bei ihm hervor rufen könnte und ob es richtig war, sich in dieser oder jener Weise zu äußern. 
Vielleicht lag die Vorsicht hauptsächlich daran, dass sich Emma nur zu gut bewusst war, wie schwierig ihr Stand trotz allem war. Jetzt wollte sie nicht darüber nachdenken, aber mit Kathy würde sie später darüber reden müssen. Nein, sie wollte darüber reden und eine andere - weibliche - Meinung dazu hören, was er ihr gesagt hatte. Emma wollte wissen, ob sie vollkommen den Verstand und noch so Einiges mehr verloren hatte, sich auf diese Sache mit Cayden einzulassen.


Aber das konnte warten. Auf später.


"Frühstück hört sich gut an. Aber wenn es dir Recht ist, würde ich dir gerne dabei helfen."


Wenn er für sie Frühstück machte, wollte Emma nicht nur unnütz irgendwo herum stehen und ihm dabei zusehen. Darin war sie ohnehin schlecht.
 

Cayden legte den Kopf schief und tat so, als müsste er angestrengt über Emmas Vorschlag nachdenken. Was zwar nicht der Fall war, aber so hatten seine Fänge Zeit, den Fehlalarm als solchen zu erkennen und sich wieder zurück zu ziehen.

"Okay.", meinte er schließlich entschieden und mit einem Lächeln auf den Lippen.

"Ich lasse dich in meine geheiligte Küche, allerdings nur so, wie du gerade bist. Angezogen wird später."

Das Lächeln verschob sich zu einem Grinsen, obwohl er das nicht mit Absicht machte.

Cayden meinte es ernst mit seiner Forderung, denn er würde sich niemals im Anzug Frühstück machen, wenn er sich überhaupt wieder mal eines machte. Eigentlich war das heute nur dank Emma der Fall.

"Ich hole nur schnell meine Brille und dann können wir loslegen."

Geschmeidig wie eine Katze schlüpfte er aus dem Bett und ging lautlos ins Bad, um seine Gläser zu holen, damit seine Netzhaut nicht in anderen Teilen seiner Wohnung gegrillt wurde.

Wieder zurück ergriff er Emma bei der Hand und führte sie aus seinem Schlafzimmer.

Beim Hinausgehen ließ er noch die Sonnenblenden hoch, so dass seine Pflanzen endlich den neuen Tag begrüßen konnten.

Die restliche Wohnung war hell erleuchtet und wo nachts hauptsächlich Eleganz und Glamour vorgeherrscht hatten, wurde nun vor allem ein anderer Aspekt seiner Innengestaltung ersichtlich.

Caydens Leidenschaft altertümliche Dinge zu sammeln, die ihn interessierten. Das konnten ganz verschiedene Dinge sein, wie zum Beispiel chinesische Vasen, kleine Statuen aus Ägypten oder auch noch andere Waffen, die man manchmal nicht einmal als solches erkannte, wie zum Beispiel eine Stabschleuder. Aber vor allem waren es Bücher.

Als Cayden Emma durch den Flur in das riesige Wohnzimmer führte, fiel sofort die große Anzahl an Büchern ins Auge, die in massiven Regalen an den Wände nebeneinander gereiht standen. Die besonders alten Exemplare sogar hinter Glas.

Hauptsächlich diente sein großes Wohnzimmer tatsächlich zum Wohnen. Da gab es eine wuchtige, aber sehr bequeme Ledercouch mit dazu passenden Sesseln, die sich um eine Glasplatte tummelten, die von einem Jaguar aus schwarzem Marmor auf dem Rücken gehalten wurde. Ein riesiges Ölgemälde über dem Kamin, das nur Farben in verschiedenen Rottönen zeigte, bis hin ins Schwarze, aber doch so faszinierend vermischt, dass es eines seiner Lieblingsbilder war.

Cayden hatte es selbst gemalt, dennoch interessierte ihn wenn schon meist der Plasmafernseher, der dahinter versteckt war.

Rechts wurde das Wohnzimmer von einem großen Holzregal abgetrennt, in dem ein wunderschönes Aquarium mit vielen exotischen Fischen eingebaut war und dahinter befand sich sein kleines Privatbüro samt Schreibtisch, an dem sich bereits ein paar Akten stapelten.

Links hinüber um die Ecke ging es in die Küche.

Cayden hatte absichtlich keine Tür direkt vom Flur aus in die Küche einbauen lassen, weil er stets den Weg durchs Wohnzimmer bevorzugte und den Raum besonders mochte, da er nicht so … übertrieben elegant, wie sein Schlafzimmer war, sondern mehr der Gemütlichkeit zusprach.

Natürlich war alles aus hochwertigen Materialien und die vielen Pflanzen machten die dunkle Wandvertäfelung auf alle Fälle freundlicher, aber es war eben ein Raum in dem er gerne seine Gedanken schweifen ließ, Bücher las und vor allem nicht den Platz für körperliche Aktivitäten brauchte, den er sich deshalb im Schlafzimmer frei hielt.

Die Küche selbst wurde von einer kleinen Theke mit Barhockern vom Wohnzimmer abgetrennt, so dass man einen Platz zum Essen hatte, aber ihm auch, wenn nötig, beim Kochen zusehen konnte.

Sie war relativ schlicht gehalten. Ein edles Design mit hellgrauen Fronten und schwarzen Marmorplatten als Arbeitsflächen. Sein Herd war einer der Besten auf den Markt und sein Kühlschrank war eigentlich viel zu groß für einen alleinstehenden Vampir, zudem auch noch gut gefüllt. Aber Cayden frönte dem Genuss, was das Essen anging. Da kam es nicht darauf an, so viel wie möglich zu essen, sondern so viel Auswahl wie möglich zu haben.

"Wie wär's, wenn du schon mal die Zutaten aus dem Kühlschrank holst, die wir brauchen und ich uns um die Kochutensilien kümmere?", schlug Cayden vor, während er bereits einen Schrank öffnete, um eine passende Pfanne hervor zu holen.
 

"Okay, mach ich."


Da es sich lediglich um ein paar Eier und Milch handelte, die sie aus dem Kühlschrank holen musste, würde Emma das auf jeden Fall hinbekommen.


Als sie allerdings die Tür aufzog, sah sie sich so vielen Dingen gegenüber, dass sie erst einmal staunend stehen blieb, obwohl ihr die Kälte aus dem Gerät auf die nackten Füße fiel. Da gab es stapelweise Wurst, Käse, gleich zwei Regalabteile mit Gemüse und Obst, Säfte, Fisch, Milchprodukte... Emma ging näher heran und stupste mit dem Zeigefinger an eine verschweißte Packung, in der irgendetwas in einer halbdurchsichtigen Flüssigkeit schwamm. Die Aufschrift war in einer Asiatischen Sprache, daher wusste Emma nicht, was es war. Sie tippte auf Tofu oder etwas in der Richtung. Vielleicht war es aber auch etwas total Anderes. Ein ganzer Fisch sah ihr aus einer Ecke des Kühlschranks entgegen und Emma fiel sofort auf, dass etwas fehlte. Sie grinste in sich und den Kühlschrank hinein, als ihr klar wurde, dass Cayden beim Anblick des Kühlschranks in der WG wahrscheinlich ohnmächtig geworden wäre.


"Du stehst also nicht auf Lieferservice. Das ist sehr löblich, dass du auch für dich allein etwas kochst."


Endlich zog sie die Eier und die Milch aus der Tür und schloss diese Offenbarung an Lebensmitteln wieder, bevor sie ihre Beute auf die Arbeitsplatte legte und Cayden angrinste.


"Ich kann mich nie dazu durchringen für mich allein etwas zu kochen. Das ist mir immer zu viel Aufwand."


Vielleicht war an seinem Körper - im Gegensatz zu ihrem - deshalb auch kein Gramm Fett zu viel.


Ihr Lächeln wurde klein und Emma zog das Shirt, in dem sie steckte, ein Stück weiter nach unten. Natürlich nützte das nichts. Ihre Oberschenkel, die sie selbst nicht gerade toll fand, konnte sie mit dem Shirt nicht verstecken. Und wenn sie noch weiter an dem Ding zog, würde sie Cayden darauf nur aufmerksam machen.


"Kann ich noch was tun?", fragte sie stattdessen.
 

"Kommt darauf an. Willst du Kaffee oder Tee zu den Pfannkuchen? Kaffee geht schnell von der Maschine, aber Tee wäre hier im Schrank."

Cayden öffnete eine Tür und zeigte somit ein reiches Sortiment an verschiedensten Teesorten und zwar viele davon, die nicht in Beuteln aufbewahrt wurden.

"Der Wasserkocher steht dort hinten und du könntest die Pfanne bewachen."

Da er die Herdplatte schon eingeschalten hatte.

Normalerweise brauchte er nicht besonders lange, um Pfannkuchenteig zuzubereiten. Auch heute, war das nicht anders, weil er sich die Zutaten nahm, die er brauchte, in eine Schüssel tat, ohne irgendetwas abzumessen und dann auch schon den Teig mit dem Rührbesen bearbeitete. Nur musste er es in normal menschlichem Tempo tun. Wenn er unter sich war, ging das alles noch um eine Spur schneller.

"Kakao gebe es natürlich auch noch.", fügte er noch an, weil er sich daran erinnerte, dass es so etwas auch noch gab. Er hatte auch tatsächlich welchen im Haus, aber wirklich mögen, tat er das Pulverzeug nicht. Heiße Schokolade war ihm in solch einem Fall lieber.

"Und ich koche eigentlich auch nie für mich alleine. Das macht irgendwie bei so kleinen Mengen keinen Spaß. Was übrig bleibt, gebe ich in Frischhalteboxen und wenn meine Putzfrau Lust hat, kann sie das Essen mitnehmen. Sie weiß, dass ich es sonst wegwerfe."

Wäre zwar eine ziemliche Verschwendung, aber er aß grundsätzlich nicht das gleiche mehrmals am Tag oder noch schlimmer, mehrere Tage lang.

"So halten wir es auch mit den Lebensmitteln, damit nichts verfällt."

Der Teig war fertig, also machte er sich daran, die Pfannkuchen zuzubereiten.

"Wenn du möchtest, könntest du auch für uns beide den Tisch decken. Unter der Frühstückstheke findest du Platzdeckchen für die Teller und dort drüben in der Schulbade ist Besteck und Servietten. Gläser sind hier."

Während Cayden darauf achtete, keine Pfannkuchen anbrennen zu lassen, räumte er auch schon nebenbei wieder die Lebensmittel weg und machte sauber. Das ging bei ihm schon automatisch einfach so mit.

"Kochst du eigentlich immer in eurer WG oder wechselt sich das ab?", wollte er neugierig wissen. Er konnte sich das irgendwie so gar nicht vorstellen. Er war noch nie in einer WG gewesen.
 

Emma hatte schon 'Kaffee' antworten wollen. Den hatte sie schon ewig nicht mehr getrunken und sie hatte eigentlich Lust darauf. Aber als Cayden ihr seine Teeauswahl zeigte, konnte sie dann noch nicht widerstehen. Kaffee konnte sie auch später noch trinken.

"Ich nehme Tee, danke."

Das war schneller gesagt, als getan. Immerhin musste sie sich zuerst durch sämtliche Sorten lesen und dann auch noch eine davon aussuchen. Emma entschied sich für Apfel-Zimt, weil ihr das zum mal wieder trüben Wetter zu passen schien.


"Welchen möchtest du denn?"


Natürlich fanden sich in Caydens Schränken nur zu einander passende, weiße Tassen, von denen Emma zwei heraus holte und dann Wasser aufsetzte, um den Tee zu machen. Während das Wasser sich erwärmte, deckte sie den Tisch, zog noch Marmelade und Schokoaufstrich aus dem Kühlschrank und beobachtete immer wieder Cayden, der am Herd stand. 
Es war wirklich noch ein überraschendes Gefühl, ihn so halb nackt zu sehen. Nur in einer Schlafanzughose und die Haare nicht perfekt frisiert. Trotzdem gefiel Emma das Gefühl, denn es war irgendwie auch aufregend, gerade weil alles so neu war.


"Das kommt ganz darauf an. Wir haben keinen Plan, wie es manche anderen WGs haben. Es kommt auch vor, dass jeder für sich allein kocht. Aber meistens macht derjenige, der als Erstes zu Hause ist, etwas zu essen und so viel, dass die Anderen noch was davon haben."


Emma zuckte die Achseln und goss den Tee auf, während sie weiter erzählte.


"Oder wir bestellen uns Pizza. Manchmal sind wir auch alle drei zu Hause und keiner kocht. Dann macht sich jeder irgendwas und wir hocken in der Küche oder vor dem Fernseher. Wie es sich eben ergibt."


Sofort biss sie sich auf die Zunge, als sie Cayden spontan fragen wollte, ob er nicht mal zum Abendessen kommen wollte. Nein, nein, nein. Alles immer schön langsam und vorsichtig.
 

Nachdem auch der letzte Pfannkuchen auf dem kleinen Berg gelandet war, der sich bereits auf einem Teller stapelte, schaltete Cayden die Herdplatte aus und stellte die Pfanne zur Seite.

Emma hatte schon an die Beigabe zu den Pfannkuchen gedacht, weshalb er sich eigentlich nur noch mit dem voll beladenen Teller zu ihr zu setzen brauchte.

"Na dann, greif zu."

Er überließ es selbstverständlich ihr, sich zuerst zu nehmen, während er den Teebeutel aus seinem Tee nahm, damit dieser nicht bitter wurde und Zucker dazu gab.

"Hört sich gemütlich an."

Das meinte er ehrlich, auch wenn er nur schwer Vergleiche mit seinem eigenen Leben anstellen konnte. Aber das Zusammensein mehrerer Menschen, die sich mochten, wurde ja nicht umsonst geschätzt.

Cayden probierte einen Pfannkuchen mit Schokoladencreme. Wie immer waren sie genau so, wie er sie mochte. Aber wenn man sie schon so oft gemacht hatte, wie er in seinem Leben, war das kaum ein Kunststück. Vor allem, da er mit seiner Küche sehr vertraut war.

"Und fühlst du dich heute ausgeruhter?", fragte er schließlich, nachdem er bei seinem dritten Pfannkuchen schon langsam zu schwächeln anfing.

"Oder muss ich noch ein bisschen als Sandmann üben?"

Cayden lächelte und gab Emma einen kleinen Stups mit seinem Schenkel. Sie saßen direkt aneinander, weshalb er es gleich noch um einiges gemütlicher fand, mit ihr zu frühstücken. Ein richtiges Highlight und dann erst, wie sie da so nur mit seinem Shirt neben ihm saß…

Er hätte beinahe wohlig geschnurrt und vielleicht auch noch andere Dinge getan, wenn er nicht stattdessen an seinem Tee genippt hätte.
 

Der fluffige Pfannkuchen landete auf Emmas Teller, wurde mit Marmelade bestrichen und schaffte es immerhin bis zur Hälfte in ihren Magen.

'
Oh bitte, nein.'


Der süße Geschmack des Stückchens, das sie gerade kaute, schien ihre Magensäure in Aufruhr zu bringen und Emma schluckte hart, ohne dabei ihren Happen in ihrem Magen verschwinden zu lassen. Erst nachdem sie so ausgiebig darauf herum gekaut hatte, dass sie das Gefühl hatte, ihr Bauch hätte gar nichts mehr damit zu arbeiten, schluckte sie hinunter und wartete.


Den Blick auf ihren Teller gerichtet, hätte sie wirklich heulen können. Es war so lecker! Was sollte das denn nur, mit dieser Übelkeit, die ihr den Hals zuschnürte und sie mit flachen Atemzügen gegen den Brechreiz ankämpfen ließ, der aus dem Nichts zu kommen schien? Sie hatte nichts schlechtes gegessen! Und an den Pfannkuchen war nicht so viel Fett, dass es ihr so auf den Magen schlagen konnte.


Vielleicht wenn sie wirklich ganz langsam aß...


Nach einem kleine Schluck Tee musste Emma sich eingestehen, dass es gar nichts half. Ihr war schlecht und zwar so, dass sie sich den Pfannkuchen aus Höflichkeit hinunter würde zwingen müssen. Und danach würde sie aufgeben. Es wäre einfach zu schade, wenn sie sich das Frühstück, das Cayden extra für sie gemacht hatte, wieder heraus kam.


Oh man, das tat ihr so leid.


Deshalb sah sie ihn umso enthusiastischer an, als er sie nach der Nacht fragte.


"Für einen Anfänger hast du das sehr gut gemacht.", meinte sie mit einem ehrlichen, breiten Lächeln, fügte dann aber mit leiser, verschwörerischer Stimme hinzu: "Aber nur Übung macht den Meister."
 

Bei Emmas Stimme, musste er lächeln.

"Ich hab nichts gegen Übungen. Vor allem, wenn sie viele Wiederholungen haben. Also jederzeit gerne wieder, wenn du möchtest."

Es war eine Einladung, kein Betteln. Obwohl alles in ihm gerne nach noch einer Nacht mit ihr gebettelt hätte. Und zwar einer, in der sie sich aneinander kuscheln und er für Emma da sein konnte. Das hatte sich wahnsinnig gut-

Cayden ließ seine Gabel sinken, als er Emmas unglaublich blasses Gesicht sah, als wäre ihr plötzlich alles Blut aus dem Kopf gewichen.

Sorge schlug in ihm so plötzlich und heftig zu, dass er einen Moment lang nicht einmal atmen konnte. Doch dann ließ er die Gabel ganz los und drehte sich voll zu Emma herum.

"Was ist los?"

Er befühlte ihre Stirn und Wange, horchte auf ihren schnellen Herzschlag.

Bildete er sich das nur ein, oder war sie sogar leicht grün um die Nase?

"Wieder dein Magen?", riet er einfach, weil ihm sonst nicht einfiel, was es sonst sein könnte.
 

Emma erschrak über Caydens heftige Reaktion. Seine Hände wanderten so schnell über ihr Gesicht und er sah so besorgt aus, als könne sie gleich ohnmächtig oder mit etwas Schlimmerem vom Stuhl fallen. Sah man es ihr wirklich so direkt an?


Weil ihr nichts Besseres einfiel, nickte sie nur stumm und streichelte mit ihrem Daumen am Henkel ihrer Teetasse entlang.


"Mir ist ein bisschen schlecht. Aber es ist nicht so schlimm."

Die Lüge war einfach, weil Emma nicht wollte, dass er sich solche Sorgen machte. Jeder konnte sich mal den Magen verderben. Oder sie wurde wirklich einfach krank. Eine recht erholsame Nacht würde ihr angekratztes Immunsystem vermutlich nicht wieder vollkommen aufrichten. Das war reines Wunschdenken und dafür war Emma zu realistisch.


"Nur schade, um die Pfannkuchen."
 

"Mach dir um die keine Gedanken. Die landen in einer Frischhaltebox und sind somit gut versorgt. Aber du solltest wirklich einmal zum Arzt gehen. Einfach nur zur Sicherheit."

Cayden zwang sich zu einem Lächeln. Immer noch besorgt, strich er mit dem Daumen über Emmas Wange, ehe er vom Hocker rutschte und ihren Teller gleich mit nahm. Sie sah nicht so aus, als würde sie noch etwas davon essen können.

"Wenn du willst, kannst du schon mal duschen gehen. Vielleicht hilft das und ich mach derweil die Küche sauber."

Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Bald würden sie im Büro erscheinen müssen, aber es hatte noch Zeit.

"Handtücher liegen bereit und wenn du sonst noch etwas brauchst, sag es einfach, ja?"

Cayden beugte sich über die Theke und hauchte einen Kuss auf Emmas Lippen, ehe er auch den immer noch beachtlichen Berg an Pfannkuchen mit nahm.

"Hast du denn eigentlich schon mit deiner Mutter gesprochen? Wegen des Urlaubs meine ich. Vielleicht täte er dir ganz gut."

Auch wenn sie dann nicht hier wäre und Cayden sich sicher war, dass er sie bereits jetzt vermisste.

Innerlich schüttelte er den Kopf. Diese neuen Gefühlsregungen machten ihn noch ganz verrückt.
 

"Na okay. Dann können wir sie vielleicht mittags essen."


Dass die Pfannkuchen nicht im Müll landen würden, dafür wollte Emma sorgen. Gegen Mittag würde es ihr bestimmt besser gehen und die Pfannkuchen schmeckten auch kalt sehr lecker. Außerdem war es so, dass sie ohne wirkliches Frühstück bestimmt bald Hunger bekommen würde.


"Und ja, ich werde zum Arzt gehen. So langsam wird das wirklich nervig. Vor allem, weil ich wirklich keine Ahnung habe, woher es kommen könnte. Ich esse doch nichts Schlechtes oder mache irgendetwas Ungesundes."


Ja, nervig war wirklich die richtige Bezeichnung dafür. Emma verlor die Geduld mit dieser Übelkeit, für die sie keinen Grund sah. Was bedeutete, dass sie auch nichts ändern konnte, um sich besser zu fühlen.


"Ich fahre nächste Woche zu meiner Mom nach Nelson. Vielleicht gehe ich einfach dort zum Arzt. Diese Woche ist es ja eher schlecht."


Es ergab ein nettes, kleines Geräusch, als sie sich kurz auf die Lippen küssten. Emma hätte noch Lust auf mehr davon gehabt. Aber dazu würde es noch weitere Gelegenheiten geben. Etwas, auf das sie sich immer wieder freuen konnte - und würde.


"Danke, dann hüpfe ich mal unter die Dusche. Ist ja bald Zeit."


Damit huschte sie durch das Wohnzimmer zurück in Caydens Schlafzimmer und packte ihre Sachen ins Bad, um zu duschen und sich anzuziehen. Da sie ihre Bluse zumindest über die Lehne des Sofas gehängt hatte, würde es hoffentlich nicht zu stark auffallen, dass sie die gleichen Sachen heute noch einmal trug.

28. Kapitel

Es tat sich etwas in seiner sonst so starren Routine. Das merkte Cayden immer mehr, je öfter er von seiner Arbeit hoch und zur Tür hinüber sah. Lediglich in Meetings konnte er sich das verkneifen, aber das hieß nicht, dass er nicht daran dachte, wie nur eine Tür ihn von Emma trennte.

Der Gedanke war ebenso tröstlich wie aufregend und brachte ihn zugleich doch in so verdammt große Schwierigkeiten.

Es war nicht nur die Tatsache, dass er sie nicht einfach vor allen Kollegen duzen konnte, obwohl er es gerne wollte, sondern auch die anderen kleinen Dinge, die ihm zu Denken aufgaben.

Emma war keine Affäre und doch konnte er nicht so offen mit ihr umgehen, wie in einer normalen Beziehung, wobei das hier so ganz anders als eine klassische Beziehung war.

Natürlich würde es sich bestimmt noch mehr nach so einer anfühlen, wenn sie Zeit gehabt hatten, sich näher und besser kennen zu lernen. Aber zu Caydens tiefstem Bedauern, gab es noch ein paar Dinge mehr, die ihnen im Weg standen.

Eines dieser 'Probleme' stellte sich meist ziemlich rasch ein, wenn sich ihre Küsse nur um eine Spur intensivierten oder länger und tiefer wurden.

Er konnte sich noch so sehr am Riemen reißen, seine Fänge wollten ihm nicht gehorchen, zumal er sich gar nicht vor Emma sperren wollte. Ganz im Gegenteil.

Aber ihr einfach zu sagen, dass er ein Vampir war, das könnte ein noch schlimmerer Schlag sein, als einer Frau zu sagen, man spiele doch für die andere Mannschaft. Außerdem war es kein kleines Geheimnis, das er und seine Artgenossen da hüteten.

Man achtete als Vampir streng genau darauf, wer diese Information erfuhr und was man am Ende dazu bereit war, zu tun, sollte jemand dieses Vertrauen missbrauchen.

Demnach hatte er sogar eine gewisse Scheu davor, auch nur daran zu denken, sich Emma zu offenbaren. Zudem konnte ihm niemand garantieren, dass sie ihn dann nicht einfach … nun ja, als Monster oder Freak oder sonst etwas gleichartig Schlimmes abstempelte und ihn nie wieder sehen wollte oder gar an die Polizei verriet.

Es war einfach ein Risiko, zu dem er noch nicht bereit war, es einzugehen. Vanessa war da etwas anderes gewesen. Da war seine vampirische Seite sogar zu so eine Art Lockmittel für sie geworden. Aber das war natürlich nicht die Grundbasis, die er für Emma und sich wollte und hatte. Darum würde das mit seinen Fängen noch ein ganz schönes Hindernis werden.

Doch an diesem Abend fiel es Cayden schwer, ständig an dieses Problem zu denken. Emma saß mit ihm gemütlich auf der Couch. Das Abendessen hatte ihr dieses Mal keine Probleme bereitet und sie klärte ihn gerade über die DVDs auf, die sie von sich Zuhause mit gebracht hatte.

Cayden hatte sich schon lange keinen Film mehr angesehen, war aber trotzdem nicht zu sehr davon gebannt, um Emma ganz zu vergessen. Nein, eigentlich zog er sie nahe an sich heran, um ihr wieder den Nacken und die Schulterpartien massieren zu können. Die Frau schien nur aus einer einzigen Anspannung zu bestehen. Vielleicht verlangte er ihr wirklich zu viel an Arbeit ab.

Höchstens beim Pottcarrennen, wo es wild und brutal durch die Wüste ging, hielten seine Finger inne, als er sich total auf den Film konzentrierte. Er liebte diesen technischen Schnickschnack, auch wenn es nur Computeranimationen waren.
 

Hi ihr Lieben! 
Bin heute Nacht wieder außer Haus. Macht euch keine Sorgen, dort gibt es ein warmes Bett und garantiert auch Porridge. 
Wir sehen uns Morgen Abend.
xox Emma

Emma hatte einen ihrer bunten Zettel mit den süßen japanischen Maskottchen auf den Küchentisch gelegt und eine Nachricht darauf geschrieben, die weitere besorgte Sms verhindern sollte. Es war wirklich süß, aber auch ein bisschen erschreckend gewesen, als Kathy und Rob ihr unabhängig von einander eine Nachricht zukommen ließen, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Als hätte Emma noch nie eine Nacht außerhalb ihres eigenen Bettes verbracht. Aber dazu musste man sagen, dass das wirklich nicht mehr vorgekommen war, seit sie in der WG wohnte.


PS: Habe Star Wars I und II mitgenommen.

Die beiden DVDs, Waschzeug, Klamotten zum Wechseln und einen Schlafanzug im Gepäck lief sie nun wieder auf das Gebäude der C&C zu. Den beiden Männern vom Wachpersonal schenkte sie ein schüchternes Lächeln und ignorierte die Frage, ob sie etwas vergessen habe. 
So zu tun, als hätte sie es nicht gehört, war zwar irgendwie doof, aber die Alternative gefiel ihr noch weniger. Was hätte sie denn sagen sollen? Dass sie heute bei Mr. Calmaro übernachtete? Das wäre vermutlich nicht so gut angekommen. Oder so gut, dass sie am nächsten Tag würden keinen Schritt mehr ins Büro setzen können, ohne von neugierigen Blicken durchbohrt zu werden.


Emma klingelte im Penthouse und keine zwei Minuten später setzte sich der Fahrstuhl nach oben in Bewegung. Cayden empfing sie in dem Gang voller glitzernder Sterne und Emma schlang die Arme beim Begrüßungskuss so fest um ihn, dass sie beinahe die Tasche mit ihren ganzen Sachen hätte fallen lassen. Sie strahlte von einem Ohr zum anderen und das änderte sich weder beim Abendessen, noch als Cayden ihr gestand, dass er Star Wars nicht kannte. Dem musste natürlich sofort abgeholfen werden und so, wie es sich anging, schien Emma die richtige Wahl getroffen zu haben, was das Filmprogramm anging.


"Die X-Wings sind noch cooler.", raunte sie Cayden zu, als er sichtlich fasziniert von den Pottcars auf den Bildschirm sah. Mit einem warmen Gefühl im Bauch und flatterndem Herzen drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange. Ihr Herz hüpfte sogar einmal, als er ihr anschließend ein Lächeln schenkte, das Emma jederzeit würde schmelzen lassen.
 

"Tatsächlich? Ich finde ja schon die glaubhafte Computeranimation hervorragend. Da muss man nichts mehr rein der Fantasie überlassen."

Cayden schlang seine Arme um Emma und zog sie wieder ganz an seine Brust. Nach Feierabend hatte er natürlich den Anzug mit einem T-Shirt und Jogginghosen gewechselt, die es ihm nun bequem ermöglichten, mit Emma auf der Couch zu kuscheln.

Anfangs hatte er noch gedacht, er hätte schon alles vergessen und andere Zeiten waren nun einmal andere Zeiten. Aber eigentlich war es wie das altbekannte Fahrradfahren. Man verlernte es nie wirklich.

Da Cayden niemand war, der ständig in Filme quatschte, sondern diese erst auf sich wirken ließ und dann darüber sprach, war es relativ still zwischen ihnen beiden, doch das lag nicht unbedingt nur an dem Film.

Schon kurz vor dem Abspann, hatte Cayden dazu über gewechselt, seine Wange an der von Emma zu schmiegen und da die Druidenarmee vorübergehend zurück geschlagen worden war, würde man es ihm wohl kaum übel nehmen, wenn er sich nicht mehr allzu sehr auf den Film konzentrierte. Lieber sog er den herrlichen Duft von Emmas Haut ein, der so unglaublich gut war, dass er ständig seine Nase darauf hätte drücken können.

Vielleicht lag es auch an seinem merklich anwachsenden Durst, dass er sie so besonders intensiv wahrnahm. Aber es war leicht zu ignorieren.

Der Abspann wurde eingeleitet und sein Anschmiegen wurde zu einem sanften Küssen.

"Eigentlich hast du mich so auf den Geschmack gebracht, dass ich mir sofort den nächsten Teil anschauen könnte. Aber ich muss noch meinen Sandmannjob üben. Besonders, da wir morgen wieder arbeiten müssen. Darf ich dich also ins Bett bringen?"
 

So unglaublich es auch war, aber heute würde sie nur einen Teil der Saga schaffen, ohne vor dem Ende einzuschlafen. Schon als die beiden Armeen auf einander zu rasten und bunte Laserstrahlen über den Bildschirm flimmerten hatte Emma immer die Augen länger geschlossen, als unbedingt nötig und sich so bequem an Cayden gekuschelt, dass sie auch gut hätte so auf der Couch einschlafen können.


Allerdings weckte sie seine sanfte Zuwendung dann doch wieder auf und Emma drehte ihren Kopf so, dass seine Küsse statt ihrem Hals und ihrem Nacken ihre Lippen trafen. Mit genussvoll geschlossenen Augen drehte sie sich in seinen Armen ein ganzes Stück herum und küsste ihn sanft, aber länger als bisher, anstatt direkt auf seine Frage zu antworten. 
Es war einfach so schön, ihn zu küssen. Immer wieder absolut unwirklich, wenn sie die Augen öffnete und wirklich Cayden vor sich sah. Aber umso schöner, wenn sie es dann doch glaubte und seine Lippen auf ihren so richtig genießen konnte. In ruhigen Momenten wie jetzt - die durch die seltsame Situation, in der sie steckten - recht selten zu sein schienen, konnte Emma es eher glauben. Dann freute sie sich einfach daran, ihre Arme um ihn zu schlingen, ihn zu küssen und Zeit dafür zu haben, ein bisschen an seiner Oberlippe zu knabbern, ihre Nasenspitze an seine zu stupsen und so gemütlich zu sein, wie jetzt.


"Gleich. Nur... keine Hektik."

Sie lächelte in den nächsten Kuss.
 

Cayden hätte eigentlich damit gerechnet, dass Emma schon halb schlief, so still und bewegungslos wie sie während des letzten Abschnitts des Filmes gewesen war. Doch offenbar hatte er sich da geirrt. Gerade schienen neue Lebensgeister sie wieder zu erfüllen.

Und was für welche!

Er schenkte ihr ein wohliges Schnurren als Antwort auf ihren langen, sanften Kuss und erwiderte diesen dann genussvoll in vollen Zügen.

Caydens Hände schmiegten sich an Emmas Seiten, strichen über ihren Rücken und blieben dann eng um sie geschlungen liegen.

Auf keinen Fall würde jetzt hier auch nur irgendjemand irgendwohin gehen.

"Hektik? Was ist das?", fragte er flüsternd ihre Lippen, während die seinen sie spielerisch umschwärmten. Er konnte einfach nicht seinen Mund von ihrem lassen. Denn Emma zu küssen, war einfach so unglaublich gut.

Es prickelte und knisterte. Es brachte schier sein Herz zum Durchdrehen und vielleicht auch manchmal ein bisschen seinen Verstand.

Und es…

Cayden erschauderte, als sich seine Fänge mit einem sanften Pulsieren hervor wagten, so sehr er es auch immer noch zu unterdrücken versuchte. Diese Reaktion war so instinktiv und natürlich für ihn, dass sein Verstand dem einfach nicht gewachsen war. Leider. Denn es verkomplizierte immer wieder alles.

Doch im Moment ließ sich Cayden nicht davon abbringen, Emma auch weiterhin zu küssen, auch wenn er sich mit dem Knabbern stark zurück halten musste. Dafür aber, erwiderte er ab und zu das sanfte Stupsen ihrer Nase, rieb seine Wange an ihrer, küsste ihr Kinn hinab bis zum Ansatz ihres Halses und wieder zurück, direkt zu ihren Lippen.

Als dann auch noch seine Hände streichelnd über ihren Körper wanderten, vergaß er das Problem mit seinen Fängen fast ganz.

Denn zumindest so gut er konnte, ließ er sich dabei in die von Emma ausgelösten Gefühle fallen und die waren wirklich richtig gut.
 

"Hm... wenn du es nicht weißt, dann... bringe ich es dir... am besten gar nicht erst bei."


Emma grinste neckend und drückte Cayden einen spielerischen Kuss auf die Lippen, bevor sie sich noch gemütlicher auf ihm ausstreckte und ihren Arm auf der einen Seite um ihn schlang. Mit dem anderen stützte sie sich ein bisschen auf seiner breiten Brust ab, obwohl das eigentlich kaum nötig war. Immerhin lag sie sehr gemütlich auf ihm und die Haltung beim Küssen war nicht gerade anstrengend.


Wäre da nicht die Müdigkeit, die unter ihren halb gesenkten Lidern brannte, Emma hätte gedacht, ihr Puls könnte sich jeden Moment überschlagen.

Nach einer Weile schien es in ihrer Blutbahn so stark zu prickeln, dass Emma das Bedürfnis hatte, zu lachen. Obwohl gar nichts passiert war, was sie dazu veranlasst hätte.


Ob sich so wirkliches Glücklichsein anfühlte? Emma traute sich einfach noch nicht, daran zu glauben. Dafür hatte man ihr zu oft schon genau in dem Moment wehgetan, in dem sie am wenigsten damit gerechnet hatte - in Momenten, in denen sie sich endlich in das Gefühl ergeben hatte, glücklich zu sein.


Emma schlug die Augen auf und suchte Caydens Blick, bevor sie ihn diesmal wieder lang und vorsichtig küsste und dabei ihr ganzes Gesicht strahlte. Ihre Augen glitzerten und wieder war da das Kitzeln in ihrem Bauch, das sie so schwer einschätzen konnte. Aber für jetzt nahm sie es hin und genoss es sogar, während sie darauf wartete, ob Cayden von Küssen zu Knutschen übergehen wollte oder ob es für heute bei dieser harmlosen, aber sehr schönen Annäherung bleiben würde. Emma wäre beides recht gewesen.
 

Oh, Gott. Er hätte das stundenlang tun können.

Das Gefühl, wie sich Emma auf ihm ausstreckte, wie ihr Körper köstlich auf seinem lag, genau so, wie er es mochte, das war einfach so … unbeschreiblich.

Er spürte es regelrecht, als sie seinen Blick suchte und er schließlich ebenfalls seine Augen öffnete, um Emma ansehen zu können.

Ihre Augen funkelten in den wunderschönsten Brauntönen und ihre Wangen waren sanft gerötet. Es verschlug ihm tatsächlich leicht den Atem.

Erst als sie ihn sanft küsste, fiel ihm wieder ein, wie das ging und erleichterte seine Erwiderung natürlich enorm.

Ziemlich schnell, fielen ihm wieder die Augen zu, um die Liebkosungen besser fühlen zu können und noch eine ganze Weile damit fortzufahren.

Solange er seine Reißzähne sicher hinter seinen Lippen verwahrte, musste er sich nicht zurücknehmen und konnte sich fallen lassen. Doch je länger seine Hände über Emma streichelten und ihre Lippen immer wieder miteinander verschmolzen und je mehr sich das Knistern in ihm ausbreitete, umso deutlicher wurde das Pochen in seinen Fängen und umso größer die Versuchung, sich noch weiter zu öffnen.

Als Cayden sich schließlich dabei erwischte, wie seine Zungenspitze über Emmas Unterlippe glitt und er dabei natürlich deutlich seine vampirische Seite an den Seiten seiner Zunge spüren konnte, beschloss er schweren Herzens, es für heute gut sein zu lassen. Weiter konnte er momentan einfach noch nicht gehen. Zumindest nicht, ohne in ernsthafte Schwierigkeiten zu geraten.

Also zog er seinen Kopf etwas zurück und streichelte über Emmas Wange, während er sie ansah. Er wollte etwas sagen, küsste sie dann aber erneut und dieses Mal eine Spur intensiver, als zuvor.

"Wir sollten ins Bett gehen.", murmelte er an ihren Mund und küsste sie noch einmal.

"Es ist schon … spät."

Nein, eigentlich wollte er nicht.

"Der Sandmann bekommt sonst Ärger."

Egal. Er lebte gern gefährlich. Nur noch einmal…

Cayden seufzte an Emmas Hals, während er sie fest hielt und versuchte, sich zusammen zu reißen. Was gerade gar nicht so einfach war. Ganz und gar nicht einfach.

"Okay, aber jetzt."

Er drückte noch einmal seine Lippen gegen Emmas warmen Hals, ehe er mit ihr zusammen in einer einzigen flüssigen Bewegung aufstand und sie sanft an sich gedrückt ins Schlafzimmer trug, um sie auf dem Bett abzusetzen und gleich noch einmal zu küssen. Er konnte einfach nicht damit aufhören.
 

Als er ihre Wange streichelte, war das ein Zeichen für Emma, dass es für heute genug war. Die letzten seiner Küsse waren bereits zurückhaltender geworden, obwohl man hätte glauben können, das sanfte Streicheln seiner Zunge bedeutete das Gegenteil.

Emma war Cayden bestimmt nicht böse. Sie fand es sogar sehr süß, wie er sie nach seiner getroffenen Entscheidung immer wieder küsste. Es war für sie nicht zu übersehen, dass er es gern tat und wirklich nur aus vernünftigen Gründen den Rückzug ins Bett antrat. Und das hieß ja noch lange nicht, dass sie dort nicht noch ein bisschen küssen, schmusen und kuscheln würden.


Über seinen Kommentar mit dem Sandmann musste sie grinsen, machte sich aber daran aufzustehen. Dann gingen sie eben ins Bett. Das war nur eine kleine Pause - so zu sagen.


Emma zuckte zusammen und ihre erste Reaktion, als er sie hochhob, war, wieder mit den Füßen auf den Boden zu kommen. Man hob sie doch nicht einfach so hoch! Sie war ihm doch viel zu schwer, er würde-


Bevor sie ihren Gedankengang beenden konnte, saß Emma schon wohlbehalten auf dem Bett und auch jeglicher Kommentar wurde von Cayden mit einem Kuss versiegelt. Na gut, dann... konnte er sie wohl doch hochheben.


In einem Anflug von Albernheit kniff sie ihm in die Seiten und küsste ihn neckend auf die Nasenspitze.


"Wir sind fast im Bett. Ist der Sandmann jetzt zufrieden?"
 

Leise lachend wich Cayden den Angriffen auf seine empfindlichen Seiten aus und sprang fast einen Schritt zurück.

Mit verschränkten Armen, glitzernden Augen und einem zahnlosen Grinsen auf den Lippen richtete er sich ganz auf und sah auf Emma herab.

"Nein, der Sandmann ist ganz und gar nicht zufrieden. Er hat noch nicht die passenden Klamotten für den Job an und auch du hast ein striktes Jeans und Pulli Verbot im Bett. Also Abmarsch ins Bad und wehe du kommst nicht mit etwas Passendem wieder heraus. Sonst gibt’s keine Belohnung vom Sandmann."

Nur kurz konnte Cayden sich eine fast ernste Miene bewahren, ehe er wirklich lachend den Kopf schüttelte und zu seinem Kleiderschrank hinüber ging. Er hatte schon lange nicht mehr einfach so herum gewitzelt, dabei machte es tierischen Spaß.
 

Während Emma im Bad war, hatte er sich schnell seine Schlafhose angezogen und sich im anderen Badezimmer die Zähne geputzt. Das alles absichtlich so schnell, dass er bereits im Bett liegen und auf Emma warten konnte, als auch sie mit allem fertig war.

Die Bettdecke war einladend zur Seite geschlagen und Cayden hatte es sich bereits auf der Seite liegend in den Kissen bequem gemacht. Als Emma aus dem Badezimmer kam, klopfte er auf die freie, viel zu kühle Stelle neben sich und setzte einen – wie er glaubte – mehr als einladenden Blick auf, der ein bisschen mehr als lediglich eine Gutenachtgeschichte versprach.
 

Emma blieb kurz, aber deutlich, wie angewurzelt in der Badezimmertür stehen. Ihr Gesichtsausdruck wechselte ungefähr dreimal in schneller Folge, bis sie anfing haltlos zu grinsen und langsam auf das Bett zuging.


Cayden hatte wirklich für eine Sekunde so ausgesehen, als würde er versuchen einen Latino-Macho raushängen zu lassen. Etwas, das genauso wenig zu ihm passte, wie es überzeugend wirkte. Emmas Meinung nach wirkte Cayden sexy. Wenn nicht sogar smexy, was zwischen ihr und Kathy eine Bezeichnung für 'zum Anbeißen und gleichzeitig selbst dahinschmelzen' bedeutete. Aber seinen Charme machte eben auch dieses leicht Unnahbare aus. Er wirkte dadurch anziehend, dass er gar nicht versuchte, so rüberzukommen. 
Daher hatte sie der Schlafzimmer-Wolf-Blick von eben etwas verwirrt und Emma wusste auch jetzt noch nicht genau, ob er ihn ernst oder im Scherz gemeint hatte. 
Jedenfalls hatte er ihn nicht nötig. Sie kam auch gern einfach so zu ihm ins Bett, schlüpfte schnell unter die Decke und drückte ihm einen begeisterten Kuss auf die Lippen, bevor er auch nur irgendetwas sagen konnte.
 

Er musste auch gar nichts sagen. Zumindest noch nicht.

Als Emma ihn so begeistert küsste, erwiderte er ihren Enthusiasmus mit barer Münze und rollte sich schließlich mit ihr zusammen so im Bett herum, dass er halb über ihr lag und den Arm weit über sie ausstrecken konnte, um das Licht auszuknipsen.

Nicht gerade zu früh, wie seine Fänge fanden, die immer hartnäckiger zu werden schienen, je mehr Zeit er mit Emma verbrachte und je öfter er sie küsste.

Cayden ignorierte seine vampirische Natur und küsste stattdessen die Frau unter sich. Zärtlich dieses Mal und genussvoll, während er sich so abstützte, dass er sie nicht erdrückte, dennoch aber nahe bei ihr war.

"Es war einmal…", begann er leise gegen ihren Hals zu flüstern, den er mit unzähligen kleinen flatternden Küssen bedeckte.

"…in einer weit weit entfernten Galaxie, ein – ich würde sagen – gutaussehender Mann…"

Cayden lachte leise und streichelte Emma über die Seiten, während er seine Wange an ihrer rieb.

"…der tagein tagaus nichts als Arbeit kannte, bis plötzlich eine junge…"

Er küsste über ihren Hals.

"…wunderschöne…"

Ihren Kiefer.

"…und heiße…"

Ihr Kinn.

"Assis-…"

Er hielt knapp über ihren Lippen inne.

"Verzeihung, ich meinte natürlich 'Prinzessin' aufkreuzte, die ziemlich begabt darin ist, den arbeitswütigen Kerl auf andere Gedanken zu bringen. Gedanken die ich vielleicht besser nicht näher erläutern sollte."

Sein Mund streifte sanft über den von Emma.

"Weil sie nicht ganz Jugendfrei sind, und…"

Er knabberte vorsichtig an ihrer Unterlippe, leckte darüber, ehe er noch einmal inne hielt.

"…mir grad die Luft zum Reden ausgeht…"

Er küsste sie erneut. Intensiv, feurig und ganz und gar auf eine Weise, die keinerlei Worte bedurfte.
 

Ein breites Grinsen hatte sich auf ihr Lippen geschlichen und auch wenn Cayden es nicht sehen konnte, war es für ihn bestimmt möglich, es unter seinen Küssen im Dunkeln zu spüren. Auch Emma glaubte zu merken, dass er während seiner kurzen Geschichte und auch danach nicht unbedingt ein unglückliches Gesicht machte, sondern vielmehr sogar in dem Streicheln und den Küssen aufging, die er ihr zuteil werden ließ. Jedes Detail, jede Berührung, war für Emma ein kleines Geschenk, genauso wie die Tatsache, dass Cayden den ganzen Abend bereits fröhlich gewirkt hatte.

Während sie neben einander gearbeitet hatten und Emma ihn nur hin und wieder einmal zu Gesicht bekam, hatte sie seine Stimmung nur schwer einschätzen können. Im Gegensatz zu ihm, war sie selbst überhaupt nicht des Talents zur Schauspielerei mächtig und Stella hatte schon am Vormittag gefragt, ob etwas vorgefallen sei. Nicht etwa auf Cayden bezogen - darauf wäre Stella bestimmt im Leben nicht gekommen. Aber sie hatte mit einem gewissen Zwinkern im Augenwinkel gefragt, ob Emma heute besonders gute Laune hätte. Das sehe man ihr an.


Cayden hingegen hatte den ganzen Tag über nicht anders gewirkt als sonst. Integer, arbeitsam, beschäftigt. Wie der Boss, der er nun einmal war. Und auch wenn Emma sich immer wieder einmal nach einem kleinen Wink von ihm gesehnt hatte, ein kleines Lächeln oder einen Blick, der mehr bedeutete, als nur Freundlichkeit seiner Angestellten gegenüber, war dafür wenig Platz gewesen.

Es war ja nicht so, dass Emma das nicht verstand. Für Cayden war die ganze Sache ja sogar noch schwieriger, als für sie selbst. Emma konnte in ihrem Freundeskreis einfach heraus posaunen, sie sei jetzt in einer festen Beziehung. Er allerdings...


Bevor sie noch weiter in Gedanken versinken konnte, die vom derzeitigen Thema abwichen, schlang Emma lieber ihre Arme um Caydens Hals, streichelte liebevoll seinen Nacken und raunte ihm mit einem Kichern zu: "Vom Sandmännchen zum gutaussehenden Jedi-Ritter. Das nenne ich einen Aufstieg.
 Dass ich mir allerdings solche Schnecken in die Haare mache, wie Prinzessin Leia, kannst du gleich von vornherein vergessen, mein Lieber."


Sie küsste ihn wieder, lange und gefühlvoll. Und diesmal schlich sich auf Emmas Zungenspitze an Caydens Lippen entlang, um das noch fremde Territorium zu erforschen. Sie hätte Einiges darauf verwettet, dass dort viele leckere Dinge auf sie warteten.
 

"Keine Sorge. Ich hab's schon vergessen."

Cayden lachte leise in den nächsten Kuss und ging nahtlos in ein Schnurren über, als er Emmas Zungenspitze auf seinen Lippen spürte und sich dabei sein Herzschlag fast verdreifachte.

Seine Antwort kam, aber erst nach dem er ihr eine Hand unter den Rücken geschoben hatte, während die andere sich an besagten Haaren heranmachte, in dem er seine Finger darin vergrub, wie er es so gerne bei dieser seidig weichen Pracht tat. Dabei drückten sich Emmas Brüste köstlich weich gegen seinen Brustkorb.

Cayden öffnete seinen Mund nur ein kleines Bisschen, um Emmas Zunge mit seiner anzustupsen, sich dann wieder zurück zu ziehen, damit er sie nur mit seinen Lippen küssen konnte, ehe es von vorne los ging.

Es war nur ein langsames Herantasten, doch gerade deshalb machte es umso mehr Spaß und ließ seine Gefühle bis in seine Zehenspitzen knistern.

Obwohl er das hier nicht gerne mit der Nacht in Tokyo verglich, war doch deutlich ein Unterschied festzustellen. Nicht nur in der Vorgehensweise, sondern auch darin, was er dabei fühlte. Nicht gleich wie Wilde übereinander her zu fallen, war auf jeden Fall spannender, köstlicher und erregender, als einfach jegliche Arten des Vorspiels weg zu lassen.

Zudem hatte er jetzt auch die Zeit, das alles hier voll und ganz auszukosten. Weshalb er auch nicht zur Eile drängte, sondern eine Weile Emmas Zunge umwarb, unterbrochen von kleinen – äußerst vorsichtigen – Knabbereien an ihrer Unterlippe und ganz 'normalen' aufregenden kleinen Küssen, bis hin zu der lockenden Aufforderung, sie möge ihren Mund weiter für ihn öffnen und ihn einladen. Dabei küsste er nicht einfach nur mit dem Mund, sondern sein ganzer Körper war darin einbezogen.

Seine Beine hatten sich mit denen von Emma verschlungen und rieben sich immer wieder aneinander. Seine Hände blieben zwar außerhalb der als sehr intim empfundenen Zonen, wussten aber sehr genau, wo Emma noch so einige empfindliche Stellen hatte und kümmerten sich auch äußerst gründlich mit sanften Streicheln und Kraulen darum, wobei es schon einmal vorkam, dass sich seine Finger unter den Stoff ihres Schlafoberteils schlichen.
 

Es war ein erregendes kleines Spielchen. Immer wieder kam Cayden Emmas Zungenspitze mit seiner eigenen nur so weit entgegen, dass sie einen winzigen Vorgeschmack bekam. Ein Stupsen, ein flüchtiges Streicheln und dann zog er sich wieder zurück, als wäre er zu scheu, um weiter zu gehen. Und dabei machte der Rest seines Körpers gar nicht den Eindruck, als wäre Cayden schüchtern. Er räkelte sich sanft auf ihr, seine Hände gingen auf Wanderschaft und Emma hatte auch das Gefühl, dass ihm ihre Berührungen gefielen. So zum Beispiel das Kraulen in seinem Nacken, das sich bald auf seinen gesamten Rücken ausbreitete, das Stupsen ihrer Zehen an seinen, wenn sie diese denn erreichte...

Emma fiel erst jetzt so richtig auf, wie viel kleiner sie als Cayden war. Vorhin hatte er sie einfach hochgehoben und herum getragen. Aber selbst zu diesem Zeitpunkt war ihr nicht so bewusst gewesen, dass sie gerade einmal ihren Kopf an seine Schulter legen konnte, wie es jetzt der Fall war.


Aber eigentlich war es sehr schön, dass er größer war. Und dass er so breit und männlich wirkte. Etwas, das in seinen feinen Anzügen, die er in der Arbeit trug, gar nicht so stark auffiel. Oder achtete niemand darauf? Vielleicht wegen Caydens doch recht farbloser Ausstrahlung, wenn er sich in der Firma aufhielt?


Emma konnte einfach nicht anders, als Cayden immer wieder erstaunlich zu finden in seinen Verwandlungen. Und inzwischen hatte sie das Gefühl, ihn doch schon in ziemlich unterschiedlichen Facetten kennen gelernt zu haben. 
Diese hier, gefiel ihr bis jetzt am besten.


Zum Kuscheln und Anschmiegen, zum Knutschen und sich langsam weiter vorwagen. Emmas Lippen öffneten sich ein Stück weiter, während ihre Zunge einmal die Konturen von Caydens Unterlippen nachzeichnete. Für einen Moment hielt sie sich an ihm fest, wartend und gespannt, wie er reagieren würde. Hatte er doch vorhin darauf bestanden ins Bett zu gehen. Aus Gründen, die jetzt immer noch die Gleichen waren - sogar dringender, wenn man es recht bedachte.
 

Intuitiv hielt er in seinen langsamen Bewegungen inne, was seinen Körper anging, als Emma sich ihm weiter öffnete und er sich in diesem Moment von nichts anderem ablenken lassen wollte.

Auch er öffnete sich ihr weiter, kam ihr auf halbem Weg entgegen, so dass sich ihre Lippen umschmiegten, während seine Zunge sich nach vorwagte und die von Emma suchte.

Als er sie fand, begann er mit einem langsamen Tanz.

Cayden umwarb sie, anstatt sie einfach einzufordern, so wie es in Tokyo geschehen war.

Er beschenkte sie mit zärtlichen Schmeicheleien, nahm was sie ihm geben wollte und verlangte nichts im Gegenzug dafür.

Verspielt rieb er seine Nasenspitze an ihrer, während er sich kurz eine Atempause gönnte, nur um dann erneut diesem genussvollen Spiel zu folgen.

Inzwischen rauschte ihm bereits das Blut in den Ohren und er hatte das Gefühl, sein ganzer Körper würde prickeln.

Als er dann auch noch langsam spürte, wie ein anderes Zeichen seines Gefühlszustandes langsam im Aufbau begriffen war, ließ er ihren gemeinsamen Fortschritt mit zarten, liebevollen, knabbernden Küssen ausklingen.

Noch war es nicht so weit. Aber der Zeitpunkt würde kommen und darauf freute er sich schon sehr. Doch im Augenblick, genoss er jeden kleinen Fortschritt mit innerlichem Jubel.

Cayden schloss seine Arme um Emma und zog sie mit sich auf die Seite, wo er sie an seiner Brust halten konnte, während ihre Beine immer noch umschlungen blieben.

"Ich könnte das noch stundenlang tun.", flüsterte er leise und hauchte sanft einen Kuss auf Emmas Stirn.

"Aber das nehme ich mir für ein Andermal vor, wenn uns mehr Zeit dazu bleibt."
 

"Du könntest deinen Boss anrufen und sagen, du kommst Morgen nicht...", neckte Emma in leise. Aber Cayden merkte hoffentlich, dass sie bestimmt nicht eingeschnappt war, weil er ihr Knutschen für heute für beendet erklärte. Zwar war sich Emma nicht ganz sicher, ob sie bei anderer Gelegenheit Einspruch dagegen hätte erheben können, aber für dieses Mal war es egal und sie kuschelte ihren Kopf gemütlich an seine Halsbeuge.

Kaum hatte sie das getan, formte sich auch schon ein Gähnen, das so intensiv aus ihr heraus brach, dass sie Cayden danach sanft mit den Lippen in den Hals zwickte.


"Dann... gute Nacht."


Diesmal war es gar nicht so einfach, seinen Mund im Dunkeln zu finden. Aber nach ein paar Fehlküssen auf sein Kinn, seine Wangen und seine Nase schaffte Emma es doch und kuschelte sich anschließend so in die Kissen, dass sie großartig würde schlafen können.


"Träum' was Schönes."


Sie lächelte noch, als sie schon längst eingeschlafen war und ihre Atemzüge tief und gleichmäßig wurden.
 

"Das werde ich. Ganz bestimmt."

Cayden betrachtete zärtlich Emmas lächelndes Gesicht, während sie schon längst eingeschlafen war.

Gerade in stillen Momenten wie diesen, in denen er sie ungestört betrachten konnte, schien sein Brustkorb sich immer weiter auszudehnen und eine Wärme dort Einzug zu halten, die ihm zwar vertraut und doch nach so langer Zeit besonders intensiv erschien.

29. Kapitel

Cayden war – das musste er sich leider eingestehen – einigermaßen durch den Wind. Was sich nicht gerade mit Stresssituationen vertrug, wie er sie tagtäglich im Büro vorfand. Erst recht nicht, kurz vor Wochenende und mit der Aussicht auf eine Woche ohne Emmas Hilfe.

Aber genau das war der Grund, warum er sich nicht ganz konzentrieren konnte.

Eine Woche ohne sie … das kam ihm gerade so unvorstellbar und unwirklich vor, dass er es noch nicht richtig realisieren konnte und doch würde es ihm schon sehr bald, ziemlich nahe gehen.

Die letzten beiden Nächte mit ihr waren einfach so … unbeschreiblich schön und herrlich gewesen. Jetzt von ihm zu verlangen, wieder in die alte gewollte Einsamkeit zurück zu kehren, war fast barbarisch.

Aber ihr ging es immer noch nicht ganz gut, weshalb sie diesen Urlaub unbedingt nehmen sollte, egal ob er dadurch ein paar Tage unrundlief. Das war egal. Ihr Wohlergehen ging vor. Außerdem bekam er vielleicht so wieder die Möglichkeit, sich mehr auf die Arbeit zu konzentrieren, denn obwohl er natürlich auch weiterhin Überstunden gemacht hatte, so war ab der Zeit, in der er das Büro verließ, absolut gar nichts mehr passiert. Außer vielleicht die wohl schönsten Stunden, die ein arbeitswütiger Kerl wie er, sich derzeit nur vorstellen konnte.

Er würde sie vermissen.

Wieder warf er einen Blick durch die offen stehende Tür seines Büros, konnte aber auch jetzt nicht um die Ecke sehen, so dass er Emmas Aufmerksamkeit hätte erlangen können. Aber zumindest war sie greifbarer, als mit geschlossener Tür zwischen ihnen.

So entgingen ihm aber auch die gedämpften Schritte auf dem Teppich nicht, der sich durch den ganzen Raum vor seinem Büro zog.

Caydens Magen krampfte sich zusammen und seine Nackenhaare standen ihm zu Berge, als er sofort den Gang erkannte, den Vanessa so unvergleichlich drauf hatte.

Noch bevor sie einen Ton zu Emma sagen konnte, war er schon bei der Tür und fing sie ab.

Er hatte immer noch nicht das nette Gespräch zwischen den beiden Frauen vergessen und nach der veränderten Situation zwischen ihnen dreien, war es noch unangenehmer Vanessa so unangekündigt hier zu sehen. Sie sollte doch erst nächste Woche kommen, wenn Emma nicht hier war. Nicht der Heimlichkeit halber, sondern weil er Emma den Anblick einfach ersparen wollte. Aber dafür war es jetzt zu spät.

"Schatz!"

Bei dem Tonfall wollte der Vampir in ihm aggressiv knurren.

Im nächsten Moment war das auch schon egal, weil ihre Arme seinen Hals in Beschlag nahmen und sie ihm einen Kuss auf die Lippen drückte, den er steif und starr absolut nicht erwiderte. Stattdessen zog er den Kopf etwas zurück und fragte kühl: "Was machst du hier?"

Sie ließ ihn nicht los, ging aber ein Stück auf Abstand, um ihn mit ihrer besten Schnute anzuschmollen.

"Ich dachte, du würdest dich freuen, mich zu sehen. Schließlich hast du gleich Feierabend. Das Wochenende steht ins Haus und mein Fotoshooting wurde auf nächste Woche verschoben. Wir haben also endlich wieder einmal Zeit für…"

Sie warf einen undurchdringlichen Seitenblick auf Emma, ehe sie Cayden mehrdeutig anlächelte.

"Na, du weißt schon. Unser kleines … Stelldichein, sozusagen."

Dass sie dabei auch noch mit ihren Fingern an seiner Krawatte herum spielte, machte ihn rasend.

Der Drang zu knurren und sie somit auf Abstand zu bringen, wurde immer verlockender, aber sie nahm ihm sozusagen den Wind aus den Segeln, als sie wieder näher heran rückte und ihm ganz tief in die Augen sah, während sie leise schnurrte: "Cayden… Ich brauche dich. Das letzte Mal ist schon so lange her und du-"

Sie verstummte, als sie kurz das Aufblitzen seiner Fänge sah, ehe er sie hinter seinen geschlossenen Lippen verbarg.

Er war stinksauer.

Und sie missverstand die Zeichen mit voller Absicht, als sie ihm ein falsches Lächeln schenkte und ihren Satz beendete: "-siehst hungrig aus."

"Geh."

Seine Stimme war klirrende Kälte, doch die Geste mit der er sie in sein Büro bat, war unmissverständlich.

Mit einem triumphierenden Lächeln marschierte Vanessa an ihm vorbei und Cayden brauchte all seine Selbstbeherrschung dafür auf, sie nicht hochkant aus dem Gebäude zu schmeißen.

Als er die Tür langsam schloss und noch einmal hoch blickte, konnte er Emma nicht in die Augen sehen.

Seine Kiefer mahlten aufeinander und in seinem Inneren tobte es, doch er sagte kein Wort. Nichts hätte die Schärfe aus dieser Situation nehmen können. Keine Beteuerung, keine Versprechungen und auch keine Entschuldigungen und dafür hasste er sich in diesem Augenblick bis aufs Blut.

Dennoch schloss sich die Tür hinter ihm und er war mit Vanessa allein.
 

Emma starrte auf die linke, untere Ecke ihres Bildschirms. Ihre Finger lagen auf der weißen Tastatur, bewegten sich aber schon seit einigen Momenten um keinen Millimeter. Auch wenn sie ins Leere starrte, war Emma sehr wohl klar, was gerade passiert war. Und was sie gesehen hatte.


Ein kalter Schauder lief Emmas Arme hinauf und piekte sich in ihre Brust, von wo sich das Eis weiter ausbreitete. Mit leerem Blick und eiskalten Fingern schloss sie die laufenden Programme, fuhr den Computer herunter, brachte noch ihren Schreibtisch in Ordnung und ging dann zu der kleinen Garderobe hinüber. Ihr seltsam unscharfer Blick fiel auf das Eck einer DVD, die aus ihrer großen Tasche heraus schaute und Emma musste einen kantigen Kloß in ihrem Hals hinunter würgen. Zum zweiten Mal an diesem Tag wurde ihr übel und sie kramte mit zitternden Fingern schon einmal ihr Handy heraus, bevor sie ihren Mantel anzog, das Licht ausschaltete und das Büro auf direktem Wege verließ.


Im Lift drückte ihr Daumen auf die Schnellwahltaste, obwohl kein Netz angezeigt wurde. Emma versuchte es wieder. Und noch einmal, als die Türen des Fahrstuhls sich endlich öffneten und sie in die Lobby spuckten.


Endlich kam Leben in das kleine Telefon.


"Hallo, ich bin's. ...
Du, ich wollte nur fragen, ob es dir recht ist, dass ich heute noch komme. ...
Ich weiß nicht, aber so gegen acht geht noch eine Fähre. ... Würdest du mich dann noch am Hafen abholen? ... Ja, das wäre toll. ... Okay. Danke. Bis später, Mom. Ich freu mich."



Es war etwas ganz Anderes als Vorfreude, das Emma beim Packen und schließlich auf dem Weg nach Nelson in den Knochen steckte. Wieder wurde ihr übel, was sie diesmal auf den Seegang schob, aber das finstere Klopfen in ihrem Magen und das stahlkalte Zittern in ihrem gesamten Körper konnte sie nicht einfach mit einer Lappalie erklären. Sie wusste sehr genau, was - oder vielmehr wer - das verursachte. Und bevor sie diesbezüglich eine Dummheit machen und eine Sms schicken konnte, auf die sie bestimmt keine Antwort erhalten würde, stellte Emma ihr Handy für die Überfahrt einfach ab. Sie wusste ja, warum er nicht antworten würde. Es machte sie wütend. Und traurig. Und dann machte es Emma wütend, dass es sie traurig machte. Auf was für einen Mist hatte sie sich da eigentlich eingelassen?



"Hallo!"


"Hi Du!"


Emma umarmte ihre Mom, die genauso groß war wie sie selbst, von der sie aber ihre ausladenden Kurven nicht geerbt haben konnte. Ihre Mom wirkte eher sportlich, auch wenn sie nicht zu den Schlankesten gehörte. Normales Mittelmaß, mit flottem Haarschnitt und hübschen, braunen Augen.


"Na, geht's dir gut? Wie war die Überfahrt?"


"Ganz okay. War ein bisschen wackelig, aber das ist es ja fast immer. Danke, dass du mich um diese Uhrzeit noch abholst."


Als Emma ihre Mom noch einmal drückte, schlich sich so etwas wie Neugier in deren Miene. Doch Emmas Mutter sagte nichts, sondern half ihrer Tochter, das Gepäck ins Auto zu laden. Die Fahrt nach Nelson würde noch etwas dauern. Und Emma sah so aus, als würde sie gleich nach Ankunft ins Bett fallen, anstatt noch irgendwelche Neuigkeiten auf den Tisch zu bringen. Auch wenn es da offensichtlich irgendetwas gab...
 

Er zitterte vor unterdrückter Wut, als er sich zu Vanessa herumdrehte und sie wie selbstverständlich auf ihren eingesessenen Platz direkt auf seiner Schreibtischplatte sitzen sah. Sie schob mit ihrer Schuhspitze seinen Stuhl weiter nach hinten und machte eine einladende Geste.

"Setz dich doch."

"Was sollte die Show?", wollte er gefährlich leise wissen, während er ihr Angebot völlig ignorierte und mit verschränkten Armen an der Tür stehen blieb.

Vanessa sah ihn ganz unschuldig an.

"Ich weiß nicht, was du meinst."

Sie wartete noch einen Moment ab, ob er sich ihr Angebot doch noch einmal überlegte, ehe sie aufstand und zu ihm herüber kam.

"Ich sehe doch, dass du hungrig bist. Das letzte Mal ist auch schon eine Woche her. Ich wollte dich nicht länger als nötig warten lassen. Das ist alles."

Sie berührte seine Wange und keuchte überrascht auf, als er in der nächsten Sekunde ihr Handgelenk packte und von sich fern hielt.

"Der Hunger macht dich reizbar, wie ich sehe. Warum tust du nicht einfach etwas dagegen?"

Es klang fast wie ein Vorwurf.

Nein, es war nicht sein Blutdurst, der ihn reizte, sondern allein ihre Anwesenheit und sie machte es immer schlimmer.

Vanessa trat einen Schritt nach vor und legte ihren Kopf zur Seite, entblößte dabei ihren Hals.

"Komm, Schatz. Ich bin bereit."

Als er dieses Kosewort aus ihrem Mund hörte, wäre er fast völlig ausgerastet, aber zumindest musste ihm ein Knurren entkommen sein, da Vanessa merklich zusammen zuckte.

"Nein. Nicht in den Hals."

Knappe, schneidend kalte Worte. Er war am Ende seiner Geduld.

"Aber, wo-"

Cayden riss Vanessa so zu sich herum, dass sie mit dem Rücken zu ihm stand, ihr Handgelenk immer noch fest in seiner Hand.

Sie sagte nichts mehr. Spürte offenbar, dass sie es fast bis an die Spitze getrieben hatte, also verhielt sie sich ruhig.

Alles in ihm sperrte sich und doch war der Drang zu überleben, gerade in diesem Augenblick sehr stark, da der Vampir in ihm durch seine Wut deutlich an die Oberfläche gekommen war. Seine Fänge waren schon längst vor Zorn lang und bereit. Bereit zu töten, wenn es sein musste, doch so weit würde es nicht kommen.

Cayden zog Vanessas Hand noch weiter hinter sie, so dass sie ihn nicht sehen konnte. Er packte ihren Arm mit beiden Händen und ohne weiteres Geplänkel biss er in ihr zartes Handgelenk.

Ihr ganzer Körper erbebte und ein leises Wimmern entkam ihren Lippen, bis sie es unterdrückte.

Er hatte ihr wehgetan. Zu schnell, zu tief seine Zähne in sie getrieben und auch sein Saugen war hart und aggressiv.

Cayden nahm nur ein paar Schlucke, ehe sein Magen sich so verkrampfte, dass ihm übel wurde.

Gezwungenermaßen versorgte er Vanessas Handgelenk, da sie sonst Gefahr lief, mit den halb zerfetzten Venen zu verbluten. Genau aus diesem Grund, trank er nicht gerne von dieser Stelle. Aber heute war es ihm egal. Wie so vieles andere, nur eines nicht. Emma...

Noch wütender als vorhin schon, ließ er Vanessa endlich los, die sich ganz und gar nicht mehr triumphierend ihr Handgelenk an den Körper presste und ihn wütend anfunkelte.

"Geh."

Er öffnete die Tür. Natürlich war Emma schon gegangen. Er hatte es nicht anders erwartet.

"Und was ist mit-"

"Ich sagte, du sollst gehen."

Seine Finger umklammerten den Türknauf. Die Fingerknöchel ganz weiß.

"Aber-"

"Verschwinde!"

Dieses Mal fauchte er es wirklich und seine Fänge waren dabei vollkommen entblößt. Nun war er ganz und gar Vampir und wenn Vanessa noch ein Widerwort sagen sollte, würde sie es bis an ihr Lebensende bereuen.

Doch klug genug wie sie als Mensch schließlich doch noch war, schnappte sie sich ihre Handtasche und fegte aus seinem Büro.

Hinter ihr erzitterte die Bürotür in ihren Grundfesten, als er sie wütend zuschlug.

Doch eigentlich galt die meiste Wut ihm selbst.
 

"So."


Emma stellte ihren Koffer einfach mitten in den Flur, da er ohnehin überall in dem kleinen Apartment im Weg gewesen wäre.


"Möchtest du noch was essen? Oder einen Tee?"


Ihre Mom hängte ihre eigene Jacke auf, bevor sie auch in der Küche Licht machte.


"Oh ja, ein Tee wäre toll, danke. Ich stell' mal kurz meinen Koffer ins Büro."


Dort war auch schon ein Leintuch über das Sofa gespannt und Emma sah den Schalter einer Heizdecke unter dem Laken hervor lugen. Was sie zum Lächeln brachte. Ihre Mom war noch nicht dazu gekommen, das Bettzeug zu überziehen, aber das machte nichts. Das konnte sie auch schnell selbst machen, bis der Tee fertig im Wohnzimmer auf sie wartete.


Ihre Klamotten ließ sie im Koffer, zog aber ihr Waschzeug und den Schlafanzug heraus, zog sich schon um und ging zu ihrer Mom, um sich ihre Tasse Tee abzuholen.


"Du bist dünner geworden.", bekam sie als Begrüßung hingeworfen, konnte sich aber vor Verblüffung erst einmal gar nicht darüber freuen.

"Findest du?"


Sie sah an sich herab. Emma selbst wäre nicht aufgefallen, dass ihre Klamotten an ihr herunter hingen oder so etwas in der Art.


"Vielleicht liegt es auch daran, dass du so müde aussiehst. War es ein langer Tag?"


Emma lächelte und versuchte dabei das ziehende Geräusch in der Brustregion zu ignorieren.

"Ziemlich."


"Dann lass' uns erst Morgen ausführlich quatschen. Ich freu mich sowieso schon die ganze Zeit darauf, dich zum Frühstücken hier zu haben."


"Ich freu mich auch. Aber dann geh ich jetzt gleich ins Bett. Wie du schon sagtest, es war ein langer Tag. Ich hör' die frische Bettwäsche und die Heizdecke schon rufen."


Sie lachte und nippte an ihrem Tee.


"Na dann. Schlaf gut."


"Du auch."


Da der Tee nicht gesüßt war, stellte Emma die noch fast volle Tasse auf das Bücherregal neben dem Schlafsofa und ging dann ins Bad, um sich bettfertig zu machen. Schon beim Zähneputzen wollten Bilder in ihr aufsteigen, doch da schaffte es Emma noch, sie zur Seite zu drängen.


Wirklich schlimm wurde es erst, als sie sich ins Bett legte. 
Ihr Schlafanzug roch nach ihm.


Mit einem tiefen Atemzug schloss Emma die Augen und ließ das Brennen einmal durch sich hindurch fließen, bis sie sich selbst in ihrem Gefühlsbad stoppte. Ja, sie vermisste ihn. Sie würde ihn die ganze Woche über vermissen. 
Aber sie hatte keine Ahnung, ob Cayden sie ebenfalls vermisste. Vielleicht war er gerade ... mit Vanessa zusammen. Bei ... was immer genau dieser Vertrag in regelmäßigen Abständen vorsah.


Mit kratzenden Augen und einem Beißen im Magen streckte Emma den Arm aus dem warmen Bett in den kühlen Raum und kramte ihr Handy aus der Tasche. Bereits als sie es anschaltete, glaubte sie zu wissen, dass er ihr keine Nachricht geschickt hatte. Nicht heute.


Emma legte das Handy auf ihrer Tasche ab, drehte ihm den Rücken zu und zog sich die Decke bis unter die Nase. Allerdings so, dass sie am Ärmel ihres Schlafanzugs noch diesen köstlichen Duft erschnuppern konnte, der sie mit einem wehmütigen Lächeln einschlafen ließ.
 

Emma war weg. Das Bürogebäude inzwischen verlassen, da freitags nicht mehr so lange gearbeitet wurde und Cayden saß noch vor einem Stapel voller Arbeit und starrte sein Handy an. Emmas Nummer direkt auf dem Display.

Er hatte keine Ahnung, was er ihr wegen Vanessas unvorhergesehenem Aufkreuzen sagen sollte. Er wusste keine Entschuldigung für sein Verhalten, weil das alles einfach zu kompliziert war, um es in einfachen Worten erklären zu können.

Cayden hätte es getan. Wirklich. Wenn er es ihr einfach erklären könnte, wäre er zu ihr gegangen, anstatt in sein Büro zu Vanessa. Doch … so sehr er es auch nicht sehen wollte. Gerade in Augenblicken wie diesen, trug die Bürde seiner Geheimnisse schwer.

Es gab so viel, was er ihr verschwieg und langsam, wenn er nicht aufpasste, begann er sich zu fragen, ob das ihr gegenüber wirklich fair war, oder sie nicht die Sache beenden sollten, bevor sie richtig begann.

Doch allein der Gedanke daran, schnürte etwas in ihm ab, das gerade begonnen hatte, sich zu entfalten.

Es tat weh. Auf eine fast körperlich spürbare Art und Weise und gerade er sollte wissen, dass das Leben zu kostbar war, um solche Gelegenheiten einfach zu verschwenden. Zumal er Emma wirklich gerne hatte und bei ihr sein wollte. Solange es eben möglich war.

Solange sie ihn wollte…

Eine ankommende E-Mail auf seinem Blackberry, riss ihn aus seinen Gedanken. Es war ein Kunde, der in einer anderen Zeitzone lebte und vermutlich nicht damit rechnete, dass er heute noch eine Antwort erhalten würde.

Doch gerade diese Art von Ablenkung hatte Cayden gebraucht, um seine düsteren Gedanken erst einmal zur Seite zu schieben und sich wieder der Arbeit zu widmen. Schließlich würde die Woche noch anstrengend genug werden.
 

Es war zwei Uhr morgens, als er endlich ins Bett kam. Zu spät, um Emma noch eine Nachricht zu schicken, doch wenn er die Augen schloss, schien sie überall um ihn herum zu sein.

Ihr Duft lag subtil aber deutlich für ihn wahrnehmbar in jedem Raum in seiner Wohnung, den sie betreten hatte. Am intensivsten war er allerdings in seinem Kissen, was tröstend und quälend zugleich war. Denn alles, was er in dieser Nacht festhalten konnte, war das große Kissen, auf das sie immer ihren Kopf gebettet hatte.

Cayden presste sein Gesicht hinein und versuchte zumindest für eine Weile zu vergessen, was heute alles geschehen war.

Doch selbst als er irgendwann Schlaf fand, war dieser nicht friedlich, sondern unruhig und kein Bisschen erholsam.
 

Irgendwo im Stadtzentrum von Wellington
 

Jemand war hier.

Sie konnte es spüren, wie das unangenehme Kribbeln im Nacken, wenn man beobachtet wurde.

Aber Skipper, ihr Golden Retriver schien es nicht bemerkt zu haben, denn er lag immer noch still zu ihren Füßen.

Er war-

Es stank nach Kupfer. Wie alte Münzen lag der Geruch schwer im Raum und noch etwas anderes lag kaum wahrnehmbar darunter.

Gas?!

Helen richtete sich ruckartig auf. Ihr Puls schnellte in die Höhe, während sie nachdachte, ob sie ihren Herd auch wirklich ausgeschalten hatte. Aber wie immer hatte sie es zweimal kontrolliert, bevor-

Ein kaum hörbares Knarren der Dielenboden zu ihrer Linken. Das Geräusch eines beinahe lautlosen Atemzugs.

Die Panik unterdrückend griff sie zu ihrem Nachtkästchen, zog die oberste Schublade auf, um nach ihrer Waffe-

Weg. Sie war weg!

Das Adrenalin in ihrem Körper ließ ihren Herzschlag so laut donnern, dass sie kaum etwas anderes hören konnte. Doch sie musste. Sie konnte nichts sehen und Skipper-

Skipper!

Blind tastete sie mit den Händen über die Bettdecke, versuchte dabei immer noch auf weitere Geräusche zu achten. Da war jemand. Sie war sich sicher, aber wer-

Sie konnte den entsetzten Laut nicht unterdrücken, als sie in warmfeuchtes, verklebtes Fell gegriffen und doch keine Bewegung darunter gespürt hatte.

Nein!

Jemand lachte leise und tief.

Sie versuchte noch, trotz ihres Entsetzens aus dem Bett zu kommen. Weg von diesem bösen Lachen, doch da wurde sie auch schon im Genick gepackt, zurück auf das Bett gezerrt und von einem schweren Körper nieder gedrückt.

Bevor sie aus Leibeskräften schreien konnte, wurde ihr eine Hand hart und unnachgiebig auf den Mund gedrückt, also begann sie mit aller Kraft zu treten und um sich zu schlagen.

Ihr Angreifer schien es nicht einmal zu spüren. Stattdessen lachte er wieder, dieses Mal sichtlich amüsiert.

"So schwach."

Die Stimme – mochte sie noch so schmeichelnd sein – ließ sie endgültig in Panik geraten. Instinktiv schien ihr Körper zu wissen, dass das kein gewöhnlicher Einbrecher war.

Sie konnte es heraushören. Das kaum wahrnehmbare Lispeln, das von Fängen hervor gerufen wurde und ihr somit zeigte, was ihre Augen nicht konnten.

"Wie einen Käfer kann man euch zerquetschen und doch seid ihr viel zu köstlich, um euch auf diese Weise das Ende zu bringen."

Nein!

Es war nur ein dumpfer Laut gegen die starke Hand und ebenso sinnlos, wie alles andere auch.

Aber es war der letzte Widerstand, den sie aufbringen konnte, ehe der Schmerz ihre Sinne überwältigte, als ihr Kopf zur Seite gerissen wurde und Fänge sich auf bestialische Art in ihren Hals gruben.

Ihr Blut schoss ihren Hals hinab, vorbei an den gierig saugenden Lippen des Vampirs, der sie wieder los ließ, um erneut zuzubeißen.

Wieder und wieder, bis da keine Wärme mehr in ihrem Körper war. Kein Gedanke und kein Gefühl. Nur die endgültige Dunkelheit.
 

Er war schon längst weg, als eine gewaltige Explosion alle Beweise seiner Taten vernichtete.
 

***
 

Es war so kühl im Zimmer, dass Emma sich die Decke über die kalte Nase und sogar bis zu den Ohren hinauf zog. Ihre Blick hing an dem bunten Lampenschirm, der von der Decke des Büro/Gästezimmers baumelte und in dem sich gerade das Licht von draußen fing. 
Sie hatte gut geschlafen.


Als Emma aufgewacht war, hatte es sich total ungewohnt angefühlt. Die schweren Augenlider waren trotzdem da, aber ihr fiel sofort das warme Licht im Raum auf, das Gefühl, keinen erschreckenden Stein auf der Seele liegen zu haben. Sie... hatte gut geschlafen. Keine Albträume.


Ein unsicheres Lächeln zeichnete sich unter der Bettdecke auf ihren Lippen ab und Emma setzte sich langsam auf, ohne allerdings zu viel der kühlen Luft im Raum an ihren Körper zu lassen.


Es war, als würde ihr eine Faust den Magen zusammen drücken.


Ihr wurde so übel, dass sie sich gar nicht bewegen konnte. In ihrem Hals begann es zu brennen und Emma musste sich bei jedem Atemzug dazu durchringen, wirklich Luft in ihre Lungen zu lassen, weil sie solche Angst hatte, zu tiefes Atmen würde dafür sorgen, dass sie den Weg ins Bad nicht mehr schaffte.

"Oh... Gott."


Sie spürte selbst, wie sie kreidebleich wurde und lehnte sich gegen die Wand und das Fensterbrett in ihrem Rücken. Einen Punkt irgendwo auf der Tür fixierend starrte Emma vor sich hin, während die Wellen der Übelkeit zuerst stärker und dann wieder schwächer wurden. Sogar der Schweiß brach ihr aus und als sich der Anfall endlich gelegt hatte, ließ auch Emma sich wieder in die Kissen sinken, um sich zusammen zu nehmen.


Was zum Teufel war denn bloß los?
 



Maggie sah ihre Tochter besorgt über die Tür des Kühlschranks hinweg an, während diese die Brötchen aus dem Backofen holte. Emma wirkte fahrig und abgestanden. Ihr Gesicht war blass und sie hatte dunkle Schatten unter den Augen, die Maggie gar nicht gefielen.


"Geht's dir nicht gut?", wollte sie sehr direkt, aber in einem sanften Ton wissen, der Emma anscheinend sehr überraschend erwischte.


"Ich..."

Sie seufzte und ließ die Schultern ein wenig hängen.


"Mir ist schon seit ein paar Wochen dauernd schlecht. Ich weiß nicht, was los ist. Heute Morgen war's wirklich schlimm. Ein paar Mal hab ich mich sogar schon übergeben müssen."


Maggie legte ihr einen Arm um die Schultern.


"Warst du noch nicht beim Arzt?"


Eine überflüssige Frage. Emma war eine von der Sorte, die nur zum Arzt ging, wenn sie wirklich kaum noch aufrecht stehen konnte. Der Apfel fiel nunmal nicht weit vom Stamm.


Emma schüttelte, wie zu erwarten, bloß langsam den Kopf.


"Meinst du, ich könnte diese Woche mal zu Dr. Bennington gehen?"


"Na sicher. Ich rufe Ian nachher an. Vielleicht kann er sich das sogar schon heute oder Morgen ansehen."


"Nein, Mom. Das ist auch wieder nicht nötig. Der Mann will auch sein freies Wochenende."


Was sie gleich an einen anderen Mann erinnerte, von dem Emma nur zu gern wüsste, ob er schon wieder über irgendwelchen Akten hockte oder sich wenigstens auch ein Frühstück gönnte.


"Mom... ich muss dir was erzählen. Was Schönes."


 

"Und woher kennt ihr euch?"


Maggie schob sich ein Stück Tomate in den Mund und lehnte sich ein Stück nach vorn, während sie ihre Tochter keinen Moment aus den Augen ließ. Emma nippte an ihrem Getreidekaffee, den es öfter bei ihrer Mom zum Frühstück gab und versuchte endlich nicht mehr ständig so glücklich zu strahlen. Immerhin war es leider so, dass sie ihrer Mutter die delikaten Details der ganzen Sache verschwieg, die sie ihr gerade so freudig eröffnete.


"Er ist mein Boss."


"Oh!"


"Ja, ich weiß. Aber er ist gar nicht sehr viel älter als ich. Anfang dreißig."


"Und wie heißt der gar nicht sooo alte Boss?", wollte Maggie mit einem schiefen Lächeln wissen.


"Cayden. Und er ist rothaarig, ziemlich groß und nett."


Emmas Mutter lachte.


"Na, das will ich hoffen."


"Mom!"


Sie kicherten beide und Emma fing an zu erzählen, welche Facetten dieses 'nett' bis jetzt an Cayden gezeigt hatte.

30. Kapitel

Er hatte nicht gut geschlafen.

Sein Nacken fühlte sich angespannt an, sein Brustkorb war irgendwie eng und in seinem Bauch zog es wie wild, weil er Emma schon jetzt so stark vermisste.

Da half auch sein morgendliches Training nicht, das er für sie die letzten Tage hatte ausfallen lassen, um länger mit ihr im Bett bleiben zu können.

Die anstrengenden Übungen auf der großen Matte, brachten ihn zwar anständig in Fahrt, bis seine Glieder protestierten und nach einer Pause schrien, doch selbst als er diese Anzeichen ignorierte und weiter machte, war sein Kopf voller Gedanken an sie.

Gleich nach dem Frühstück sollte er sie anrufen. Sich irgendwie entschuldigen, auch wenn er sich nicht erklären konnte. Egal. Hauptsache, sie glaubte nicht, dass es nun zwischen ihnen anders stünde, als vor dem plötzlichen Besuch von Vanessa.
 

Nachdem er gründlich geduscht hatte, holte er sich noch die Morgenzeitung aus seinem Postfach und ging damit zur Kaffeemaschine. Noch war es zu früh, um bei Emma anzurufen oder ihr einen Nachricht zu schicken. Er würde sie damit nur aus dem Bett jagen und das wollte er ganz bestimmt nicht.

Während das heiße Wasser langsam durch den Kaffeefilter gluckerte, schlug er daher die Zeitung auf und begann schon einmal im Wirtschaftsteil die neuen Veränderungen durchzulesen. Den Sportteil ließ er ganz weg, bis er sich den Kaffee in eine Tasse einschenkte und zum Regionalteil überwechselte.

Gerade die Tasse an den Lippen erstarrte er mitten in der Bewegung und ließ sie dann langsam wieder sinken, während er den Artikel überflog, der ihm sofort ins Auge gesprungen war.

"Nein…"

Er stellte die unberührte Tasse fahrig zur Seite, warf die Zeitung auf die Arbeitsplatte und stürmte los, um sich schnell ganz anzuziehen. Danach schnappte er sich seine Autoschlüssel, um mit eigenen Augen zu sehen, was er einfach nicht glauben konnte.
 

Cayden konnte es vielleicht nicht glauben, aber er musste es, als er wie viele andere Passanten an diesem Morgen hinter einem Absperrband der Polizei das zerstörte Gebäude angaffte, in dem es eine Gasexplosion mit zusätzlichen Brandbeschleunigern gegeben hatte.

Es gab nur wenige Verletzte, aber dafür einige Todesopfer und wer das Gebäude sah, der konnte sich gut vorstellen, warum man die Leichen hauptsächlich nur noch anhand eines Gebissabgleiches hatte identifizieren können.

Brandstiftung. So hatte es die Zeitung in einer Schlagzeile genannt.

Für Cayden glich es Mord, auch wenn es genug Verrückte auf der Welt gab, die einfach nur gerne mit Feuer spielten.

Helen…

Vor ein paar Tagen noch, war er bei ihr gewesen und während Emma weg war, hätte er sie noch einmal besucht, um sich zu nähren, da er nicht genug von Vanessa getrunken hatte.

Sie war tot.

Cayden konnte es immer noch nicht fassen.

Ohne noch einmal einen Blick auf die verkohlten Überreste des Gebäudes zu werfen, drehte er sich um und ging.

Nicht zu seinem Wagen zurück, sondern daran vorbei. Er musste sich dringend die Beine vertreten. So schnell hatte er nicht damit gerechnet, mit einem weiteren Tod konfrontiert zu werden. Es war wie ein Schlag in den Magen und ging doch auch noch viel tiefer.
 

Emma sah nicht von ihrem Buch auf, während sie an ihrem Tee nippte, sondern stellte die Tasse anschließend nur sehr, sehr langsam wieder auf dem Couchtisch ab, während ihr Blick weiterhin an den Zeilen hing und ihre Lippen sich nicht zum ersten Mal im Verlauf des ersten Kapitels kräuselten.


"Was ist denn an einem Buch über Echsen amüsant?"


Emmas Mom sah von ihrem Krimi zu ihrer Tochter hinüber und zog sich lächelnd den Teller mit Keksen heran, der neben der Kanne Tee auf dem Stövchen und den beiden Bechern auf dem Tisch stand.

"Der Schreibstil. Der Autor ist auch derjenige, der 'Per Anhalter durch die Galaxis' geschrieben hat. Er schreibt hier sehr selbstironisch und trotzdem mit vielen, interessanten Fakten gespickt. Ist wirklich toll."


Das Frühstück hatte sich bis in den späten Vormittag ausgedehnt, weswegen die beiden das Mittagessen hatten ausfallen lassen und gleich zum gemütlichen Tee übergegangen waren. 
Emmas Magen ging es inzwischen gut. Meistens verging es im Verlaufe des Tages wieder. Und sie genoss es, einfach gar nichts zu tun und auch nichts tun zu müssen. 
Auch wenn sie es normalerweise sehr viel schneller durch so ein gutes Buch schaffte wie das, welches sie gerade in den Händen hielt. Aber ihre Konzentration ließ immer wieder nach und ihre Gedanken schweiften zurück nach Wellington zu Cayden.

Er hatte sich wirklich nicht gemeldet. Emma hatte inzwischen alle Ausreden durch: Angefangen von leerem Akku, über ein unerwartetes Meeting, bis hin zu einer gelöschten Handynummer hatte sie alles aufgereiht und anschließend mit einem schalen Gefühl von Angst wieder verworfen. Eigentlich gab es sehr wenige Erklärungen dafür, dass er sich überhaupt nicht rührte. Und das Wahrscheinlichste nach letzter Nacht war, dass er es einfach nicht wollte.


Emma starrte das Wort Comodo in ihrem Buch an und spürte das ängstliche Klopfen ihres Herzens. Es war selbst nach diesen wenigen Tagen, nach den zwei Nächten, die sie gemeinsam verbracht hatten, schmerzhaft. Bloß daran zu denken, dass diese Szene im Büro... Vanessas Auftauchen... ihre kleine, frische, harmlose Beziehung ausradiert hatte. Das machte Emma krank vor Missmut.


Entschlossen stand sie auf, griff sich ihr Handy von der Armlehne des Sessels und stiefelte in ihr Gästezimmer, um ihn anzurufen.


Ihre Hände fingen an zu zittern. Das Herz klopfte Emma bis zum Hals und sie war schon knapp davor, das Handy vom Ohr zu reißen und einfach auszuschalten. So, als hätte sie seine Nummer nie gewählt. 
Aber was sollte das? Das hätte überhaupt nichts gebracht. Denn jetzt wussten sie beide, dass Emma ihn erreichen wollte. Dass sie gern mit ihm sprechen wollte... seine Stimme hören. Auch nur ganz kurz, wenn es gerade schlecht passte. Oder später, wenn er dann mehr Zeit hatte. Sie-


Nach unendlich langem Klingeln wurde sie an die Mailbox der Firma verbunden und Emma legte einfach auf.


Sie hielt das Handy in der Hand, sah es sich einige Moment halb wartend, halb hoffend an und steckte es dann in die Hosentasche, bevor sie zu ihrem Sessel, ihrem Tee und dem Buch zurück kehrte.


Vielleicht fiel ihr noch eine Entschuldigung ein. Er könnte das Handy verloren haben...
 

Cayden gestattete sich nur einen kurzen Moment im Schutze eines Baums, die Trauer an sich heran zu lassen. Sie zuzulassen und dann wieder zu den Akten zu legen. Obwohl das alles leichter klang als es war.

Ebenso wie andere Vampire ihn vermutlich dafür verachten würden, dass er den Verlust einer Blutquelle so tief empfand. Doch Menschen waren für ihn noch nie wie Vieh gewesen und obwohl er Helen persönlich nicht so gut gekannt hatte, dass er mehr als das Nötigste über sie wusste, so waren ihre Begegnungen doch über mehrere Jahre verlaufen. Jahrzehnte.

Der zerstörte Bund tat in seiner Brust weh, nach dem er das Ganze langsam zu realisieren begann.

Cayden lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm des Baumes, sah wie die Menschen um ihn herum vorbei schwirrten und ihn noch nicht einmal bemerkten. Sie lebten alle irgendwie in ihrer eigenen Welt. In einer Welt, bei der er nur Gast oder Zuschauer war. Aber wirklich mitspielen würde er nie dürfen. Weil er dazu gezwungen war ein paar Regeln zu missachten.

Die meisten Vampire hatten einen Gottkomplex und sahen sich ohnehin als von den Menschen abgehoben. Aber er … hatte dieses Problem eigentlich gerne vermieden.

Cayden legte die Hand auf seine Brust und schloss die Augen.

Er atmete mehrmals tief ein und aus, um den beklemmenden Knoten langsam zu lösen, der in seinen Lungen und seinem Hals steckte.

Mit einem letzten langen Ausatmen stieß er sich schließlich vom Baum ab und mischte sich unter die Menschen, die gemütlich an diesem Samstag an ihm vorbei gezogen waren.

Zumindest heute hatte auch er keinen Stress, also würde er gehen. Einfach nur herum gehen, bis sein Kopf diese beengende Klammer des Verlustes abgeworfen und sein Verstand sich wieder auf die Probleme der Gegenwart fokussiert hatte.

Davon hatte er ohnehin genug, aber es gab auch schöne Dinge und obwohl ihm Helens Tod wieder einmal schmerzlich klar vor Augen geführt hatte, wie schnell er jemand wertvollen verlieren konnte, war er ziemlich gut darin, solche düsteren Details wie den natürlichen Tod zur Seite zu schieben und sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.

Gerade deshalb wollte er mit Emma zusammen sein, obwohl Vieles gegen eine Beziehung mit ihr sprach. Die Zeit der Menschen war zu kurz, um sie zu verschwenden.
 

Es war schon dunkel, als Cayden sein Apartment betrat, die Plastiktüte mit dem Essen auf dem Küchentresen abstellte und schließlich sein Handy suchte, das er einfach so liegen gelassen hatte.

Mehrere Personen hatten ihn während seiner Abwesenheit angerufen, doch es war nur eine Nummer, die er mit klopfendem Herzen sofort zurückrief, als er sie sah.

Emma hatte angerufen…

Das Handy zwischen Schulter und Kopf eingeklemmt, wartete er darauf dass sie abhob, während er das Curry und den noch immer dampfenden Reis auspackte.
 

"Irgendwie klingt das ein bisschen so, als würde er nur solche Witze auspacken, die sowieso niemand mehr kennt. Du weißt schon; solche, die man sich in der Grundschule erzählt hat, obwohl man sie nicht witzig fand oder sie überhaupt nicht verstanden hat. Das hat für mich wenig mit Spontaneität zu tun."


Emma trocknete den Teller ab und nahm dann den ganzen Stapel, um ihn in den Schrank zu stellen. Das Geschirr klapperte leise und Gläser klirrten aneinander, als Emma einmal wieder die Tür zu früh losließ und das Schränkchen zu polterte. Das eine Auge zusammen gekniffen und mit hochgezogenen Schultern sah sie zu ihrer Mom. "T'schuldige. Da denk ich nie dran."


Maggie stand an der Spüle und wusch noch den großen Topf ab, in dem sie Kartoffeln gekocht hatten. Sie winkte wegen des Schrankes nur ab und grübelte stattdessen sehr offensichtlich über Emmas Kommentar nach.


"Ehrlich, das ist mir noch nie so aufgefallen. Aber jetzt wo du's sagst. Und du kanntest den Witz wirklich?"


"Ja, sicher. Genauso, wie den mit dem Frosch, das ist-"


Emma schnappte sich wieder das Geschirrtuch und hielt gerade eine Teetasse in der Hand, als sie plötzlich von einer Berührung an ihrer Hüfte zusammen zuckte. Der Vibrationsalarm sprang an, bevor Tiki Taane anfangen konnte, überhaupt den ersten Ton zu singen. Allerdings hatte sich da Emmas Herz schon dreimal überschlagen. Sie ließ das Geschirrtuch fallen, stellte die Tasse weg und zerrte das Handy so schnell sie konnte aus der Tasche, nur um es dann mit flatterndem Puls anzusehen und zweimal den Namen zu lesen, der auf dem Display stand.


Er rief sie an.


Grinsend versuchte Emma diese Information zu verarbeiten und hätte dabei beinahe vergessen, den Anruf auch entgegen zu nehmen. Daher hörte sich ihr "Hallo?" vielleicht auch etwas zu enthusiastisch an, als sie schließlich das Telefon an ihr Ohr hielt.
 

Das Handy fiel ihm vom Ohr, als er mitten im Essenauspacken inne hielt, weil er Emmas Stimme gehört und das irgendwie so eine Art elektrischen Impuls in ihm ausgelöst hatte. Als hätte sie Funken durch die Ohrmuschel direkt in sein Herz und seinen Bauch geschickt.

Das Handy kam allerdings nicht weit, da er es mit seinen vampirischen Reflexen sofort wieder in der Hand und am Ohr hatte.

Sein Puls raste, als er sich an dem Tresen abstützte und sein Blick auf einer marmornen Bodenfliese hängen blieb, für einen Moment wusste er gar nicht, was er sagen sollte. Denn irgendwie hatte er wohl tief in sich drin, gar nicht angenommen, dass sie so schnell abheben würde. Das hatte ihn tatsächlich überrascht.

Um aber nicht komplett wie ein telefonischer Invalide zu erscheinen, der nicht mal bis drei zählen konnte, sagte er das erst Beste, was ihm einfiel.

"Hallo, Emma. Tut mir leid, dass ich mich erst jetzt melde. Ich hab mein Handy Zuhause liegen gelassen. Passiert mir sonst nie, aber-"

Er schloss die Augen und unterbrach sich selbst, weil er merkte, dass er kurz davor stand einfach zu plappern anzufangen. Stattdessen rieb er sich kurz über die Augen und fuhr dann in einem ruhigeren Tonfall fort.

"Wie geht es dir? Bist du gut bei deiner Mutter angekommen?"
 

Das Geschirrtuch zwischen ihren Fingern, zwirbelte Emma den Stoff etwas nervös auf und ab. Es war schon fast ein seltsames Wechselbad an Gefühlen, was ihr diese ersten paar Sätze vermittelten. Zwar konnte Emma nicht wirklich viel dazu sagen, weil Cayden einfach so loszusprudeln schien, aber in jedem Fall konnte sie das Knistern auf ihrer Haut spüren, das seine Stimme bei ihr verursachte.


Es war echte Freude, die sich da in Emma ausbreitete und die ihr Herz zum Hüpfen brachte, während sie so gespannt in den Hörer an ihrem Ohr lauschte, als würde ihr ein Orakel daraus die Zukunft voraus sagen.


"Macht doch nichts. Schön, dass du jetzt anrufst. War denn so viel los?"


Emma konnte sich gar keine Situation vorstellen, in der Cayden sein Blackberry nicht bei sich trug. Einmal von... ganz bestimmten Situationen abgesehen.


"Und mir geht's ganz gut, ich..."


Sie lächelte ihre Mom an und ging dann die paar Schritte ins Wohnzimmer, um dort etwas ungestörter fortzufahren.


"Ich habe ganz gut geschlafen. Aber meinen Jedi-Sandmann hab ich trotzdem vermisst. 
Wie geht es dir denn?"
 

Cayden schloss die Augen, als Emmas Stimme durch ihn hindurch floss und sich dadurch die Wärme in ihm wie ein Lauffeuer ausbreitete.

Es war schon seltsam, dass er sie gerade jetzt noch mehr vermisste, obwohl er sie so nahe wie es momentan eben möglich war, bei sich hatte. Aber er konnte sie nicht berühren.

Als sie ihn fragte, wie es ihm ging, setzte Cayden bereits zu einer ganz gewöhnlichen Floskel an, wie er es sonst immer tat, wenn man ihm diese Frage stellte. Es war schon reiner Reflex, doch da merkte er plötzlich, dass er zwar den Mund bereits für eine Antwort geöffnet hatte, aber kein Ton daraus hervor kam.

"Ich bin in der Gegend herum gelaufen.", meinte er schließlich ehrlich und spürte sofort erneut den Knoten in seiner Brust, als er an den Anblick des völlig zerstörten Gebäudes dachte.

Allerdings schob er die Bilder sofort wieder zur Seite und setzte sich stattdessen gemütlich auf den Barhocker, während seine Finger das Emblem des Curryrestaurants nachzeichneten, von dem er sich Ausnahmsweise einmal Essen geholt hatte. Emma hatte ihn auf die Idee gebracht.

"Ich habe dich auch vermisst."

Seine Stimme sank um einen Ton tiefer, wurde weicher und dunkler, untermalt von dem, was er fühlte.

"Und tue es noch."

Cayden unterdrückte ein Seufzen und glitt wieder vom Barhocker, weil er doch nicht einfach still sitzen konnte. Stattdessen ging er um den Tresen herum und holte sich eine Schüssel heraus, um das Essen nicht aus den Kartons essen zu müssen.

"Was machst du gerade?"
 

Emma verkniff sich jeden Kommentar oder das Nachbohren, zu dem sie sofort ansetzen wollte, als Cayden so ausweichend auf ihre Frage antwortete. So gut kannten sie sich noch nicht, als dass sie aus diesen Worten hätte etwas schließen können oder sollen. Statt also etwas dazu zu sagen, ließ sie sich auf die Couch sinken und stützte ihre Ellenbogen auf den Knien ab.


"Eine Woche ist ja nicht so lange."


Ob sie nun Cayden oder sich selbst zu überzeugen versuchte, war Emma selbst nicht klar. Vielleicht wollte sie auch ihnen beiden dieses Brennen in der Brust ausreden, das sie wie Magneten auf einander zuzog und erst Ruhe und Frieden geben würde, wenn sie wieder zusammen waren. Dabei war es so eine kurze Distanz. Kaum der Rede wert, wenn man bedachte, dass Emma ganz woanders hätte Urlaub machen können. Nelson war... ein Katzensprung über die Cook Strait. Wirklich kein Bein- oder Herzbruch.


"Wir haben gerade gegessen und waren eben beim Geschirr spülen. Jetzt werde ich mich dann weiter durch meinen Bücherstapel lesen. Wenn man das Stapel nennen kann, bei drei Büchern. Aber auch Nelson hat einen Buchladen."


Sie lachte leise.


"Wie ist es bei dir? Hast du dir DVDs ausgeliehen - Dank meinem guten Einfluss?"
 

"Zeit ist relativ.", war alles was er daraufhin erwiderte. Es half schließlich nichts, sich über gegebene Tatsachen zu ärgern, vor allem weil Emma den Urlaub ja wirklich brauchte. Was trotzdem nichts daran ändern konnte, dass er sie vermisste.

Cayden gab sich eine Portion Reis in die Schüssel und leerte die Currysoße darüber. Danach schnappte er sich noch eine Gabel und ging mit dem Essen auf die Couch, wo er die Beine in einem Schneidersitz anzog und es sich bequem machte.

"Ich habe mir gerade etwas zu essen besorgt. Essen aus Kartons. Dazu hat dein guter Einfluss zumindest schon gereicht."

Nun lachte auch er leise.

"Es gibt Curry mit Reis. Aber mit DVDs sieht es heute schlecht aus. Da du ja nicht hier bist und es mir nicht verbieten kannst, werde ich mich wohl noch hinter ein paar Akten klemmen. Du weißt ja, wie Mr. Bleeker immer herumzickt und wie man ihm immer alles schön reden muss. Montag morgen habe ich einen Termin mit ihm. Ich muss also schon mal das Arschkriechen üben. Werde es aber sicher vermasseln."

Breit grinsend schob er sich eine Gabel voll Reis in den Mund und versuchte sich vorzustellen, wie er sich bei Mr. Bleeker einschleimte. Oh ja, das würde so ziemlich daneben gehen. Zum Glück war er von dem Auftrag nicht abhängig.
 

"Autsch."


Emma grinste.


"Da muss ich noch ganz schön an meinem Einfluss arbeiten, wenn ich dich von den guten Sachen in deinem Kühlschrank wegzerre. Aber Curry ist irgendwie sowieso am Leckersten, wenn es jemand anders für einen gekocht hat."


Selbst die kleine Randnotiz, dass er sich wieder an die Arbeit machen und vermutlich die halbe Nacht deswegen aufbleiben würde, konnte Emma das Lächeln nicht aus dem Gesicht wischen. Es war Caydens Entscheidung. Und Emma würde ihn nicht vollkommen umkrempeln. Das hatte sie gar nicht vor. Denn immerhin mochte sie Cayden so, wie er war. Solange er sich Zeit für sie nahm, was er gerade ja auch tat, war sie zufrieden und würde ihn seine Arbeitswut ausleben lassen. Zumindest bis zu einem gewissen Grade. Wenn er sich damit selbst fertig machte, war aber Schluss mit lieb.


Ihre Augenbraue hob sich überrascht, als sie ein Wort wie 'Arschkriechen' aus Caydens Mund hörte.


"Ja, den Termin habe ich gesehen. Aber sag ihm einfach, dass er im Moment wirklich außerordentlich gesund wirkt, dann hast du einen Stein bei ihm im Brett. Soweit ich das sagen kann, hat er echte Probleme wegen seines Toupés. Wenn du ihm glaubhaft machen kannst, dass es dir nicht auffällt, ist er etwas weniger... hölzern."


Was irgendwie auch eine Art von Schleimen war. Aber vielleicht nicht ganz so schlimm, wie Bleeker in einer Tour die Ohren vollzusäuseln über seine gut laufenden Geschäfte und seine tolle Marktstrategie. Bei der er sich noch Einiges von Cayden abschauen konnte.


"Denkst du denn, du hast Lust auf eine Star Wars - Nacht, wenn ich wieder zurück bin?"
 

Bei Emmas Erklärung, was Mr. Bleekers Toupé anging, musste Cayden das Handy vom Ohr weg halten und laut lachen. Wobei er sich nur schwer wieder beruhigen konnte.

Gott, es tat so gut, mit Emma zu reden.

Als er schließlich nur noch grinste, meinte er in einem gespielt kaufmännischen Tonfall: "Vielen Dank für die Auskunft. Ich werde es weiter leiten und versuchen, Mr. Bleekers Haarpracht zu ignorieren, auch wenn es etwas schwer werden dürfte, da er fast zwei Köpfe kleiner ist als ich. Ich habe also sozusagen Logenplätze."

Wieder lachte er leise los und stoppte sich dann mit einem weiteren Bissen von dem Curry. Das sorgte zumindest dafür, dass er Emmas nächste Frage überdenken konnte, auch wenn es da nichts zu überdenken gab.

"Ist das eine Fangfrage?", fragte er vollkommen ernst, auch wenn er es nicht so meinte.

"Nein, ehrlich. Ich kann mir kaum vorstellen, 'keine' Lust auf eine Star Wars – Nacht mit dir zu haben. … Oder irgendeine andere Nacht."

Er wurde wieder ruhiger. Die Stimmung wechselte und er stocherte nachdenklich in seinem Reis herum.

"Wenn du mit Lesen fertig und dann noch nicht zu müde bist … hättest du dann Lust, meine Arbeitswut zu unterbrechen und noch einmal mit mir zu telefonieren?"

Es klang hoffnungsvoll. Das versteckte er gar nicht erst.
 

Oh man... sie liebte sein Lachen. 
Es riss Emma immer aufs Neue mit. Und das nicht nur wegen der Tatsache, dass sie sich fast geehrt fühlte, wenn sie Verursacherin dieser Heiterkeit bei Cayden war. Wenn er einmal lachte, schien seine Schale ein bisschen zu knacken und Emma hatte den Eindruck, endlich etwas von seinem Kern erspüren zu können. Und das in sehr schöner Form. Sie strahlte vor sich hin und reagierte ebenfalls heiter auf seinen Wink mit dem Logenplatz.


"Schau einfach woanders hin. Auf seine Schuhe."


Erst als er das mit der Fangfrage sagte, sprang Emmas Herz in einen weniger angenehmen Rhythmus und sofort quoll Besorgnis in ihr auf, dass sie doch zu scherzhaft geworden war. Sie konnte ihn einfach nicht gut einschätzen. Manchmal glaubte sie es zwar, fühlte sich nah daran, aber dann wechselte Cayden doch wieder seine Reaktionsart und Emma war aufs Neue verunsichert. 
Diesmal legte sich das aber recht schnell, als sich die Härchen in ihrem Nacken knisternd aufstellten und sich ein sehr warmes Schmunzeln auf ihren Lippen ausbreitete. Emma vermisste Cayden umso mehr, als er ihr sagte, dass er bei ihrer Rückkehr Zeit für sie haben würde. Dass er sich sogar darauf freute?


"Nein, keine Fangfrage. Das ist nicht mein Stil."


Während Stille zwischen ihnen herrschte, sah Emma zum Fenster hinaus und fragte sich kurz, ob sie mit Cayden irgendwann einmal einen echten Urlaub machen würde. Nur sie beide, gemütlich, ohne irgendeinen Termin im Nacken. Vermutlich standen die Chancen schlecht. Aber die Vorstellung gefiel ihr trotzdem.


"Das würde ich gern. Aber ich denke, dass ich heute nicht allzu lange wach bleiben werde. Ist es dir Recht, wenn ich dich so gegen zehn anrufe? Wenn ich ins Bett gehe?"
 

Cayden stellte sein halb aufgegessenes Curry auf dem Couchtisch ab und ließ sich seitlich auf die Couch plumpsen. Okay, es war mehr ein elegantes Gleiten, aber das Ergebnis blieb im Endeffekt das gleiche.

Er zog sich ein Kissen näher heran, dass schwach nach Emma und ihm roch und legte seinen Kopf darauf.

"Em, solange ich deine Stimme hören kann, ist mir alles Recht.", gestand er schließlich leise und sanft.

Er schloss die Augen und versuchte sich das Gefühl vorzustellen, wie es gewesen war, als sie sich gemeinsam einen Film angesehen und sie sich dabei an ihn gekuschelt hatte.

Cayden vermisste das Gefühl, sie halten und ihren Körper an sich spüren zu können. Er vermisste ihren Duft und die Art, wie ihr Herzschlag stets eine angenehme Hintergrundmelodie zu seinem eigenen darstellte.

Am liebsten würde er jetzt gleich durch die Telefonleitung kriechen und Emma einfach beim Lesen zusehen, sobald sie den Anruf beendet hatten. Auch etwas, was ihm nicht wirklich gefiel.

Cayden wollte nicht auflegen.

"Wie geht es dir eigentlich? Ich meine deinem Magen?"
 

"Charmeur..."


Wie sehr sie das schmeichelte, hätte Emma gar nicht in Worte fassen können. Daher ließ sie selbst den Versuch bleiben und errötete lieber im Stillen, während ihre Finger das auf dem Tisch liegende Buch hin und her schoben. Vielleicht hätte sie doch in Welly bleiben sollen. Einfach nur halbe Tage arbeiten und sich nachmittags ausruhen. Dann hätte sie abends noch bei Cayden sein können und er müsste den Stress im Büro nicht allein-


Jetzt fiel ihr wieder ein, warum sie in erster Linie zu ihrer Mom hatte fahren wollen. In Welly, in der Nähe der C&C hätte sie sich gar nicht wirklich erholen können. Die Firma wäre immer viel zu nahe und Emmas Wille, es Cayden leichter zu machen immer größer gewesen. Der ganze Urlaub hätte nichts gebracht.


"Mh. Frag nicht. Heute Morgen war es wirklich elend. Aber ich habe schon einen Termin beim Arzt. Meine Mom kennt einen hier und gleich am Montag kann ich hin. Dann wird sich das hoffentlich erledigt haben."


Ihre Mom kam mit zwei dampfenden Tassen aus der Küche, stellte eine davon vor Emma ab und setzte dann einen fragenden Blick auf, den Emma mit einem Nicken beantwortete. Schmunzelnd setzte Maggie sich hin und nahm sich ihren Krimi, hinter dem sie sogleich verschwand und versuchte, dem Telefongespräch ihrer Tochter keine allzu große Aufmerksamkeit zu schenken.


Emma fand das in Ordnung. Wenn sie wirklich nicht wollte, dass ihre Mom etwas von dem Gespräch mitbekam, konnte sie immer noch in ihr Gästezimmer gehen.


"Wie auch immer. Hast du denn dieses Wochenende noch etwas Anderes vor, als zu arbeiten?"
 

Cayden hatte angenommen, da Emma gut geschlafen hatte, dass sich auch das andere gelegt haben dürfte. Doch da dem offenbar nicht der Fall war und es wirklich nicht gut klang, wenn aus Emmas Mund Worte wie 'wirklich elend' kamen, schlug seine Sorge wieder mit voller Wucht zu.

Er setzte sich wieder auf und strich sich übers Gesicht, während er seine Ellenbogen auf den Knien abstützte.

"Sag mir aber bitte Bescheid, wenn es etwas Ernstes ist." Denn dann würde er alles stehen und liegen lassen und zu ihr kommen.

Das war er sich plötzlich nur allzu deutlich bewusst, so sehr es ihn auch überraschte.

Aber vielleicht lag es auch mit den anderen Dingen zusammen, an denen er gerade nagen musste. Ein Tod ließ ihn immer nachdenklich werden. Auch wenn es wohl eher Emma an sich war, die ihn so einfach aufrütteln konnte, dass er seine Gewohnheiten durcheinander brachte und das zum Teil sogar mit voller Absicht.

Cayden wurde sich erst bewusst, dass Emma ihn etwas gefragt hatte, als Schweigen am anderen Ende der Leitung zu hören war.

"Ohne dich? Sehr unwahrscheinlich."

Er lächelte schwach, vielleicht auch ein bisschen zweifelnd. Irgendwie war heute wieder so ein Tag, an dem er die ganze Palette an Gefühlen durchging. Gerade kam er wieder bei deprimiert an.
 

"Ja, mach ich. Aber keine Sorge. Vermutlich ist es nur..."


Sie wollte sagen 'der Stress', ließ es dann aber bleiben, weil sie in letzter Zeit erstens gar nicht so viel Stress gehabt hatte und zweitens nicht wollte, dass Cayden sich schlecht fühlte. Er war zwar ihr-

Na, auf jeden Fall war er ihr Boss und sollte bestimmt nicht denken, dass sie wegen seiner Anforderungen an sie krank geworden war.


"Vielleicht nur ein Wirbel verschoben oder was weiß ich. Wird schon nicht so schlimm sein. Es geht ja auch immer wieder vorbei."


Jetzt war sich Emma ihrer Intuition aber auf einmal sehr bewusst. Wie ein kalter Waschlappen hatte sie die Veränderung in Caydens Stimme ins Gesicht getroffen und sie musste ihre erste Reaktion sehr tapfer hinunter würgen. In ihrem Magen blieb sie, wie ein harter Stein einfach liegen. Nein, das hatte bestimmt kein Vorwurf sein sollen. Und Emma sollte nicht daran denken, sich selbst ein schlechtes Gewissen einzureden, weil er vielleicht weniger ... "Unsinn" gemacht hätte, wenn sie in Welly geblieben wäre.


"Cayden... geht's dir... nicht so gut?"


Es war eine wirklich zaghafte, schon fast entschuldigende Frage, bei der Emma nun doch aufstand und ihren Tee schnappte, um ihn mit in ihr Gästezimmer zu nehmen und schließlich dorthin verschwand.
 

Er schwieg.

Während sich sein Brustkorb wieder zusammenzog, als hätte sich Stacheldraht darum gewickelt, schloss er seine Augen und stützte seine Stirn auf seiner Hand ab.

Eine altvertraute, nie ganz los zu werdende Erschöpfung erfüllte ihn und schien ihn von innen heraus auszuhöhlen.

Manchmal fühlte es sich so an, als wäre er nur noch eine leere Hülle, die sich hartnäckig weigerte, zu altern und zu sterben.

Cayden sah vielleicht jung, gesund und fit aus. Wie in der Blütezeit eines Mittzwanzigers, der nur Party, Fun und Troubles kennt und ihnen auch in vollen Zügen frönt – sofern er einmal seinen Anzug im Schrank hängen ließ. Aber wenn man in ihn hinein sehen könnte, fände man vermutlich einen uralten Greis, der schon Staub ansetzte, dem Spinnweben in den Haaren hingen und der inmitten von unzähligen alten Büchern voll von Erinnerungen an seinem knorrigen alten Schreibtisch hockte und einfach nicht gewillt war, mit dem Atmen aufzuhören.

Nein, ganz im Gegenteil. Er beschäftigte sich mit Technik, moderner Wissenschaft, neuen Erkenntnissen, Dingen und Sachen, die er noch nicht im vollen Maße studiert hatte. Er versuchte den Anschluss an die sich ständig ändernde Welt nicht zu verlieren. Versuchte den alten Greis in sich mit bunten, schillernden, neuen Eindrücken zu überdecken, um sich wenigstens für einen winzigen Moment wirklich und wahrhaftig jung zu fühlen und dem Aussehen zu entsprechen, das andere in ihm sahen. Aber Dinge und Sachen konnten keine Personen ersetzen. Keine Beziehungen, Freundschaften, Familie…

Es war auf Dauer unglaublich anstrengend, immer wieder von Vorne anzufangen, obwohl man das Ende der Geschichte bereits im Vorhinein kannte…

Cayden seufzte schwer und stand abrupt auf um im Wohnzimmer auf und ab zu gehen, als er sich seiner eigenen Gedanken bewusst wurde. Zerstörende Gedanken, wie er nur zu genau wusste und wie er sie schon oft gehabt hatte. Er durfte ihnen gar nicht erst nachgeben. Sonst würden sie ihn noch mehr infizieren.

"Kennst du das?", fragte er schließlich, sich gar nicht bewusst, wie lange er nun wirklich geschwiegen hatte.

"Dieses Gefühl, wenn man sich manchmal so richtig alt fühlt und man sich fragt, wofür das ganze eigentlich?"

Vermutlich kannte sie es nicht.

"Nun ja. Egal. Ich bin okay, mach dir keine Sorgen."

Was wohl schwer sein dürfte, da er nicht sehr überzeugend klang. Aber er konnte ihr nicht einfach erzählen, was ihn wirklich belastete. Auch wenn ein Teil von ihm ihr gerne alles erzählt hätte. Wirklich alles.

Cayden blieb stehen, als er den Mund öffnete, um…

Er schloss ihn wieder und ging weiter. Nein, es gab nichts zu erzählen. Diese Tür war ihm allein vorbehalten und dem was er war. Er konnte sich nicht einfach offenbaren.
 

"Nein..."


Emma war zu ihrem Schlafsofa hinüber gegangen und hatte sich davor auf den Boden sinken lassen. Die Knie angezogen hatte sie sich mit dem Rücken dagegen gelehnt und geduldig darauf gewartet, was Cayden auf ihre Frage erwidern würde. Dass es so eine Antwort war, damit hatte sie nicht unbedingt gerechnet.


"Aber wir sind doch auch noch gar nicht alt, Cayden. Wir haben noch Jahrzehnte, um viele, wunderbare Dinge zu tun. Vielleicht sogar Außergewöhnliches, Neues, aber auf jeden Fall Schönes. Viele Dinge kann man auch erst tun, wenn man ein bisschen... erwachsener ist. Stell dir vor, wir würden jetzt anfangen zu golfen..."


Sie lächelte warm in ihr kleines Telefon und hoffte, dass zumindest so etwas wie der Hauch einer positiven Reaktion von ihm kommen würde. Und wenn nicht, würde sie weiterhin versuchen, ihn aufzuheitern.


"Und für eine Midlife-Crisis bist du auf jeden Fall noch mindestens zehn Jahre zu früh dran. Also komm bloß nicht auf die Idee, dir eine jüngere Privatsekretärin anzuschaffen!"


Zuerst wurde ihr Lächeln breiter, dann zog es sich wieder ein bisschen zurück, um einem sehr ernsten Zug Platz zu machen.


"Aber ehrlich, Cayden. Wenn es dir nicht so gut geht und du einfach reden möchtest... über was auch immer... tu's einfach. Ich habe geübte Ohren."
 

Emma konnte es nicht besser wissen.

Sie konnte nicht wissen, dass ihre Worte eigentlich genau das Gegenteil von aufmunternd waren. Sie hielt ihn für jung, weil sein Äußeres es ihr vermittelte, obwohl er genau genommen der älteste Mann war, mit dem sie je zusammen gewesen sein dürfte. Älter noch als ihr Ururururururururururahn und vielleicht noch ein paar Urs dran.

Sie glaubte, erst in zehn Jahren oder so würde er reif sein, um seine erste Kriese wegen des Alterns zu bekommen und dass sie noch Jahrzehnte Zeit hätten, um das Leben zu genießen.

Es stimmte nicht. Emma hatte noch Jahrzehnte Zeit. Er würde noch sehr sehr viel länger leben.

Aber ihr Kommentar wegen des Golfens rang ihm ein Lächeln ab und zugleich auch die Tatsache, dass sie ihm mit ihren Worten helfen wollte.

Wieder blieb Cayden stehen, dieses Mal an einem seiner Bücherregale und fuhr mit seinen Fingerspitzen vorsichtig die alten Lederrücken mit den bereits teilweise abgeblätterten Goldlettern darauf nach.

"Im Golfen bin ich schlecht. Mein Ball fliegt höchstens drei Meter weit und auch nur dann, wenn ich dagegen trete."

Es war ein winziges Eingeständnis daran, dass er schon längst erwachsen war. So sehr man das in gut zwei Jahrtausenden eben sein konnte. Manche wurden es schließlich nie. Nicht einmal Vampire.

"Und mach dir keine Sorgen, du bist so blutjung, dass ich nicht einmal auf den Gedanken an eine andere käme. Außerdem würdest du mir die Hölle heiß machen und genau das ist eines der Dinge, die für mich so anziehend wirken. Ich mag dein Temperament."

Er lächelte nun wirklich ehrlich, auch wenn es schnell wieder verblasste, als sich erneut Schweigen zwischen ihnen ausbreitete.

Cayden hätte Emma von Helen erzählen können. Das wäre kein Problem gewesen. Jeder Mann konnte einfach nur eine Freundin haben und bestimmt würde sie bei den näheren Details nicht nachbohren. Aber es gab Gründe, es nicht zu tun.

Zum Einen, weil er selbst damit fertig werden musste. Denn das musste er immer.

Zum Anderen, weil er Emma ihren Urlaub nicht versauen und sie volljammern wollte.

Es war schön, zu wissen, dass sie für ihn da sein würde und dass er mit ihr reden konnte, wenn er es wollte. Er lehnte sich gerne bei ihr an und genoss die Wärme, die sie ihm selbst über so viele Meilen hinweg mühelos übermitteln konnte. Aber genau deshalb behielt er es für sich.

Emma mit so etwas zu belasten, nur damit es ihm selbst besser ging, war egoistisch. Erst recht, da es ihr nicht gut ging. Zumindest nicht so richtig.

"Ich vermisse dich einfach.", sagte er schließlich und ließ die Hand wieder sinken.

"Und freue mich darauf, wenn du wieder da bist."

Es war die Wahrheit. Aber eben nicht die ganze.
 

"Ich vermisse dich auch. Sehr sogar."


Irrsinnig, wenn man bedachte, wie wenig Zeit sie bis jetzt mit einander verbracht hatten. Zumindest Zeit als Paar. Aber solche Sachen ließen sich eben mit dem durchschnittlichen Menschenverstand nicht messen und nicht im richtigen Maße abschätzen. Für Emma fühlte es sich gerade so an, als wäre sie schon sehr viel länger als drei Tage mit Cayden liiert. Vielleicht kam es nur daher, dass sie sich jeden Tag sahen und auch mit einander sprachen. Vielleicht passten sie auch einfach zu einander.


Emma beschloss mit einem warmen Lächeln, dass es ihr egal war, welche Gründe es hatte. Auf jeden Fall fühlte es sich einerseits schön und andererseits stechend grässlich an, solche intensiven Gefühle für Cayden zu haben.


"Weißt du was? Wir könnten uns irgendwas Schönes überlegen für nächstes Wochenende. Ich werde am Freitag wieder zurück nach Welly kommen. Und wenn du Zeit und Lust hast, könnten wir..."


Ihre Lippen schoben sich zu einer kleinen Schnute nach vorn, während Emma überlegte. Sie ging schrecklich gern ins Kino oder in den Zoo. Aber ob Cayden das wollte? Und ob er so einen echten öffentlichen Auftritt mit ihr wirklich riskieren wollte?


"Mir fällt gerade nichts ein. Gibt es denn etwas, das du gern tun würdest?"
 

Cayden stieg voll und ganz auf den sanften Themenwechsel ein, vor allem auch, weil das Prickeln in seinem Bauch bei der Vorstellung zu nahm, etwas mit Emma am nächsten Wochenende zu unternehmen. Nur was?

"Einmal davon abgesehen, mit dir faul auf der Couch herum zu liegen?", fragte er sanft, ließ es aber mehr wie eine Tatsache klingen.

"Wenn du aber eher Lust hast, raus zu gehen, anstatt bei mir herum zu lungern, könnten wir auch … ins Kino gehen. Ich meine, klar bestünde die Möglichkeit auch einen Film hier anzusehen, aber so kämen wir von der Couch und ich wieder einmal ins Kino. Das letzte Mal ist so lange her, dass ich nicht einmal mehr genau weiß, wie lange."

Nun ja, eigentlich wusste er es doch noch.

Linda Hamilton in Terminator I. 1984.

"Auf jeden Fall würde ich mich gerne noch ein bisschen weiter von dir in die Welt der Filme einführen lassen. Meinst du, dazu bestünde die Möglichkeit?"

Dieses Mal klang er wieder lebhafter und ein gespieltes Betteln lag als Unterton in seinen Worten. Zumindest vorübergehend war die Sturmwolke abgedriftet. Das war auf alle Fälle Emma zu verdanken und sie musste ihn tatsächlich unbedingt später noch einmal anrufen. Sonst würde er es tun.
 

Emma schnurrte kurz in ihr Handy, bevor sie ein bisschen kicherte und ein ungewohnter Unterton sich in ihre Stimme schlich. Ganz klamm und heimlich, so dass sie es selbst kaum mitbekam.


"Auf der Couch rumhängen hört sich gut an. Ob faul... hm..."


Sie ließ alles Weitere offen, aber bei Cayden war hoffentlich angekommen, dass sie sich im Moment kaum etwas Kuscheligeres vorstellen konnte, als mit ihm zumindest ein paar Stunden auf seinem Luxussofa herum zu faulenzen.


"Oh ja, lass' uns ins Kino gehen!"


Bei der Idee war Emma sofort Feuer und Flamme und ging in Gedanken das Programm des Reading Courtney durch.


"Es kämen der neue Harry Potter, Eat Pray Love, und The Ghost Writer in Frage, glaube ich. Alles Andere ist entweder platte Romantikkomödie oder sowas wie Resident Evil die Hundertste. Meinst du, wir könnten vielleicht in einen von den Filmen gehen? Sag mal, isst du dein Popcorn eigentlich lieber süß oder salzig?"
 

"Auf der Couch rumhängen hört sich gut an. Ob faul... hm..."


Cayden begann zu lächeln, während sein restlicher Körper reglos verharrte und er sich kurz der Vorstellung mit Emma auf der Couch hingab.

Als sie weiter sprach, leckte er sich mit einer gewissen Sehnsucht und einer knisternden Aufregung über seine Fänge und genoss es einfach, so auf sie zu reagieren. Emma war nicht hier. Sie konnte nicht sehen, was sie mit ihm anrichtete, wenn sie ihm so unterschwellig ins Ohr schnurrte.

"Ich kenne nicht einmal die ersten Harry Potter Teile. Also denke ich, fällt das schon einmal ins Wasser und die anderen Filme sagen mir nichts. Wäre also besser, du suchst dir einen aus. Ich bin mir sicher, ich werde nicht neben dir im Kino einschlafen, falls es der falsche Film war." Nein, ganz im Gegenteil. Sollte er sich wegen des Filmes zu Tode langweilen, würde Emmas sogar ganz bestimmt bemerken. Denn dann würde er sich etwas sehr viel Interessanteres als Beschäftigung suchen.

"Es gibt süßes Popcorn?"

Diese simple und doch so merkwürdige Frage führte tatsächlich dazu, dass Cayden seine Sorgen immer mehr vergaß und sich wieder entspannt auf die Couch setzen konnte.

Er unterhielt sich nicht mehr lange mit Emma, da er sie nicht vom Lesen abhalten wollte, erklärte ihr aber noch, dass ihm M&Ms mit Nüssen ohnehin lieber wären, obwohl sich auch süßes Popcorn gut anhörte. Zumindest, nachdem sie ihm erklärt hatte, was das war.

Als sie es endlich schafften, aufzulegen, machte Cayden sich mit neuer Energie und einer ganz bestimmten Vorfreude im Bauch wieder an seine Arbeit, die er bereits einen ganzen Tag lang vernachlässigt hatte. Denn normalerweise arbeitete er auch das Wochenende durch bzw. für die nächste Woche vor, um mit dem engen Terminplan besser zurecht zu kommen.

Doch da er wusste, wann Emma ungefähr wieder anrufen würde, lag er bereits fertig zum Schlafen im Bett, das Handy neben sich auf dem Platz, den er für Emma auf seinem Kissen reserviert hatte und wartete voller Ungeduld, dass es läutete.

31. Kapitel

"Nimmst du dann bitte für Morgen den Kuchen aus dem Gefrierfach?"


Ihre Mom lief schon zum zweiten Mal an der Küchentür vorbei und der kleinen Katze hinterher, die schreiend irgendetwas im Maul herum trug, das sie eigentlich nicht hätte vom Tisch klauen sollen.


"Ja, mach ich."


Der Marmorkuchen lag hinter zwei halben Broten und viel Gemüse im Kühlfach und Emma zog ihn unfallfrei heraus und legte ihn auf einen Teller zum Auftauen. Morgen zum Frühstück würden sie ihn essen können. Oder später zum Tee. Der Sonntag würde auf jeden Fall Emmas erstem Urlaubstag an Gemütlichkeit ins Nichts nachstehen.


"Dummes Tier. Was will er denn damit?"


Emma lachte auf, als ihre Mom ihr das Stück Karotte zeigte, dass der Kater Percy vom Tisch geklaut hatte. Nein, damit konnte der pummelige Kater bestimmt nicht besonders viel anfangen. Außer es irgendwo hin zu legen, sich daneben zu werfen und damit zu spielen. Dafür schien das Gemüse in Emmas Augen mehr als geeignet.


"Ich geh dann schlafen. Gute Nacht."


"Gute Nacht."


Als sie wenige Minuten später im Bett lag, konnte Emma kaum glauben, dass es nur ein paar Stunden her war, dass sie mit Cayden gesprochen hatte. Sie schaltete das Licht auf der Fensterbank über sich an, kuschelte sich gemütlich in das bereits vorgewärmte Bett und wählte dann seine Nummer. 
Es dauerte nicht einmal zwei Sekunden, bis er abhob.


"Hi. Na, sitzt du noch am Schreibtisch?"
 

Sofort als das Handy los ging, bekam er Herzklopfen und seine Ohren schienen vor Aufregung vor sich hinzuglühen. Wie … interessant.

Hastig nahm er das Handy zur Hand und hob ab, während er sich auf den Rücken drehte und die Augen schloss, um Emmas Stimme besser fühlen zu können.

"Nein. Ich liege brav mit geputzten Zähnen im Bett. In diesem Punkt würde ich dich nie anlügen."

Er lächelte. Konnte gar nicht anders. Im Moment ging es ihm wirklich gut.

"Wusstest du eigentlich, dass es mir so vor kommt, als wäre mein Bett neuerdings viel zu groß für mich alleine? Seltsam, oder? Und … ich weiß auch nicht…"

Cayden zog sich eine Ecke des Kissens über den Kopf und sog tief die Luft ein.

"…es duftet auch nicht nur nach mir alleine. Was interessant ist und vermuten lässt, dass mir hier tatsächlich etwas abgeht.", nuschelte er in das Kissen, ehe er es von seinem Mund und stattdessen an seine Brust zog, als er sich auf der Seite zusammen rollte.

"Ich habe sogar schon eine Vermutung, was es ist. Aber erzähl mal. Wie ist dein Bett so?"
 

Emma hatte ein kitzelndes Grinsen im Gesicht und kuschelte sich noch tiefer in die warmen Laken über der Heizdecke, während sie Caydens Ausführungen zuhörte. Er war ja soooo süß!

Um ein kindischen Quietschen zu unterdrücken, hielt Emma ihr Handy ein ganzes Stück von sich weg und strampelte einmal mit den Füßen, bevor sie sich breit grinsend wieder ans Gespräch wagte.


"Wie mein Bett ist?"


Auch wenn sie es schon wusste, sah Emma sich kurz ihre Schlafgelegenheit an.


"Es ist eigentlich gar kein Bett. Und es ist schmal, aber frisch bezogen. Ich habe eine große Decke und..."


Sie hielt inne und kontrollierte mit der Nase ihre nächste Ausführung.


"Das Kissen riecht nur nach mir allein."


Ihre Stimme wurde weicher und ihre Augen nahmen einen sehr sanften Zug an, als sie weiter sprach und sich dabei an den gestrigen Abend erinnerte, der ihr schon so vor kam, als wäre er in unglaublich weite Ferne gerückt.


"Aber weißt du... mein Schlafanzug riecht auch anders, als ich es gewohnt bin. Sehr lecker allerdings - irgendwie... macht es fast süchtig."
 

"Ich weiß gaaanz genau, was du meinst."

Seine Stimme sank zu einem tiefen Schnurren herab und seine Sinne wurden geweckt, als er Emma aufmerksam zuhörte. Zusammen mit ihrem Duft, der noch schwach im Raum hing, war das eine besonders angenehme Mischung, aber natürlich kein Ersatz dafür, dass sie nicht hier war.

Sein Arm schlang sich enger um das Kissen, während er mit seinen Fingerspitzen ein paar der schwarzen Linien auf seinem Unterarm nachzeichnete. Mehr in Gedanken und Bildern versunken, als sich dessen wirklich bewusst zu sein.

"Wärst du jetzt hier, würde ich mich direkt an der Quelle dieses Dufts gütlich tun. Ich fröne gerne meinen Süchten, musst du wissen. Gerade weil es da nicht viele gibt."

Er lachte leise, ehe sein schnurrender Tonfall zu einem neugierigen überwechselte, auch wenn er immer noch gedämpft und der Atmosphäre entsprechend leise sprach.

"Erzähl mir etwas von dir, Em. Etwas das ich noch nicht weiß."
 

"Einfach... irgendwas?"


Als sie begann sich etwas zu überlegen, zog Emma die Decke wie einen weichen Kokon um sich herum, sperrte auch jedes noch so kleine kühle Züngelchen an Luft aus und knipste auch das Licht aus, um sich ganz in die Kissen zu kuscheln.


"Wo soll ich denn anfangen?"


Wenn man es recht bedachte, wusste er überhaupt noch ziemlich wenig von ihr.


"Ich mag Katzen. Hunde mag ich dafür nicht besonders. Hier bei meiner Mom gibt es einen Kater, er heißt Percy und hat vorhin ein Stück Karotte zum Spielen vom Tisch geklaut."


Ihr fiel mit einem Anflug von Röte auf den Wangen auf, dass das bestimmt nicht die Richtung war, die Cayden mit der Frage angestrebt hatte.


"Ich mag lange Schaumbäder. Und ewige, fast schon philosophische Unterhaltungen. Ich habe gern Luftschlösser auf rosa Wattewolken - selbst wenn mir klar ist, dass die bunte Seifenblase irgendwann platzen wird. Ich liebe Moccachino bei Espressoholic und bei dem kleinen Stand an der Ecke vom Postamt. Die geben mir nämlich immer gleich zwei Marshmallows - wenn ich Glück habe, einen in rosa und einen in weiß."


Ihr fielen die Augen zu, während sie im dunkeln liegend erzählte. Alles nur kleine Dinge, aber trotzdem...


"Jetzt du..."
 

Cayden lächelte mit geschlossenen Augen im Dunkeln, als Emma das mit dem Kater Percy und der Karotte erzählte. Auch die restlichen Informationen saugte er wie ein Schwamm in sich auf, machte sich kleine Gedanken dazu, aber noch nicht allzu viele, damit er nichts von ihrer Erzählung verpasste.

Als er plötzlich an der Reihe war, wusste er zunächst einmal gar nicht, was er ihr erzählen könnte. Doch aus einem innerlichen Bedürfnis heraus, begann er einfach zu sprechen. Die Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit.

"Ich liebe es, Stunden lang auf dem Rücken in einer warmen Sommernacht zu liegen und den Sternen zuzuschauen. Das Geräusch von fallenden Regentropfen auf Blättern beruhigt mich ungemein. Schnell mit nackten Fußsohlen durch einen Wald oder über eine Wiese zu laufen, gibt mir das Gefühl von unendlicher Freiheit."

Er kuschelte sich tiefer in das Kissen hinein, ohne den Redefluss abbrechen zu lassen. Tatsächlich floss es einfach nur so aus ihm heraus.

"Wenn ich einen richtig guten Höhepunkt habe, kribbeln meine Zehenspitzen meistens noch mehrere Minuten nach und ich habe kein Problem damit, stundenlang in einer einzigen Position zu verharren. Sehr Praktisch wenn man in einem langweiligen Verkaufsmeeting Haltung bewahren muss. Außerdem mag ich meine Frühstückseier gut durch und Steaks dafür etwas blutig. Ich bin nicht der Rosentyp, finde Orchideen dagegen sehr viel schöner. Ob zum Verschenken oder Ansehen, egal. Sie haben die Art von exotischer Schönheit, die einer gewöhnlichen Rose fehlt. Zudem fühle ich mich in einem warmen Klima wohler, als in einem kalten. Schnee finde ich dennoch faszinierend, vor allem wenn er fällt und auch liegen bleibt."

Er zog sich die Decke weiter hinauf, während seine Stimme leiser wurde. Er fühlte sich nicht wirklich müde, aber besänftigt, friedlich und vollkommen ruhig. Einfach geborgen, so dicht mit Emma am Ohr, auch wenn sie nicht wirklich hier war.

"Lärm kann ich nicht ausstehen, genauso wie zu intensive Gerüche. Parfums, Raumsprays usw. mit eingeschlossen, wenn sie nicht sparsam verwendet wurden. Außerdem neige ich dazu, bei einer gewissen Person viel zu viel zu reden. Sag mir, schläfst du schon?"

Wieder ein leises Lachen.
 

Sie hatte sich selbst auf den Rücken gedreht und aus dem Fenster zu den Sternen aufgesehen, als Cayden ihr davon erzählte. Und Emma fand die Vorstellung, irgendwo mit ihm auf einer Picknickdecke am Strand zu liegen und sich die gleichen Sterne anzusehen, die jetzt über ihr glänzten, unendlich romantisch.


"Im Moment finde ich nicht, dass du zu viel redest. Ganz im Gegenteil... Und nein, ich schlafe noch nicht."


Allerdings gähnte sie natürlich gerade jetzt und ihre Zehen wuschelten in der weichen Bettdecke herum. Emma gefiel diese Sache. Einfach erzählen, ohne gewertet zu werden. Einfach von sich erzählen, weil der Andere es wissen wollte. Und wenn es Cayden so ging, wie ihr selbst, dann hatte er wirklich das Bedürfnis, so viel über sie zu erfahren, wie möglich war.


"Ich habe ungefähr 15 Handtaschen, aber nur 5 Paar Schuhe, die ich regelmäßig trage. Wenn ich in den Urlaub fahre, sehe ich dreimal nach, ob ich auch wirklich alles dabei habe. Ich habe eigentlich immer ein Buch dabei, trage aber oft keine Uhr, wenn ich aus dem Haus gehe. Ich kann ein Buch in zwei Tagen lesen, schaffe es aber meistens nicht eines fertig zu bekommen, wenn ich es in vier Wochen wieder zurück in die Bücherei bringen muss. Meine Lieblingschips sind die mit Sourcream und ich könnte eigentlich jede Woche in den Zoo gehen."


Emma gähnte wieder und schmunzelte.


"Das hier gefällt mir..."
 

Cayden konnte ihr Gähnen hören, was ihn zum Lächeln brachte. So wie das ganze Gespräch, das sie gerade führten. So hatte er, nun ja, eigentlich noch nie mit einer Frau gesprochen. Einfach alles zu sagen, was einem einfiel. Ohne Angst zu haben, dass es vielleicht negativ ankam oder gegen irgendeine Etikette verstieß.

Aber vielleicht lag das auch am Telefon. Da war man ehrlicher, als wenn man sich gegenüber saß. Zumindest war das seine Vermutung.

„Mir gefällt es auch.“, gestand Cayden ehrlich und ließ die Augen geschlossen.

„Das ist … das kommt nicht oft vor. Zumindest nicht in meinem Leben.“

Er ließ nur eine kurze Pause entstehen, in der er überlegte, ehe er sanft meinte: „Okay, eine Runde machen wir noch, aber danach solltest du schlafen. Du hörst dich müde an.“

Auch wenn er natürlich noch lange nicht auflegen wollte. Aber Emma ging vor. Sie brauchte ihren Schlaf.

„Also ich komme mit wenigen Stunden Schlaf aus und bin auch kein Morgenmuffel, obwohl ich morgens gerne länger im Bett liegen bleiben würde. In meiner Mittagspause meditiere ich und eigentlich habe ich eine ziemliche Abneigung gegen Krawatten, obwohl ich Dutzende davon im Schrank hängen habe. Ich tu mir schwer, für längere Zeit an einem einzigen Ort zu bleiben, passe mich dafür aber schnell jeder Situation an. Ich kann meine Sommersprossen nicht ausstehen, vor allem wenn sie förmlich explodieren, sollte ich zu lange in der Sonne bleiben, finde meine Haarfarbe aber ganz okay und würde sie mir gerne sehr viel länger wachsen lassen. So gut wie alles was mit den 70iger Jahren zu tun hat, finde ich schrecklich und ich bin nicht religiös veranlagt. Socken trage ich grundsätzlich nur einmal und ich spüle nach, wenn ich das Waschbecken oder die Badewanne benutzt habe und ich steh auf die weißen und grünen Gummibärchen.“
 

"Und ich steh auf deine Sommersprossen...", meinte sie halb murmelnd, während sie aufpassen musste, dass ihr das Handy nicht vom Ohr rutschte. Caydens Stimme war nicht etwa einschläfernd, aber das Gespräch und die Stimmung, die es zwischen ihnen verbreitete, ließ Emma sich immer weiter entspannen und dadurch wurde sie langsam aber sicher wirklich müde.


"Was machst du denn Morgen? Telefonieren wir wieder?"


So, wie Emma sich gerade fühlte, war es wunderbar einfach, das zu fragen. Sie musste nicht betteln und auch nicht erwarten, dass er nein sagte. Oder ja, wenn man gerade dabei war. Eigentlich erwartete Emma gar nichts. Sie freute sich nur über die Möglichkeit, ihn Morgen wieder zu sprechen. Und ihm zuhören zu können.
 

„Na, zumindest etwas.“

Cayden freute es, dass Emma offenbar überhaupt nichts gegen seine Sommersprossen einzuwenden hatte. Nun, da zahlte es sich fast aus, welche zu besitzen.

„Morgen werde ich einiges an Arbeit nachholen, was ich heute versäumt habe, aber wenn du Lust hast, würde ich gerne abends wieder mit dir telefonieren. Vielleicht auch noch zu einer Zeit, wo du nicht kurz vorm Einschlafen bist. Obwohl ich schon über ein paar Minuten glücklich wäre.“

Himmel, gerade jetzt kam ihm eine ganze Woche noch ohne sie, viel zu lange vor. Aber wie hieß es doch so schön: Warten erhöht die Spannung.

Nur dass er gar nicht mehr Spannung brauchen würde.

„Dann schlaf mal schön und lass dich nicht von einem fremden Jedi-Sandmann anbaggern. Ich wünsche dir eine gute Nacht.“
 

"Ich bin mir sicher, Jedi-Sandmann gibt es nur diesen einen Einzigen auf dieser Welt. Also mach dir da mal keine Sorgen."


Obwohl sie das zu einem anderen Zeitpunkt absolut albern und tödlich kitschig gefunden hätte, gab Emma ihrem Handy einen kleinen Kuss und wünschte dann Cayden eine gute Nacht mit schönen Träumen.

Sie schlief mit warmen Gedanken und einem Schmunzeln ein. Und mit der Vorfreude auf den nächsten Abend, an dem sie wieder mit einander sprechen würden.
 

Montag 10:40 - Dr. Benningtons Praxis
 



Eine tiefe, kleine Furche grub sich zwischen Dr. Benningtons buschige, weiße Augenbrauen, als er sich noch einmal über die Symptome Gedanken machte, die Emma ihm aufgezählt hatte. Es waren nicht viele gewesen, einmal von der grässlichen Übelkeit abgesehen.


"Sie haben also nicht anders gegessen als sonst, können sich auch nicht daran erinnern, etwas zu sich genommen zu haben, das vielleicht nicht mehr ganz frisch gewesen sein könnte... Und andere Symptome haben Sie auch nicht. Kein Durchfall oder Magenkrämpfe?"


Emma schüttelte den Kopf. Gar nichts dergleichen. Und sie fühlte sich zwar müde, aber das lag an den Albträumen, nicht an irgendetwas Körperlichem. Seit sie zwei Tage bei ihrer Mom gar nicht von irgendwelchen finsteren Kreaturen heim gesucht worden war, ging es ihr sogar wieder richtig gut. Sie fühlte sich fit, einmal von ihrem Magen abgesehen.


"Und wann genau tritt die Übelkeit auf?"


"Immer morgens. Meistens schon vor dem Frühstück, aber wenn ich dann was zu mir nehme oder manchmal auch nur Essen sehe, wird es schlimmer."


Wieder bildete sich die kleine Falte auf Benningtons Stirn, die Emmas Blick anzog, ihr aber immer weniger gefiel.

Hatte der Arzt keinen Anhaltspunkt, was mit ihr los sein könnte?

"Emma, haben Sie schon einmal über etwas ganz Anderes nachgedacht? So, wie es sich anhört, könnte Ihre Übelkeit gar nichts mit ihrem Magen zu tun haben."


Jetzt hoben sich die Augenbrauen, die aussahen wie kleine, dicke, flauschige Raupen.


"Was meinen Sie denn? Wie kann es mir den schlecht werden, wenn es nicht vom Magen kommt?"


Sie verstand nicht, was er meinte. Vor allem nicht, wenn er darauf anspielte, Emma sollte von selbst darauf kommen, was mit ihr los war. Als hätte sie nicht schon seit Wochen darüber gerätselt.


"Wann hatten Sie denn zum letzten Mal ihre Regel?"


Was hatte das denn mit ihrem Magen zu tun?


"Kein Ahnung, vielleicht schon vier Wochen her. Das war bevor ich nach Tokyo geflogen bin, also ungefähr..."


Vier Wochen? Nein, sie hatten jetzt schon Ju-


Es klickte so laut, dass Emma zusammen zuckte und den Arzt anstarrte, als hätte er ihr gerade sonstwas eröffnet.


"Ich verhüte!"


Das klang so entsetzt, dass es Dr. Benningtons Mundwinkel kurz zucken ließ und Emma beim besten Willen nicht einschätzen konnte, ob es ein Lächeln hätte werden sollen.


"Es ist nur eine Vermutung. Aber sie hatten Geschlechtsverkehr, der in den Zeitrahmen passen würde?"


Wenn Emma geglaubt hatte, die Übelkeit am Morgen wäre schlimm, wurde sie jetzt eines Besseren belehrt. Ihr wurde heiß und dann kalt, nein eigentlich noch heißer, denn sie fing an zu schwitzen, während ihre eisigen Finger anfingen zu zittern.


Sie nickte.


"Aber ich-"


"Lassen Sie uns einfach einen Test machen, um sicher zu gehen. Vielleicht sind sie auch nicht schwanger. Aber Emma, ich muss Ihnen gleich sagen, dass es eine Möglichkeit ist. Egal, ob sie verhütet haben, oder nicht. Keine der Methoden ist zu hundert Prozent sicher."


Wieder konnte sie nur nicken. Eigentlich fühlte sich Emma auch dazu außer Stande, aber ihr Körper reagierte wohl automatisch, obwohl es sich in ihrem Hirn anfühlte, als stünde sie unter Schock.


 

"Gut, Emma, dann gehen Sie jetzt erstmal nach Hause und lassen Sie die Neuigkeiten sich setzen. Wenn Sie Fragen haben, egal zu welcher Variante, rufen Sie einfach an oder kommen Sie vorbei. Okay?"


Er hielt ihr seine immer trockene, warme Hand hin und Emma ergriff sie, um sie zu schütteln und mit einem kleinlauten "okay" zu antworten.


Die Informationsbroschüren, die er ihr gegeben hatte, hielt sie wie einen Rettungsring in der Hand, krallte sich daran fest und trat wie auf Watte den Heimweg an. Sie kannte den Weg, die Straßen, die sie nehmen musste und sie kannte die Häuser, an denen sie vorbei lief. Aber heute schien alles irgendwie anders auf sie zu wirken. Jetzt schien alles viel... eindringlicher als noch vor Stunden. Die 'Neuigkeit', wie Dr. Bennington es genannt hatte, schien von überall widerzuhallen und auf Emma zurück zu prallen, wie dicke Regentropfen.
 

'Guten Morgen, Em. Ich hoffe, du hast gut geschlafen. Hab gerade das Meeting mit Mr. Bleeker hinter mich gebracht und du hattest Recht mit dem Toupé. Trotz Logenplatz habe ich es geschafft, es zu ignorieren und das scheint ihm gefallen zu haben. Also doch kein Arschkriechen. ;P

Muss leider auch schon wieder los. Wünsch dir aber noch einen schönen Tag. Hoffentlich hören wir uns heute Abend wieder. xoxoxox Cayden'

Cayden grinste, als er die vielen Xs und Os in seinen Blackberry tippte, um einmal einen neuen Abschiedsgruß auszuprobieren. Danach sandte er die SMS an Emma, ehe er auch schon ins nächste Meeting eilte. Die Woche versprach wirklich mehr als nur stressig zu werden, was einerseits gut war, da er dadurch nicht zu viel über Helen nachdenken konnte, deren Begräbnis am Mittwoch war und zu dem er trotz des vollen Terminplans gehen würde, andererseits kam er aber auch nicht dazu, Emma mehr als nur eine SMS zu schicken, was ihn störte. Aber es war nun einmal nicht zu ändern.
 

"Hi!"


Percy war als Erster im Gang und trampelte über Emmas Füße, sobald sie nur noch in Socken und nicht mehr in Schuhen steckten. Emma verstaute die Broschüren in der Innentasche ihrer Jacke und nahm dann den kleinen Kater hoch, der sich das erstaunlicher Weise für die Minute gefallen ließ, die Emma brauchte, um ihr Gesicht in seinem warmen Fell zu verstecken. Als Percy dann doch anfing um sich zu treten, ließ sie ihn zurück auf die Pfoten und auf festen Untergrund und ging mit schweren Mundwinkeln ins Wohnzimmer, wo ihre Mom gerade beim Bügeln war.


"Und, was hat Dr. Bennington- 
Emmi?"


Emmas Blick wurde unscharf, als Tränen in ihren Augen aufwellten. Bei Gott, sie fühlte sich so...


"Ich hab Mist gebaut, Mom."


"Was ist denn los?"


Maggie stellte das Bügeleisen weg und kam zu ihrer Tochter hinüber, die sich keinen Zentimeter gerührt hatte, seit tonnenschwere Gewichte ihren Kopf und ihre Schultern zu Boden ziehen wollten.


"Komm' erstmal her."


Sobald ihre Mom sie umarmte, Emma ihr Gesicht an ihrer Schulter vergraben konnte, den Duft riechen konnte, der schon als Kind bedeutet hatte, dass alles gut werden würde, hörte sie auf zu weinen. Es ging einfach nicht. Sie konnte sich nicht so gehen lassen, wo es doch ihre eigene Schuld war, dass sie in diesem Haufen Mist saß, mit dem sie jetzt irgendwie zurecht kommen musste.


"Ist's besser? Sagst du mir, was passiert ist?"


Maggie schob ihre Tochter von sich und Emma konnte ihre Sorge - nein es war schon mehr echte Angst - in den Augen ihrer Mutter sehen. Etwas, das dort nicht hingehörte. Emma war nicht schwerkrank, sie hatte nur... einen verdammt großen Fehler gemacht.


"Ich..."


Als sie dort stand, die Hände ihrer Mom an ihren Schultern, ihre Augen voller Besorgnis, fing Emma an zu erklären. Und zwar alles. Angefangen bei den Neuigkeiten, über Cayden - die wirkliche Beziehung zu ihm, dass er verheiratet war. Und dass Emma bereits wusste, dass er sich nicht scheiden lassen würde. Dass das Baby einen Vater und doch wieder keinen haben würde, wenn Emma sich dafür entschied, es zu behalten. Sie erzählte sogar, dass es nur ein One-Night-Stand gewesen war. Dass sie eigentlich danach nur zwei Nächte mit Cayden verbracht hatte, dass sie noch gar nicht wirklich zusammen, sondern nur beim Versuch waren, eine Beziehung zu haben, dass...

Dass sie furchtbare Angst hatte.


Eigentlich hätte sich das alles am Ende irgendwie reinigend anfühlen sollen. Geteiltes Leid war doch halbes Leid, oder etwa nicht? Aber Emma lief eine kalte Gänsehaut die Arme hinunter, als sie zu ihrer Mom hinüber sah, die neben ihr auf der Couch saß, ihre Hand hielt... und gar nichts sagte.


Sie verfielen in Schweigen, starrten beide vor sich hin, bis gleichzeitig das Sms-Signal von Emmas Handy und ein Seufzen ihrer Mom die Stille durchbrach.


"Emma, ich... weiß nicht genau, was ich dir sagen soll. Das ist alles wirklich..."


"... ich weiß."
 

'Hallo! Gut, das mit dem Meeting. Ich hoffe, du hast ansonsten nicht so viel Stress. Heute Abend werd ich nicht zu erreichen sein. Ich'



Emma hielt das Handy in der Hand und konnte die Zeichen auf dem Display kaum lesen, weil ihre Finger so zitterten. Was sollte sie ihm denn schreiben? Dass sie nicht mit ihm sprechen konnte, weil sie eigentlich mit ihm sprechen musste? Dass sie Panik davor hatte, seine Stimme zu hören? Weil sie ihm dann vielleicht sagen würde, dass sie schwanger war? Und dass das noch mehr Panik in ihr verursachen würde, weil sie dann darüber nachgrübeln müsste, wie er reagieren würde?


Andererseits wollte sie doch gern mit ihm sprechen. Emma wollte ganz bestimmt nicht, dass Cayden sich hingehalten fühlte. Dass er irgendwann nicht mehr mit ihr telefonieren wollte, wenn sie jetzt- 


'Hallo Cayden! Das mit dem Meeting freut mich und ich hoffe, der Stress hält sich in Grenzen. Dir auch einen schönen Tag. Ich weiß leider noch nicht, ob es heute Abend klappen wird. x Deine Emma'
 

Cayden kam erst in seiner Mittagspause dazu, Emmas SMS zu lesen, da ihn seine Arbeit ganz schön hin hielt.

Natürlich war er enttäuscht, als sie durchklingen ließ, dass es heute vermutlich nicht klappen würde, was wohl so viel hieß, dass es garantiert nicht passierte. Zumindest würde er es so formulieren, obwohl er genau wusste, dass es nicht ging. Aber das war an sich ja kein Problem. Wenn Emma keine Zeit hatte, dann war das ihr gutes Recht. Egal was das beißende Gefühl in seinem Magen für eine Meinung dazu hatte.

Dann eben morgen. Damit musste er leben.

'Das ist zwar schade, aber lass dich von mir nicht stressen. Immerhin hast du Urlaub. Falls du doch noch Zeit hast, ich werde lange auf sein. Ansonsten freu ich mich auf Morgen. xoxox Cayden'

Und damit ging es auch schon weiter im Terminplan. Stella ging trotz Emmas fehlender Anwesenheit schon sehr früh nach Hause, hatte aber dafür gesorgt, dass alles bereit lag, was er benötigte. Dennoch versank er bis spät abends in Arbeit, lediglich die Hoffnung auf Emmas Anruf, der wahrscheinlich nicht kommen würde, hielt ihn noch bei Laune, bis sie ihm eine Nachricht mit Gutenachtwünschen schickte. Danach ging es mit seiner Stimmung steil bergab und um Mitternacht herum, waren Kopfschmerzen und brennende Augen seine einzige Gesellschaft zwischen den Evenplanern, Folianten und Aufträgen, die er noch hatte.

Um zwei Uhr früh fiel er schließlich erschöpft ins Bett und schlief auf der Stelle ein.
 

"Emma, bitte iss was. Wenn du jetzt absichtlich hungerst, ändert das auch nichts."


Es war eine Spur Wut aus Maggies Stimme heraus zu hören, von der Emma aber wusste, dass sie auf ihrer Sorge um sie gründete. Trotzdem sah sie sich den Teller voll Obst, den ihre Mom auf den Couchtisch gestellt hatte, nur mit wenig Interesse an. Es war bestimmt nicht so, dass sie absichtlich nichts aß. Es ging einfach nichts rein. Weder fühlte sie sich hungrig, noch hatte sie Appetit. Genau genommen hätte sie bitter darüber lachen können, dass es ihr an diesem Morgen blendend gegangen war. Keine Übelkeit, nichtmal ein flaues Gefühl in der Magengegend - nichts.


Als sie schließlich doch eine kleine Gabel zur Hand nahm und anfing etwas von dem Obst in ihren Mund zu stecken, atmete Maggie erleichtert auf und ließ sich auf den Sessel neben der Couch sinken.


Sie hatte nicht auf Emma eingeredet oder versucht ihr eine Entscheidung abzuringen. Emma musste selbst durchdenken und schließlich entscheiden, was sie tun wollte. Immerhin hatte sie noch alle Optionen offen. Es waren erst zwei Monate. Noch im Rahmen dessen, was man als legal betrachtete, wenn sie sich gegen das Baby entschied. Aber etwas gab es da doch, was sie gern gewusst hätte.


"Wirst du es ihm denn sagen?"


So schnell und hektisch, wie Emmas Herz schon die ganze Zeit in ihrer Brust schlug, hätte sie nicht gedacht, dass so ein paar Worte es noch antreiben könnten. Aber dem war so und sie senkte den Blick auf ihre Finger, die mit weißen Knöcheln die kleine Gabel umklammert hielten.


"Das würde die Entscheidung vermutlich ziemlich deutlich beeinflussen."


Bloß hatte Emma keine Ahnung in welche Richtung. So sehr sie auch mit sich selbst am Hadern war, bis jetzt hatte sie Cayden ganz aus der Rechnung heraus gelassen. Von ihrem Standpunkt aus, war es sehr viel wahrscheinlicher, dass er den Rettungsfallschirm wählen und sich eine Menge Geld damit sparen würde.


"Es ist auch seine Verantwortung, Emmi. Dazu gehören nun einmal immer zwei."



Emma entschied sich auch in dieser Frage nicht, schaffte es aber, sich ihrer Sehnsucht nach Kontakt mit Cayden zu stellen und ihn abends anzurufen. Sie saß in dem Sessel im Wohnzimmer, den sie an die Balkontür heran gerückt hatte und sah nach draußen, während sie dem Wählgeräusch im Handy zuhörte. Vielleicht war er gar nicht erreichbar. Vielleicht musste sie sich heute gar nicht entscheiden.
 

Cayden hob nach dem zweiten Mal Läuten ab, kurz nachdem er die Nummer kontrolliert hatte und sich sofort über den Anruf der einzigen Person freute, den er an diesem Tag wirklich empfangen wollte.

Es gab ihm zudem auch gleich das Recht dazu, seinen Kugelschreiber auf den aufgeschlagenen Folder zu werfen und sich in seinem Schreibtischstuhl zurück zu lehnen.

„Em, du bist meine Rettung! Hätte ich noch so einen lispelnden Kerl ertragen müssen, der mir ins Telefon atmet, als wäre er Darth Vader-“ Ja, er hatte sich tatsächlich schon etwas besser über Star Wars informiert. „-dann wäre ich vermutlich zum Berserker geworden, anstatt hier das Callgirl der Firma zu spielen. Wie zum Henker, hältst du das nur tagtäglich aus? Eigentlich müsste ich dir sofort eine Gehaltserhöhung geben und Gefahrenzulage dafür, dass dir das Ohr vielleicht einmal abfallen könnte.“

Mit einem schweren Seufzer legte er den Kopf in den Nacken, löste seine beengende Krawatte etwas und wusste mehr denn je seine beiden Assistentinnen zu schätzen. Denn da Emma Urlaub hatte und Stella schon vor Stunden gegangen war, hatte er nebenbei auch noch Telefondienst. Etwas, wofür er nur schwer Geduld aufbringen konnte.

Aber das war jetzt alles vergessen. Er konnte Emmas Stimme hören, damit ging sein Tag absolut wunderbar zu Ende.

„Wie geht’s dir? Was macht das Urlaubsfeeling? Wen hat Percy dieses Mal an der Angel?“
 

Da war es. Ein winziges Lächeln, das sich auf ihren Lippen ausbreitete und so tapfer dort blieb, als hätte es schon den ganzen Tag auf eine Gelegenheit gewartet, hervor zu kommen.


"Hallo. Es ist auch sehr schön dich zu hören."


Das war es wirklich und absolut. Emma fiel erst jetzt so richtig auf, wie sehr ihr das Gespräch gestern gefehlt hatte. Allerdings wäre sie gestern nicht fähig gewesen, sich über Caydens gute Laune und seinen kleinen Scherz zu freuen. Vielleicht hätte sie sein heiteres Drauflosreden auch gar nicht registriert. Jetzt konnte sie zu schätzen wissen, dass es ihm offensichtlich gut ging. Zumindest besser, als noch am Samstag.


"Mir geht's" -grauenhaft. So, wie es einem eben geht, wenn man ungewollt schwanger wird und der Vater mit einer anderen verheiratet ist.

"-ganz gut.
Ich denke, der Urlaub tut mir gut. Ich schlafe durch und hänge einfach ein bisschen rum. Percy ist auch wohlauf, aber heute noch nicht besonders einfallsreich gewesen, was das Erregen von Aufmerksamkeit angeht. Er liegt neben meinem Sessel auf dem Boden vor der Heizung und schnarcht.


Was war bei dir los, außer viele nervige Telefonanrufe?"


Na, das klappte doch ganz gut. Emma sprach zwar langsamer und bedachter als sonst, weil sie sichergehen wollte, dass man ihrer Stimme nichts anhörte, aber ihrer Meinung nach fiel das nicht auf. Schon gar nicht durchs Telefon. Das hoffte sie zumindest inständig.
 

„Percy ist zu beneiden.“, stellte Cayden fest, während er den Folder zuklappte, alles etwas auf seinem Schreibtisch zurechtrückte und schließlich aufstand.


Zeit es für heute mit der Arbeit gut sein zu lassen. Oder zumindest eine Pause einzulegen.

„Ach, das Übliche. Ich muss dir davon sicher kein Lied singen. Zumal mir singen gar nicht liegt und ich gerade wenig Lust habe, mich über die Arbeit zu unterhalten, wenn ich mit dir sprechen kann. Ich nehm dich lieber zum Essen mit. Heute Abend gibt es Lachs mit Avocado und Kartoffeln. Selbst zubereitet natürlich, wenn dich das nebenbei nicht stört.“

Er ging zum Aufzug, an leeren Schreibtischen vorbei. Heute war er wieder einmal der Letzte im Büro. Aber das dürfte keinen mehr wundern.

„Und? Welches Buch liest du gerade?“

Cayden stieg in den Fahrstuhl, zückte den Schlüssel für sein Apartment und drückte den Knopf. Wie immer war es dunkel, wenn er in seine Wohnung kam, aber dennoch fiel sofort einiges an Anspannung von ihm ab. Irgendwie spürte er heute den Stress besonders deutlich in den Muskeln. Vielleicht sollte er sich später doch einmal in die Wanne legen. Die Massagedüsen waren schließlich gar nicht billig gewesen und erfüllte auf alle Fälle ihren Zweck.
 

"Nein, stört mich nicht."


Es brachte Emma sogar dazu, zur Schublade hinüber zu gehen, in der ihre Mom die Süßigkeiten verwahrte und sich ein paar M&Ms heraus zu nehmen. Als sie zurück zu ihrem Sessel am Fenster ging, fiel ihr Blick auf den kleinen Stapel Bücher, der bis jetzt noch nicht wirklich kleiner geworden war.


"Das Buch über die gefährdeten Arten habe ich durch. Jetzt lese ich gerade eine Fantasy-Geschichte und habe aber auch schon einen Blick in den Krimi geworfen, den ich mitgenommen habe. Mal sehen, ob ich überhaupt noch was Neues kaufen muss, bevor ich zurück fahre."


Ihr fiel sofort ein Grund ein, aus dem sie sich ein Buch kaufen sollte. Zumindest, wenn sie sich endlich zu einer Entscheidung durchringen konnte. Denn diese Broschüren würden nicht ausreichen, um-


"Heute habe ich relativ viel Fern gesehen. Alte Filme, Dokus und sowas. Meine Mom und ich lassen es ruhig angehen. Morgen wollen wir vielleicht mal in die Stadt."


Nein, ihre Mom wollte in die Stadt. Sie hatte es als Ablenkung vorgeschlagen, auch wenn Emma viel eher danach war, sich im Haus aufzuhalten. Sich vor der Welt zu verstecken, wenn man so wollte. Da draußen würde sie bestimmt an jeder Ecke einer Schwangeren oder gerade frisch gebackenen, glücklichen Mutter begegnen.


"Oh, wenn ich zurück bin, könnten wir uns mal den Film 'Unsere Erde' ansehen. Heute kamen Ausschnitte davon im Fernsehen und mir ist eingefallen, dass der wirklich toll war. Auf deinem riesigen Fernseher wirkt das ja schon fast wie Kino."


Oh man, sie hätte so gern irgendetwas gesagt. Es brodelte nur so in ihr und Emma hätte sich so gern Rat bei Cayden geholt. Unterstützung für ihre Gedanken. Es war schließlich auch sein-

Es ging ihn auch an.
 

„Von dem Film habe ich sogar schon einmal etwas gehört. Auf Blu-ray soll der noch beeindruckender sein. Vielleicht kaufe ich ihn mir sogar.“

Das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt, hängte Cayden sein Jackett sorgfältig auf und in den Schrank zurück, ehe er sich auf sein Bett setzte und die Krawatte nun ganz löste.

Als er bei den Knöpfen seines Hemdes ankam, hielt er plötzlich inne. Dass Emma morgen mit ihrer Mutter in die Stadt wollte, erinnerte ihn daran, dass auch er etwas zu erledigen hatte.

Der Stich der Trauer traf ihn unvorbereitet, doch er musste nur kurz die Augen schließen und sich wieder auf etwas anderes konzentrieren, ehe er sich weiter ausziehen und in etwas Bequemeres schlüpfen konnte.

„Ich weiß nicht, ob ich morgen Abend erreichbar bin. Ich musste gezwungenermaßen meinen Terminplan umkrempeln, daher wird es spät werden. Für dich vermutlich zu spät. Aber erzählt du mir dann am Donnerstag, wie es in der Stadt war? Ich persönlich war noch nie in Nelson und kann mir gar nicht so richtig vorstellen, wie es dort ist.“

Nachdem auch der Rest seiner Arbeitsklamotten sauber aufgehängt war, ging Cayden in die Küche, vorher aber noch an seinem Schreibtisch vorbei, um sich das schnurlose Headset für sein Handy zu holen, damit er es beim Kochen kein steifes Genick oder ein angebratenes Handy riskierte, weil es ihm in die Pfanne gefallen war.

„Ist es mehr eine Kleinstatt, ein Kaff oder doch eine Mischung zwischen beidem?“
 

"Ich habe noch nie etwas auf Blu-ray angesehen. Aber okay. Ich bin aufgeschlossen und bereit, etwas Neues auszuprobieren."


Emma hörte wiederholtes, sanftes Rascheln und glaubte auch irgendwann das Geräusch zuordnen zu können, das eine Schranktür verursachte, wenn man sie öffnete und schloss. Cayden war wohl in seinem Apartment angelangt.


Als er ihr sagte, dass sie Morgen vermutlich nicht telefonieren konnten, bemerkte Emma ein seltsam ungewohntes Gefühl in ihrer Brust. Es war nicht die stechende Eifersucht, die sie eigentlich erwartet hätte. Zwar lag ihr kurz die Frage auf der Zunge, ob er sich wieder mit Vanessa traf, aber Emma ließ es bleiben und hatte auch keinerlei Probleme, die Vorstellung von den beiden einfach zu vertreiben. Vielleicht lag es daran, dass sie mit sich selbst genug zu tun hatte. Da musste sie sich nicht noch die Bestie der Eifersucht in ihr Herz einladen.


"Klar werde ich es dir erzählen. Ich werde dich mit unseren Shoppinggeschichten so langweilen, dass du endlich einmal früh ins Bett gehst, anstatt bis kurz vor Sonnenaufgang zu arbeiten."


Inzwischen war sie wieder zur Schublade hinüber gegangen und hatte sich gleich die ganze Packung mit den M&Ms mitgebracht, die jedes Mal raschelte, wenn Emma ihre Hand hinein steckte.

"Es ist eine Kleinstadt. Aber mit recht charmanten Ecken. Der Park gefällt mir und man kann auf den umliegenden Hügeln gut spazieren gehen. Außerdem gibt es ein paar Restaurants, wo man leckere Muscheln essen kann, wenn man das mag. Und es gibt einen ganz tollen Laden, der Glasschmuck verkauft. Vielmehr die einzelnen Perlen. Dort kannst du dir Glasanhänger in allen Farben und Formen aussuchen und dann entweder an eine Kette hängen, die du schon hast oder dort auch alle möglichen Varianten kaufen. Es ist vom Preis her nicht gerade billig, aber auch nicht wahnsinnig teuer. Gut, um Weihnachtsgeschenke zu finden. Zumindest für die Ladies."
 

„Oh, du kannst mich mit deinen Shoppinggeschichten so viel zu langweilen versuchen, wie du willst. Du kriegst mich nur persönlich früher ins Bett. Über Telefon lässt dein Einfluss nach.“

Cayden lächelte und holte den Lachs aus dem Kühlschrank.

Bevor er jedoch den Fisch zubereitete, stellte er die Pfanne auf und ließ sie heiß werden, ehe er den Fisch mit Meersalz auf beiden Seiten würzte und die Filets dann mit Mehl bestäubte. Noch Olivenöl in die Pfanne und man konnte es deutlich brutzeln hören, während er Emmas Beschreibung der Stadt zuhörte.

„Klingt nett dort und-“

Er horchte auf und wendete dabei die Filets geschickt in der Pfanne.

„-sag mir jetzt nicht, dass du gerade M&Ms ohne mich nascht. Ganz schön verwegen.“

Seine Stimme klang zwar ganz und gar nicht eingeschnappt, aber das war ja auch nicht der Sinn der Sache.

„Wie sieht denn dein heutiges Abendprogramm aus? Einmal davon abgesehen, dem Kater beim Schnarchen zuzuhören.“

Cayden wickelte den kurz angebratenen Fisch in Folie ein und stellte ihn zum Garen in den Backofen, während er die Kartoffeln aufstellte und sich dann die Avocados schnappte.
 

Emma sah sich überrascht die Tüte auf der Armlehne und dann das Handy an, bevor sie etwas vorsichtig nachfragte.

"Hast du deine Ohren bei einem Luchs geklaut? Oder ist der Hersteller wirklich so gut, dass man sein Produkt über Handynetz rein am Geräusch erkennt?"

Um die zweite Theorie zu prüfen schloss Emma die Augen, schob ihre Hand in die Tüte und ließ auch ein paar der M&Ms auf einander prasseln, bevor sie sich einen in den Mund steckte. Ja, das hörte sich schon bekannt an. Aber ob sie das wirklich-


Die Frage nach ihrem Abendprogramm lenkte sie vom M&Ms-Rätsel ab, brachte sie dafür aber wieder zu dem Thema zurück, das sie eigentlich so weit wie möglich umgehen wollte. Emmas Blick wanderte zum Bücherregal hinüber, wo ihre Mom auch Papier und Stifte aufbewahrte. In dieser Woche würde sie ihre Pro- und Kontra-Liste fertigstellen. Sie konnte nicht zu lange warten. Selbst wenn es eigentlich gesetzlich in Ordnung war, konnte Emma einfach nicht so lange mit sich hadern, bis sie durch irgendwelche Richtlinien dazu gezwungen wurde, sich von einem Tag auf den anderen zu entscheiden. Vielleicht wuchs ihr das B-

Vielleicht konnte sie sich dann schon nicht mehr rational mit sich selbst auseinander setzen.

Die Pause zog sich, während Emma immer noch das Bücherregal anstarrte und vom anderen Ende der Cook Strait die Kochgeräusche zu hören waren. Ihr Herz klopfte so aufgedreht und ängstlich, wie die ganze Zeit schon, aber Emma wollte trotzdem sicher gehen, dass-


"Cayden..."


Es überschlug sich. Emma hatte kurz das Gefühl, dass ihr sogar schwindelig wurde, als sie so nah daran kam, ihm davon zu erzählen.

Mit überrascht geöffneten Lippen griff Emma das Telefon fester und atmete einmal tief durch. Nein, sie konnte es ihm nicht sagen.


"Wieder das Übliche. Wobei ich gerade daran denke, mit meiner Mom zu ihrer Freundin zu fahren. Die beiden wollen sich Photos ansehen, die meine Mom von einer Kunstausstellung geschossen hat. Vielleicht ist das ganz nett."


Zumindest besser, als hier herum zu sitzen und zu grübeln. 
Noch einmal wanderte ihr Blick etwas beängstigt zu den Schreibutensilien, verabschiedete sich aber schnell wieder, als Emma bewusst wurde, dass sie heute sowieso nichts damit erreichen würde. Schon jetzt hatte sie für den Funken einer Sekunde darüber nachgedacht, wie es wohl wäre...
 

Cayden war gerade dabei, das Fruchtfleisch der Avocados zu Brei zu verarbeiten und mit verschiedenen Gewürzen abzuschmecken, als er plötzlich einen kurzen Wechsel in Emmas Stimme hörte, als sie seinen Namen sagte.

Mit einem Mal waren seine Sinne hellwach und sein Herz begann schneller zu schlagen, ob der Erwartung auf etwas ernsteres, als ihr bisheriges Gespräch.

Doch Emma wechselte so schnell in eine andere Tonlage, dass er sich am Ende nicht sicher war, ob er sich das nicht doch einfach nur eingebildet hatte.

Aber selbst wenn nicht, sie sprach bereits wieder über etwas ganz anderes. Also begann er noch die Tomaten klein zu schnippeln, wobei das eher so aussah, als wäre er mit dem Messer verwachsen und wüsste ganz genau, was er tat. Was im Grunde auch der Wahrheit entsprach. Im Augenblick sollte sie ihn wirklich nicht mit dem scharfen Messer hantieren sehen.

„Interessierst du dich denn auch für Kunst?“, wollte er neugierig wissen und vermischte den Avocadobrei mit den winzigen Tomatenstückchen, ehe er die kochenden Kartoffeln etwas zurück schaltete und sich dann lässig auf eine freie Stelle auf der Arbeitsplatte setzte.

Er persönlich wusste bis heute nicht, wie er zu Kunst stand. Dafür gab es einfach zu viele verschiedene Richtungen, in die Kunst gehen konnte und nicht alles, was als Kunst angesehen wurde, entsprach seiner Vorstellung davon. Antiquitäten waren natürlich etwas anderes und die meisten davon waren für ihn nur deshalb interessant, weil er sich noch zu gut an die Zeit erinnern konnte, in der dieses oder jenes Stück gerade hochmodern bzw. zukunftsweisend gewesen war, obwohl es heutzutage schon als antik oder noch älter bezeichnet wurde. Malerei war noch einmal etwas anderes. Da interessierte er sich oft sehr für den Stil, den Ausdruck, die Materialien und die Verarbeitungsweise. Schließlich malte er selbst unglaublich gerne.
 

"Hm... Ja, schon. Allerdings bin ich sehr... sagen wir 'einfach' in meinem Kunstgeschmack. Ich mag Bilder, auf denen man erkennen kann, was der Künstler darstellen wollte. Wenn es aussieht, als hätte derjenige eine Tomate und eine gekochte Nudel auf eine Leinwand geworfen und dann Gips darüber gegossen, entzieht sich das meinem Verständnis."


So ein Ding hatte sie wirklich einmal gesehen und hatte sich anschließend lieber an ihrem Glas Sekt festgehalten, als weiter durch die Ausstellung zu spazieren und sich die Meinungen von angeblich echten Kennern anzuhören.


"Wie ist es mit dir? Von deiner Wohnungseinrichtung her würde ich sagen, du interessierst dich für Kunst. Oder spezieller für alte Gegenstände. Gibt es da ein echtes Muster, dem du bei den Käufen folgst, rechnest du aus, was du mal dafür an Wert bekommen könntest? Oder findest du die Dinge einfach schön und stellst sie dir deswegen auf?"


Bei diesen ganzen Waffen, die er in seiner Wohnung hatte, hoffe Emma das irgendwie nicht wirklich. Aber wenn sie bedachte, dass er sie auch in seinem Schlafzimmer 'ausstellte', mochte er sie bestimmt. Emma fand sie ehrlich gesagt ein bisschen gruselig.
 

Cayden musste bei Emmas Vergleich fast lachen. Er konnte sich das richtig vorstellen, wie es aus ihren Augen sein musste, so eine Ausstellung zu sehen. Er persönlich hatte ja nichts gegen Farbkompositionen, die keinen Sinn zu ergeben schienen, weil sie es eben doch taten, wie er wusste. Früher hatte er auf diese Art oft seine Gefühle ausgedrückt, aber natürlich nicht mit Essen sondern Farben. Und was diesen einen ‚Künstler‘ anging, der mit Blut und Gedärmen arbeitete, sowas verstand er am Ende auch nicht. DAS war wirklich widerlich.

„Ich sammle sie aus vielerlei Gründen. Zum einen sind sie wirklich wertvoll und man kann das Geld ja auch in etwas anlegen, dass das Auge erfreut, als irgendwo auf der Bank liegen zu haben, andererseits interessieren mich die Epochen, aus der die verschiedensten Gegenstände kommen und noch ein paar weitere Gründe.“

Zum Beispiel das er jede einzelne Waffe, die er im Haus hatte, auch durchaus benützen könnte bzw. es zum Üben auch immer wieder bei ein paar von ihnen tat. Besonders die Schwerter und Messer. Aber das band er ihr natürlich nicht auf die Nase.

„Besser als Glasaugen die dich ständig anstarren. Ausgestopfte Tiere sind absolut nicht mein Ding. Genauso wenig, wie sie zum Spaß abzuknallen. Auch so ein Hobby, dass ich sicherlich nie … mit dem Alter haben werde.“

Dieses Mal lachte er wirklich leise, sprang wieder von der Arbeitsplatte herunter, um die Kartoffeln vom Herd zu nehmen. Bei der kleinen Größe, dürften sie inzwischen durch sein, aber er machte noch einmal eine Stichprobe mit dem Messer, ehe er das Wasser abließ und sie dann zum Schälen her nahm.

Sie waren zwar noch ziemlich heiß, aber er war ziemlich gut darin, sich nicht die Finger zu verbrennen.
 

Sie unterhielten sich noch eine Weile, sprachen über ihr jeweiliges Kunstverständnis, bis Emma ein wenig die Unterhaltung allein bestreiten musste, weil Cayden zum Essen übergegangen war. Das machte ihr nichts aus, solange sie von Allgemeinem erzählte. Vorlieben, Hobbies, Lieblingsfarben. Sie unterhielten sich auf diese Weise sogar so gut, dass Emma erstaunt aufblickte, als ihre Mom in der Tür stand und vorsichtig am Rahmen klopfte.


Zeit für Emma, sich für diesen Abend von Cayden zu verabschieden. Sie würde mit ihrer Mom zu deren Freundin fahren. Einmal raus kommen. Das war gar keine so schlechte Idee. Und das Telefonat mit Cayden hatte auf jeden Fall gut getan. Es hatte ihr ein wenig von dem panischen Herzklopfen genommen, auch wenn Emma darauf gefasst war, dass es wiederkommen würde. Solange, bis sie dieses Thema nicht mehr vor sich her schob.


 

Die Nacht war lang und andererseits auch wieder nicht. Emma lag zwar im Bett, war auch müde, aber jedes Mal, wenn ihr die Augen zufielen, schien ihr Hirn mit voller Wucht wieder anzuspringen und ihr ihre Situation bewusst zu machen, die immer noch alles andere als rosig aussah. Sie musste sich damit auseinandersetzen. Aber mitten in der Nacht, um zwei Uhr morgens war das auch wieder keine besonders gute Idee. 
Da sie aber sicher war, keinen Schlaf mehr finden zu können, stand Emma auf, warf sich die Bettdecke über die Schultern und wanderte ins Wohnzimmer hinüber, wo sie sich zu dem schnarchenden Percy auf das Sofa setzte und den Fernseher einschaltete. David Attenborough half. Durch seine beruhigend positive Art ließ er Emma sich einigermaßen entspannen. Sie sah ihm dabei zu, wie er einen riesigen Tausendfüßler herum drehte und ihm den Bauch streichelte. Dabei sprach er auf ihn ein und Emmas Kopf sank tiefer in das Sofakissen. 
Bald war sie doch eingeschlafen, träumte wirr und wachte auf, als das erste Morgenlicht ihre Nasenspitze kitzelte und Percy es an der Zeit fand, dass er etwas zum Frühstück bekam.

Vor der warmen Pfote, die sich auf ihre Wange legte, ziemlich erschrocken, hätte Emma den Kater beinahe vom Sofa geschubst, aber so war sie zumindest schnell wach. 
Und wenn sie schon aufstand, in die Küche ging und Percy sein Frühstück gab, konnte sie auch gleich duschen, zum Bäcker gehen und auch für sich und ihre Mom ein königliches Frühstück vorbereiten. Heute würde hoffentlich der Tag der Entscheidung werden. Zumindest legte Emma sich schon einmal Block und Stift auf dem Sofatisch bereit.
 

Manchmal, an Tagen wie diesen, schien das Wetter mehr denn je seinen eigenen Kopf zu besitzen und der Menschheit deutlich sagen zu wollen: Egal was ihr macht, ich mache mein eigenes Ding.

Die Sonne strahlte auf sein Gesicht, während er Abseits von den Trauergästen zwischen den unzähligen Grabsteinen im Schatten eines Baumes stand und seinem Empfinden nach eigentlich ein düsteres Regenwetter zu der Beerdigung gepasst hätte.

Helen hätte es jedoch geliebt. Die trüben Wolken nicht sehend, hätte sie sehr wohl wahrgenommen, wenn die wärmenden Sonnenstrahlen sie gestreichelt hätten. Wer weiß, vielleicht taten sie es sogar auf irgendeine Weise.

Was das Leben nach dem Tod anging, hatte Cayden sich schon oft Gedanken darüber gemacht, nur nicht, wie es für ihn selbst einmal sein würde.

Als der Priester mit seinen wohlmeinenden Worten fertig war und auch Helens Familie alles gesagt hatte, was ihnen noch ein Bedürfnis gewesen war, trat jeder einzelne von ihnen an das Loch im Boden heran, in dem der leere Sarg gebettet war und warf eine Rose hinein, ehe sie sich weinend und bekümmert abwandten und sich gegenseitig trösteten. Es war nicht viel von Helens weltlicher Hülle übrig geblieben, das im Sarg liegen könnte.

Cayden wusste auch nicht, was manchmal schlimmer war. Den Tod einer geliebten Person zu erfahren, oder die Trauer verstärkt durch viele leidenden Herzen noch sehr viel umfangreicher mitzuerleben.

Er hasste Beerdigungen. Das war so, als würde man sich zusätzlich auch noch Salz in die Wunde reiben und eigentlich hätte er auch an einem anderen Tag kommen und sich verabschieden können, doch für ihn war es ebenfalls eine Zeremonie.

Verabschiede dich. Bedanke dich. Blicke nicht zurück und wenn, nur im Guten.

So wartete er auch weiter abseits von Helens Verwandten, bis diese aufbrachen um das Trauermal zu sich zu nehmen. Er war der Einzige, der schließlich noch übrig blieb, als er an Helens letzte Ruhestätte heran trat und eine leuchtende Orchidee zu den Rosen hinein warf.

Er würde sie vermissen.

Nicht als Blutquelle, sondern als Mensch, der ihm lange Zeit zur Seite gestanden hatte, auch wenn es nur wie ein Wimpernschlag in seinem Leben zu sein schien. Für Helen war er lange ein Teil ihres Lebens gewesen.

Unvorstellbar, jetzt wieder in sein Büro zurück zu kehren und dennoch war es genau das, was er tun würde.

32. Kapitel

Er stand im Aufzug, die Hände in den Taschen der dunkelgrauen Anzughose vergraben und den Blick aus den blauen Augen auf den Boden gerichtet.

Draußen regnete es, deshalb waren seine Schuhe und auch seine Socken nass geworden, aber das spürte er eigentlich nur, wenn er die Zehen in dem teuren Leder bewegte. Er hätte sich schon in Kanada ein neues Paar kaufen sollen. Was ihm aber erst jetzt wieder einfiel, da es zu spät war.


Mit immer noch gesenktem Kopf sah er zur Anzeige neben der Tür und straffte sich etwas, als die Zahlen derjenigen näher kamen, zu der er wollte. 
Seine Lippen zuckten von einer Seite zur anderen und verursachen damit ein kurzes, ihm wohl bekanntes Ziehen, das ihm wie das Einzige erschien, das ihm außer der Erinnerung anderer noch von sich selbst geblieben war.

Schon seltsam. Alte Narben.


Sobald er das richtige Stockwerk erreicht hatte, stieß er sich lässig von der hinteren Wand des Fahrstuhls ab, richtete sich gerade auf und verließ schließlich den Lift, um sich in einer Etage wiederzufinden, die ihn an einen brummenden Bienenstock erinnerte. Jeder Anwesende saß in seiner keinen Wabe, fleißig über seine Arbeit gebeugt und nur wenige hatten offensichtlich selbst dafür Zeit, den Neuankömmling kurz zu mustern, bevor ihnen wieder Besseres einfiel.


Seine Schuhe quietschten bereits leise, als er das Vorzimmer erreichte, in dem eine sehr schwangere Frau gerade in das Telefon zischte. 
Er lächelte charmant. Der Blick der Sekretärin hätte an seinen Augen hängen bleiben können. Stechend blau, von den Kontaktlinsen noch unterstütz, leuchteten sie jedem Menschen neugierig und auffällig unter dem schwarzen Haar hervor entgegen. Dorthin hätte es ihre Aufmerksamkeit ziehen können. Doch die Dame sah auf seinen Mund. 
Das taten sie alle.


"O'Leary. Ich habe einen Termin für... jetzt."


Nur zur eigenen Kontrolle sah er auf seine große, silberne Uhr, die ihn jedes Mal wieder freute, wenn er sie ansah. Ein teures Spielzeug, bei dem er mehr für die Marke, als für die wirkliche Machart bezahlt hatte. Aber wen kümmerte es. Sie hatte Rubine im Zahnradgehäuse, die man unter den Zeigern hervor leuchten sehen konnte. Und manchmal ging Eleganz doch wirklich über bloße Funktionalität.


Außerdem... sah es cool aus.


"Mr. Calmaro hat Zeit für Sie. Gehen Sie einfach durch. Möchten Sie vielleicht Kaffee?"


Es war nett, dass sie versuchte, ihre Neugier in Zaum zu halten und ihm jetzt doch eher in die Augen zu sehen.


"Danke. Kaffee wäre sehr nett."


Er ließ sich selbst ins Büro, nachdem er kurz angeklopft hatte.


Mr. Calmaro kam ihm ein Stück entgegen und betrachtete seinen Besucher mit einem Blick, der wenig Spielraum für Interpretation offen ließ. Die Männer brauchten sich über ihre "Abstammung" nicht weiter zu unterhalten. 
Wobei das ja gerade der Grund war, aus dem er hier nach einem Termin gefragt hatte.


"Guten Morgen."


Er streckte dem Rothaarigen die Hand hin.
 

Cayden ergriff ohne zu zögern die Hand, um sie mit einem angemessen kräftigen Händedruck zu schütteln, ehe er sich wieder zurück zog.

Er war überrascht und das, obwohl es nur wenige gab, die ihn überraschen konnten. O’Leary gehörte definitiv dazu.

„Setzen Sie sich doch bitte.“, sprach er die üblich höfliche Floskel aus, während sein Blick noch einmal kurz über den Mund des anderen Vampirs glitt, ehe er sich selbst wieder hinter seinen Schreibtisch setzte.

Narben. Etwas das für seine Rasse nicht allzu geläufig war, wenn man als Vampir gut auf sich achtete, aber durchaus im Bereich des Möglichen. Und die hier, sahen auch nicht nach einem Unfall aus. Dafür hatte er sie schon zu häufig gesehen. In … vergangenen Zeiten.

Die Frage, ob er hier wirklich einem Artgenossen gegenübersaß stellte sich gar nicht erst. Man erkannte Seinesgleichen immer sofort, während Menschen den Unterschied meist erst feststellten, wenn es zu spät war.

Der Geruch alleine wäre ein deutliches Zeichen. Wer nicht schwitzte, transpirierte auch nicht und obwohl auch Vampire einen Eigengeruch hatten, war er so schwach, dass man schon sehr nahe dran stehen musste, um ihn zu erkennen. Ein so leicht aufgetragenes Parfum oder Rasierwasser wie es ihre Nase gerade vertrug, würde niemals den Schweißgeruch eines Menschen vollständig überdecken. Zumindest war das ein Erkennungsmerkmal. Die Augen oder die Art der Bewegung waren andere.

„Was führt Sie hier her, Mr. O’Leary?“, fragte er immer noch höflich, ohne jedoch irgendeinen seiner Gedanken durchblicken zu lassen.

Überflüssig zu erwähnen, dass der andere bestimmt nicht für einen Werbevertrag hier war. Zumindest hielt Cayden das für sehr unwahrscheinlich.

Bevor sein Gegenüber jedoch sprechen konnte, kam Stella herein und brachte ihm Kaffee. Es verstand sich von selbst, dass sie warteten, bis sie die Tür wieder hinter sich geschlossen hatte.

„Also?“
 

Es war ihm ganz Recht, dass die persönliche Assistentin von Mr. Calmaro so schnell mit dem Kaffee auftauchte. Nicht etwa, weil er das Koffein im Moment so nötig gehabt hätte, sondern weil er in dem kleinen Moment, in dem er nicht offen mit seinem Gegenüber sprechen konnte, zumindest die Chance bekam, sich etwas in dessen Büro umzusehen.

Auf den ersten, kurzen Eindruck fiel ihm nur eines ein: beeindruckend. Aber beeindruckend steril.


Er schenkte der netten Dame noch ein schmales Lächeln, bevor sie hinaus ging. Fünfter Monat? Vielleicht auch schon der sechste. Ein Grund mehr diesen weiteren Schreibtisch im Vorzimmer nicht zu lange unbesetzt zu lassen. Immerhin schien die zweite Frau, die für Mr. Calmaro arbeitete schon einige Tage nicht im Büro gewesen zu sein.


"Nennen Sie mich doch Adam. Da ich vermute, Ihr Nachname ist genauso falsch, wie meiner, wäre es Blödsinn, sie zu benutzen."


Abwartend sah er den Rothaarigen an, dessen Augenfarbe wohl im natürlichen Zustand grün sein musste. Natürlich war an seiner Mimik nicht zu erkennen, was er dachte. Diese Zurschaustellung von unbeweglichen Masken hatten sie alle bis zur Perfektion gefeilt. Aber bis jetzt roch der Andere nicht nach Abweisung oder Aggressivität. Er wirkte noch nicht einmal sonderlich überlegen, obwohl das hier sein Revier war.


"Ich werde gleich mit der Tür ins Haus fallen, wenn es Recht ist."


Er lehnte sich in dem Besucherstuhl zurück, gab allerdings seine gerade Haltung nicht auf, sondern wirkte fast so, als wolle im nächsten Moment jemand ein Photo von ihm schießen.


"Ich bin vorbei gekommen, um Sie zu fragen, ob wir uns kennen."
 

Cayden blieb sitzen, wie er war. Nicht zu gemütlich, aber auch nicht so, als würde er im nächsten Moment aufspringen, um irgendetwas zu tun. Einfach in stoischer Wachsamkeit, ohne so wirken zu wollen.

Dass ihre Namen alle falsch waren, stimmte zwar nicht hundertprozentig, aber in diesem Fall war es korrekt, weshalb er auch nichts weiter dazu sagte. Gerade wenn es um seine eigene Art ging, war Cayden äußerst vorsichtig, da er wusste, mit welchen Masken und anderen Täuschungen sie umzugehen wussten. Ebenso wie er wusste, dass sein Gegenüber genauso schnell körperliche Regungen abzulesen vermochte, wie er selbst.

Dennoch konnte er schon einmal sagen, dass es etwas ganz anderes war, diesem Adam gegenüberzusitzen, als zum Beispiel Tasken.

„Ich bin vorbei gekommen, um Sie zu fragen, ob wir uns kennen.“

Interessante Wortwahl. Ebenso aussagekräftig, wie nichtssagend. Der Vampir konnte alles Mögliche damit meinen. Von offenen, sehr lange zurückliegenden Rechnungen, die er begleichen wollte, obwohl Cayden sich nicht erinnerte, ihn schon einmal gesehen zu haben, bis hin zu etwas völlig anderem. Der Trick dabei war, seine Unsicherheit nicht zu zeigen, also gab Cayden seine Haltung doch etwas auf, in dem er sich zurücklehnte und auf eine Weise lächelte, die ebenso charmant, wie auch gefährlich war.

„Nein. Das Treffen eines 'Kollegen' wäre mir sicherlich nicht entfallen.“

Cayden stellte keine Fragen. Wenn man von ihm etwas wollte, musste man schon selbst damit kommen. In Vampirangelegenheiten hielt er sich gerne etwas zurück.
 

Ach, er hasste es, auf einen seiner Art zu treffen und erst einmal dieses ganze um einander herum schleichen absolvieren zu müssen. Jeder halbwegs intelligente und vor allem alte Vampir nahm zuerst einmal an, dass man ihm an die Gurgel springen und ihm das Herz rausbeißen wollte. Sicherlich war das ein Grund, warum diese Knacker so alt wurden, wie sie es nun einmal waren, aber Adam ging es auf die Nerven. Vor allem, weil er sich selbst oft dabei erwischte, wie er in solche Muster fiel, ohne zu wissen, woher sie kamen. Er nahm an, dass er auch recht alt war. Vielleicht ein paar hundert Jahre. Möglicherweise auch so alt, wie derjenige, der ihm gegenüber saß. Aber wenn er seinen Recherchen über Calmaro - oder wie immer er sich auch im Laufe der Jahre und Jahrhunderte nannte - glauben konnte, war das eher nicht der Fall.


Seine Nasenflügel zitterten kaum, als er versuchte, die Stimmung des Anderen zu erahnen, bevor sie in ein tosendes Gewitter umschlagen konnte. Calmaro wirkte ruhig und gelassen, aber seine Haltung hatte sich - genauso wie seine Mimik - ein klein bisschen verändert. Adam roch allerdings nichts, was ihn zu diesem Zeitpunkt beunruhigt hätte.


"Ich möchte Sie bitten, diese Antwort vielleicht noch einmal zu überdenken. Sollten Sie mich noch nie gesehen haben, ist das genauso in Ordnung, als wenn Sie einer ehemals offenen Fehde mit mir entgegen wollen. Ich bin nicht hier, um irgendwelche Schulden einzutreiben. Ich möchte nur..."


Es war ein Risiko, sich nach vorn zu lehnen. Adam wusste das. Trotzdem tat er es - langsam und mit den Augen nicht immer in scharfem Kontakt mit seinem Gegenüber. Er wollte ihn nicht angreifen. 
Immer schön die Ruhe bewahren.


"Ich möchte wirklich nur wissen, ob Sie mich kennen. Ob wir uns schon einmal begegnet sind oder ob Sie auch nur einmal in Ihrem Leben meinen Weg gekreuzt haben."


Seine Stimme war nur eine Spur eindringlicher geworden. Aber Adam besänftigte sein Gegenüber lieber mit einem dieser eigenartigen Lächeln, die bei ihm nie gerade geraten wollten.


"Selbst wenn ich einen Grund hätte, Ihnen Stunk zu machen. Oder wenn ich Ihnen irgendwann vor hundert Jahren auf den Schlips getreten bin."


Jetzt setzte er sich schneller auf und erntete für diese Ungehörigkeit ein Zucken ins Calmaros Augenwinkel.


"Ich weiß es nicht. Und das müssen Sie schon deswegen glauben, weil sonst niemand auf die bescheuerte Idee käme, mit so einer albernen Geschichte zu Ihnen zu kommen."
 

Mit der gelassenen Eleganz eines Raubtieres, das sich seiner Überlegenheit in seinem Revier sicher war, blieb Cayden still sitzen, horchte Adams Ausführungen aufmerksam zu, während er weder zustimmend nickte, noch sonst irgendein Zeichen von Regung gab. Er behielt ihn lediglich im Auge.

„Im Gegensatz zu anderen unserer Art, die gerne offene Rechnungen pflegen, anstatt sie zu begleichen, bin ich mir ziemlich sicher, dass ich mit Ihnen keine besitze, da ich sie allgemein abzuschließen versuche, sobald sie entstehen. Sie können sich also sicher sein, wenn ich mit Ihnen noch eine offene Rechnung hätte, wüsste ich davon und das tue ich nicht. Ich habe bisher auch noch nie von einem Adam O’Leary gehört, was aber nicht verwundern dürfte. Solche Namen nutzen sich schnell im Laufe weniger Jahre ab.“

Cayden setzte absichtlich eine eindeutig nachdenkliche Miene auf. Er spürte einfach, dass von dem anderen keine Gefahr aus ging. Schließlich wurde man im Laufe der Zeit nicht nur ein guter Menschenkenner, sondern konnte auch den ein oder anderen Vampir schneller durchschauen. Und selbst wenn er sich irren sollte, er blieb trotzdem immer vorsichtig im Umgang mit seinesgleichen. Unter Vampiren musste man sich Vertrauen erst verdienen.

„Was Ihre alberne Geschichte angeht, macht sie mich neugierig. Ich frage mich, warum Sie hier her kommen und mich fragen, ob ich Sie kenne, obwohl Sie es doch selber wissen müssten. Zumindest hätte ich bis heute noch von keinem unserer Art gehört, der an Alzheimer gelitten hätte. Oder handelt es sich hierbei um eine Form von Amnesie?“
 

Diesmal verzog Adam keine Miene. Er rührte sich keinen Millimeter, während er sein Gegenüber betrachtete und ein bisschen mit der Spannung spielte, die sich zwischen ihnen aufbauen konnte. Aber irgendwie tat sie es nicht. Entweder hatte Calmaro etwas in der Hinterhand oder Adam war es gelungen, auf einen Mann zu treffen, der zumindest seinen eigenen Intuitionen in Sachen "Menschen"kenntnis folgte, anstatt immer vom Schlechtesten in neuen Bekannten auszugehen. Damit wäre er speziell - und für Adam in soweit interessant, dass Calmaro ihm vielleicht andere Kontakte verraten konnte, wenn er selbst die Wahrheit sagte.


Mit einem Seufzen - da er genau von Letzterem ausging - fuhr er sich durch die kurzen, dunklen Haare und lächelte dann leicht bitter, bevor er anfing zu erklären.


"Nein. Kein Alzheimer. Das wäre mir in den 65 Jahren, die ich nun schon unterwegs bin, wohl nicht entgangen."


Zumal man in Zeiten von Internet und Google, das ihn immer wieder aufs Neue faszinierte, ja locker eine passende Eigendiagnose erstellen konnte.


"1945 bin ich in der Schweiz, in einem kleinen Wäldchen, zu mir gekommen. Mit einem unglaublichen Durst, was ich zuerst für mein Pech hielt. Aber so bin ich zumindest sehr schnell hinter meine Natur gekommen."


Und das war weniger grausam gewesen, als manch Anderes, das er auf seiner anschließenden Reise durch Europa hatte miterleben müssen.


"Tja. Und wie sie schon sagten."


Er tippte sich an die Schläfe.


"Nichts. Absolute Leere. Vor diesem Tag 1945 kann ich nichts von meiner Vergangenheit fassen. Ich kann mich nicht erinnern. Und deshalb... besuche ich diejenigen, die sich vielleicht an mich erinnern können."
 

„Ein sehr riskantes Vorhaben, wenn Sie mich fragen. Es könnte Sie schnell einen Kopf kürzer machen, wenn Sie einfach so bei anderen unserer Art aufkreuzen.“

Aber das war nur eine Spekulation und musste nicht unbedingt immer gleich der Wahrheit entsprechen. Aber wenn Adam zum Beispiel bei Tasken aufgekreuzt wäre, würde er sich garantiert schon bald wünschen, lieber unwissend gewesen zu sein. Der Kerl hatte so seine Methoden einem in den Wahnsinn zu treiben und dabei musste er dafür nicht einmal unbedingt Gewalt anwenden.

„Ich kann Ihnen allerdings auch nicht weiterhelfen. Ich hege nur wenige Kontakte zu anderen von uns und werde diese nicht einfach an eine mir völlig fremde Person weiterleiten. Und unter uns gesagt…“

Nun war Cayden es, der sich nach vor lehnte und die Augen des Vampirs fixierte.

„…warum machen Sie sich die Mühe nach Ihrer Vergangenheit zu forschen? Sie wären überrascht, wie viele sich von uns häufig wünschen, sie könnten einfach mal so ihr ganzes Leben auslöschen und von vorne beginnen. Warum in der Vergangenheit bohren, wenn es doch vielleicht nur Schmerzliches zu Tage fördern könnte?“

Cayden richtete sich wieder auf und fuhr in einem weitaus unpersönlicherem Tonfall fort: „Wie dem auch sei, ich kann Ihnen nicht weiter helfen. Dennoch…“

Aus einem ihm unerfindlichen Grund musste er den anderen jedoch warnen, alles andere wäre einfach gegen jeden Gerechtigkeitssinn, der in ihm steckte und der war durchaus ziemlich groß.

„Halten Sie sich am besten von Calvin Tasken fern. Er könnte Ihnen zwar helfen, herauszufinden, wie alt Sie wirklich sind, aber glauben Sie mir, den Handel wollen Sie nicht eingehen. Der Preis würde den Gewinn niemals rechtfertigen.“
 

Adams dunkle Augenbrauen zogen sich zusammen, doch ansonsten konnte man in seinem Gesicht kaum etwas lesen.


"Haben Sie sich schon einmal überlegt, wer Sie wären, ohne Ihre Vergangenheit? Welche Menschen und welche von uns sie einfach aus ihrem Kopf und ihrem Herzen radieren würden, wenn sie diese Jahrhunderte einfach aufgeben würden?"


Diesmal schwang deutlich Wut in Adams dennoch fester Stimme mit.


"Und dann ist es immer noch ein Unterschied, ob man sich selbst dazu entscheidet. Ich denke, ich wäre klug genug gewesen, meinem jetzigen Ich zukommen zu lassen, dass es besser war, sich selbst aufzugeben."


Als er sich in dem Stuhl nach hinten in die Polster drückte, die Arme auf den Lehnen ausgestreckt, umlief ein ziehendes Kribbeln seinen Mund. Es ließ ihn wieder ruhiger werden.


"Sie mögen Recht haben. Vielleicht wäre es besser, die Suche aufzugeben. Aber ganz ehrlich..."


Er grinste schief.


"Bei dem, was ich bis jetzt herausgefunden habe, würde ich zumindest sagen, dass ich ein guter Kerl bin."


Wieder erschien das Grübeln auf seinen Zügen und er zog die Arme zu einer gemütlicheren Haltung an seinen Bauch.


"Von diesem Tasken habe ich gehört. Er soll sich ein bisschen wie der wahnsinnige Professor aufführen, wenn man den Geschichten glauben darf. Stimmt es denn, dass er einen Supervampir erschaffen will?"


Was sich in gewisser Weise interessant anhörte. Wenn man denn einen funktionierenden Verstand hatte und solche Sachen damit nicht ernst nehmen konnte.
 

Diese Ansicht konnte auch nur jemand vertreten, der keine Ahnung hatte, wie es war, an vielen Leben teilgenommen zu haben, die nun nur noch Erinnerung waren. Doch darüber ließ sich bekanntlich streiten und dafür hatte Cayden heute wirklich keine Zeit. Nicht, wenn er es zumindest heute Abend noch fertig bringen wollte, mit Emma zu telefonieren.

Als er an sie dachte, erfüllte ein sehnsüchtiges Ziehen ihn und lenkte ihn einen Moment von seiner Aufmerksamkeit ab, doch Tasken war wie immer genau das richtige, um sofort in den Alarmbereitschaftsmodus zu wechseln.

„Was auch immer er vor hat, seine Taten sind nicht heroisch, so wie er es gerne andere glauben machen will. Es mag ja sein, dass unsere Rasse ihre Probleme damit hat, den Erdball so sehr zu übervölkern wie die Menschen, aber das rechtfertigt sein Vorgehen keinesfalls. Ich auf jeden Fall, meide ihn so gut es geht und Sie sollten das auch in Erwägung ziehen. Wenn das dann alles wäre… Ich habe noch zu tun.“

Es war kein unhöfliches Hinauswerfen, sondern entsprach viel mehr der Wahrheit. Sie hatten schon lange genug gequatscht für einen Termin, der eigentlich absolut nichts mit dem Geschäft zu tun hatte.

„Wenn Sie sonst noch etwas wollen, machen Sie einen neuen Termin.“
 

***
 

Der Tag wollte und wollte einfach nicht vorüber gehen. Oder besser gesagt, der Tag neigte sich rasant dem Ende zu, ohne dass die Arbeit aufhören wollte. Obwohl Cayden immer genervter wurde und bereits ständig auf die Uhr schaute, wenn seine Klienten nicht hinsahen, war es inzwischen ziemlich spät, als er endlich seine Schuhe auszog, seine Krawatte auf dem Weg zum Wohnzimmer lockerte und sich schließlich mit seinem Handy auf die Couch warf.

Er atmete einmal tief durch, um den ganzen Stress so gut wie möglich von sich abfallen zu lassen, doch es wurde zunehmend schwieriger, die Kopfschmerzen zu ignorieren und auch der immer größer werdende Durst.

Nächste Woche erst kam Vanessa von ihrer Shootingreise durch ganz Europa zurück, bis dorthin würde er ganz schön hart am Limit vor sich herum brüten, nun, da er niemanden mehr hatte, zu dem er ausweichen konnte. Natürlich könnte er auch einfach auf die Straße gehen und sich wie schon so oft in früheren Zeiten an vorbeigehenden Passanten laben, aber das war noch nie sein Stil gewesen, außerdem war das Risiko zu groß, aufgedeckt zu werden. Er würde es nur im absoluten Notfall in Betracht ziehen.

Um sich von seinem Blutdurst abzulenken, drückte er schließlich die Kurzwahltaste, um Emma anzurufen. Es war zwar schon spät, aber vielleicht hatte er Glück und sie war noch wach. Er musste unbedingt ihre Stimme hören.
 

Der Zettel sah aus, als hätte ein Kleinkind einen Kugelschreiber in die Hand bekommen und damit eine eigene Welt auf Papier erschaffen wollen. Ganz oben stand fein säuberlich auf der linken Seite 'pro' und auf der rechten Seite 'kontra'. Getrennt durch einen ordentlichen Strich, neben dem sich mehrere Punkte zuerst recht ordentlich getummelt hatten. Bis der erste Punkt sich umentschieden hatte und einem kleinen Pfeil auf die gegenüberliegende Seite der Tabelle gefolgt war. Ein Zweiter hatte es ihm gleich getan. Bloß um dann doch an seine ursprüngliche Position zu hüpfen und dort sehr vehement durchgestrichen zu werden. Dieses Schicksal hatte viele der Gedanken ereilt, die Emma auf das karierte Papier gebracht hatte. Aufgeschrieben, verschoben, durchgestrichen. Sie fühlte sich inzwischen nicht besser als bevor sie die Liste begonnen hatte und außerdem war sie noch unsicherer, was ihre eigene Meinung zu ihrer Schwangerschaft anging.


Skeptisch lugte sie auf ihren Bauch, an dem noch überhaupt nichts abzulesen war und stellte sich kurz vor, wie es in ein paar Monaten aussehen würde. Wie es sein würde, wenn sie wirklich-


Das Summen des Handys ließ sie zusammen zucken und Emma griff so schnell nach dem Telefon, dass sie gar nicht nachsehen konnte, wer eigentlich anrief. Sie erwartete sowieso nur einen Anruf und als sich auch noch die Wärme vermittelnde Stimme meldete, schob Emma ihre Notizen einfach von sich und ließ sich gemütlicher in den Sessel sinken.


"Hi Du. Wie geht's dir?"


Sie musste auf die Uhr sehen, um festzustellen, dass nicht etwa Cayden früh dran, sondern sie schon ziemlich lange wach war. Und zwar ohne es wirklich mitbekommen zu haben. Sie wünschte bloß, es hätte irgendetwas gebracht.
 

„Hervorragend – sobald du wieder hier bist. Jetzt … ganz gut.“

Aber auch nur, weil er endlich ihre Stimme hören konnte, ansonsten hätte er eher auf mies bis noch weiter nach unten tendiert. Da Cayden jedoch gelernt hatte, dass es meistens nichts brachte, wenn man Schwäche zeigte, tat er es auch nicht. Stattdessen legte er die Füße auf den Couchtisch und ließ sich noch tiefer in die Kissen zurück sinken. Gott, er war so fertig und müde.

Normalerweise war er zu dieser Zeit noch putzmunter und zu jeder Schandtat bereit, aber im Augenblick wollte er nur drei Sachen. Mit Emma reden, danach – und hierbei war es egal, wie lange das Gespräch dauerte – duschen und dann ins Bett. Am besten gleich so lange, dass er den ganzen nächsten Tag verschlief und erst aufstand, wenn Emma kurz davor war, wieder hier zu sein. Er konnte diesen Augenblick kaum erwarten und das freudige Kribbeln puschte ihn dann doch wieder so weit auf, dass man seine Erschöpfung nicht in der Stimme mitschwingen hören konnte.

„Und wie geht’s dir? Wie war dein Tag?“
 

Emma schmunzelte und schob sich ein paar Haarsträhnen hinters Ohr.

"Morgen komme ich ja schon wieder. Nachmittags."

Sie wollte jetzt keine Uhrzeit nennen, weil sich das vielleicht so angehört hätte, als erwarte sie von Cayden, dass er dann Zeit für sie hatte. Emma hoffte schon sehnlichst darauf, dass sie abends ein paar Stunden mit ihm verbringen konnte. Auch noch den Nachmittag einzuplanen, dafür war sie dann doch zu realistisch. Zwischen hoffen und wissen war manchmal einfach ein himmelweiter Unterschied.


"Ich werde dann erstmal die Wäsche waschen, mich von der Fahrt auf der Fähre erholen und... sowas alles."


Ihr Schmunzeln wurde breiter und wandelte sich zu einem Lächeln, als Emma auffiel, dass sie gar nicht auf seine Frage geantwortet hatte.


"Mein Tag war..."

Nicht gerade erfolgreich.

"Ereignislos. Naja, wobei. Meine Mom und ich waren Kaffee trinken. Wir haben uns ein paar Gedanken über Weihnachten gemacht, weil wir gerade in der Stimmung waren. Irre, oder? Das ist noch sooo lange hin. Aber ich mag Weihnachten. Du auch oder bist du eher ein Weihnachtsmuffel?"
 

Schon wieder?

Die Frau hatte vielleicht Nerven! Als wäre Emma nur mal schnell einen Tag weggewesen und nicht eine ganze Woche lang. Aber vielleicht war das auch einfach nur albern von ihm, weshalb Cayden nichts dazu sagte. Ebensowenig wie zu den Aktivitäten, die sie noch machen wollte, bis er endlich im Büro fertig war. Und wann das sein würde, war bei der derzeitigen Auftragslage wirklich fraglich. Selbst an einem Freitag.

Wieder einmal, wollte Cayden einfach einmal alles hinschmeißen und wenn es nur für einen Tag wäre. Doch als Kopf eines ganzen Unternehmens, ging das nicht einfach, noch dazu, da er selbst darauf bestanden hatte, nur so viele der Arbeiten abzugeben, wie er eben doch nicht mehr bewältigen konnte. Vielleicht sollte er wirklich ein paar Leute mehr einstellen, die ihn unterstützten und somit für mehr frische Luft sorgten. Aber selbst wenn, würde das auch wieder dauern und noch mehr Stress mit den Einschulungen bedeuten.

Aber wer hätte auch ahnen können, dass es ihn so … erwischte…

Es war, als würde die Erde plötzlich still stehen, als Cayden sich etwas ganz deutlich bewusst wurde. Etwas, das er vielleicht vorher schon geahnt, aber über das er noch nicht genauer nachgedacht hatte.

Emmas Frage, bezüglich Weihnachten bekam er daher nur mit halben Ohr mit und er brauchte auch einen Moment, bis er wieder seine Fassung zurück gewann.

„Ich … feiere kein Weihnachten.“, war seine etwas seichte Antwort.

„Zumindest habe ich bis jetzt keinen Anlass dazu gesehen. Meistens ist sehr viel los, was Weihnachtsalben und -konzerte angeht.“
 

Emma holte einmal tief und halb entsetzt Luft, fasste sich theatralisch an die Brust und legte dann all ihre Emotionen in das geflüsterte "Cayden!", das ihr einfach nicht weniger dramatisch über die Lippen kommen wollte.

"Du hast keinen Anlass dazu gesehen? Mein Lieber, wenn es soweit ist, wirst du dir mit mir so oft sämtliche Versionen von "A Christmas Carol" von Dickens ansehen, dass du gar nicht mehr anders kannst, als in absolute Höhenflüge von Weihnachtsstimmung zu verfallen."


Sie setzte eine ernste Miene auf, die er natürlich nicht sehen konnte.


"Und keine Widerrede. Wenn es nur an der Arbeit und nichts weiter liegt, ist das keine Ausrede. Weihnachten ist... zu kitschig und wunderschön, um es an sich vorbei gehen zu lassen."
 

„Okay.“

Das war alles, was Cayden dazu sagen konnte. Denn es ließ sich schwer beschreiben, ein Fest nicht feiern zu wollen, weil es einem einfach absolut absonderlich vor kam, den Geburtstag eines Mannes zu feiern, der nur ein paar Jahre älter als man selbst und noch dazu bereits seit Ewigkeiten tot war. Zumindest war es nichts, was er Emma so einfach am Telefon erzählen könnte. Aber da sie sowieso entschlossen genug klang, um ihn in absolute Weihnachtsstimmung bringen zu können, wäre das auch vergebene Müh. Zudem würde er gerne mit ihr feiern, denn es bedeutete, dass sie noch zu Weihnachten zusammen sein würden.

Meistens dachte er für sein Privatleben nicht so weit im Voraus, aber bei Emma hoffte er es inständig und, dass es bis dorthin vielleicht keine Geheimnisse gab, die jetzt noch zwischen ihnen standen. Aber sich zu offenbaren verminderte die Chance auf ein gemeinsames Weihnachten.

Cayden würde darüber noch gründlich nachdenken müssen.

Doch vorerst telefonierte er lieber weiter mit Emma, bis ihm selbst schon die Augen zuzufallen drohten und er in seinen Klamotten beinahe mit ihrer Stimme am Ohr einschlief. Spätestens das war für ihn der Zeitpunkt, Gute Nacht zu sagen und ins Bett zu verschwinden.

Immerhin, je eher er ging, desto schneller würde er sie leibhaftig wieder sehen.

33. Kapitel

Natürlich hatte er sich getäuscht. Wie hätte es auch anders sein können?

Statt beschwingt und voller Vorfreude am nächsten Morgen sofort aus dem Bett zu springen, kam Cayden dieses Mal mit leichter Mühe hoch und war auch nicht wirklich motiviert für einen weiteren, vierzehn Stunden Arbeitstag.

Am liebsten wäre er gleich liegen geblieben.

Die Zeit verging auch nur müßig, obwohl er kaum Zeit hatte, auf die Uhr zu sehen. Ein Kunde jagte den anderen, er musste auch mehrmals außer Haus und schließlich auch noch im Tonstudio vorbei fahren.

Stella war schon längst weg, als kurzfristig ein weiterer Kunde verlangte, dazwischen genommen zu werden und Cayden sich immer mehr anstrengen musste, seinen Geschäftscharme nicht zu verlieren.

Gegen acht Uhr abends war er so mies gelaunt, dass der letzte Kunde sich sofort wieder verabschiedet hatte, weil irgendein dringender Notfall in der Familie aufgetreten war. Nein, Cayden hatte ganz bestimmt nicht geknurrt, aber vermutlich hing eine verdammt finstere Wolke über seinem Kopf, die er mit noch so ehrlich erzwungenem Lächeln nicht aufwiegen konnte.

Als er endlich in sein Penthouse und unter die Dusche kam, fühlte er sich angeschlagen und verkrampft. Dagegen half auch das heiße Wasser nichts, aber eines auf alle Fälle. Emma würde bald vorbei kommen, da er ihr noch eine SMS geschickt hatte, als er endlich mit der Arbeit fertig geworden war.

Ein langer Tag war endlich vorüber und nun kam die schwer verdiente Belohnung.

Sie würde zu ihm kommen!

Frisch geduscht in locker sitzender Jeans und Shirt stand er nun vor dem Fahrstuhl und wartete auf sie. Er konnte es kaum erwarten.
 

Die Fahrt mit der Fähre hatte gefühlte Jahre gedauert. Schaukelige, extrem langweilige und nervtötende Jahre, die jetzt zwar hinter Emma lagen, aber leider irgendwie nicht dazu hatten beitragen können, dass es schon Zeit war, sich mit Cayden zu treffen.

Eigentlich wusste Emma gar nicht genau, wann sie ihn treffen würde, da sie gestern am Telefon nur ausgemacht hatten, dass er sich meldete, sobald er aus dem Büro rauskam. Das konnte um jede Uhrzeit nach Sonnenuntergang sein. Und Emma war ein bisschen genervt von sich selbst, weil sie deswegen ständig auf die Uhr sah. Normalerweise war sie nicht eine von denen, die auf Abruf für einen Mann saßen. Eigentlich hatte sie sich auch bei Anderen immer darüber aufgeregt und es bis jetzt tunlichst vermieden, in so eine Situation zu geraten. Andererseits war sie ja gerade eine ganze Woche weg gewesen und Cayden hatte auf sie 'gewartet' - wenn man es so nennen konnte. Der einzige Unterschied war, dass Emma ihre freie Zeit bis zu ihrem Treffen hauptsächlich dafür nutzte, über eben jenen späteren Zeitpunkt nachzudenken und wie es sein würde. Bei ihr konnte es vorkommen, dass sie nach einer Woche, in der sie sich nicht gesehen hatte, ein bisschen 'fremdelte'.

Nicht etwa, weil sie ihn nicht vermisst hätte. Das war sogar genau gegenteilig sehr wohl der Fall. Sie freute sich auch unheimlich darauf, Cayden wiederzusehen. Wenn sie nicht aufpasste, konnte sie sogar in der Vorstellung schwelgen, in zu küssen und sich in seine Arme zu kuscheln.


Was aber eben erst in Stunden der Fall sein würde. 
Ihre Tasche stand gepackt in ihrem Zimmer, während Emma selbst auf der Couch saß und sich durch ein neues Buch las, das sie in Nelson gekauft hatte. Ganz ohne eines hatte sie dann doch nicht abreisen können.



Die Stunden vergingen weiterhin zäh und selbst als Rob und Kathy nach Hause kamen und sie alle drei zusammen kochten und aßen, hatte Emma das Handy in ihrer Hosentasche und die Zeit immer im Nacken. Sie konnte gar nicht oft genug prüfen, ob sie die SMS vielleicht überhört hatte oder Cayden vielleicht angerufen hatte. Selbst beim Essen sah sie einmal auf ihr Telefon, was Rob mit einer gehobenen Augenbraue und einem Spruch von wegen 'abrufbar' registrierte. 
Danach war die Sache mit dem Handy gegessen, bis es tatsächlich kurz ein Lebenszeichen von sich gab. Allerdings eines, das Emma noch Zeit ließ, zu Ende zu essen und beim Abwasch zu helfen.

Es würde fast neun werden, bis Cayden zu Hause war und sie zu ihm gehen konnte. 
Um halb neun lief sie zu Hause los und kam dann erst zehn Minuten nach der verabredeten Uhrzeit beim C&C-Gebäude an, wo sie schnell in den Aufzug flitzte und auf den Knopf zum Penthouse drückte. 
Je weiter sie nach oben kam, desto nervöser wurde sie. 
Sogar ihre Handflächen wurden ein bisschen feucht und Emma sah an sich hinunter, kontrollierte, ob ihr keine Speckröllchen über die Jeans hingen und sie auch einen hübschen, aber gemütlichen Pulli angezogen hatte. Das Ganze fühlte sich fast wie ein erstes Date an, obwohl sie soetwas eigentlich nie gehabt hatten. Vielleicht lag es auch an... nun ja, den Neuigkeiten, die sie mit sich herum trug. Wäre zumindest kein Wunder, wenn sie das so nervös machte. Besonders im Bezug auf Cayden.


Als sie im obersten Stockwerk ankam und die Türen aufglitten, zauberte sich ein Lächeln auf Emmas Gesicht und sie trat fast schüchtern in die etwas dunkle Wohnung.


"Hi.", war alles was sie sagte, aber ihr Strahlen war hoffentlich Zeichen genug dafür, dass sie sich freute, ihn zu sehen.
 

Emma tatsächlich endlich wieder zu sehen, war … nun, manche würden sagen, es war wie Weihnachten, Ostern und Geburtstag zugleich, aber für ihn hatten diese Dinge ja keine Bedeutung, also nannte er es einfach so, wie es auf ihn wirkte: Emma endlich wieder zu sehen und die damit verbundenen Gefühle waren absolut kostbar wie auch selten. Es … war unbeschreiblich. Als würde ein tonnenschweres Gewicht von ihm abfallen, in dem Augenblick als sie aus dem Fahrstuhl trat. Einfach unglaublich gut.

„Mit einem netten ‚Hi‘ gebe ich mich aber auf keinen Fall zufrieden.“

Seine Stimme zitterte fast vor Euphorie und er strahlte übers ganze Gesicht, als er die wenigen Schritte auf sie zu kam und Emma in seine Arme schloss. Er kuschelte sich regelrecht in ihr Haar, sog tief ihren Duft ein und … begann sich endlich ein bisschen zu entspannen.

Obwohl sie sich noch nicht sehr lange auf dieser Ebene kannten, so vermittelte ihr köstlicher Duft ihm doch das Gefühl von Zuhause, Zuneigung und Wohlbefinden. Er könnte jede Sekunde am Tag darin baden und er würde dennoch nicht genug davon bekommen. Ebensowenig wie von dem Gefühl, sie fest zu halten und die Wärme ihres Körpers an sich zu spüren. Sie zu halten. Zu wissen, dass ihr hier nichts passieren konnte. Dass sie bei ihm war…

Cayden wollte sie nie nie wieder loslassen.
 

"Nein?"

Sie konnte seinen Satz nur sehr leise und kurz kommentieren, bevor sie in eine wohlige Bärenumarmung gezogen wurde und sich Sekunden später ein bisschen dumm dabei vorkam, immer noch ihre volle Tasche in der Hand zu halten. Mit der anderen hielt sie sich dafür umso besser an Cayden fest und leistete auch keinen Widerstand, als er sie so knuddelte und umarmte.

Es war eine Woche gewesen. Wenn sie länger Urlaub gemacht hätte, würde er sie vielleicht erdrücken.


Und Emma hatte dagegen ganz und gar nichts einzuwenden.


Mit einem kleinen Lachen legte sie ihre Wange an Caydens Brust, schloss die Augen und ließ seine Gegenwart durch sich hindurch fließen. Es war schön warm und fühlte sich wunderbar an, wieder so nah bei ihm zu sein. Zum Süchtig werden, wie sie schon einmal festgestellt hatte. Aber verzichten würde Emma deshalb auf keinen Fall.


"Na, wie geht es dir, mein Lieber?"
 

„Ich weiß nicht. Mein Gehirn kann gerade keine Eindrücke mehr verarbeiten.“

Cayden nuschelte es direkt an ihren Hals, hielt sie noch einen Moment länger fest, ehe er sich ein Stück zurück zog und mit beiden Händen Emmas Gesicht umfasste.

„Ich habe dich sehr vermisst. So viel steht schon einmal fest.“

Er hauchte ihr nur einen zarten Kuss auf die Lippen, weil er bei mehr einfach nicht mehr von ihr hätte ablassen können. Darum zog er sich schließlich ganz zurück und nahm ihr die Tasche ab, während er nach ihrer Hand griff.

„Komm. Lass es uns auf der Couch bequem machen. Ich bin ganz froh, wenn ich endlich mal in Ruhe sitzen kann.“

Während er Emma durch den Flur in Richtung Wohnzimmer führte, stellte er ihre Tasche neben der Tür im Schlafzimmer ab und zog sie dann weiter.

„Wie geht es dir? Wie war die Reise? Anstrengend? Willst du irgend-"

Cayden drehte sich mit einem entschuldigenden Lächeln zu Emma herum. Er fing schon wieder zu plappern an. Etwas, das ihm auch nur bei ihr passierte.

"Möchtest du vielleicht was trinken? Essen?"
 

"Ich hab dich auch sehr vermisst."


Als er sie so flüchtig, aber freundlich und vor allem mit einem strahlenden Lächeln küsste, stieg das schlechte Gewissen in Emma hoch. Das Gefühl wollte sich in ihrem Magen einnisten, der seit ein paar Tagen endlich wieder still geworden war. Und mit jeder Sekunde, die sie Cayden im Unwissen ließ, wurde es schlimmer. Sie sollte es ihm sagen. Und zwar jetzt. Bevor er ihr irgendwann einen Vorwurf daraus machen konnte, dass sie so unsicher gewesen war. Denn-


"Komm."


Das reichte schon, um Emmas Gedanken und Befürchtungen für den Moment zu zerstreuen. Im Innersten war sie froh darüber, noch ein paar weitere Minuten von dieser Entscheidung und diesem unvermeidlichen Bruch in der guten Stimmung - vielleicht ihrer ganzen, glasfeinen Beziehung - entgangen zu sein.


"Couch klingt gut. Und eine große Tasse Tee, wenn das geht. Draußen wird es gerade wieder richtig scheußlich. Ich glaube sogar, dass es sowas wie Schneeregen geben könnte heute Nacht."


Emma zog sich die Jacke aus und hängte sie über einen der Barhocker in Caydens Küche, bevor sie die Schuhe auszog und sie unauffällig unter den gleichen Hocker stellte.


"Ich hab schon gegessen. Aber was ist mit dir? So, wie ich dich kenne, hattest du noch kein Abendessen. Ach, warte. Ich hab dir was mitgebracht."


Sie ergriff die Gelegenheit und schnappte sich ihre Sachen, die sie zur Garderobe brachte, bevor sie ins Schlafzimmer ging und eine gelbe Tüte mit einer roten Schleife aus ihrer Tasche zog. Wieder in der Küche angekommen, stellte sie die M&Ms mit dem Schleifchen auf dem Küchentresen ab und grinste Cayden an.
 

Nicht erwähnend, dass er heute noch so gut wie gar nichts gegessen hatte, füllte er lieber seinen Wasserkocher auf, während Emma kurz verschwand und suchte bereits ein paar Teesorten heraus, die er ihr zur Auswahl anbieten würde. Als er sich jedoch umdrehte und das Päckchen M&Ms mit dem Schleifchen sah, ließ er die Teeauswahl wieder sinken und kam zu ihr hinüber. Die Frühstückstheke zwischen ihnen.

Seine Finger spielten mit dem Schleifchen, während er sich auf der Platte abstützte und Emma mit einem Blick fixierte.

"Weißt du eigentlich, dass du einfach unglaublich bist?", schnurrte er leise und fühlte eine Welle der Zuneigung über sich hinweg schwappen.

Sanft strich er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr, folgte dann mit seinen Fingerspitzen ihrer Kieferlinie und blieb an ihrem Kinn stehen, dass er leicht anhob, während er sich noch weiter nach vor beugte.

Wieder streiften seine Lippen die ihren, doch dieses Mal nicht flüchtig, sondern zärtlich und sanft, während sein Herz wie wild in seiner Brust pochte und alles in ihm zu kribbeln anfing. Erfüllt von einem inneren Zittern, das er nicht richtig zuordnen konnte, hauchte er ihr einen Dank für die Süßigkeiten gegen die Lippen und löste sich nur sehr schwer wieder von ihr.

Ihm war leicht schwindelig, als er wieder zu den Teepäckchen hinüber ging, um Emma eine Entscheidung bei der Auswahl treffen zu lassen.

Während der Tee zog, suchte Cayden sich schnell etwas zu Essen aus dem Kühlschrank, begnügte sich dann aber mit einer Auswahl von frischen Kirschtomaten und etwas Obst. Mehr würde er heute vermutlich ohnehin nicht hinunter bekommen. Wenn der Durst stärker wurde, war der Appetit auf Essen meistens eher gering.
 

Emma errötete leicht, weil sie bestimmt nicht angenommen hatte, für so ein kleines Geschenk 'unglaublich' genannt zu werden. Und das auch noch im positiven Sinne. Aber wenn sie sich damit so leicht einen so köstlichen Kuss verdienen konnte, dann würde sie öfter daran denken, Cayden eine Kleinigkeit mitzubringen.


Mit einem Lächeln und einem Seufzen, das schon sehr stark an Schmachten erinnerte, stützte Emma sich mit den Ellenbogen auf der Bar ab und sah Cayden dabei zu, wie er Tee kochte. Es war wirklich total albern, aber selbst dabei sah er in ihren Augen sexy und unglaublich gut aus. Der Freizeitlook gefiel ihr unheimlich und Emma fand, dass ihm das sogar noch besser stand, als die teuren Anzüge, die an sich schon sehr viel hermachten.


Bald gab er ihr einen heißen Teebecher in die Hand und Emma stand auf, nachdem sie sich mit einem weiteren, dieser seltsam zurückhaltenden Küsse bei ihm bedankt hatte.


"Die Couch ist unser, würde ich sagen."


Also eroberten sie sich das Möbelstück und Emma sah Cayden dabei zu, wie er seine kleine Portion Tomaten und Obst aß, während sie zuerst einmal so gut wie gar nichts sagten. Emma begnügte sich absolut damit, ihn einfach nur anzusehen und mit glücklich klopfendem Herzen auf seinem Sofa zu sitzen und vor sich hin zu strahlen.
 

Emma sah zwar nicht so aus, als würde sie jeden Bissen von seinem Mund abzählen und kontrollieren, ob er wirklich genug aß, dennoch zwang er sich extra viel Essen rein. Gerade weil er wusste, dass die Sache mit seinem Durst ein Teufelskreis war. Der Durst verminderte sein Hungergefühl oder besser gesagt, unterdrückte er ihn fast gänzlich und ein vor Hunger geschwächter Körper brauchte noch mehr Energie, was wiederum den Durst weiter ankurbelte und noch weniger Appetit auf feste Nahrung entstehen ließ. Er kannte es zur Genüge und wusste daher, wann seine Grenzen erreicht waren. Momentan war es noch nicht besonders schlimm.

Bis Vanessa zurück war, würde er es sicher aushalten.

Da Emma heute noch nicht durchblicken hatte lassen, ob sie wieder DVDs mitgenommen hatte, konnte nun Cayden sie damit überraschen, dass es ihm gelungen war, die Star Wars Reihe zu ergattern. Für jemanden, der keine Zeit hatte, war so ein Blackberry mit Internetanschluss einfach eine unglaublich gute Erfindung und so konnte er nach dem Essen die zweite Star Wars Episode hervorzaubern, zu der sie es sich wieder auf der Couch gemütlich machen konnten.

Eigentlich war ihm der Film relativ egal. Allein dass Emma wieder hier war zählte.

Vielleicht kam es ihm aus diesem Grund dieses Mal noch gemütlicher vor, als sie sich in vertrauter Position auf die Couch kuschelten, weil Cayden einfach nicht von ihr ablassen konnte. Er musste sie berühren, sie halten, fühlen, riechen und ihre Wärme spüren. Nach einer Woche Entzug, war es ihm einfach unmöglich, sich einfach neben sie zu setzen. Nein, er musste sie fest halten. Damit sie nicht gleich wieder weg ging.

Cayden schaffte es ungefähr bis zum ersten Viertel des Filmes, bis ihm langsam vor Gemütlichkeit und Behagen die Augen zu fielen und er schließlich vor Erschöpfung eindöste. Natürlich war der vampirische Anteil seines Gehirns immer noch auf eine bestimmte Weise wach und aufmerksam, doch dieser würde sich erst bei wirklicher Gefahr wieder direkt einschalten. Wenn zum Beispiel ein seltsamer Geruch im Raum hing, oder er ein Geräusch hörte, das ihm Gefahr vermittelte. Doch momentan schwelgte er in absoluter Behaglichkeit und fühlte sich, mal von dem brennenden Durst abgesehen, rundum wohl. Müde und erschöpft. Warm und sicher. Eine wirklich ausgezeichnete Mischung.
 

Jedes Mal wieder, wenn sie diese Filme sah, fand Emma Prinzessin Amidalas Kleider und die Frisuren einfach nur wunderschön. Da hatten sich die Maskenbildner und Kostümdesigner wirklich etwas einfallen lassen. Selbst die einfache, weiße Kampfmontur, die man ihr am Ende des dritten Teils gegeben hatte, gefiel Emma sehr gut. Wie gern hätte sie auch sowas tragen können. Sie zog sich imaginär selbst eine dafür über, dass sie ein wenig neidisch auf Natalie Portmans Figur wurde. 
Immerhin hatte sie etwas, das Amidala nicht hatte. Ihr mochte der zukünftige Darth Vader zu Füßen liegen, aber einen Jedi-Sandmann... sowas hatte nur Emma.

Als sie sich vorsichtig herumdrehte, um etwas zu Cayden zu sagen, fand sie etwas bestätigt, was sie schon seit einer Weile vermutet hatte. Zwar war Cayden auch beim letzten Mal, als sie einen Film angesehen hatten, eher schweigsam gewesen, aber jetzt... war er tatsächlich eingeschlafen.

Emma lächelte warm, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und kuschelte sich wieder in seine Arme, um sich allein den Film zu Ende anzusehen. Cayden durfte gerne schlafen. Emma gönnte ihm die Erholung von dem ganzen Stress und den vielen Stunden Arbeit. Außerdem war ab sofort Wochenende. Sie hatten also für ihre gemeinsamen Begriffe alle Zeit der Welt.



Als der Film beim Abspann ankam, drehte Emma die Lautstärke herunter, da diese dabei immer noch einmal anschwoll und drehte sich wieder zu Cayden herum. Diesmal allerdings noch ein Stück weiter, damit sie ihm mit den Fingerspitzen über die Wange streicheln und ihm einen zurückhaltenden Kuss auf die Lippen geben konnte.


"Cayden?"


Sie strich ihm durchs Haar und küsste ihn noch einmal. Allerdings überlegte Emma sich schon, ob sie die Bettdecke einfach auf die Couch bringen sollte, wenn sie Cayden nicht wach bekam. Groß genug war das Sofa bestimmt, dass sie zusammen einigermaßen bequem darauf schlafen konnten.
 

Als Emma seinen Namen sagte und ihn berührte, zuckte er aus seinem Schlaf hoch. Allerdings nicht so, wie es vermutlich jeder andere tun würde. Cayden schlug statt irgendeiner Regung einfach nur die Augen auf, die kurz durch den Raum schossen und schließlich auf Emma liegen blieben. Zunächst wachsam, aber als er wieder völlig da war, weich und erneut entspannt.

Erst jetzt rührte er sich wirklich, in dem er sich ein bisschen weiter aufsetzte und einmal hinter hervor gehaltener Hand gähnte.

"Tut mir leid. Ich hab den Film verpasst." Seine Stimme war rau und tief. Er war total verschlafen.

"Was dagegen, wenn wir ins Bett gehen? Ich glaube, ich mach's heute nicht mehr lange."

Und das bewies ihm auch jeder einzelne Muskel, als sie sich von der Couch erhoben.

Normalerweise war er geschmeidig, aber im Augenblick fühlte Cayden sich wie ein alter Opa mit Reuma und sein Kopf war auch nicht ganz da. Nun ja, er gehörte einfach wirklich ins Bett, weshalb ihm das Zähneputzen und Umziehen auch irgendwie wie ein Traum vor kam. Erst recht, als er endlich in seinem Bett lag und schon wieder halb weg war, bevor Emma sich zu ihm gesellen konnte. Heute war er wirklich zu nichts mehr zu gebrauchen.
 

"Macht doch nichts."


Schließlich hatte er die DVD sogar gekauft. Sie konnten sie Morgen gleich noch einmal ansehen, wenn sie Lust dazu hatten oder es einfach auf ein Andermal verschieben. Und ins Bett gehen war auch in Ordnung. Emma war nicht unbedingt müde, aber das gemütliche Lümmeln auf dem Sofa, die wohlige Wärme und die gesamte schöne Atmosphäre zwischen ihnen, hatte sie schläfrig genug gemacht.

Sie trottete neben Cayden her, der es irgendwie schaffte, in beeindruckender Art sich die Klamotten vom Leib zu rupfen und im nächsten Moment daran zu denken, sie aber ordentlich auf Bügel zu hängen. Emma sah nur verstohlen aus dem Augenwinkel hin, als er sich schon die Jeans halb von den Hüften streifte, obwohl er die Badezimmertür noch nicht ganz hinter sich geschlossen hatte. 
Sie selbst schaffte es geradeso, sich umzuziehen, bevor Cayden nur noch mit halb offenen Augen im Schlafzimmer erschien und sich wortlos, wie ein Stein ins Bett warf.


Im Bad putzte Emma sich die Zähne, schminkte sich ab und besah sich dann kritisch ihren Bauch in seiner nackten Blöße. Nichts konnte man sehen. Rein gar nichts. Das, was da in ihr heran wachsen könnte und von dem sie noch nicht wusste, ob es so weit kommen würde, war jetzt noch viel zu klein, um ihren Bauch größer zu machen. Emma konnte sich das auch überhaupt nicht vorstellen. Also... natürlich konnte sie sich ihren Bauch dicker vorstellen. Das war er schon gewesen. Aber so richtig... dick? Ein echter Babybauch? An ihr?


Sie hob den Blick und sah in Caydens Spiegel. In seinem Badezimmer, umgeben von seinen Sachen, fing ihr Herz wieder laut und ängstlich an zu klopfen. Die Erkenntnis pochte immer lauter an die Hintertür von Emmas Verstand. Und sie wusste, dass es bald nicht nur die Hintertür bleiben würde. Und bis dahin sollte sie sich schon für etwas entschieden haben.


Noch einmal warf sie einen Blick auf ihren Bauch, dann ließ sie das Schlafanzugoberteil nach unten fallen und ging ins Schlafzimmer, wo Cayden sich kein Stück gerührt hatte, seit sie gegangen war. Er lag auf der Seite, das Kissen fest im Griff und sein Gesicht zur Hälfte darin vergraben. Emma fand das Bild sehr süß, aber irgendwie wäre es ihr jetzt auch ganz lieb gewesen, sie hätten noch ein bisschen reden können.


Leise lief sie zum Bett hinüber, schlüpfte unter die Decke und versuchte zumindest ihren Arm um Cayden zu legen oder seine Hand zu nehmen. So ganz ohne Körperkontakt zu ihm wollte sie einfach nicht in seinem Bett schlafen.
 

Sie hatte ihm noch eine Weile zugesehen. Wie er vollkommen erschöpft geschlafen hatte. Eine Strähne seines roten Haars war ihm ins Gesicht gefallen und hatte ihn offensichtlich gekitzelt. Emma war beim Anblick des kleinen Naserümpfens beinahe vor Anbetung zerflossen, konnte sich aber gerade noch selbst auf die Lippen beißen, um keinen entsprechenden Ton von sich zu geben. 
Stattdessen hatte sie ihm die Strähne hinters Ohr gestrichen und ihm die Wange geküsst. Darauf reagiert hatte Cayden zwar nicht, aber Emma war es eigentlich auch nicht so wichtig, dass er solche kleinen Zeichen der Zuneigung immer vollkommen bewusst mitbekam und sie registrierte. Natürlich freute sie sich darüber, wenn sie ankamen und sie das auch sehen konnte. Aber manchmal... so wie jetzt... war es einfach auch für sie selbst sehr schön, ihn zu küssen. Weil sie ihn sehr mochte.

Das Wort "verliebt" wollte Emma noch nicht dafür gebrauchen, dass ihr Herz so flatterig schlug in seiner Gegenwart oder auch wenn sie Caydens Stimme nur am Telefon hörte. Vermutlich würde sie es bald so nennen. Wenn sie das warme, kitzelnde Gefühl in sich drin so betrachtete, sogar früher als später. Aber im Moment, wo sie mit etwas ganz Anderem schon genug emotionale Last mit sich herum schleppte...


Wie konnte sie das eigentlich von einander trennen? Sie mochte Cayden wirklich gern. Und sie war schwanger von ihm. War es jetzt die größere Schwierigkeit, zuzugeben, was sie für ihn nach so einer kurzen Zeit empfand? Oder sich als Resultat daraus dazu durchzuringen, ihm von der Schwangerschaft zu erzählen. Von dem... möglichen Baby?


Emmas Gedanken begannen sich im Kreis zu drehen und irgendwann schaltete sie das Licht aus, um sie so langsam aber sicher zum Schweigen zu bringen. Es dauerte ewig. Vielleicht sogar noch Stunden, bis sie einschlief. Und sie träumte wirr und anstrengend.


Bis ein summendes Geräusch sie weckte und Emma in Richtung der großen Fenster blinzelte, an denen gerade die automatischen Jalousien die ersten Sonnenstrahlen aussperrten. Schade eigentlich. Das dachte sie aber nur kurz, bis sie sich zu Cayden herum drehte, der auf dem Rücken lag, das Gesicht von ihr abgewendet. Emma hob die Decke etwas an, um sich besser an ihn kuscheln zu können und polsterte sie dann gemeinsam ordentlich und kuschelig aus, bis sie eine wunderbar bequeme Position gefunden hatte, in der sie Cayden umarmen konnte und ihr Kopf an seiner Schulter lag, ohne dass seinem Arm die Blutzufuhr abgeschnitten wurde.


"Hab dich lieb...", nuschelte sie gegen seine Haut und gähnte dann herzhaft, bevor sie sofort in tiefen Schlaf fiel, der nun traumlos und erholsamer war, als bisher in dieser Nacht.
 

Seine Kehle brannte und seine Zunge fühlte sich an, als ob er Sand gekaut hätte. Mehrmals hintereinander.

Seinem Kopf ging es auch nicht besser. Ebenso wie seinen Gliedern.

Alles schien unnatürlich schwer und anstrengend zu sein. Er konnte nicht einmal einen Finger rühren.

Doch da war dieser verlockende, verführerische und absolut sündige Duft nach Erlösung. Pochend und heiß, schien er sich anzubieten. So nahe…

Cayden wusste, dass er träumte. Spätestens, nach dem er sich nicht richtig bewegen konnte, war ihm klar, dass er sich im Traumland wiederfand.

Müde und zerschlagen von der anstrengenden Woche. Ausgezehrt und durstig, halluzinierte er sich bestimmt diese köstliche Blutquelle nur herbei und dennoch, obwohl er wusste, dass es nur ein Traum war, konnte er sich nicht davon abwenden. Im Gegenteil, zog es ihn immer näher zu ihr hin.

Es bedurfte einiges an Anstrengung um sich zu dieser warmen Verlockung umzudrehen und sich näher an diese heißpochende Süße heranzupirschen. Aber es zahlte sich aus.

Cayden lief das Wasser im Mund zusammen, als er den warmen Körper neben sich näher heran zog und mit seinen Lippen nach dem köstlichen Quell suchte, zu dem sein Instinkt ihn zielsicher führte.

Seine Fänge – die schon längst bereit zu allem waren – pochten heftig, als er nur wenige Millimeter entfernt von ihnen das pulsierende Leben wahrnehmen konnte.

Er legte bereits seine Lippen auf die zarte Haut, bis sein Verstand sich wieder einschaltete und er aus dem Schlaf hochfuhr.

Cayden ertappte sich, wie er direkt über Emma gebeugt bereits seinen Mund an ihrem Hals hatte, bereit zuzubeißen.

Sofort schaltete sein Herz auf hundertachtzig und er wollte sich schon ruckartig zurückziehen, doch das hätte Emma bestimmt erst recht hochschrecken lassen. Also unterdrückte er seinen ersten Impuls und schlang die Arme um sie, während er ihre Haut mit zarten Küssen bedeckte.

Er hatte zwar weder eine Ahnung, wie spät es war, noch fiel es ihm leicht, seinen Durst in ihrer Nähe zu bändigen. Aber er wollte ihr auch keine Angst machen und besann sich zumindest darauf, dass es Samstag war. Sie konnten also ruhig längere Zeit im Bett verbringen.
 

Emmas Stirn kräuselte sich im Schlaf und ihre Augen begannen unter den Lidern nervös zu zucken, während sie mit ihrem bewussten Verstand noch nicht einmal ahnte, aus welchen Gründen Cayden sie näher an sich zog und sich schließlich über sie beugte, um seine Lippen auf ihren Hals zu legen. Etwas alptraumhaft Dunkles stieg in Emma auf und ihre Hand drückte sich in minimalem Widerstand gegen Caydens Brust.


Erst als er zwei kleine, sanfte Küsse auf ihren Hals hauchte, als er seine Arme um sie legte und das auf eine Weise, die nur innige Gefühle vermitteln konnte, glätteten sich Emmas Züge wieder. Sie atmete ein paar Mal tief, fast seufzend durch, bis sie verschlafen ein Auge öffnete und sich ein paar Haarsträhnen aus dem müden Gesicht schob.


"Guten Morgen."


Sie küsste seine nackte Schulter, weil es das Stückchen von ihm war, das sie am einfachsten erreichen konnte. Emma kuschelte sich an Cayden und schloss sofort wieder die Augen. Es war bestimmt noch viel zu früh, um schon aufzustehen. Viel zu gemütlich war es auf jeden Fall dafür.
 

"Guten Morgen.", erwiderte er leise und kratzig. Sein Gefühl hatte ihn nicht getrogen, was den Zustand seiner Kehle anging. Er war kurz vorm Verdursten, doch zumindest würde Wasser etwas Abhilfe schaffen. Allerdings schien das ein fernes Ziel zu sein, so wie Emma sich wieder an ihn kuschelte und den Eindruck machte, als wolle sie noch einmal weiter schlafen.

Cayden versuchte selbst noch einmal die Augen zu schließen und wieder weiter zu schlafen. Träge genug wäre er dafür auf jeden Fall, doch kaum, dass sein Verstand einmal an war, ließ er sich auch nur schwer wieder ausschalten. Er begann zu denken, während er sich darauf konzentrierte, seine Fänge wieder in ihr Versteck zurück zu zwingen.

Schon jetzt begann er zu erkennen, wie schwierig es war, mit jemandem aufzuwachen, der keine Ahnung von Vampiren, also von seiner wahren Natur hatte.

Es war nicht so, als ob er es Emma für immer und ewig verheimlichen wollte, doch irgendwie schien es ihm auch nichts zu sein, das man nach einem so kurzen innigen Kennenlernen einfach auf den Tisch legte.

Seine Rasse war darauf programmiert, im Verborgenen zu leben. Es war also niemals leicht, Menschen zu vertrauen, obwohl er für Emma so einiges tun würde … vielleicht sogar noch mehr.

Eine Weile blieb Cayden noch liegen, doch sein Mund fühlte sich so unerträglich trocken an, dass selbst das Schlucken zur Qual wurde, weshalb er sich schließlich vorsichtig von Emma löste und in die Küche schlich, um dort zumindest seinen rein menschlichen Durst zu stillen.

Wieder zurück bei Emma unter der Decke, war er doch ganz schön verwundert, wie spät es eigentlich schon war. Kurz vor zehn Uhr. Solange schlief er für gewöhnlich nie.
 

Emma bemerkte erst, dass er weg gewesen war, als Cayden zurück unter die Bettdecke kam. Immer noch schläfrig, aber wesentlich erholter, rollte sie sich auf den Rücken und streckte ihre Hände nach oben und die Füße so weit nach unten aus, wie sie konnte. Dazu wackelte Emma einmal ausgiebig mit Fingern und Zehen, bloß um sich dann zu Cayden herum zu drehen und sich halb um ihn zu wickeln, halb auf ihn zu werfen und ihm einen Guten-Morgen-Kuss zu geben. Ja, die Nacht hatte gut getan. Jetzt war sie nicht nur hier, sondern auch wirklich bei ihm angekommen. Emma fühlte sich wohl in diesem Bett, auch wenn ihr der Raum oft genug immer noch wenig einladend erschien.


"Hast du gut geschlafen?"


Sie legte sich so hin, dass sie - ihr Kinn auf ihren Unterarm und diesen auf Caydens Brust gebettet - ihm ins Gesicht sehen konnte.


"Und hast du Lust auf Frühstück? Ich hab Hunger."


Mit einem Kuss auf seine Brust und einem anschließenden Grinsen war das eine sehr halbherzige Aufforderung. Denn wenn Emma es irgendwie hätte hinbekommen können, wäre ihr Frühstück im Bett sehr recht gewesen. Ohne allerdings jenes vorher verlassen zu müssen. Und Cayden durfte auch nicht gehen.
 

Cayde lache leise, als Emma sich so um ihn wickelte, wogegen er überhaupt nichts hatte. Ganz im Gegenteil, seine Arme trugen sogar noch dazu bei, dass sie wie ein menschliches Knäuel wirkten.

"Ich habe ganz gut geschlafen. Du hoffentlich auch, obwohl dein Jedi-Sandmann gestern einmal Blau gemacht hat."

Er küsste sie kurz auf die Lippen, strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn und streichelte ihren Nacken, während er Emma anlächelte.

"Ich muss gestehen … ich bin auch hungrig. Aber ich weiß nicht, ob es das, worauf ich Lust hätte, auch im Kühlschrank gibt."

Es war offensichtlich, dass er scherzte, auch wenn er es halb geschnurrt hatte. Eigentlich war er momentan ziemlich faul und wollte sich gar nicht richtig bewegen, sondern viel mehr das Gefühl genießen, wie Emmas Körper sich auf seinem anfühlte. Weshalb er seinen Kopf auch gemütlich zurück ins Kissen sinken ließ und sie weiterhin anlächelte, dabei einen Arm im Nacken liegend, damit er sie leichter ansehen konnte.

"Ich dachte nicht, dass ich das schon so früh zugeben würde, aber ich mag es, wenn du oben liegst."

Nun grinste er wirklich, was seine Augen zum Glitzern brachte und da sie es bei ihm schon so oft getan hatte, knuffte er auch sie leicht in die Seite.
 

"Ja, ich habe ganz gut geschlafen. Keine Alpträume."


Es war viel leichter, nur die halbe Wahrheit zu sagen, als lügen zu müssen. Und Alpträume hatte sie wirklich nicht gehabt. Keine Bestie hatte sie durch dunkle Treppenhäuser gejagt, um ihr in die Haken zu beißen und sie anschließend zu erlegen. Diesbezüglich war alles gut. Was den ruhigen Schlaf anging... würde sie noch daran arbeiten müssen.


Es war Emmas Glück, dass Cayden sie in der nächsten Minute in die Seite knuffte. Andernfalls hätte sie über die Anspielungen vermutlich nicht lachen können. Auch jetzt brachten es ihre Mundwinkel nicht so richtig leicht fertig, sich zu heben. Ganz im Gegensatz dazu hatte ihr Herz sofort gefühlte drei Gänge höher geschaltet und irgendwelche Hormone waren in Emmas Blutbahn gelangt, die sich keinesfalls gut unter ihrer Haut anfühlten. Es war nicht wirkliche Panik, die sich da in ihr breit machte, aber etwas, das ihr bis in die Schläfen pochte. Sie konnte Cayden nicht mehr lange in die strahlend grünen Augen sehen, sondern versuchte ihre Unsicherheit damit zu überspielen, dass sie ihren Kopf auf ihrem Arm ablegte.


Etwas Scherzhaftes hatte in seiner Stimme gelegen, als er das eben gesagt hatte. Also musste Emma nicht gleich annehmen, dass er tatsächlich mehr wollte, als der Kühlschrank her gab. Andererseits waren sie zusammen, hatten sich eine Woche lang nicht gesehen und lagen gemeinsam im Bett. Da war es nicht gerade abwegig, auf Sex zu tippen. Und das konnte... Das ging gerade einfach nicht.
 

Emma legte ihren Kopf auf den Arm, so dass er sie nicht mehr direkt ansehen konnte und sie hatte auch nichts weiter mehr dazu gesagt, weshalb er sich nicht einfach bloß einbildete, dass plötzlich etwas merkwürdiges in der Luft hing. Es war tatsächlich so. Er konnte nur nicht genau sagen, was.

Ihr Herzschlag hatte sich beschleunigt. Das konnte er sowohl hören, wie auch an seinem Bauch spüren, dort wo ihr Herz gegen ihn schlug. Außerdem nahm die Blutzirkulation in ihrem Kopf zu, was man zwar nicht an ihren Wangen sah, aber die Hitze war trotzdem zu spüren. Ihr Duft verstärkte sich.

Cayden wagte kaum zu atmen. Der Geruchscocktail ließ all seine Sinne anspringen und seine Fänge wollten sich bereits strecken.

Da war die Süße ihres körpereigenen Duftes, den er so mochte und die in letzter Zeit deutlich zugenommen zu haben schien. Dann der leicht bittere Beigeschmack von Adrenalin.

Emma war aufgeregt, vielleicht sogar nervös, aber auf keinen Fall erregt. Der Unterschied war nicht schwer festzustellen.

Viel wichtiger war eigentlich die Frage, warum? Oder interpretierte er das alles einfach nur falsch?

Cayden wollte den Augenblick nicht mit irgendwelchen Fragen zerstören, die vielleicht ohnehin unbegründet waren. Außerdem hätte er dann erklären müssen, warum ihm auf einmal etwas so komisch vor kam und das hätte er nicht gekonnt. Zumindest nicht ohne zu lügen.

Also schloss er die Augen und drehte den Kopf leicht zur Seite, damit er mehr den Geruch des Kissens in der Nase hatte, als den von Emmas Blut, während seine Hände sanft über ihre Seite und den Rücken streichelten.

"Das sollten wir öfter machen.", durchbrach er schließlich ganz ruhig die Stille.

"Ausschlafen. Faul im Bett rum liegen. Das hat auf jeden Fall etwas von einem Suchtfaktor."
 

Etwas verwundert sah Emma wieder auf und diesmal war ihr Lächeln zwar klein, aber echt. Was Cayden gesagt hatte, kam ihr nach ihrem Gedankenmix beinahe vor wie ein absoluter Themenwechsel. Aber das sollte ihr im Moment nur recht sein. Solange sie sich nicht selbst vor Angst, Nervosität und auch ein bisschen Scham in kleine emotionale Stücke reißen musste.


Es wurde immer schwieriger, es ihm nicht zu sagen. Denn je länger Emma zwar mit sich selbst haderte, umso klarer wurde, dass es richtig war, es ihm mitzuteilen. Ihre Mutter hatte absolut Recht, wenn sie sagte, dazu gehörten immer zwei. Sie waren beide unvernünftig und unvorsichtig gewesen in jener Nacht. Und jetzt hatten sie... den Salat. Und zwar sie beide.


Emma holte Luft, hatte schon das C seines Namens mit den Lippen geformt und beging dann doch den fatalen Fehler, ihn zuerst anzusehen, bevor sie anfing zu sprechen. Die Wahrheit blieb ihr auf der Zunge haften, wie Teer. 
Ja, sie sollten das hier öfter machen. Es war traumhaft! Emma fühlte sich wohl, sie liebte es, so bei ihm zu sein und war schon lange nicht mehr so glücklich mit jemandem gewesen. Aber wenn sie es aussprach, dann ... dann wäre all das hier vorbei. Nein, wenn sie das gesamte Glück der Welt auf ihrer Seite hatte, war vielleicht nicht alles vorbei. Aber das, was sie gerade beide so genossen, wäre es auf jeden Fall.


"Ja, stimmt."

Herrje, fiel ihr dazu denn wirklich nicht mehr ein?

"Ich mag es wirklich sehr, mit dir gemütlich zu sein."
 

"Ich auch."

Er gab ihr einen züchtigen Kuss auf die Wange und lächelte warm, obwohl er sich innerlich fragte, was los war. Seine Sinne sagten ihm einfach, dass hier irgendetwas vor sich ging und das lag sicherlich nicht einfach nur daran, dass er durch den Durst wesentlich aufmerksamer wurde, als ohnehin schon. Vielleicht sah er ja aber wirklich nur überall pochende Herzen, rauschendes Blut und die vertraute Reaktion einer Person, bei der er kurz davor stand, sie zu beißen und diese es sich auch bewusst war.

Nicht, dass er gerade davor stand.

Und nicht, dass Emma auch nur etwas davon ahnte. Vermutlich verwirrte es ihn daher umso mehr.

Aber weiter darüber nachzudenken, brachte auch nichts, stattdessen richtete er sich weiter auf, so dass auch Emma gezwungen war, sich mehr auf ihn zu setzen als zu legen.

"Weißt du was? Es ist wirklich absolut gemütlich, aber ich habe wirklich einen mörderischen Hunger und leider niemanden, der uns das Essen ans Bett bringen könnte. Wenn du willst, kann ich uns also etwas holen, oder du begleitest mich. Das überlasse ich ganz dir."

Wieder ein Lächeln, auch wenn er es nicht vollkommen ernst meinte. Denn in Wahrheit hatte er keinen Hunger, nur wahnsinnigen Durst und wenn er im Augenblick noch länger in Emmas Nähe blieb, während etwas in ihr vor ging, dann kam das einfach einer Folter gleich. Nicht, dass er das nicht in Kauf genommen hätte, um länger bei ihr zu sein, aber die Sache mit seinen Fängen wäre an diesem Morgen doch etwas schwerer zu erklären gewesen. Vor allem, da er Emma doch gerade erst wieder hatte.

Cayden wollte nicht riskieren, dass sie fluchtartig seine Wohnung und vielleicht sogar sein Leben verließ.
 

"Ehrlich gesagt, finde ich das ganz gut. Ein Butler oder eine Hausdame würden mich vermutlich total... ich weiß nicht... Ich käme mir vermutlich seltsam vor, wenn mir ein Angestellter hinterher räumt und für mich kocht."


Da sie gerade auf seinem Schoß saß, umarmte Emma Cayden einmal fest, drückte ihm anschließend einen Kuss auf die Lippen und suchte sich dann einen Weg aus der großen Decke, den Kissen und der Wärme, die sie gemeinsam im Bett geschaffen hatten. Es war richtig angenehm, dass diese Vorleger am Bett lagen und Emma mit ihren nackten Füßen nicht auf den kühlen Boden steigen musste, als sie aufstand. Sie reckte sich noch einmal und ihr Bauch schaute unter dem Schlafanzugoberteil heraus, bis sie die Arme fallen ließ und sich die Haare über die Schultern nach hinten schob.


"Was gibt es denn zum Frühstück? Ich weiß, du hast vermutlich Zutaten für so gut wie alles da. Was hältst du von ausgiebigem Brunch? Mit Frühstücksei und Brötchen? Schinken, Tomaten und allem Drum und Dran?"


Wenn er so großen Hunger hatte, konnten sie das ruhig machen und vielleicht das Mittagessen ausfallen lassen. Emmas Magen raunte auch leise Zustimmung und außerdem hätten sie dann gleich etwas für den Anfang des Tages, was sie tun konnten.


Zwar machte sich Emma wenig Sorgen darüber, dass sie sich bald miteinander langweilen würden, aber allein die Eventualität der Gefahr, verpasste ihr ein unangenehmes Gefühl im Nacken.
 

"Klingt gut. Ich bin dabei."

Obwohl Cayden gerade sehr enthusiastisch geklungen hatte, ließ er sich doch Zeit, um aus dem Bett zu kommen. Es kam schließlich nicht oft genug vor, dass er Emma so frei im Schlafanzug betrachten konnte. Ungekämmt und einfach gemütlich.

Um ehrlich zu sein, gefiel sie ihm so sehr viel besser, als in ihrer Arbeitsmontur. Aber das behielt er erst einmal für sich.

Schließlich schaffte er es doch, nach Emma aus dem Bett zu klettern, ein nachträgliches Gähnen zu unterdrücken und sich die Frisur noch mehr zu zerstrubbeln, während er seinen verspannten Nacken rollte.

In der Küche ging er als erstes zum Kühlschrank, um sich die Flasche mit dem frischen Orangensaft heraus zu holen.

"Bedien dich ruhig, nach Lust und Laune. Der Kühlschrank gehört ganz dir."

Musste er auch, weil Cayden sich zwar ein Brunch vorstellen konnte und wie so etwas auszusehen hatte. Aber die Vorstellung, es in naher Zukunft auch zu essen, war da schon sehr viel schwieriger.

"Willst du auch ein Glas?"

Er deutete auf den Orangensaft in seiner Hand und versuchte dabei einfach nicht an später zu denken. Sich selbst schenkte er ein großes Glas ein und trank es fast in einem Zug leer, ehe er sich nachschenkte.
 

Bevor sie Cayden in die Küche folgte, schlüpfte Emma noch in ihre Socken. Es war zwar ein bisschen komisch für sie, sich hier genauso zu kleiden, wie bei einem faulen Samstag in der WG, aber Cayden schien ebenso auf locker und behaglich getrimmt, daher musste sie jetzt bestimmt nicht erst einmal ins Bad rennen und sich stylen. Das kam bei Emma sowieso äußerst selten vor. Sie achtete auf ihr Äußeres und lief bestimmt nie gammelig herum, aber sich für einen Samstag auf der Couch zu schminken, sich die Haare zu waschen und eine Frisur zu machen, die mehr war, als ein lockerer Pferdeschwanz... naja, sie würde es ja sehen. Wenn Cayden sich aufbrezeln sollte, würde sie bestimmt nicht im Pyjama neben ihm auf dem Sofa sitzen. Vielleicht kam ja auch überraschend jemand bei ihm vorbei. Man wusste doch nie.


Bevor sie aber an sich selbst arbeitete, zog Emma lieber den unglaublich großen Kühlschrank auf, holte Eier und Speck heraus und ließ sich zeigen, wo die Pfanne war, in der sie zuerst den Speck anbraten ließ, um dann im so gewonnenen Fett die Eier zu braten.


"Möchtest du sie auf beiden Seiten gebraten oder Sunny Side up?", wollte sie von Cayden wissen. Dann nippte sie kurz an dem Orangensaft, den er ihr gegeben hatte. "Ich kann auch noch Tomaten anbraten, wenn du darauf Lust hast. Ich finde, das schmeckt lecker."


Ihr lief sowieso schon das Wasser im Mund zusammen. Gott, was war sie froh, dass es ihrem Magen zumindest wieder besser ging. Der hatte sich wirklich innerhalb eines halben Tages eingerenkt, nachdem sie von dem Grund für die morgendliche Übelkeit erfahren hatte. Vielleicht lag es nur daran, dass der Arzt gesagt hatte, oftmals käme die Übelkeit rein von der Psyche. So viele Frauen hörten davon, dass Morgenübelkeit einfach dazu gehörte, dass ihr Körper genau damit reagierte, sobald sie von ihrer Schwangerschaft erfuhren. Warum es bei Emma genau anders herum gewesen war, wusste sie nicht. Aber ihr sollte es nur recht sein. Immerhin liebte sie Frühstück. Da war dieses Magenproblem schon wirklich anstrengend gewesen.


"Oh, können wir über dem Tresen das Licht anmachen? Ich sehe immer gern, was ich esse."

Das stimmte. Ansonsten machte ihr ein bisschen schummeriges Licht nichts aus, aber wenn sie sich schon Mühe gab, etwas zu kochen oder Essen einfach herzurichten, dann sah sie auch gern den Teller, wenn es wirklich ans essen ging.
 

Cayde mochte seine Frühstückseier am liebsten auf beiden Seiten gebraten, was er auch Emma mitteilte. Tomaten klang ebenfalls hervorragend, obwohl er jetzt schon wusste, dass seine Augen größer als sein Magen sein würden. Hoffentlich nicht sehr viel größer.

Während sie mit der Pfanne hantierte, deckte Cayden die Frühstückstheke. Schön feinsäuberlich mit Platzdeckchen, Servietten und alles, was zu einem anständigen Gedeck dazu gehörte. Wenn er aß, dann auf keinen Fall schlampig.

In der Küche duftete es bereits herrlich, so dass ihm sogar wegen des Essens das Wasser im Munde zusammen lief und er tatsächlich einen Moment über Emmas Bitte verdutzt war.

Rasch blickte er zur Frühstückstheke, dann zu ihr und wieder zurück, bis ihm endlich ein ziemlich dummer Fehler klar wurde.

Sie konnte vermutlich gerade einmal gut genug zum Kochen sehen!

Da er morgens gerne ohne Sehkrücke durch seine Wohnung lief, waren natürlich überall die Rollläden herunter gelassen. So auch heute.

"Tut mir leid. Das hatte ich ganz vergessen."

Cayden knipste nicht das Licht über der Theke an, sondern verschwand ganz aus der Küche. Während er in sein Schlafzimmer ging, drückte er schon mal den Knopf, der im Wohnzimmer die Rollläden hochfahren ließ und verschwand dann schnell ins Bad, um sich die Kontaktlinsen einzusetzen. Inzwischen hatte er sich so sehr mit ihnen angefreundet, dass er sie meistens sogar der Brille vorzog. Nicht allerdings im Büro. Da war ihm die Brille lieber.

Wieder zurück in der Küche, war gut erkennbar, dass das Wetter sich in der letzten Zeit noch nicht sehr verändert hatte. Die Sonne schien sich nicht entscheiden zu können, ob sie herauskommen, oder sich doch lieber verstecken wollte.

"Was meinst du? Sollen wir uns heute lieber auf der Couch verbarrikadieren oder uns doch lieber auf die Straße wagen? Übrigens duftet das Essen einfach umwerfend."

Emma war gerade dabei den Inhalt der Pfanne auf zwei Teller zu verteilen, als er seine Arme von hinten um sie schlang und sein Kinn auf ihrer Schulter abstützte, wobei er einen Buckel machen musste, da sie kleiner als Vanessa war. Aber genau deshalb gefiel es ihm noch mehr.
 

Für einen nicht gerade flüchtigen Moment war Emma überrascht. Eigentlich hatte sie aus reiner Gewohnheit einen Schritt zur Seite machen wollen. In der WG kochten sie oft zusammen und wenn dann jemand hinter ihr stand, wollte derjenige entweder an eine Schublade oder ein Schränkchen, vor dem sie stand. Daher rechnete Emma ganz und gar nicht damit, dass Cayden sie von hinten umarmen würde. Für eine Sekunde stand sie steif da, bis sie sein Kinn auf ihrer Schulter spürte und seine Worte ganz leise neben ihrem Ohr hörte. Sie legte einmal kurz ihren Kopf an seinen. 
Cayden war wirklich unglaublich süß.


"Was hältst du davon, wenn wir eventuell beides machen? Wir könnten jetzt erstmal drinnen bleiben und heute Abend spontan entscheiden, ob wir noch ins Kino gehen möchten. Oder hast du Lust auf einen Bummel zum Strand?"


Emma stellte die nun leere Pfanne auf einer kalten Herdplatte ab, griff sich die Teller und gab Cayden einen Kuss auf die Wange, als er ihr gerade so viel Freiraum gab, dass sie sich herum drehen konnte.


"Mir ist egal, was wir machen. Wir haben doch so viel Zeit."

Hauptsache sie verbrachten sie zusammen. Der Rest war Emma wirklich relativ gleich.

34. Kapitel

"Mhmm…lecker. Genau wie ich sie mag."

Cayden hatte zwar keinen Hunger, nahm aber trotzdem noch einen Bissen von den Eiern und schwärmte nicht umsonst. Emma hatte die Mahlzeit genau richtig gewürzt, was bei seinen sensiblen Geschmacksnerven durchaus eine Herausforderung sein konnte, die sie aber mit Bravour bestanden hatte.

"Kino klingt übrigens gut. Ich denke ja, zu viel frische Luft auf einmal würde ich gar nicht vertragen."

Er lachte leise.

"Aber wenn du möchtest, könnten wir morgen einen Spaziergang zum Strand machen. Dort war ich auch schon sehr lange nicht mehr. Dabei finde ich das Meer schön. Ich meine jetzt im Allgemeinen. Da gibt es ja auch meilenweite Unterschiede."

Cayden nahm einen großen Schluck von seinem Orangensaft und schenkte sich wieder einmal nach. Womit er jetzt umgerechnet beim vierten Glas angekommen war.

"Was sagt eigentlich deine Wohngemeinschaft dazu, dass ich dich ständig für mich beanspruche? Wäre es möglich, dass ich in nächster Zeit Ärger von ihnen bekomme und sie dich zurück fordern?"

Eigentlich hätte er gar nichts dagegen, einmal Emmas Mitbewohner kennen zu lernen und zu sehen, wie sie so lebte. Bisher hatten sie sich immer nur in seinem Reich aufgehalten, von ihr hingegen hatte er noch gar nichts gesehen und das würde ihn wirklich brennend interessieren.
 

"Freut mich."


Emma lächelte und säbelte sich ein großes Stück Tomate so zurecht, dass sie ein kleines Dreieck von dem Ei darauf platzieren und sich dann alles in den Mund stecken konnte. Es schmeckte auch ihr. Vor allem das mit den gebratenen Tomaten hatte sie noch nicht oft selbst gemacht. Meistens gab es das, wenn Rob Frühstück für alle machte.


"Mh, wir können dich im Sommer ganz vorsichtig mit Open Air - Kino an mehr Frischluft gewöhnen." Und an mehr Leute. Emma konnte sich fast vorstellen, dass Cayden mit großen Menschenmengen nichts anfangen konnte. Gut, so ging es den meistens Kiwis, das sie auf der Fläche des Landes nur 4000.000 Menschen waren. Aber selbst so ein voller Kinosaal oder ein Konzert konnten zur Herausforderung werden, wenn man nur sich selbst gewohnt war. Von einer Bar oder einem Club ganz abgesehen. Wobei Emma da einfiel, dass sie schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr im Mighty Mighty gewesen war. Sie könnte mit Kathy hingehen, nächsten Donnerstag. Auf ein Bier oder-


Emmas Kiefer verharrte mitten im Kauen und ihr Blick zuckte unwillkürlich in Richtung des Grunds, der ihr gerade siedend heißt gegen das Bier eingefallen war. Nein, erstmal... kein Bier. Überhaupt kein Alkohol. Und leider kein Kaffee. Noch hatte sie sich nicht ganz für oder gegen ... die Situation entschieden, aber riskieren würde sie trotzdem nichts, was sie später vielleicht bereuen könnte. Und vor allem, nicht nur sie.


Als Emmas Hirn ihr mitteilte, dass Cayden die ganze Zeit über mit ihr gesprochen hatte, kaute sie konzentriert weiter und richtete ihre volle Aufmerksamkeit wieder auf ihn. So leicht sollte sie sich einfach nicht ablenken lassen. Das war mal von anderen Dingen abgesehen, ziemlich unhöflich.


"Das Meer muss toll gewesen sein, dort wo du herkommst. Oder? Das stelle ich mir so richtig wie auf den Urlaubsprospekten vor. Üppige Blau- und Grüntöne und ein strahlend weißes Riff, das man vom Flugzeug aus sehen könnte."


Weißer Sandstrand dazu, eine kleine Ferienhütte mit aufgehängten, sich im sanften Wind bauschenden Moskitonetzen. Da würde Emma gerade eine sehr schöne, wenn auch unanständige Szene einfallen...


Allerdings ließ sie Cayden das lieber nicht wissen, sondern ging lieber auf seinen neuerlichen Themenschwenk ein.


"Nein, die beiden würden dir keinen Ärger machen. Höchstens mir, weil sie vor Neugier platzen und dich mal kennen lernen wollen."


Ob Cayden Lust hatte, mal zu ihr zu kommen? Emma sah ihn an, fast schon prüfend. Wobei die Prüfung eher ihrer Wohnung und ihrem Zimmer galt, das mit dem, was Cayden an Luxus gewohnt war, überhaupt nicht mithalten konnte. 
Hm... da fiel ihr noch das anderen 'Geschenk' ein, dass sie ihm mitgebracht hatte.
 

Er grinste.

"Das kann ich ihnen gar nicht übel nehmen. Schließlich bin ich auch neugierig auf deine Mitbewohner und das, obwohl du zu meinem Glück nicht bei ihnen sondern bei mir frühstückst. Ich würde gerne einmal sehen, wie du so lebst. Ich meine, das hier ist eine Männerbude."

Er machte eine ausladende Geste, welche die ganze Küche und einen Teil des Wohnzimmers einnahm.

"Nicht unbedingt das, worin sich eine Frau wohlfühlen könnte, darum würde es mich wirklich interessieren, worin du dich wohl fühlst."

Aus einem spontanen Bedürfnis heraus, lehnte er sich zu Emma hinüber und gab ihr einen etwas längeren Kuss auf den Mund, ehe er sich mit einem breiten Grinsen zurück zog.

"Es sei denn, es ist dir zu peinlich, dich mit mir sehen zu lassen."
 

Es schien schon fast zur Gewohnheit zu werden, dass sie ihn knuffte, wenn er solche albernen Scherze machte.


"Fishing for compliments steht dir gar nicht, Cayden."


Und diesmal war es Emma, die sich zu ihm hinüber lehnte und ihn lange küsste. Beinahe wäre sie vor Schreck zusammen gezuckt, als ihr Magen so stark wie bisher nie, zu flattern begann. Zuerst dachte Emma, dass ihr wieder schlecht werden würde, aber als sie feststellen durfte, dass das Klopfen und Knistern in ihrem Bauch ganz andere Gründe hatte, lächelte sie schüchtern und zog sich dann vor Cayden zu ihrem Frühstücksteller zurück.


"Du kannst gern mal zu mir kommen. Ich finde unsere WG sehr gelungen und gemütlich. Allerdings..." Sie sah sich in der Wohnung um, die Cayden so treffend als 'Männerbude' bezeichnet hatte. Es stimmte schon, dass Emma sie etwas anders eingerichtet hätte, aber es war nun einmal der Stil, in dem er sich wohl und Zuhause fühlte.

"Irgendwie könnte ich mir vorstellen, dass du sie verlottert findest. Es ist halt Vieles nicht mehr ganz neu, bunt, mit allem Möglichen dekoriert..."


Sie beendete den Satz nicht wirklich, sondern steckte sich lieber noch etwas Ei und Speck in den Mund, der beim Kauen so toll knusperte. Das hatte sie nicht schlecht hinbekommen.
 

Der Kuss, den Emma ihm anschließend gab, knisterte so sehr auf seinen Lippen nach, dass Cayden zunächst gar nicht weiter aß, um dieses Gefühl nicht zu zerstören. Ganz im Gegenteil lächelte er in sich hinein und genoss die Endorphine, die sein Körper gerade in regelrechten Flutwellen ausstieß.

Er hatte das Gefühl, Bäume ausreißen zu können, wobei das mehr eine Metapher war. Denn eigentlich könnte er einen Baum … naja, vielleicht nicht elegant ausreißen, aber ganz schön zerlegen auf jeden Fall.

"Solange es dich zum Lachen bringt, ist es mir egal, ob es mir steht oder nicht. Oder hast du etwa schon diese wahnsinnig gutaussehende Brille in Pink vergessen?"

Als Emma ihm von ihrem ganz persönlichen Umfeld erzählte, wurde er hellhörig. Es wunderte ihn nicht, dass sie sich sogar noch einmal bei ihm umsah, um anschließend den Eindruck ihres eigenen Reichs zu dämpfen. Was er nicht richtig fand. Schließlich sollte jeder Mensch so leben, wie er sich wohl fühlte und Geld hatte dabei nicht unbedingt eine tragende Rolle.

Vorhin noch war in seinem Tonfall etwas Scherzendes gewesen, nun hörte man deutlich heraus, dass er seine nächsten Worte ernsthaft meinte.

"Em, ich würde das Reich, in dem du dich wohl fühlst, niemals als verlottert bezeichnen und wenn du wüsstest, unter welchen Bedingungen ich schon alles gelebt habe, müsstest du dir wirklich keine Sorgen machen, dass ich einen falschen Eindruck gewinnen könnte. Wenn du dich dort Zuhause fühlst, hat sonst niemand das Recht, irgendwie daran herum zu kritisieren. Ganz im Gegenteil, ich würde dich beneiden."

Er schenkte ihr ein warmes, ehrliches Lächeln, als er das sagte. Heimat und Zuhause waren Begriffe, mit denen er nur schwer umgehen konnte. Selbst dieses Apartment hier vermittelte ihm kein Gefühl von Verbundenheit. Es war ein für ihn angenehmer Lebensraum, der alles bot, was er brauchte und vieles darüber hinaus. Aber wenn er morgen ausziehen müsste, wäre das kein Weltuntergang. Manche Leute hingegen, gingen regelrecht zu Grunde, wenn sie ihr Land oder eben ihr Heim verloren.

Aber vielleicht sah er das auch nur deshalb so, weil er schon sehr viel öfter neu hatte anfangen müssen, als sich viele Menschen auch nur vorstellen konnten. Er wusste, dass es nicht das Ende der Welt war, alles zu verlieren. Sondern viel mehr die Chance, über einem selbst hinaus zu wachsen. Zumindest nachdem der erste Schock einmal nachgelassen und man die Dinge hat ziehen lassen können.
 

"Ach, so ernsthaft hab ich das gar nicht gemeint." 
Sie winkte ab, obwohl sie sehr wohl spürte, dass sie seine Ansicht erleichterte. Natürlich war von Anfang an klar gewesen, dass Emmas WG-Zimmer nicht mit Caydens Lebensstandard mithalten konnte. Aber schlechtmachen wollte sie ihr Heim bestimmt nicht.


"Wir waren alle drei richtig happy, als wir die Wohnung gefunden haben. Eigentlich war das nur eine fixe Idee zusammen zu ziehen. Und hätten wir nicht schnell etwas gefunden, wäre die Sache vermutlich schnell wieder geplatzt. Aber so... ist es wirklich super. Ich fühle mich wohl mit den beiden und in unserer Wohnung. Mein Zimmer ist so, wie ich es mir gewünscht habe und erstmal wohnen wollte."


Sie grinste in sich hinein, als sie an Caydens Auftritt mit der Herzchenbrille dachte und nahm noch einen großen Schluck Orangensaft.


"Soll ich uns Tee machen? Nur etwas Kaltes zum Frühstück ist irgendwie... passt nicht."


Sie war schon von ihrem Stuhl geglitten, da Emma auf jeden Fall etwas Warmes zu trinken wollte.
 

"Ja, gerne. Danke."

Während Emma von ihrem Stuhl rutschte, um Wasser aufzustellen, spähte Cayden auf seinen halb aufgegessenen Teller und fragte sich, wo er mit den leckeren Sachen bloß hin sollte. Wenn er vorhin schon keinen Hunger gehabt hatte, so stand er jetzt kurz vorm Überfressen. Was ziemlich zwiespältig war, da er immer noch den Orangensaft wie ein Verdurstender in sich hinein schüttete. Aber eigentlich war er das ja auch. Nur noch nicht so extrem. Er wollte sich eher vorbeugend von allem ablenken, was ihn auf Bluttrinken aufmerksam machen könnte und das war nun einmal sein Durst.

"Das macht mich dann gleich noch neugieriger auf dein Zimmer.", versuchte er das Gespräch am Laufen zu halten und zugleich zu überlegen, welche Ausrede er dieses Mal verwenden könnte, um den halb vollen Teller zu erklären.

Das Essen war ja wirklich köstlich gewesen und hätte er wie ein ausgewachsener Menschenmann gegessen, wäre sicher noch nicht mal eine zweite Portion ausreichend gewesen. Aber das war er nun einmal nicht. Und langsam fühlte er sich schlecht deswegen, weil er Emma etwas vor machte.

Schließlich glaubte sie, sie wäre mit ihrem menschlichen Boss zusammen. Zugegeben, auch nicht gerade eine übliche Beziehung, aber wenn sie die Wahrheit wüsste, wäre die Tatsache, dass er ihr Boss war, dagegen einfach nur noch lächerlich banal.

Am Ende siegte jedoch sein Egoismus.

Der Gedanke, dass er Vanessas Ankunft kaum erwarten konnte, war zwar in seinen Augen abartig, aber was seinen Durst anging, durchaus gerechtfertigt. Und wenn er erst einmal wieder genug getrunken hatte, würde es auch wieder einfacher sein, sich menschlicher in Emmas Nähe zu fühlen. Warum also jetzt schon Panik schieben, wenn er so den unausweichlichen Augenblick noch ein Stück weiter aufschieben konnte.

Denn eines stand fest. Wenn sich die Dinge weiterhin so rasant in diese Richtung entwickelten, würde er Emma früher oder später von seiner wahren Natur erzählen.

Die Hoffnung, dass sie sich danach nicht verängstigt von ihm abwandte oder gar noch schlimmeres tat, war zwar schwindend gering, aber da sie selbst nicht als ganz normaler Mensch durchgehen konnte, hoffte er trotzdem.

Schon merkwürdig, wenn man bedachte, dass Ihresgleichen eigentlich Feinde seiner Art waren. Doch nicht alle mussten in die Fußstapfen ihrer Vorväter treten und Emma sah nicht so aus, als hätte sie auch nur eine Ahnung, zu was sie alles mit seiner Art fähig war.

Vermutlich war das auch ganz gut so. Es waren keine Dinge, die man so einfach beim Frühstück besprechen könnte.
 

"Wie gesagt, du bist herzlich eingeladen. Du weißt ja sogar, wo ich wohne."


Und das nicht nur aus den Personalakten, wie ihr gerade wieder eingefallen war. Diesen Abend, damals auf dem Konzert, hatte sie irgendwie in der Zwischenzeit schon fast vollständig aus ihrem Gedächtnis verbannt. Nichts hatte sie seit ein paar Tagen mehr daran erinnert. Zumindest bis zu diesem Moment. Während sie Wasser aufsetzte und Teebeutel in die Becher fallen ließ, grübelte sie ein bisschen darüber nach, wann die Träume genau aufgehört hatten. Emma konnte es nicht sagen, aber es war auf jeden Fall bei ihrer Mom gewesen. Einfach mal raus und ein paar Tage ausspannen war wohl in diesem Fall das beste Rezept gewesen. Schon komisch, was ein bisschen 'Luftveränderung' ausmachte.


Als sie sich schließlich mit den Tassen wieder zu Cayden gesellte, sah sie sich kurz seinen Teller an und begann dann langsam das Geschirr zusammen zu räumen.


"Du bist einer von denen, die normalerweise nicht frühstücken, stimmt's?"

Sie selbst hatte das auch eine Zeit lang gemacht, weil sie lieber zehn Minuten länger im Bett heraus geschlagen hatte. Aber auf Dauer war es für Emma nicht durchzuhalten gewesen. Vor allem, weil sie sich dann den ganzen Vormittag wegen latentem Hunger mit Süßigkeiten vollgestopft und zugenommen hatte.


Schon auf dem Weg zur Spülmaschine fragte sie nach den weiteren Plänen für den Tag. Auch wenn der erste Punkt für Emma schon feststand. Sie würde sich jetzt erst einmal ein wenig frisch machen.
 

"Um ehrlich zu sein, bin ich eher einer von denen, bei denen weniger rein passt, als man glauben mag, aber du hast Recht. Eigentlich frühstücke ich nie. Kommt für gewöhnlich einfach nicht in meinem Tagesablauf vor."

Cayden half Emma dabei, das Geschirr wegzuräumen, weil er nichts davon hielt, den Gast sauber machen zu lassen und selbst wenn Emma kein Gast wäre, hätte er ihr geholfen. Untätig zusehen, war noch nie seine Stärke gewesen.

Was die weiteren Pläne des Tages anging, war er ziemlich planlos.

Wenn es um die Arbeit gegangen wäre, wäre es kein Problem gewesen. Davon hatte er jederzeit genug und er musste sich eher einen Plan zurecht legen, wie er alles bewältigen konnte. Aber mit seiner Freizeit…

Cayden war unglaublich gut darin, sich selbst zu beschäftigen. Aber mit jemand anderem? Da konnte Emma ihm bestimmt noch einiges beibringen. Dennoch strengte er sein Gehirn an, damit er nicht vollkommen nutzlos bei der Planung war.
 


 

Anschließend - nachdem Emma sich frisch gemacht hatte und auch ein kleines Andenken an sich zwischen den Orchideen in Caydens Schlafzimmer aufgestellt hatte - trafen sie sich auf der Couch. Emma hatte sich nicht umgezogen, sich aber die Haare gebürstet und die Zähne geputzt. Eine Katzenwäsche, die sie später mit einer Dusche wieder gutmachen würde. Aber noch fühlte sie sich im Schlabberlook zu wohl. Vor allem, da Cayden noch nicht dazu drängte, den Dresscode für heute so schnell zu ändern.
 

Während Emma sich frisch machte, zog er sich lediglich ein Shirt über, damit er nicht nur in seiner Pyjamahose herum lief und richtete sich etwas die Haare.

Danach setzte er sich mit dem immer noch warmen Tee auf die Couch und wartete auf sie.

Natürlich könnten sie noch einmal Star Wars Episode II ansehen, aber 1. hatte Emma ihn gestern schon gesehen und er wollte ihr die Wiederholung auf jeden Fall ersparen und 2. hielt er es passender für ein Abendprogramm. Tagsüber sollten sie wirklich nicht vor dem Fernseher herum hängen.

Nachdenklich zog sein Zeigefinger die tätoowierten Linien auf seinem Unterarm nach, während er ins Leere starrte. Als er Emma jedoch kommen hörte, zauberte er sich sofort ein Lächeln auf seine Lippen und rückte noch einmal zur Seite, damit sie auch Platz hatte, ihre Füße hochzulegen, wenn sie wollte. Er selbst saß im Schneidersitz auf der Couch.

"Also, ich weiß nicht, wie es dir geht, aber für mich gestaltet sich die Planung etwas schwierig. Was machst du denn so, wenn du einmal an einem Samstag frei und alle Möglichkeiten hast, etwas zu tun? Solange es im Haus stattfindet."
 

Emma setzte sich ein bisschen schräg neben Cayden auf die Couch. Das Möbelstück hätte von der Größe her durchaus zugelassen, dass sie sich ihm gegenüber setzte. Aber dann hätte Emma das Gefühl gehabt, zu weit entfernt von ihm zu sein. Wenn sie sich mit der Seite an die Rücklehne schmiegte und die Beine auf die tiefe Sitzfläche zog, war sie ihm näher und konnte ihn trotzdem direkt ansehen. Es war schon wirklich nicht schlecht, so eine Luxusversion von Sofa zu besitzen.


"Das kommt wirklich ganz drauf an. Wenn ich allein bin, zeichne ich gern oder lese. Aber das wäre jetzt nicht unbedingt etwas, was ich mit dir tun würde. Mit dir möchte ich mich ja unterhalten. Hinter ein Buch setzte ich mich, wenn du keine Zeit hast."

Sie lachte leise und legte ihre Hand auf Caydens Knie. Es konnte doch nicht sein, dass ihnen nichts einfiel, was sie machen konnten. Kaum war draußen schlechtes Wetter - was in Welly eher als Dauerzustand bezeichnet wurde - wussten sie nicht weiter? Nein, das konnte man so nicht akzeptieren.


"Was machst du denn gern, wenn du wirklich mal frei hast? Du liest doch sicher auch. Wie einer von den Männern, die noch nie ein Buch in der Hand hatten, kommst du mir nicht vor. Liest du..."


Sie überlegte und fing dabei an, mit ihrem Daumen Kreise auf seinem Knie zu ziehen.


"Biografien? Oder Sachbücher? Würde dir denn sowas wie mein Echsenbuch gefallen? Oder geht das gerade gar nicht, weil du deinen Kopf nicht mit Zusätzlichem füllen willst?"
 

Es dauerte nicht lange und Cayden stellte seinen Tee auf dem Couchtisch ab, während er Emmas Hand zwischen seine nahm und mit ihren Fingern zu spielen begann. Mehr unbewusst, als bewusst, denn er hörte ihr zu und dachte zugleich nach. Dabei strichen seine Finger über ihren Handrücken, fuhren ihre Finger entlang, drehten ihre Hand herum, um anschließend den Linien in ihrer Handinnenfläche nachzuzeichnen.

Wenn es sich nicht um Emma gehandelt hätte, er hätte ihr einfach gesagt, dass er so etwas wie Freizeit nicht kannte und das Thema damit gegessen war. Doch die Wahrheit sah nun einmal anders aus. Er kannte sehr wohl Freizeit, wenn er gerade keine Firma leitete.

Es war also keine Lüge, wenn er mehr von seinem Leben offenbarte, er verschwieg lediglich ein paar Tatsachen.

"Also wenn ich einmal Zeit habe, lese ich auch sehr gerne. Alles Mögliche quer durch die Bank. Nur Liebesromane und Thriller sind nicht mein Fall. Horror finde ich eher abartig und ich frage mich oft, wie Menschen nur gerne solche Grausamkeiten lesen können, wenn es doch in der wirklichen Welt schon so schrecklich zu geht… Sachbücher sind da eher mein Fall. Wobei ich mich für Echsen ebenso interessiere, wie für die Raumfahrt, Mikroben oder einfach nur, wie man sich ein Automatikschaltung im Ganzen vorstellen kann."

Sein Daumen verharrte einen Moment über Emmas Pulsadern an ihrem Handgelenk, die deutlich durch ihre zarte Haut zu sehen waren.

Es lenkte ihn für einen Moment ab. Brachte sein Herz zum Schlagen, bis er den Blick davon hob und Emma ansah.

Einen Moment hatte er vollkommen den Faden verloren, während er ihr einfach in diese wunderschönen braunen Augen blickte.

"Was das Zeichnen angeht, haben wir ebenfalls etwas gemeinsam. Sämtliche Bilder in meiner Wohnung, habe ich selbst gemalt. Wobei sich das nur auf einen Stil bezieht, der wenig darstellt, sondern einfach farblich gut hier herein passt. Ich mag keine Bilder an meinen Wänden hängen haben, die etwas darstellen. Also zum Beispiel Leute, Landschaften, Szenen, aber selbst das male ich, wenn ich Zeit habe."

Wobei er sich nur zu deutlich an das kleine Portrait von Emma erinnerte, dass er auf einen seiner Notizen gekritzelt hatte.

Was konnte er dazu schon sagen? Wenn es passierte, passierte es einfach. Es war nur schwer, diesen Drang zu unterdrücken und quälte ihn zum Teil wirklich. Aber das hielt diese Vorliebe aufrecht.

"Früher einmal habe ich auch gedichtet und selbst geschrieben. Aber inzwischen ist mir die Lust daran vergangen. Ich denke auch nicht, dass sie wieder kommt."

Wenn man etwas mehr als zwei Hundertjahre lang voll und ganz gelebt hatte, reichte das. Zumindest um eine sehr lange Zeit genug davon zu haben.

"Sportlich gesehen, habe ich viel ausprobiert, aber wie du ja weißt, bleibe ich meistens bei etwas so Banalem wie Schwimmen hängen. Auch wenn ich gerne trainiere. Also nicht mit Gewichten oder so etwas, das nicht, aber zum Beispiel Jiu Jitsu."

Wieder blieb sein Daumen auf ihren Pulsadern liegen. So konnte er ihren Herzschlag spüren, wobei das Gefühl so intensiv war, dass es ihn ganz kribbelig machte und sein Blut erhitzte.

Gott, er war durstig. Aber das war nicht das vorwiegende Gefühl, das ihn dazu trieb, sich schließlich in einer fast identischen Position mit Emma ihr gegenüber zu setzen und ihre Hand warm und sicher in seiner zu halten, während er auf seiner anderen seinen Kopf abstützte, wobei sein Ellenbogen auf der Rückbank der Couch lehnte.

"Du siehst also. In meiner Freizeit bin ich auch nicht sehr gesellig und bei schlechtem Wetter fällt mir kaum etwas ein, das man zu zweit machen könnte."

Sein Blick glitt an ihr herab, ehe er wieder auf ihre Augen traf.

"Noch dazu im Pyjama."

Seine Aufmerksamkeit glitt zu ihren Lippen. Wodurch das kribbelige Gefühl nur noch verstärkt wurde.

Eigentlich stimmte das, was er gerade gesagt hatte nicht ganz. Er wüsste schon etwas, das man zu zweit nur im Pyjama auf der Couch machen konnte. Aber … waren sie schon soweit?

Natürlich, sie hatten sich jetzt eine Woche lang nicht gesehen und da war so einiges angefallen, was raus gelassen werden wollte. Aber hatte das etwas zwischen ihnen verändert?

Cayden wusste zumindest eines ganz sicher.

Er wollte zwar, aber er konnte nicht. Zumindest nicht in dem Maße, das seinen Gefühlen gerecht geworden wäre. Denn gerade jetzt war er eine tickende Zeitbombe.

Nicht, dass er ihr etwas antun würde. Aber wenn schon vorher einfache Küsse dazu ausgereicht hatten, seine vampirische Natur hervor zu locken, dann würde jetzt schon ein einziger intensiver Gedanke daran dazu führen.

Er … wollte nichts riskieren, obwohl etwas in ihm sagte, dass er geraden jetzt alles riskieren sollte, weil sich so eine Gelegenheit nicht oft im Leben bot. Die Frage war nur, war er auch mutig genug dafür?
 

Emma hörte zu, stellte sich vor, wie Cayden an einem großen, schweren Schreibtisch saß, romantische Gedichte schrieb oder vor einer Staffelei stand und diese riesigen, farbenreichen Bilder malte. Dann versuchte sie das ganze noch mit dem Eindruck von Jiu Jitsu und Schwimmen überein zu bringen. Und je mehr sie sich das in ihrer Phantasie ausmalte, je mehr sie sich überlegte, ob sie irgendetwas davon auch ausprobieren wollte, desto tiefer wurden die Fältchen zwischen ihren Augenbrauen und bald war nicht mehr zu übersehen, dass Emma ins Grübeln verfallen war.

Eine Weile verharrte sie in dieser nachdenklichen Haltung, bis sich ihre Miene plötzlich schlagartig änderte und sie Cayden mit sehr viel Enthusiasmus anstrahlte. Aus dem, was sie aus seinen Erzählungen in Emmas Kopf als Frage gebildet hatte, konnte sie nur eine Erkenntnis ziehen und die gefiel ihr ausnehmend gut.


"Dann hast du also noch nicht sooo lange so viel Stress in der Firma."


Das freute sie wirklich. Denn es bedeutete, dass Cayden sich nicht schon seit Jahrzehnten so kaputt schaffte. So alt war er nämlich noch nicht und selbst wenn er die Firma seit zehn Jahren führte, hieß das, dass er davor in seinen Zwanzigern seine Freizeit zumindest Anfangs genossen hatte. Zwar versetzte es Emma einen Biss ins Herz, als ihr einfiel, dass er in dieser besseren Zeit seine Frau kennen gelernt haben musste, aber... so war das Leben eben.


Und als sein Blick an ihr entlang glitt, er sie in ihrem Pyjama betrachtete und seine Augen irgendwie klar machten, dass ihm durchaus nach Dingen wäre, die man im Schlafanzug oder auch ohne machen könnte... biss Emma sich auf die Lippen. Ihr Blick blieb an seinem hängen und Emma hatte das Gefühl, ihr würden eiskalte Schweißtropfen auf die Stirn treten. Ihre Handflächen wurden feucht und sie spürte, wie ihr sogar die Farbe ein wenig aus dem Gesicht wich. Innerlich begann sie sogar schon vor Nervosität zu zappeln.
 

"Nein, es ist tatsächlich noch nicht so lange. Als ich die Firma im Jahre 2000 gegründet habe, war ohnehin noch alles anders, als jetzt. Da hat meine Arbeit mehr im Laufen bestanden, Kunden anwerben und das alles. Erst nach und nach wurde es dann wirklich stressig und ich bin immer mehr in meinem Büro hängen geblieben. Aber ich habe natürlich schon eine ganze Weile davor, an der Firma gearbeitet. Pläne ausgearbeitet und alles, damit ich nicht einfach kopflos gegen die Wand fahre."

Genau genommen war die offizielle Version, dass er schon während seines Studiums an der Idee für eine Firmengründung gearbeitet und dabei auch Vanessa kennen gelernt hatte. Inoffiziell war es natürlich anders verlaufen. Natürlich hatte er die nötige Fachrichtung studiert, die er in diesem Geschäft brauchte und auch zu der Zeit Vanessa als fixe Blutquelle angeworben. Aber damals war er sicherlich keine vierundzwanzig gewesen. Weshalb er Emma auch nichts von dem gefälschten Lebenslauf erzählte.

Er konnte sie einfach nicht anlügen und zum Glück brachte sie ihn auch auf ganz andere Gedanken, als sie damit begann, an ihrer Unterlippe herum zu knabbern.

Sie wurde unter seinem Blick nervös. Er konnte es ganz genau wittern und darauf sprangen seine Sinne ganz von selbst an.

Sie beide hatten sich nur ganz flüchtig inniger kennen gelernt, ehe Emma für eine Woche wegfuhr. Das hatte bei weitem ausgereicht, um seine Sehnsucht nach ihr ins Unermessliche schießen und zugleich seine eigene Aufregung schüren zu lassen.

Cayden fühlte sich zittrig, als er ihre Hand zu seinen Lippen führte und ihr einen zarten Kuss auf ihr Handgelenk gab.

Es war die reinste Versuchung. Nicht nur für ihn als durstigen Vampir, sondern auch für ihn als Mann.

"Ich habe das vermisst.", hauchte er leise und schloss die Augen, als er ihre Hand an seine Wange führte. Sich hinein schmiegte und die Berührung genoss.

Als er seine Augen wieder aufschlug, lag das Raubtier in ihm dicht dahinter. Aber er wollte Emma nicht verletzen. Im Augenblick wollte er noch nicht einmal von ihr trinken. Nein, er wollte … er beugte sich rasch nach vor und küsste sie einfach. Das war es, was er wollte.
 

"Sehr überlegt von dir. Aber dann hast du ja wirklich schon sehr früh angefangen, für diese Firma zu arbeiten."

In diesem Alter, das bei Emma vermutlich ein paar Jahre zurück lag, hatte sie noch überhaupt nicht an eine feste Arbeitsstelle für immer, geschweige denn an ein eigenes Geschäft gedacht. Da waren für sie ganz andere Sachen wichtig gewesen. Ausgehen, so viel leben, wie es nur irgendwie ging. Keine Sorgen, keine Zwänge, nicht besonders viele Ziele. Das hatte sich auch bis vor ein paar Monaten noch nicht wirklich geändert. So vieles konnte so schnell ganz anders sein...


Als Cayden seine Wange in ihre Hand legte, wurde Emmas Gesicht warm. Wo sie vorher etwas blass um die Nase geworden war, färbten sich ihre Wangen nun leicht rosa und sie wollte schon erwidern, dass sie sich ebenfalls nach solchen angenehmen Berührungen von ihm gesehnt hatte. Dazu kam sie allerdings gar nicht, weil Cayden ihr die Lippen einfach mit seinen versiegelt.


Emmas Augen rundeten sich, bevor sie sich von der Überraschung erholte und dann mit einem tiefen Atemzug den Kuss zu genießen begann. Oh ja, richtig. Das hatte sie auch vermisst. Sie hatte es sich vorgestellt, ab und zu vor dem Einschlafen, wenn sie gerade mit Cayden telefoniert hatte. Der Gute-Nacht-Kuss war nicht immer nur reines Gerede gewesen. Emma hatte sich ihn vorgestellt, ihn durchlebt und trotzdem würden Phantasien niemals an die Wirklichkeit heran reichen. Mit einem glücklichen Kitzeln im Bauch schlang sie ihre Arme um Caydens Oberkörper und schloss schließlich ihre Augen, während sie sich mit vorsichtigen Küssen an dieses Wiederentdecken heranwagte. Denn genau so fühlte es sich an. Sie waren beide gerade einmal ganz frisch zusammen gewesen, als sie zu ihrer Mom gefahren war. Selbst vor einer Woche war alles neu und aufregend gewesen. Aber jetzt... kam Emma das alles nicht weniger spannend und prickelnd vor. Eigentlich ganz im Gegenteil.
 

Oh ja, genau so sollte sich ein richtig guter Kuss anfühlen. Oder wenn sie schon dabei waren, sollten es viele Küsse tun.

Cayden schmolz sofort dahin, als Emma seinen Kuss erwiderte und ihre Arme um ihn schlang. Auch er schloss sie in eine Umarmung, zog sie näher an sich heran, ja fast auf seinen Schoß, nur um sie inniger küssen zu können.

Er hatte es so vermisst, erst recht, da er zuvor nur einen kleinen Vorgeschmack hatte erhaschen können, bevor Emma zu ihrer Mutter gefahren war.

Nun war die Spannung schlagartig wieder da. Die Aufregung, das knisternde Gefühl in seinem Bauch, das ziehende Verlangen in seinen Muskeln bis hin zu seinen … Fängen.

Cayden holte nur einmal kurz Atem, als sie hervor schossen und ließ sich nicht von ihnen auf weniger dezimieren. Er wollte Emma küssen. Seine vampirische Seite würde ihn nicht davon abhalten.

Also küsste er sie. Streichelte dabei mit seinen Händen über ihre Wange, den Nacken. Vergrub seine Finger in ihrem seidigweichen Haar, das er so liebte und ihr weit den Rücken hinab fiel.

Er streichelte ihr über die Seiten, die Arme, den Rücken, schob sie an ihrem Kreuz noch näher an sich heran und zog sie schließlich ganz auf seinen Schoß, damit sie beide sich nicht so verrenken mussten und er gerade mit dem Rücken gegen die Couchlehne sitzen konnte, ohne auch nur eine Sekunde zu lange seinen Mund von ihrem zu nehmen.
 

So schnell konnte man von einem tastenden Kuss zu einer ausgewachsenen Knutscherei überwechseln. Emma konnte gar nicht sofort reagieren, als Cayden sie auf seinen Schoß zog. Aber dagegen wehren wollte sie sich sowieso nicht. Wenn, dann hätte sie eher mitgeholfen, was sich aber jetzt nur darin zeigte, dass sie es sich an ihrem neuen Platz gemütlicher machte, ihre Arme um Caydens Nacken schlang und weiter begann intensiv seine Lippen zu erforschen.


Es gab ja sehr unterschiedliche Küsser. Die einen steckten einer Frau mehr oder weniger gleich nach der ersten Berührung die Zunge in den Hals und die Anderen trauten sich das selbst nach Aufforderung nicht. Cayden war eine sehr spezielle Mischung irgendwo dazwischen. Sie küssten sich beide sehr ausgiebig auf die Lippen. Mal sanft, stupsend, dann neugierig und etwas forscher. Es wurde mit den Lippen geknabbert, gezupft, versöhnlich geküsst und gestreichelt. Es war wie ein wirkliches Kennenlernen. Mit Zeit und Hingabe, die Emma vorher noch nie bei einem Mann wirklich aufgebracht hatte. Sie war bisher meistens auf Typ eins der Küsser gestoßen und hatte sich über dieses einzigartige Gefühl des unschuldigen Kusses keine großen Gedanken gemacht.


"Das ist sehr schön.", meinte sie leise, ohne weiter auf die Dinge einzugehen, die Cayden aus ihrem Kopf natürlich nicht hatte hören können. Das Endergebnis war aber auch das Wichtigste. Sie konnte ihn auf seinen Lippen spüren, selbst wenn sie sich für ein paar wenige Sekunden nicht berührten. Emma mochte es, wenn sich ihre Nasenspitzen berührten. Auch wenn sie es nicht besonders leiden konnte, die ausgeatmete Luft eines anderen Menschen einatmen zu müssen. Aber das ließ sich ja leicht vermeiden, indem man nur kurz so verharrte und sich dann in Richtung eines der köstlichen Mundwinkel weiter tastete, um heraus zu finden, ob Caydens Lippen dort anders schmeckten, als irgendwo sonst.
 

Cayden gab nur ein zustimmendes Schnurren von sich. Zu mehr menschlicher Konversation war er gerade nicht fähig. Dafür war er viel zu sehr von Emmas Lippen und den Gefühlen, die sie ihm gaben, abgelenkt.

Ab und zu war auch die Zunge im Spiel, doch mehr mit Zurückhaltung und meist nur die Spitze. Es ließ alles noch mehr in seinem ganzen Körper kribbeln, weil es sich wie ein Versprechen, eine Verlockung, ein Vorgeschmack oder wie auch immer man es nennen wollte, anfühlte und zugleich nicht die Gefahr bestand, dass Emma während des Küssens mehr über ihn heraus fand, als sie momentan wissen sollte.

Überraschenderweise schienen sie beide, selbst nach einer ganzen Weile einfach nicht genug davon zu haben. Es wurde geknabbert, gesogen, gezupft und gestreichelt. Was sich durchaus nicht nur auf die Mundregion alleine beschränkte.

Cayden gefiel es auch an Emmas Kinn entlang zu knabbern, ein Stück seine Wange an ihr zu reiben. Sich gegenseitig anlächelnd, während ihre Stirn sich berührte, ehe es wieder mit geschlossenen Augen direkt ins Land der Lippenfreuden ging.

Stundenlang hätte er so weiter machen können. Doch er war auch ungemein neugierig. Oder besser gesagt, schienen seine Lippen einen immer größeren Bereich erkunden zu wollen.

Cayden streichelte gerade Emmas Nacken, vergrub seine Finger in ihrem Haar, während sein Mund langsam abdriftete.

Sie schienen zwar die Kuss-Atmen-Kuss-Dynamik bereits wie ein eingespieltes Team zu beherrschen, aber als er ihr Kinn und seitlich daran herunter knabberte, war es doch auch einmal eine Wohltat, tief einzuatmen. Ihren Duft regelrecht zu inhalieren, bis ihm fast schwindelig wurde.

Wo er vorhin noch sehr zurückhaltend mit seiner Zunge gewesen war, leckte er nun hungrig über ihre Haut, knabberte vorsichtig an ihren Hals, bedeckte ihn mit langen, kurzen, winzigen, großen, festen, zarten und noch weitaus mehr Küssen und wanderte dabei immer weiter bis zu ihrem Ohr.

Neugierig wie er war, stupste er zuerst ihr zartes Ohrläppchen mit der Zungenspitze an, ehe er es voller Genuss anknabberte, zwischen seine Lippen nahm, die empfindliche Stelle darunter am Hals liebkoste und dabei immer mehr in Schwelgen verfiel.

Oh Gott, das war alles so unglaublich gut!

Emma schmeckte so gut. Sie duftete absolut umwerfend. Einfach unübertrefflich, als wäre ihr Duft extra und ganz alleine nur für ihn gemacht worden und er liebte jeglichen Körperkontakt zu ihr.
 

Da ihre Lippen nichts mehr fanden, auf das sie sich drücken, an dem sie zupfen oder zart darüber streicheln konnten, atmete sie erst ein paar Male tief durch. Ein kleines Bisschen war ihr der Sauerstoff ausgegangen. Aber das Risiko würde Emma jederzeit und gerne wieder eingehen, war es doch so absolut wunderbar, mit Cayden herum zu knutschen.

Inzwischen hatten sie sich wirklich ein kleines Stück weiter in diese Richtung gewagt. Zungenspitzen waren einander begegnet, hatten sich kurz berührt, um dann getrennte Wege auf den Lippen des Anderen zu gehen und sich kurze Zeit später zu einem Stelldichein wieder zu finden. Es war unglaublich schön. So hatte es sich bis jetzt noch nie für Emma angefühlt. Als hätten sie den ganzen Nachmittag und nicht nur diesen, dafür Zeit, die Vorlieben des jeweils Anderen zu erkunden. Und Cayden machte den Eindruck, dass er das bei ihr genauso gerne tat, wie sie bei ihm.


Emma fiel auf, dass sie sich darüber schon einmal gewundert hatte. Dass ihr bewusst aufgefallen war, dass Cayden sich in gleichem Maße für sie, wie sie sich für ihn interessierte. Dass es den Anschein machte, er mochte das alles hier sehr gern... Ein warmes Schaudern lief durch ihren Körper und äußerte sich sogar in einem sanften Zittern, als Emma klar wurde, dass sie so etwas von einem Mann nicht gewohnt war. Hingabe ihm gegenüber schon, aber-


Sie kicherte haltlos laut los, als er an ihrem Ohrläppchen sog und dabei gleichzeitig einmal tief in ihr Ohr atmete. Es schüttelte Emma regelrecht, als ein kleiner Lachanfall sich und diesen überraschenden Gedanken Luft machen wollte. Mit viel Konzentration kämpfte Emma den Ausbruch hinunter, lehnte sich aber ein Stück zurück, um Cayden in seine faszinierenden Augen zu sehen. Hinter den Kontaktlinsen waren sie nicht ganz so grün, wie Emma sie liebte, aber auch nicht mehr dieses unendlich unter Wert verkaufende Schlammfarben.

Mit einem erhitzen Schmunzeln rieb sie sich übers Ohr und kicherte dann noch einmal leise.


"Hat nur gekitzelt...", erklärte sie schüchtern.


Oh man, sie war wirklich so unglaublich... aufgeregt. Ihr Herz klopfte ihr in der Brust herum und sogar teilweise bis zum Hals hinauf, als wollte es Cayden über Emmas Lippen entgegen springen. So ähnlich war es auch, als sie ihn wieder küsste und diesmal gar nicht darauf achtete, dass ihre Zunge etwas mutiger nach vorn pirschte und diese verführerischen Lippen entlang glitt.
 

In diesem Augenblick fand Cayden Emma unbeschreiblich schön. Ihre leicht zerzausten Haare, die geröteten Wangen, die gut durchbluteten Lippen. Das Lächeln darauf und dieses spezielle Funkeln in den Augen.

Cayden hatte das Gefühl sein ganzer Brustkorb würde gleich vor unglaublicher Wärme bersten, die sich bei diesem Anblick immer stärker ausbreitete, ohne irgendwelche Grenzen zu kennen.

Als Emma ihn wieder küsste, schlossen sich seine Arme mehr als besitzergreifend um ihren Körper und er erwiderte das Spiel ihrer Zunge mit gleicher Intensität.

Ihre Zungen rieben aneinander. Trennten sich, um nur den Lippen Platz für Liebkosungen zu machen, ehe sie, auf unsichtbare Art doch irgendwie verbunden, sich wieder fanden.

Cayden öffnete seinen Mund weiter, um ihnen mehr Raum zu geben und musste sich im nächsten Augenblick dazu zwingen, sich nicht sofort wieder zurück zu ziehen.

Er spürte flüchtig die kühle Luft auf seinen Reißzahnspitzen. Fühlte, wie die Breitseite seiner Zunge seitlich dagegen rieb, als wolle das Gefühl ihn ermahnen, achtsamer zu sein.

Cayden konnte verhindern, irgendwie deutlich auf diese Warnung zu reagieren, da er für gewöhnlich kein Problem mit seinen Fängen während des Küssens hatte. Nur war hierbei Emma die Ahnungslose und darum stellte es ein Problem dar. Weshalb er das Schlachtfeld langsam und subtil, so umrangierte, dass es sich mehr auf Emmas Mund bezog und nicht auf seinen. Zumindest musste seine Zunge immer ein kleiner Dämpfer sein, der zwischen seinen Fängen und Emmas Zungenspitze als Schutz lag.

Das viele Denken lenkte ihn zwar etwas ab, aber trotzdem entwickelte sich das Ganze zu einem immer sinnlicheren Hochgefühl.

Einmal von den Küssen abgesehen, waren auch seine Hände sehr aktiv. Langsam, aber doch immer in Bewegung, streichelten sie Emma überall, wo es nur erlaubt war. Er fuhr ihre Wirbelsäule entlang, massierte ihren Nacken, strich über ihre Seiten, ließ seine Fingerspitzen flüchtig unter den Rand ihres Pyjamaoberteils gleiten, um warme, weiche Haut zu spüren, legte beide Hände auch aufreizend auf ihren Hintern und rieb über die Außenseite ihrer Oberschenkel, nur um erneut und auf anderen Wegen wieder zur Ausgangsposition zurück zu kehren.

Das alles war … äußerst anregend und ließ ihn schließlich doch wieder das Problem mit seinem Gebiss vergessen. Solange Emma seinen Fängen nicht zu nahe kam, durfte sie alles tun, wozu sie beide Lust hatten.
 

Ihr Herz schlug ihr immer noch bis in den Hals hinauf. Kräftig und aufgeregt, fiebernd vor Glück, bis es sich langsam und subtil veränderte. Zuerst dehnte die Empfindung sich aus, die Wärme, die aus Emmas Herz kam, schwappte nach außen, riss ihren gesamten Brustkorb mit, füllte ihn an... und begann auch bald in ihrem Bauch zu klopfen. Zuerst glücklich sprudelnd, dann warm und behaglich. 
Doch es änderte sich, je länger sie sich so intensiv küssten.

Cayden wagte sich weiter vor, begann sie auf eine Art zu streicheln, die Einiges in Emma auslöste. Angefangen bei Wohlbehagen, Anziehung, bis hin zu sanft erwachender Erregung. Das Pochen und Klopfen in Emmas Bauch wurde prüfend, mahnend und schließlich angespannt, je bewusster es an der Tür in ihrem Kopf rüttelte, die sie bis jetzt in Caydens Gegenwart mit Riegeln, Ketten und schweren Schlössern versperrt gehalten hatte.


Seine Finger streichelten sanft ihre Seite entlang und streiften dabei nur zufällig und andeutungsweise ihren Bauch. Emma kniff die Augen zusammen, wollte das Gefühl verdrängen, das sich nun zu ihrem Herzen zurück ziehen wollte, um die Farbe der Emotion in etwas Düsteres zu verändern.


Nein, ich will nicht.


Ihr Puls fing an immer länger zwischen den einzelnen Schlägen zu pausieren, immer nachdrücklicher in ihr zu pochen.


Jetzt.


Sie küsste Cayden mit regelrechter Verzweiflung, versuchte jeden Funken von Zuneigung von seinen Lippen zu erhaschen, es in sich aufzunehmen, weil...


Jetzt!


Emma schlang ihre Arme um seinen Nacken, versteckte ihr Gesicht an seinem Hals und spürte genau das Brennen in ihren Augen und in ihrem Hals.


Ich will nicht! Ich will dich... nicht hergeben.


Jeder Herzschlag tat weh. 
Es brannte und Emma wurde klar, dass es nur noch schlimmer werden würde. Je länger sie wartete. Es würde noch mehr schmerzen. Es würde-


JETZT!


"Ich bin schwanger."


Ihr Herz tat einen harten Schlag, als hätte es sich vor der Entscheidung, die es selbst herbei geführt hatte, erschrocken. Emma konnte nicht atmen. Der Sauerstoff schien sich aus der Luft zu verflüchtigen und sie fühlte eine brennende Hitze auf ihrem Gesicht. Sie konnte sich nicht länger verstecken.


Geschlagen von den Tatsache, mit dem dumpfen Gefühl eines vollkommen tauben Körpers setzte Emma sich auf. Die Hände fielen ihr in den Schoß und sie sah Cayden mit einem Blick an, der das verschlossen hielt, was ihr am meisten zusetzte. Es war zu spät. Sie hatte... es schon gesagt.


"Ich bin schwanger. Von dir."


Für sie selbst unnötig das dazu zu sagen. Von wem auch sonst? Sie wollte doch nur...


Dich.

35. Kapitel

Vielleicht war es ihr sich verändernder Herzschlag, oder die Art, wie ihre Küsse sich auf einmal anders anfühlten.

Cayden glaubte es zwar nicht, aber sein Instinkt wollte ihm sagen, dass da offensichtlich etwas nicht stimmte. Dass sich da etwas anbahnte, von dem er keine Ahnung hatte, wie es ausgelöst wurde oder welchen Grund es überhaupt hatte.

Eigentlich einfach lächerlich, wenn man gerade ihre derzeitige Lage betrachtete.

Sein Verstand wollte es gar nicht wirklich registrieren, nur sein Bauchgefühl ließ ihn unruhig werden, bis Emma sich überraschend verzweifelt an ihn schmiegte und ihn mit einem Mal ein Gefühl überkam, als müsse er sie fest halten und vor irgendetwas beschützen. Egal vor was. Er würde es tun.

Doch noch ehe er den neuen Gefühlscocktail verarbeiten konnte, sagte sie etwas, das sowohl seine Gedanken, wie auch seine Gefühle erstarren ließ.

"Ich bin schwanger."

Zumindest für einen Moment, war alles in ihm wie schockgefroren.

Das Nächste, was er bewusst wahrnahm, war ein eiskalter Schauer der ihm den Nacken hinunter jagte und ein Gefühl, als hätte ihm jemand gleichzeitig ins Gesicht geschlagen und in den Bauch getreten.

Er konnte nicht atmen.

Er konnte nicht denken.

Also sah er Emma einfach ausdruckslos an, als hätte sie gerade einen Scherz gemacht, bei dem er die Pointe nicht verstanden hatte. Bis sie erneut diesen alles verändernden Satz sagte, mit der völlig unnötigen Beifügung, dass sie von ihm schwanger sei.

Von wem denn sonst, wenn nicht von ihm? Er hätte jedem anderen Kerl, den er an ihr gerochen hätte, persönlich kastr-

Seine Gedanken wollten abschweifen. Wollten sich den Tatsache nicht stellen und sich stattdessen mit etwas weniger Belastendem beschäftigen.

"Es-"

Er bekam nicht richtig Luft, um einen ganzen Satz damit auszusprechen, also schob er Emma wieder neben sich auf die Couch und stand auf, um sich die Beine zu vertreten und mehrmals tief Luft zu holen.

Mit dem Rücken zu Emma blieb Cayden an einem Bücherregal stehen und stützte sich daran ab.

Vollkommen starr konnte er nichts weiter tun, als zu atmen und dabei die … die Botschaft zu verarbeiten.

Schwanger…

Wie war das nur möglich?

Von einem Moment auf den anderen ging plötzlich die Realität, wie er sie kannte, in die Brüche. Das was er jetzt war, schien nicht mehr zu sein. Die Gegenwart schien sich zu verschieben. Eindrücke der längst zurückliegenden Vergangenheit schummelten sich in das Hier und Jetzt.

Schwanger…

Sein erster Instinkt war Glück. Wärme. Liebe. Kinder waren etwas so Wundervolles. Er hatte sie geliebt. Aus ganzem Herzen. Sein eigen Fleisch und Blut und doch waren sie…

Cayden erzitterte, als der altvertraute Schmerz der Hilflosigkeit mit voller Wucht einschlug.

Seine Kinder waren wundervoll gewesen. Sie hatten ein gutes Leben gehabt. Er hatte keine Sekunde davon verpasst und doch… Obwohl von seinem eigen Fleisch und Blut waren sie gealtert. Wurden vor seinen eigenen Augen von Jahr zu Jahr älter. Mehr Falten. Mehr graue Haare. Mehr Beschwerden, die auch eine noch so gute Kräuterheilerin nicht kurieren konnte.

Er blieb jung. Musste hilflos zusehen, wie die Zeit mit seinen Kindern ihm durch die Finger lief und irgendwann … waren sie weg. Bloße Erinnerungen dessen, was sie einmal gewesen waren.

Dennoch … die Zeit der Freuden überwog auch jetzt noch den Schmerz des Verlustes. Er erinnerte sich nicht oft daran zurück, aber wenn er es tat, dann mit einem Lächeln.

"Schwanger?"

Cayden kehrte in die Gegenwart zurück und fasste sich wieder etwas.

Mein Gott, er war doch auch nur ein Mann. Ob unsterblich oder nicht, manche Dinge konnten selbst einen Vampir ganz schön umhauen und diese Nachricht hatte es gerade getan. Mehr als nur das. Sein Instinkt wusste schon jetzt, dass das erneut etwas war, das sein Leben in eine andere Richtung lenken würde.

Eine, die er zwar nie wieder hatte einschlagen wollen, doch … es war passiert. Er hatte zwar keine Ahnung, wieso und vor allem … Emma roch nicht schwanger. Er hätte es eigentlich wittern müssen. Doch noch immer war da nichts.

Dennoch … es war egal. Es war passiert. Cayden glaubte ihr.

Als er sich wieder zu ihr herum drehte, war der erste Schock überwunden. Natürlich saß dieser noch tief in seinen Knochen und er verstand es noch nicht gut genug, so wie es erst nach längerem Nachdenken und Darüberreden sein würde, aber er konnte es zumindest schon begreifen.

Vielleicht war er gerade deshalb wieder empfänglicher für alles um ihn herum, auch wenn die Welt plötzlich andere, neue, frischere Farben zu haben schien.

Emma sah nicht gut aus. Ihr Herz schlug so schnell, als wolle es aus ihrem Brustkorb springen und vermutlich dachte sie gerade mehr an Flucht, als an sonst etwas. Vielleicht machte seine Reaktion ihr auch Angst, er wusste es nicht genau. Aber eines wusste er ganz genau: Sie war verzweifelt gewesen, als sie es ihm gesagt hatte. Das seltsame Gefühl, das ihm ihre Berührungen vermittelt hatten, ließ daran keinen Zweifel offen.

"Em…"

Seine Stimme war sanft. Zittrig, aber sanft, als er auf sie zu kam und sich vor ihr hin kniete. Seine Hände umfassten die ihren. Ihre Finger waren kalt und doch fühlten sich ihre Handflächen feucht an. Verräterische Zeichen der menschlichen Rasse und doch sprangen bei ihm dadurch erst recht sämtliche Beschützerinstinkte an.

Seine eigene Unsicherheit, die Nervosität, die Ängste und Sorgen verbergend, blickte er ruhig zu ihr auf. Es war nicht leicht sein eigenes Gefühlschaos zu verstecken und vielleicht sah sie in seinen Augen, dass er nicht so ruhig war, wie er sich gab, aber trotzdem gab es keinen Grund Angst zu haben. Nicht jetzt. Nicht in naher Zukunft.

Nicht, mit all dem Wissen über die Macht seines Blutes, das er inzwischen besaß. Eigentlich gab es wirklich nichts, was ihm Sorge machen müsste, trotzdem schlug sein Herz wild und aufgeregt.

"Wie lange weißt du es schon?", fragte Cayden Emma daher ruhig. Einfach um irgendetwas zu sagen. Um ihr zu zeigen, dass alles in Ordnung war und dass er keine der sonst so bekannten Szenen machen würde, wie man sie unzählige Male in Filmen oder sogar auf der Straße sehen konnte.

Es stimmte. Ein Kind war nicht geplant gewesen, weshalb er sich über die Gefühle darüber noch unklar war, aber er war sich seiner Verantwortung dafür sehr wohl bewusst und dass es jetzt hieß, Ruhe zu bewahren. Niemandem einen Vorwurf zu machen. Er war schließlich genauso daran schuld. Schließlich hätte er von sich aus verhüten müssen, obwohl er dachte, Emma täte es. Nun, eigentlich hatte er darüber im Grunde gar nicht nachgedacht. Die Nacht damals in Tokyo war dafür einfach zu chaotisch gewesen.
 

Er schob sie von sich.


Nicht nur im wörtlichen Sinne, als er Emma an den Hüften packte und sie von seinem Schoß zurück auf das Sofa setzte. Viel größer war der Raum, den er rein mental und gefühlsmäßig zwischen sie brachte, als er aufstand, um sich von ihr zu entfernen. 
Emma musste sich auf jeden Atemzug so stark konzentrieren, dass sie nicht einmal die Kraft aufbrachte, aufzusehen und sich dem Bild eines ihr abgewandten Cayden zu stellen. Immer noch schien die Luft weniger Sauerstoff zu enthalten, als Emmas Lungen benötigten. Sie fühlte sich schwach, ihr war heiß und kalt zugleich und ihr Herz raste so schnell, dass der Rest ihres Körpers mit der Schockreaktion gar nicht hinterher kam.


Selbst die Zeit schien schneller zu laufen und gleichzeitig wie in Gelee gepackt dahin zu kriechen.


Jedenfalls war Cayden eine Ewigkeit an dem Bücherregal stehen geblieben. Er hatte Emma nicht länger ansehen können. Es war...


Sie hätte ihm nichts sagen sollen. Sie hätte einfach zum Arzt gehen und es ungeschehen machen sollen. Er hätte gar nichts merken müssen. Vielleicht wäre dann alles gut gelaufen. Dann...


Ihre Gedanken überschlugen sich und doch bekam Emma keinen zu fassen, dem sie Cayden hätte anbieten können, als er urplötzlich und vollkommen unvorbereitet vor ihr in die Knie ging und ihre Hand nahm.


"Seit Montag."


Warum es Wut war, die sich in ihrem Inneren sammelte, konnte Emma nicht sagen. Sie verstand keines der Gefühle, die auf einmal nach oben sprudelten. Sie war sauer auf sich selbst, wütend auf das, was Cayden gleich sagen würde. Und sie war stinksauer auf die Welt, deren Regeln nun einmal so lauteten, dass so etwas nicht funktionieren konnte. Falsche Personenkonstellation, falsche Voraussetzungen, falsche... Frau.


Und plötzlich wurde sie unendlich traurig.


Sie presste die Lippen fest aufeinander, um diese Emotion nicht nach außen hin zu zeigen. Aber es war schon fast zu spät. Emma hatte solche Angst davor gehabt, es Cayden zu sagen. Etwas, das sie erst jetzt im Nachhinein erkannte. Verdammter Realismus, verdammtes Maß an Zurechnungsfähigkeit, das ihr von Anfang an gesagt hatte, dass es keine romantische, rosa Zukunft mit Baby und Familie für sie geben würde.


Wie dumm war sie gewesen, selbst der Hoffnung darauf nachzugeben!


"Ich muss es nicht bekommen."

Es klang dumpf und hohl, aber Emma sah eine winzige, hauchdünne Rettungsleine. Vielleicht würde sie zumindest etwas von all dem hier retten können.
 

"Seit Montag."

Sie wusste es also schon fast eine Woche lang. Eine Woche, in der sie ihm nichts hatte sagen können. Es … vor was hatte sie bloß solche Angst gehabt? Seiner Reaktion?

Cayden musste zugeben, dass er zuerst schockiert gewesen war. Warum auch nicht, schließlich war das etwas, worauf man sich nicht einfach so vorbereiten konnte. Aber dass sie sich vor dem gefürchtet haben könnte, wie er reagierte … sich vielleicht auch immer noch fürchtete.

Mit wachsamen Sinnen beobachtete er jede von Emmas Gefühlsregungen, die er von ihrem Gesicht ablesen konnte. Ihr ging wahnsinnig viel im Kopf herum und der Ausdruck in ihren Zügen schien sich immer weiter zu vertiefen, als ob sie-

"Ich muss es nicht bekommen."

Sein Herz blieb ihm für einen Moment stehen, als der Satz in seinem Bewusstsein ankam. Mit einem Schlag wurde ihm wirklich eiskalt.

Abtreibung?

Sie dachte daran, es töten zu lassen?

Hätte man ihm ein Messer in den Bauch gerammt und damit in seinen Eingeweiden herum gewühlt, es hätte nicht unangenehmer sein können, als das Gefühl, das sich in ihm ausbreitete.

"Nein..."

Seine Stimme brach fast weg, bis er sie wieder unter Kontrolle und sich von dem zweiten Schock erholt hatte.

Cayden richtete sich weiter auf, hielt noch fester ihre Hand und strich mit der anderen zärtlich aber nachdrücklich über Emmas Wange, während er versuchte ihren Blick zu fixieren.

"Nein, Emma. Denk nicht einmal daran. Bitte … tu das nicht. Das ist keine endgültige Lösung, sondern Mord. Bitte…"

Nun blätterte ein Teil seiner mühsam beibehaltenen Gelassenheit von ihm ab und das eisige Gefühl in seinem Inneren verstärkte sich. Er könnte nichts tun, wenn sie es nicht haben wollte. Absolut gar nichts. In dieser Sache hatte stets die Frau das letzte Wort. Aber sie durfte nicht…

Sein Blick wurde flehentlich, wegen eines Schmerzes der älter war, als Emma auch nur erahnen konnte.

"Nein, bitte … tu mir das nicht an.", hauchte er leise verzweifelt.

Cayden schlang seine Arme um Emma, legte seinen Kopf in ihren Schoß und hielt sie ganz fest.

"Wenn … wenn du es nicht willst. Ich nehme es. Ich … kümmere mich darum. Um alles, aber lass nicht zu, dass man es tötet. Tu das nicht…"
 

Aber...


Emma sah mit halb offenem Mund auf Cayden hinunter. So langsam begann die Wärme seiner Arme in ihren Körper zu kriechen und sie bekam endlich das Gespür für sich selbst zurück, das ihr gerade irgendwie verloren gegangen war. Ganz im Gegensatz dazu, schien Emmas Gehirn sich für eine ganze Weile vollkommen verabschiedet zu haben und gab auch kein Lebenszeichen, als Emma wirklich Hilfe gebraucht hätte.


Als wäre das alles nicht schon kompliziert genug und sie mit ihren Emotionen völlig überfordert. Sie... verstand einfach nicht, was Cayden...


"Du..."

Ihre Stimme war so rau, als hätte sie ewig nicht gesprochen. Belegt von der ganzen Flut an ertränkenden Gefühlen, die immer noch zwischen ihnen hin und her schwappten. Emma versuchte sich zu räuspern, klang danach aber auch nicht viel besser. Zumindest ein bisschen lauter.


"Du willst... dass ich... dass wir... es haben?"


Die letzten Worte waren wieder mehr ein Hauch, als wirklich eine Frage. Aber Emma fing sich allmählich und trotz ihrer Überraschung und des wirklichen Schocks, der ihr immer wieder Kälte über den Rücken schickte, wagte sie es fast, Cayden von sich aus zu berühren. 
Vielleicht...


"Auch... mit mir zusammen?", wollte sie mit klopfendem, immer noch gefährlich angeknackstem Herzen wissen.
 

Was die Frage sollte, verstand er nicht ganz. Aber im Grunde war er gerade sowieso ziemlich neben der Spur und vor allem durcheinander, doch eines wusste er ganz bestimmt. Daran war nun einmal nicht zu rütteln.

"Natürlich!"

Cayden richtete sich wieder auf, schob sich näher an Emma heran, ein Arm immer noch fest um sie geschlungen, während er mit der anderen Hand über ihre Wange, ihren Hals und durch die Haare streichelte.

"Ich will das, Em. Ich will das Baby. Ich will dich. Oh, Gott. Du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich dich will!"

Wieder umarmte er sie. Zog sie, so gut es in dieser Position möglich war, an sich, vergrub seine Finger in ihrem Haar, drückte sein Gesicht in diese weiche Seidenpracht. Atmete tief ihren Duft ein…

"Ich wollte dich schon, bevor du mir das mit dem Baby gesagt hast.", flüsterte er zärtlich in ihr Ohr. "Jetzt will ich dich erst recht…"

Wo vorhin noch Kälte war, breitete sich nun rasend schnell die Wärme aus, die er sonst in Emmas Gegenwart verspürte.

Sie dehnte seinen Brustkorb, ließ seinen ganzen Körper kribbeln und vertrieb seine trüben Gedanken.

Als er sich nun wieder ein kleines Bisschen von Emma löste, um sie ansehen zu können, strahlte er fast. Ein Lächeln umschlich sein Gesicht und doch war es kein leichtfertiges. Er wusste genau, worauf er sich da einließ und konnte sich zumindest schon ausmalen, wie sehr das seine Zukunft verändern würde. Aber es war ihm egal. Wenn er eines wusste, dann dass das Hier und Jetzt wichtig war. Nicht das Später.

"Ein Baby, Em? Das klingt nach einer wundervollen Nachricht.", meinte er ernsthaft, aber auch voller Zuneigung und Wärme.
 

Natürlich?


Alles Andere war an Emma vorbei gezogen, wie flauschige Wolken bei Sturm. Sie hatte verstanden, was Cayden gesagt hatte. Die Worte waren ihr bekannt und sie wusste auch deren Bedeutung. Aber dass er sie so im Bezug auf sie - Emma - verwenden würde... hätte sie niemals gedacht.


Sie starrte Cayden wortlos und mit offenem Mund an, versuchte hinter seinem Lächeln eine mögliche Klinge zu erkennen, fand aber auch nach einer Weile der absoluten Vorsicht keine. Er meinte das... ernst?


Emma spürte, wie ihre Finger zitterten, die auf ihrem eigenen Oberschenkel und einem Sofakissen lagen. Sie traute sich immer noch nicht, Cayden zu berühren. Das war jetzt alles viel zu schnell für sie gegangen. Von Schock, Abwendung zu Entsetzung und dann... wundervolle Nachricht.


Ihr war gar nicht klar, dass sie anfing zu weinen, bis sie Cayden nicht mehr erkennen konnte, obwohl er direkt vor ihr saß. Mit einem Mal fiel so viel Angst von Emma ab, dass sie in sich zusammen sank und ihr Körper sich nicht entscheiden konnte, ob sich ein erleichtertes Lachen in diese befreiende Gefühlsäußerung mischen sollte.


Sie hoffte so sehr, dass er es so meinte, wie er es gesagt hatte.
 

Als Emmas einzige Reaktion auf seine Worte darin bestand, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten und diese schließlich über ihre Wangen perlten, war es endgültig um Cayden geschehen.

Er richtete sich ganz auf, setzte sich neben sie, zog sie samt Kissen wieder auf seinen Schoß und schlang die Arme um sie.

Während er sie beschützend fest hielt und sie sich auch einmal seinem angebotenen Schutz hingab, fühlte sich das alles zunehmend richtiger an.

Schon vorher war es gut und schön gewesen, aber jetzt schien es auch absolut richtig zu sein. Vollkommen. Als würde diese ganze Situation hier, Emma, das Baby und die Art, wie sie sich an ihn drückte, die leere Seite in seinem Leben ausfüllen, die da schon so lange bestanden hatte.

So fühlte es sich an. Genau so fühlte sich das an, worüber so viele Dichter, Sänger, Produzenten, Journalisten und noch viele mehr auf dieser Welt, immer wieder schrieben.

Cayden wusste es, weil er es in seinem Leben schon mehrmals erleben hatte dürfen. Doch so stark wie jetzt, so berauschend und empfindlich, so wunderbar und beängstigend, wie hier und jetzt, hatte es sich bisher noch nie für ihn angefühlt. Es war ebenso schön wie überraschend und es bereitete ihm Sorge, wenn auch nicht groß genug, um ihm die momentane Situation zu verdüstern.

Cayden sagte nichts, während er Emma einfach fest hielt, über ihren Rücken streichelte, sich an sie kuschelte und einfach nur in den Armen hielt.

Manche Dinge mussten nicht ausgesprochen werden, um klar zu erkennen zu sein. Zudem gab es nichts zu erklären. Emma durfte ihren Emotionen freien Lauf lassen und er war da, um sie aufzufangen. Es würde alles gut werden. Immerhin … liebte er sie.
 

Eine kleine Ewigkeit verging. Immer wieder versuchte sie es, schaffte es aber nicht, sich wieder zu fangen. Emma konnte das leise Schluchzen, die Tränen und auch das Schniefen nicht unterdrücken. Genauso wenig, wie sie sich selbst nicht darin aufhalten konnte, nun doch ihre Hand in Caydens Shirt zu krallen, um sich an irgendetwas festzuhalten. 
Und dabei war es doch er, der sie hielt.


Vollkommen überraschend für sie, hatte er Emma zurück auf seinen Schoß gezogen, die Arme um sie geschlungen und nichts weiter zu diesem offensichtlichen Zeichen ihrer Schwäche gesagt. Auch als ihre heißen Wangen allmählich trocken wurden und Emma sich nur noch verstohlen über die Augen wischte, ließ er sie nicht los.


Herrgott, das war alles so... unwirklich.


Emma schniefte laut und löste sich dann zumindest so weit von Cayden, dass sie ein Gefühl dafür bekam, ob der Heulanfall vorbei war.


Dem schien so zu sein.


"Ich brauch'... ein Taschentuch."


Sich über das Gesicht zu wischen machte alles nur noch schlimmer und ließ Emma ein wenig verschämt lächeln, bis Cayden sich aufmachte, um ihr gleich die ganze Rolle mit Küchenpapier von nebenan zu holen.


"Dankeschön."


Emma schneuzte sich, wischte sich mit einem zweiten Tuch die Wangen trocken und brauchte danach noch ein drittes und ein viertes Tuch, bis sie auch nur nahe daran war, wieder vollkommen tränenfrei zu sein. 
Und selbst dann wusste sie nicht genau, was sie sagen sollte.


Nur von unten herauf und sehr vorsichtig sah sie Cayden an, der inzwischen ein beständiges Schmunzeln auf den Lippen zu tragen schien.


"Ich heule nicht oft.", war alles, was ihr gerade einfiel. Dabei hätte sie bestimmt wesentlich Intelligenteres sagen können.
 

Cayden schmunzelte.

"Stell dir vor, ich auch nicht.", war seine mehr als intelligente Antwort, auf Emmas Aussage, ehe er sie auch schon wieder an sich zog und einmal tief durchatmete.

Nein, sie roch immer noch nicht schwanger, sondern einfach nur unwahrscheinlich gut. Es war zwar etwas, das er sich nicht erklären konnte, aber in diesem Fall musste er es auch gar nicht besser wissen. Wenn Emma sich sicher war, dann vertraute er ihr.

"Jetzt wissen wir zumindest, warum dir morgens immer so schlecht war. Eigentlich ganz klar, wenn man es weiß."

Mit seinem Daumen wischte er Emma eine Wimper von der Wange. Zwar musste er sich wirklich erst an die Tatsache gewöhnen, dass sie schwanger war, aber das würde schon werden. Spätestens dann, wenn man es auch zu sehen begann. Außerdem half darüber reden auch. Zumindest ihm.

"Hm. Heute Morgen ist dir aber nicht schlecht gewesen. Ist es denn jetzt besser?"
 

Jetzt musste Emma wirklich lächeln. Denn dass Cayden ihr weder gesagt hatte, dass er das Baby nicht wollte, noch dass er sie jetzt nie wieder sehen würde, war für Emma schon jenseits von großer Erleichterung. Ihr fiel nicht nur ein Stein vom Herzen, sondern gleich eine ganze Schuttlawine, während doch immer noch ein bisschen zurück blieb, das sie wegen ihrer angeborenen Skepsis so schnell nicht loswerden würde.


Aber es gelang ihr, sich an Cayden anzulehnen und endlich wieder tief durchzuatmen.


"Ja, es ist besser. Seit ich... es weiß, war mir eigentlich nicht mehr schlecht. Vielleicht noch ein bisschen flau morgens, aber sonst... alles in Ordnung."


Was genau das Gegenteil von dem war, das angeblich den meisten Anderen passierte. Emma hatte irgendwo einmal gehört, dass viele Frauen unter Morgenübelkeit litten, sobald sie vom Arzt erfahren hatten, dass sie schwanger waren.


Schwanger...


Wie schon in der letzten Nacht sah Emma zu ihrem Bauch hinunter und stellte erneut fest, dass sie das einfach noch nicht realisieren konnte. So, wie es jetzt aussah würde sie ein Baby bekommen. Das war unfassbar.


"Hoffentlich wird dir jetzt nicht morgens schlecht.", meinte sie diesmal wirklich mit einem Lächeln und schaffte es sogar, Cayden direkt ins Gesicht zu sehen.
 

"Sehr unwahrscheinlich. Schließlich habe ich morgens Besseres zu tun, als über der Kloschüssel zu hängen. Zum Beispiel mit dir ausgiebig zu frühstücken.", meinte er locker und merkte immer mehr, wie die Anspannung von ihnen abfiel. Natürlich war noch nicht alles vollkommen in Ordnung und er würde noch gründlich über alles nachdenken, wenn er alleine war. Aber vorerst war es gut so.

Cayden folgte Emmas Blick zu ihrem Bauch und legte schließlich vorsichtig seine flache Hand auf die Stelle, wo offenbar gerade ein neues Leben in ihr heranwuchs.

Eine neue Welle von Wärme und Zuneigung überflutete ihn. Cayden lehnte seinen Kopf an Emmas, streichelte sie und wusste, dass er mit dem hier nie mehr gerechnet hätte und doch fühlte es sich, nachdem der erste Schock vorüber war, ungemein gut an.

"Kaum zu glauben. Ich werde Vater." Erneut.

"Wenn du es dir aussuchen könntest, was würdest du dir wünschen? Junge oder Mädchen?"

Cayden kuschelte sich noch etwas enger an Emma, küsste ihre Schläfe, schmiegte seine Wange an ihre und genoss das Gefühl, ihr nahe zu sein. Es war so viel besser, als es nicht zu sein. So viel erfüllender. Erst recht, nachdem etwas von ihm gemeinsam mit etwas von ihr in ihrem Körper heranwuchs. Dieses Gefühl war einfach unbeschreiblich.
 

"Ach ja?"


Sie hob lächelnd eine Augenbraue und hätte ihn am liebsten einmal wieder in die Seite geknufft.


"Es war ja nicht so, dass ich mir das ausgesucht hätte."


Ganz im Gegenteil wusste Emma erst jetzt wieder richtig zu schätzen, wie gut es sich anfühlte, morgens einfach aufzustehen und ohne darüber nachzudenken, den Tag zu beginnen. Und zwar mit einem ordentlichen Frühstück. Oh man, was hatte sie ein leckeres Frühstück vermisst!


Es kam für Emma überraschend, dass Cayden seine Hand vorsichtig auf ihren Bauch legte. Zuerst sah sie ihn, dann die flache Hand auf ihrem Bauch an. Noch weniger als dass er Vater wurde, konnte Emma glauben, dass sie Mutter sein würde. Man... sah gar nichts. Und dass sich das schon bald ändern würde, konnte Emma auch noch nicht ganz realisieren.

Ob das lange dauern würde? Und wie schnell sah man überhaupt etwas? Sie würde doch auch zusätzlich zunehmen, oder? Bei Stella hatte es nicht so ausgesehen, aber angeblich bekam man schon ein paar Kilos drauf, was ja nur ganz natürlich-


"Du musst mich unbedingt davon abhalten, mir bergeweise Bücher zum Thema Schwangerschaft zu kaufen. Ich sehe mich schon über den unterschiedlichen Tipps und Hinweisen verzweifeln."


Das entsprach voll und ganz der Wahrheit. Ihre Tante hatte ihr einmal erzählt, der beste Tipp sei, sich nur genau ein einziges Buch zu dem Thema zu kaufen und dann darauf zu vertrauen, dass man das Richtige ausgesucht hatte. Denn die Bücher widersprachen sich vollkommen und stürzten einen nur in absolute Unsicherheit, wenn man versuchte, alles richtig zu machen.


Und später würde es nicht anders sein. Wenn es erstmal da war - das Baby.


"Mir aussuchen?"


Ganz vorsichtig legte Emma ihre Hand auf die von Cayden und überlegte sich, was sie schon als kleines Mädchen mehrmals überlegt hatte. Junge? Oder Mädchen? Früher hatte die Antwort ganz klar ausgesehen. Aber jetzt, wo es wirklich so weit war? Sie konnte es doch ohnehin nicht beeinflussen.


"Ich weiß nicht. Eine Tochter wäre toll, aber ein Sohn auch. Ich... warten wir es einfach ab."


Für einen Moment schloss Emma die Augen, genoss das Gefühl, so an Cayden gekuschelt da zu sitzen und sich erstmal keine Sorgen machen zu müssen. Es... würde schon alles werden.


"Und du? Was würdest du dir wünschen?"
 

Also über Babybücher hatte er tatsächlich noch nie nachgedacht und zwar aus einem sehr naheliegenden Grund. Als das Thema für ihn aktuell gewesen war, hatte es sowas wie Bücher oder Ratgeber noch nicht gegeben. Und im Endeffekt waren seine beiden Söhne auch groß geworden. Hatten sich sogar zu prächtigen Männern entwickelt, die selbst jeder für sich eine wundervolle Familie gegründet hatten. Also konnte er schon einmal nichts falsch gemacht haben. Wobei die Kindererziehung natürlich damals wie vermutlich auch heute größtenteils die Mütter betraf, aber dennoch hatte er sich so oft beteiligt, wie möglich. Vor allem bei Söhnen bekamen die Väter eine wichtige Rolle. Nicht nur als Vorbildwirkung, sondern auch um ihnen die grundlegendsten Dinge des Lebens beizubringen. Wie Jagen, Fährtenlesen, Fallen bauen und aufstellen und noch so einiges mehr, das heute absolut nicht mehr üblich war.

Cayden schweifte in seine Gedanken ab. Während seine Finger sanft weiter über Emmas Bauch streichelten, versuchte er sich darüber im Klaren zu werden, was früher wichtig war und was heute. Und je mehr er darüber nachdachte, umso größere Sorgen machte er sich, ob er dieser Rolle erneut gerecht werden konnte.

"Ich werde die Bücher besorgen. Dann musst du dich nicht der Qual der Wahl stellen, sondern meinem Urteil vertrauen. Ist also die Frage, was schwieriger ist."

Neckend knabberte er an Emmas Ohr und bekam bereits jetzt leichte Bammel vor dem Besuch im Bücherladen. Das war schließlich eine gänzlich neue Abteilung, in die er da vordringen wollte.

Als Emma ihn fragte, was für ein Kind er gerne haben würde, dachte er nicht lange darüber nach. Stattdessen kam seine Antwort wie aus der Pistole geschossen.

"Ein Mädchen."

Eine Antwort vermutlich sehr zur Verblüffung der Männerwelt. Aber nach zwei Söhnen sicherlich verständlich.

"Was nicht heißen soll, dass ich mich nicht auch über einen Sohn freuen würde. Da das Geschlecht vollkommen egal ist. Aber wenn ich es mir aussuchen könnte … dann ein Mädchen."
 

"Wenn du mich den Buchladen aussuchen lässt, werde ich mich darauf verlassen, dass du das Richtige nach Hause bringst."


Sie kicherte, was einerseits damit zusammen hing, dass Cayden sich einmal mehr an ihr Ohr heran machte. Andererseits machte sich eindeutig und endlich die Erleichterung bei ihr bemerkbar.


"Außerdem kann man mit Kassenzettel umtauschen."


Emma fragte sich eine Sekunde, wann Cayden eigentlich die Zeit aufbringen wollte, zu Borders zu gehen und nach Babybüchern zu suchen. Aber das war nicht zwingend ein Problem, mit dem sie sich auseinander setzen musste. Wenn er sagte, er würde sich darum kümmern, dann konnte sie sich darauf verlassen. Emma hatte ohnehin das Gefühl, dass sie in Cayden mehr einen echten Partner mit einem Plan an ihrer Seite hatte. Bei dem Ganzen wirkte er schon jetzt viel souveräner als sie. 
Und das fing schon damit an, dass er sich so ohne weiteres Grübeln für ein Mädchen entscheiden konnte.


"Ein Mädchen, ja?"


Emma lächelte ihn offen an und hauchte Cayden dann einen winzigen Kuss auf die Wange.


"Sehen wir mal, was sich machen lässt."
 

"Das mit dem Kassenzettel stimmt, aber den kann man ja auch ohne weiteres verschwinden lassen."

Nun lächelte er wirklich und knabberte noch einmal an Emmas Ohr, nur allein, um sie kichern zu hören. Das war so viel besser, als sie trübsinnig zu erleben.

Als sie dann auch noch zu lächeln begann, hatte er das Gefühl, als käme die Sonne nach einem langen heftigen Sturm wieder heraus. Sofort begann sein Herz nun aus anderen Gründen wieder schneller zu schlagen und es knisterte gewaltig in seinem Bauch.

Gespielt ernst, sah er sie an.

"Miss Emma Lynn Barnes. Soll das tatsächlich ein Kuss gewesen sein? Das können Sie aber wirklich besser."

Er nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände und lächelte sie warm an.

"Es ist alles gut, Em. Wir schaffen das, selbst wenn wir uns auf kein Buch einigen können. Ein Schritt nach dem anderen und für jetzt hatten wir uns noch ein schönes, entspanntes Wochenende vorgenommen. Also, nachdem du mir bewiesen hast, dass du genauso gut küssen kannst, wie ich es von dir gewohnt bin, einigen wir uns erst mal darauf, ob wir noch weiter im Pyjama herum gammeln, oder uns doch dazu bequemen, etwas anderes anzuziehen. Alles andere hat noch Zeit."

Und damit küsste er sie.

So viel war inzwischen geschehen, als sich vorhin ihre Lippen getrennt hatten, doch das Gefühl dabei, war gleich geblieben.

Vielleicht sogar noch stärker.

36. Kapitel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

37. Kapitel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

38. Kapitel

Wie schon in letzter Zeit war es sein Durst, der ihn weckte. Oder besser gesagt, das Gefühl von einem Wüstensturm, der in seinem Hals und Rachen einen neuen Höhepunkt zu erreichen schien. Seine Lippen waren trocken und seine Fänge pochten gierig nach dem lockenden Blutquell, der da vertrauensvoll an ihn gekuschelt neben ihm schlief.

Cayden brauchte einen Moment, um Traum und Wirklichkeit voneinander unterscheiden zu können. Danach erinnerte er sich aber schnell, dass er immer noch mit Emma auf der Couch lag. Nackt, wie Gott sie beide geschaffen hatte und es war dunkel.

Nicht etwa, weil die elektrischen Sonnenblenden sich bereits geschlossen hatten, sondern es draußen tatsächlich noch dunkel war.

Es musste noch früh sein. Zu früh für Emma, um aufzustehen, aber nicht früh genug, um ihn noch hier zu behalten. Nicht bei dem schmerzhaften Brennen in seinem Hals.

Es kostete ihn schon Überwindung, ihr lediglich einen Kuss auf die Lippen zu hauchen, während er sich langsam von ihr losmachte, da sie sich regelrecht um ihn geschlungen hatte. Aber es gelang ihm, sie nicht zu wecken, während er lautlos über sie hinwegglitt und sie wieder ordentlich zudeckte, damit ihr nicht kalt wurde.

So früh am Morgen war die Heizung noch nicht an, und auch wenn es trotzdem angenehm temperiert gewesen wäre, klapperte er leise mit den Zähnen, als ihn erneut eine Gänsehaut überfiel.

Auf leisen Sohlen schlich er sich ins Bad, um heiß zu duschen, sich die Zähne zu putzen, seine Kontaktlinsen einzusetzen und sich wärmer anzuziehen.

Bewaffnet mit Socken, Jogginghose und einem langärmeligen Hemd schlich er sich in die Küche, um leise hantierend alles für ein üppiges Frühstück vorzubereiten. Dabei warf er immer wieder einen Blick ins Wohnzimmer, um nach Emma zu sehen, die immer noch schlief, während die Sonne langsam aufging und er die Rollos deaktivierte, um das Licht nicht am Hereinkommen zu hindern.

 

„Mh.“

Emma rollte sich herum. Ohne wirklich wach zu werden, suchte sie unbewusst nach dem zweiten warmen Körper unter der Decke. Zumindest auf der Couch, nachdem sie ihn unter der Decke nicht finden konnte. Ihre Finger streiften über die kühlere Oberfläche des Sofas, stießen schließlich gegen die Rückenlehne und Emmas Brauen zogen sich unzufrieden zusammen. Er war ... nicht da.

Diesmal war es ein Brummen, das ihr Umdrehen begleitete und Emma zog sich die Decke bis zum Kinn hinunter.

Nein, Cayden war definitiv nicht mehr im Bett ... auf der Couch.

Emma zwang eines ihrer Augen, sich zu öffnen und in der nächsten Umgebung nach ihm zu suchen. Sie fand Cayden nicht, bekam aber mit, dass es anscheinend hell draußen war. Spät konnte es allerdings noch nicht sein. Dafür war es zu ... Emma war einfach zu müde.

„Cay–?“

Sie hustete in die Decke, als ihr sein Name im Hals steckenblieb, weil er so raspelte.

Nun kämpfte sich Emma in eine sitzende Position hoch und schob sich die Haare ein wenig zurecht. Kämmte sie mit den Fingern grob durch und streckte sich dann. Ja, es musste verdammt früh sein. Draußen war es noch ganz grau.

Und Emma war nackt. Was ihr jetzt erst wirklich auffiel, als sie aufstehen wollte.

 

Das leiseste Geräusch aus dem Wohnzimmer reichte aus, um ihn in seiner Tätigkeit innehalten zu lassen. Zuerst waren es nur Bewegungen, die er wahrnahm, weshalb er nicht gleich hinüberging, um nachzusehen. Vielleicht drehte sich Emma einfach nur auf die andere Seite und schlief weiter. Aufwecken wollte er sie so früh noch nicht, sondern lediglich alles für ein Frühstück vorbereiten, damit er sich etwas beschäftigen konnte.

Als sie jedoch halb seinen Namen sagte, blickte er um die Ecke und fand sie sitzend auf der Couch vor.

Ihr Haar war leicht zerzaust und sie wirkte noch richtig verschlafen, was sie einfach hinreißend aussehen ließ. Vor allem, da man anhand ihrer einen nackten Schulter erahnen konnte, dass sie darunter nichts anhatte.

Mit einem mehrdeutigen Lächeln kam Cayden zu ihr und setzte sich neben sie.

„Guten Morgen.“

Er küsste sie sanft und streichelte ihre Wange, während er diesen Wir-hatten-letzte-Nacht-umwerfenden-Sex-Blick aufhatte.

„Es ist noch früh. Wenn du weiterschlafen willst, könnte ich dich ins Bett umsiedeln. Dann kannst du dich noch ein bisschen ausschlafen.“

Er zog sie samt Decke auf seinen Schoß und schlang die Arme um sie, um sich an sie zu kuscheln.

„Was würdest du davon halten?“

 

„Guten ... Morgen.“

Emma gähnte hinter vorgehaltener Hand und ließ ihren Kopf dann an Caydens Schulter sinken. Schlafen ... Ja, irgendwie schon eine gute Idee ...

Ein Grinsen schlich sich auf ihre Lippen, als ihr ein Licht aufging, dass Cayden nicht gemeint hatte, sie könne auf seinem Schoß weiterschlafen. Auch wenn das gerade eine sehr attraktive und kuschelige Alternative wäre. Er roch wieder zum Hineinkuscheln gut und die Decke war so schön warm und weich.

Ihre Wimpern streiften seinen Hals, als Emma sie mit Mühe wieder öffnete und das Grinsen zu einem verliebten Lächeln wurde.

„Ich möchte nicht schlafen, wenn du schon wach bist und herum werkelst.“

Was sie auf eine unangenehme Idee brachte.

Sofort setzte Emma sich kerzengerade und alarmiert auf Caydens Schoß auf und sah ihn aus leicht verquollenen Augen funkelnd an.

„Du hast doch nicht schon über irgendwelchen Akten gesessen, oder?“

Der Tonfall war der Gleiche, als hätte er nackt auf einem Laufband auf dem Balkon gejoggt und sich dem Risiko einer Erkältung ausgesetzt. Aber es war auch Sonntag. Kein Tag zum Arbeiten. Schon gar nicht um diese Zeit!

 

Als Emma ihn mit diesem ganz bestimmten Blick ansah, der nichts Gutes verhieß, selbst von einer kleinen Menschenfrau wie ihr nicht, wich er ein Stück zurück und sah sie mit großen Augen an.

Dann begann er, verschlagen zu grinsen.

„Woran du schon wieder denkst!“

Er lachte leise und stupste seine Nase an ihre, ehe er ihr noch einen Kuss von den Lippen stahl.

„Nein, also um ehrlich zu sein, habe ich ausgiebig und heiß geduscht, mir dann als Erstes einen Kaffee gemacht und gerade bin ich dabei, ein Frühstück auf die Beine zu stellen. Allerdings gibt es momentan nur kalte Küche, weil ich nicht damit gerechnet habe, dass du schon so früh wach wirst. Wenn du also wirklich noch einmal schlafen willst, kannst du das unbesorgt tun. Ich werde die Akten nicht anrühren.“

Er zog sie wieder näher an sich und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar.

„Als könnte ich mich jetzt auf die Arbeit konzentrieren.“

Das war wirklich nicht möglich. Schließlich saß seine Assistentin und Liebe gerade nackt auf seinem Schoß. Da war an Arbeit wirklich nicht zu denken.

 

„Oh ... Kaffee ...“

Emma hauchte das Wort andächtig mit gerundeten Lippen und so vorsichtig, als könne sie damit vielleicht aus Versehen sämtliche Pflanzen von der Oberfläche der Welt wischen.

Kaffee.

Mit viel Milch und Milchschaum und einer kleinen Portion Kakao. Mit zwei Marshmallows ...

Ihr Blick wurde ganz glasig, während sie Cayden voller inbrünstigem Neid ins Gesicht schaute.

Emma liebte Kaffee. In allen erdenklichen Variationen. Und jetzt, wo sie so aus dem Schlaf gerissen darüber nachdachte, wurde ihr erst so richtig bewusst, wie lange sie schon keinen mehr getrunken hatte. Wie gut es riechen würde und wie schön bitter auf der Zunge ...

Sie zwinkerte zweimal, um wieder in die Realität zurückzufinden. In der sie keinen Kaffee trinken würde. Zumindest ... sieben weitere Monate nicht. Was danach passierte, würde man sehen.

Emma würde in den sieben Monaten auf diesen unglaublichen Kaffee sparen, den man nur in ganz kleinen Päckchen mit blauem Aufdruck bekam. Der einmal durch den Verdauungstrakt irgendeines Primaten gehen musste, bevor er überhaupt zum Rösten in Erwägung gezogen wurde. Ja, so einen wollte sie dann als ersten Kaffee trinken, wenn sie es wieder durfte.

Emma grinste leise und schob sich dann eine dicke Haarsträhne hinter ihr Ohr.

„Frühstück klingt auch gut. Wenn du erlaubst, werde ich schnell duschen und komme dir dann zur Hilfe.“

Die Arme fest um ihn geschlungen drückte Emma Cayden einmal fest und küsste ihn dann, um sich mit einem glücklichen Lächeln von ihm zu lösen.

„Bist du auch so froh, dass heute erst Sonntag ist?“

 

„Oh ja, auf jeden Fall“, meinte er zustimmend und ließ Emma dann runter, obwohl das schon eine ganz schöne Überwindung war. Es war schließlich gerade so gemütlich gewesen und wie oft durfte er sie schon nackt auf seinem Schoß sitzen haben? Nun gut, sie war zwar in eine Decke gewickelt, aber das tat seiner Fantasie garantiert keinen Abbruch.

„Du kannst dir mit der Dusche ruhig Zeit lassen. Ich laufe bestimmt nicht weg, und wenn du wieder da bist, wartet schon ein heißer Tee auf dich, okay? Genau so, wie du ihn magst. Versprochen.“

Es war ja leider so, dass Emma keinen Kaffee trinken würde und für jemanden, der das gewohnt war, musste das ganz schön schwer sein. Ein Grund, wieso er seinen schon so früh getrunken hatte. So musste Emma ihm nicht dabei zusehen und er konnte mit ihr zusammen Tee trinken.

„Ich werde derweil auch schon die Pfanne starten. Hast du irgendwelche Wünsche, was ich rein werfen soll?“

 

„Du bist so ...“

Anstatt seine Großartigkeit in Worte zu fassen, quietschte Emma leise und drückte Cayden nun einen ausgewachsenen Knutscher auf die Lippen, bevor sie sich huldvoll in die Decke wickelte, um sich mit ihr ins Bad zu verziehen. Allerdings drehte sie sich vorher noch einmal um und lächelte Cayden aus vollem Herzen glücklich an. Anders konnte sie ihn eigentlich gar nicht anlächeln, denn, sobald sie ihn auch nur sah, war sie einfach voller Glück, Zuneigung und hibbeliger Aufregung.

„Ich hätte gern Spiegeleier. Beidseitig gebraten und an den Rändern schön knusprig braun. Sonst keine Spezialwünsche.“

Sie zwinkerte und konnte sich gerade so beherrschen, ihm nicht auch noch einen Luftkuss zuzuwerfen, bevor sie nun wirklich ins Schlafzimmer und anschließend mit frischen Klamotten im Arm ins Bad ging.

Die Dusche weckte ihre Lebensgeister zwar ein bisschen, aber wirklich fit und ausgeruht fühlte Emma sich trotzdem nicht, nachdem sie ihre Morgentoilette beendet hatte und angezogen, mit leicht feuchten Haaren in der Küche erschien.

Gähnend schlappte sie auf Cayden zu, der am Herd irgendetwas briet, das sehr köstlich duftete. Emma schlang ihre Arme von hinten um seinen Bauch und lehnte sich müde gegen seinen breiten Rücken, wo sie auch sofort wieder die Augen schloss.

„Wie kannst du nur immer so früh aufstehen und wach sein?

 

Cayden sah ihr noch eine ganze Weile nach, als Emma in seinem Schlafzimmer verschwunden war und er seinen Gedanken nachhing.

Sie war … es gab keine passenden Worte dafür.

Kostbar war vielleicht eines, das dem sehr nahe käme, aber sie war auch noch sehr viel mehr als das. Vor allem war sie der Grund, warum er plötzlich Angst vor der Zukunft hatte. Angst um sie. Angst um sie beide. Angst vor ihrer Ablehnung, sollte sie je erfahren, mit was für Dämonen er gerade kämpfte und was diese von ihm forderten.

Doch er sollte momentan nicht darüber nachdenken. Schließlich hatte er im Laufe seines Lebens gelernt, dass es besser war, im Hier und Jetzt zu bleiben, als sich ständig über die Zukunft Gedanken zu machen. Denn so blieb man in Wahrheit mit den Gedanken und Gefühlen in der Zukunft und die Gegenwart wurde vernachlässigt, obwohl sie es war, die das wahre Leben ausmachte.

Darum machte er sich erst einmal daran, die von ihr gewünschten Eier zuzubereiten und sich dann selbst etwas zu braten. Speckwürfel und etwas Gemüse. Heute wollte er es etwas üppiger angehen, auch wenn er nicht viel davon runterbringen würde.

Als Emmas Arme sich um ihn schlossen, stellte er die Pfanne zur Seite und schaltete die Herdplatte aus, ehe er seine Hände auf ihre Arme legte und den Kopf etwas zurücklehnte.

„Jahrelange Übung. Außerdem ist das eine Krankheit von Workaholics.“ Und hungrigen Blutsaugern, wie er einer war.

Cayden drehte sich in ihren Armen um und zog Emma an seine Brust, wo er sie eine ganze Weile festhielt und dabei den Duft ihres leicht feuchten Haares einsog.

Als er sich wieder von ihr löste, fühlte er sich leicht schwummrig.

„Tee?“

Er führte sie zu ihrem Platz an der Frühstückstheke und stellte ihr eine große dampfende Tasse hin.

„Die Eier sind auch gleich so weit“, ließ er sie wissen, ehe er sich wieder zum Herd umwandte, um Emmas Frühstück auf einem Teller anzurichten.

„Hast du irgendwelche speziellen Wünsche, was du heute machen möchtest? Mich darfst du nämlich nicht fragen. Da fallen mir nur lauter Dinge ein, bei denen wir nicht außer Haus kommen und sogar nicht einmal Kleidung bräuchten.“

Cayden grinste breit über seine Schulter.

 

„Gerne.“

Emma nahm den Pott voll Tee zwischen ihre Hände und hielt sich daran fest. Da sich noch Dampf über die Oberfläche kräuselte, war der Tee sowieso zu heiß für Emma, um ihn zu trinken. Daher genoss sie nur den Geruch von Früchten aus der Tasse und dem von Eiern, Speck und anderen Köstlichkeiten, die sich in ihrer Abwesenheit in der Küche verbreitet hatten.

Caydens schelmisches Lächeln erwidernd versuchte Emma über seine Frage nachzudenken.

„Da fallen dir also gleich mehrere Dinge ein?“, meinte sie mit einem Grinsen und konnte nicht ganz umhin, sich ein paar dieser Varianten vorzustellen. Was ihr Herz und auch eine tiefer gelegene Körperstelle sofort zustimmend zum Klopfen brachte. An so einem verregneten Sonntag konnte man schon auch einfach zu Hause bleiben. Im Bett oder ... in der Badewanne?

Emma überlegte sich gerade, wie praktisch die Schwangerschaft im Bezug auf Sex doch zu sehen war. Immerhin brauchten sie nicht über Verhütung oder dergleichen nachzudenken. Jetzt war es eindeutig egal und sowieso zu spät.

Sie lächelte.

„Was meinst du eigentlich, wann wir anfangen sollten, uns Gedanken über das Baby zu machen? Ich meine, was man alles tun, kaufen, parat haben muss und das alles. Neun Monate sind lang, aber sie können auch ziemlich schnell vergehen. Ich möchte nicht ... unvorbereitet dastehen.“

Das Einzige, was sie jetzt noch nicht besprechen wollte, war ein Name. Denn, vielleicht würden sie irgendwann im Laufe der Zeit herausfinden, was es werden würde. Danach konnten sie immer noch Listen schreiben, sich zanken und sich hoffentlich am Ende auf einen Namen einigen.

 

So schnell, wie sein Grinsen gekommen war, verblasste es auch wieder, da sein Gesichtsausdruck nun eindeutig nachdenklich wurde, als Emma das mit dem Baby fragte. Er wusste nicht genau, was er darauf antworten sollte, also schwieg er erst einmal ganz und bereitete ihr gemeinsames Essen fertig zu.

Als er schließlich die Teller auf den Tisch stellte und sich neben Emma setzte, rührte er nachdenklich in seinem eigenen Tee herum.

„Um ehrlich zu sein, ich weiß es noch nicht. Immerhin, ich arbeite noch daran, mich überhaupt mental darauf einzustellen. Schließlich hast du es mir erst gestern erzählt. Mir geht da noch … so einiges im Kopf herum. Aber ich denke, wir bekommen das schon irgendwie hin.“

Tatsächlich machten ihm momentan andere Dinge Kopfzerbrechen. Aber darüber konnte er mit Emma nicht sprechen. Das war sein Ding und das musste er auch selbst regeln. Er wusste nur nicht, wie das alles noch werden würde. Aber zumindest eines war sicher. Er liebte Emma. Er wollte bei ihr sein und er freute sich auf das Baby. Alles andere stand davor zurück. Das würde er so bald wie möglich auch klar machen.

„Weiß es eigentlich schon deine Mutter? Und was ist mit deinen Mitbewohnern?“

 

Oh ...

Emma senkte ihren Blick auf ihre Hände, als Cayden so verhalten auf ihre Frage reagierte und anstatt sie direkt zu beantworten, dazu überging, das Frühstück weiter vorzubereiten.

Da war offenbar eindeutig der falsche Zeitpunkt für so eine Frage gewesen. Aber Emma hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass es Cayden unangenehm sein könnte. Immerhin war er derjenige von ihnen beiden gewesen, der das Ganze absolut positiv aufgenommen hatte. Er hatte doch gesagt, dass er sich auf das Baby freute!

Mit einem kleinen Kloß im Magen sah Emma ihn von der Seite an, nachdem Cayden sich zu ihr gesetzt hatte.

Ihm ging noch Einiges im Kopf herum? Dann ... freute er sich doch nicht? Jetzt, wo sich die Nachricht zu setzen begann?

Der Kloß in ihrem Magen wurde größer und schwerer und Emma sah das Ei auf ihrem Teller mit einem Blick an, der genau sagte, dass sie ihr Frühstück jetzt nicht mehr wirklich anrühren wollte.

Ich will es aber gar nicht 'irgendwie hinbekommen'.

Jetzt nicht mehr. Nicht, nachdem Cayden so absolut dagegen gewesen war, dass sie das Baby nicht bekam.

Wenn sie sich schon für die Schwangerschaft – für das Baby – entschied, dann wollte sie es auch gut machen. Alles. Von der Schwangerschaft angefangen, über die Planung und auch für die Zeit, in der das Baby dann da war, wollte sie vorbereitet sein.

Ihr wurde kalt und eine Gänsehaut krabbelte über Emmas Arme, die sich allerdings mit einem großen Schluck heißem Tee einigermaßen vertreiben ließ.

Er hatte ja Recht. Es war alles noch ziemlich frisch und ... erschreckend. Immerhin hatte Emma sich nach einem Tag noch die Seele aus dem Leib geheult. Da konnte sie von Cayden nicht verlangen, dass er Feuer und Flamme war.

Dann reden wir eben nicht darüber. Erst irgendwann. Später.

„Ja, meine Mom weiß es. Kathy und Rob noch nicht.“

Emma nahm noch einen Schluck Tee und sprach dann weiter, als hätte ihre Frage gar nicht im Raum gestanden.

„Wir könnten ins Te Papa gehen. Es gibt eine Wanderausstellung über Wale. Würde dich das interessieren?“

 

Er hatte zwar bereits seine Gabel zur Hand genommen, aber er konnte sie nicht dazu benutzen, sich ein Stück des Gemüses aufzupicken, das er dann irgendwie hinunterwürgen würde.

Cayden war nicht dumm. Ganz im Gegenteil sogar, er konnte inzwischen ganz genau einschätzen, wenn etwas in der Luft hing und das tat es momentan tatsächlich bleischwer, gerade, weil Emma mit ihrer nächsten Frage ein so vollkommen anderes Thema aufnahm.

Wie schon zuvor antwortete er auch dieses Mal nicht gleich, sondern rang viel mehr mit sich selbst und stocherte dabei lustlos in seinem Essen herum.

„Ich muss Ersatz für Stella und dich finden“, begann er schließlich vorsichtig damit, seine Gedanken mit Emma zu teilen.

„Sie wird bald nicht mehr hier sein und so wie die derzeitige Auftragslage aussieht, wirst du alleine viel zu viel Stress bekommen. Das will ich nicht für dich. Das Baby soll in Ruhe wachsen und du so stressfrei wie möglich die Schwangerschaft erleben können. Für mich selbst, werde ich auch jemanden suchen müssen, der mir Arbeit abnimmt. Da ich jetzt nicht mehr bis spät abends im Büro sitzen, sondern mehr Zeit mit dir verbringen will und was Vanessa angeht …“

Nun, da wusste er gar nicht weiter. Außer, dass er so nicht mehr leben konnte. Nicht mit Emma an seiner Seite und mit einem Baby in Aussicht. Aber gerade das waren Gründe, weshalb er den Vertrag nicht so einfach auflösen konnte.

Er war nun einmal, was er war. Er brauchte Blut und es sich einfach von der Straße zu holen, war auf Dauer viel zu gefährlich. Vanessa wusste wenigstens Bescheid, sie konnte er dazu benutzen. Er musste es sogar, wenn er die nächste Woche schadlos überstehen wollte …

Aber allein der Gedanke daran, dass er offiziell zu dieser Frau gehörte und nicht zu Emma, begann ihm immer mehr zu schaffen zu machen. Diese ganze Verwicklung war absolut … daneben. Schließlich sollte etwas so Machtvolles wie die Liebe klar definiert sein und trotzdem, warum war sie oftmals so schwierig?

Cayden legte die Gabel weg und seufzte, während er sich über die Schläfen rieb.

„Ich weiß es ja auch nicht“, gab er schließlich zu.

 

Ein paar Haarsträhnen fielen ihr über die eine Gesichtshälfte, als Emma halb überrascht, halb schockiert aufsah. Er wollte Ersatz für sie finden? Kompletten Ersatz?

„Du meinst, ich soll nicht mehr für dich arbeiten?“, begann sie vorsichtig zu fragen, konnte aber die Größe, die dieses Thema für sie hatte, nicht verbergen. „Gar nicht mehr?“

Emma war schon klar, dass sie irgendwann nicht mehr würde arbeiten können. Aber sie hatte an die Zukunft gedacht. In ein paar Monaten. Wenn sie so schwanger war, wie Stella jetzt. Wobei Emma sich das immer noch nicht vorstellen konnte. Dass sie jemals so schwanger sein würde.

Aber einmal davon abgesehen wollte Emma ihren Job nicht aufgeben. Sie musste Geld verdienen! Gerade das Baby war ein Grund. Die Sachen, die es brauchen würde, kauften sich nicht von selbst.

„Cayden, das geht nicht. Ich muss und ich möchte arbeiten. Du kannst mir nicht einfach kündigen.“ Inzwischen schwang das Entsetzen über die bloße Idee sehr deutlich in ihrer Stimme mit. Aber das ging auch wirklich nicht. Selbst wenn er es wollte, gab es da so etwas wie Kündigungsschutz für Schwangere und wie kam er überhaupt –

Ihr blieb der Mund offen stehen, als er als Nächstes davon sprach, dass er auch für sich selbst jemanden suchen musste.

Emma starrte Cayden so groß an, wie ihr die ganze Sache auf einmal vorkam. Mein Gott, sie war so blauäugig gewesen. Und beinahe wäre sie auch noch auf Cayden sauer geworden. Und dabei ... hatte er sich sehr viel mehr schlaue Gedanken gemacht, als sie bisher. Er war schon so viel weiter mit seinen Sorgen, Ideen und der Planung. Und da sagte er ihr, er wüsste nicht, wann sie damit anfangen sollten.

Gerade wollte Emma sich entschuldigen und etwas Versöhnliches sagen, als Cayden ihr mit der Erwähnung von Vanessas Namen das Fell gegen den Strich bürstete. Instinktiv fuhr Emma die Krallen aus und versuchte trotzdem alles, um Cayden nicht einfach damit übers Gesicht zu fahren.

Trotzdem hörte man die stark erkämpfte Selbstbeherrschung aus jedem Ton, den sie von sich gab.

„Über sie will ich nicht reden.“

Es reichte, dass er an sie dachte. Dass er diese Giftspritze sah und sonst was mit ihr machte. Hinter verschlossenen Türen und ohne dass Emma es wissen durfte. Weil sie einen Vertrag hatten, weil es wichtiger für Cayden war, als alles Andere, weil ...

Emma stöhnte und legte ihren Kopf in ihre Hand, während sie sich mit den Ellenbogen auf der Küchentheke abstützte.

„Wirklich. Das ist ... deine Sache. Dass ich deine Ehefrau nicht leiden kann, ist wohl klar. Dass sie mich hasst, kann ich auch verstehen. Daher werde ich mich da raushalten. Was ihr beide zu klären oder welchen Vertrag ihr zu erfüllen habt, geht mich nichts an.“

Sie würde auch ein uneheliches Baby mit ihm auf die Welt bringen. Auch wenn Emma der Gedanke, dass er auch dann noch jede Woche mit Vanessa irgendwo in einem Raum verschwinden würde, den Emma oder sein Kind nicht betreten durften, fast umbrachte.

 

Cayden ließ sein unberührtes Essen ganz stehen und drehte sich auf dem Hocker zu Emma herum, so dass er ihr in die Augen sehen konnte.

„Ich werde dich nicht kündigen. Aber bis du in den Mutterschaftsurlaub gehen kannst, wirst du noch viel Stress haben, und wenn Stella dann weg ist, wirst du das auch noch alleine aushalten müssen. Daher will ich jemanden finden, der den Posten ganz ausfüllt, so dass du entlastet bist und außerdem, warst du doch eigentlich gar nicht als meine persönliche Assistentin vorgesehen. Zumindest nicht auf Dauer. Deine Interessen liegen doch in der Grafikabteilung und ich nehme dich schon jetzt so sehr in Anspruch, dass ich gar nicht weiß, wann du das letzte Mal etwas für dein Studium machen konntest.“

Er lehnte sich weiter vor und streckte langsam die Hand nach ihr aus. Vorsichtig strichen seine Fingerknöchel über ihre Wange, während er sie sanft ansah.

„Ich will und werde dir deine Arbeit nicht wegnehmen, Em. Aber ich will auch nicht, dass du zu einer dieser Mütter wirst, die so lange arbeiten müssen, wie es ihnen möglich ist.“

Und was Vanessa anging … er würde nicht mehr über sie reden. Auch wenn gerade das das Thema war, an dem er am Intensivsten arbeitete und sich im Unklaren war. Doch davon musste Emma ohnehin nichts wissen.

 

„Ich ...“

Emma hatte den Mund geöffnet, um irgendetwas dagegen zu sagen, aber gerade fiel ihr absolut kein Argument ein. Cayden hatte Recht mit allem, was er gerade angeführt hatte. Und Emma musste zugeben, dass sie wirklich schon ewig nichts mehr für die Kurse an der Uni gemacht hatte. Noch nicht einmal zum Spaß hatte sie etwas am Mac gezeichnet, obwohl sie sich am Anfang noch so darüber gefreut hatte, dass sie den im Büro benutzen durfte.

„Meinst du denn, dass es vielleicht auch besser wäre, wenn ich ... die Abteilung wieder wechsle?“

Sie senkte den Blick und drehte mit ihren Fingern am Saum von Caydens Hemd herum. Irgendwann würde man es sehen. Dass Emma schwanger war. Und dann war die natürlichste Frage, wer denn der zweite Teil der Eltern war. Was sollte sie dann machen? Die Wahrheit sagen, konnte sie nicht. Nicht, solange Cayden verheiratet war.

Oh Gott, daran hatte sie bis jetzt gar nicht gedacht!

Dieser Vertrag war absolut bindend und wichtig für Cayden. Er bestand darauf, dass er weiterlief. Das ...

Sie sah ihn so entsetzt an, dass sich Caydens Hand etwas nachdrücklicher auf ihre Wange legte.

„Ich ...“, begann sie von Neuem und räusperte sich dann, um auch ihren Gesichtsausdruck wieder unter Kontrolle zu bekommen.

„Du hast Recht. Wir machen es so, wie du denkst. Ich will bloß nicht zu lange zu Hause sitzen und kein Geld verdienen. Immerhin ...“

Oh man, konnte sie denn wirklich so dumm sein? Ihr Geld, ihr Gehalt kam doch auch von Cayden! Sie lag ihm so oder so auf der Tasche!

 

Cayden strich ihr beruhigend über die Wange und zwang sich dazu, ebenfalls ruhig zu bleiben, auch wenn das Thema ihn selbst ganz schön aufwühlte, je mehr er darüber nachdachte. Immerhin war es sehr viel komplizierter, als es auf dem ersten Blick den Anschein machte.

„Wenn du es willst, kannst du nach dem dein Ersatz eingeschult ist, in die Grafikabteilung wechseln, oder auch weiterhin, so wie Stella den neuen Assistenten oder die Assistentin unterstützen. Das überlasse ich ganz dir. Wenn du aber das Gefühl hast, dass es dir zu viel wird, dann kannst du auch früher in den Mutterschaftsurlaub gehen. Das ist wirklich kein Problem, Em.“

Auch wenn er sie damit vermutlich bevormundete, aber Herrgott noch mal, sie war schließlich von ihm schwanger und so überraschend es für ihn selbst auch noch wahr, er liebte sie wirklich. Da konnte niemand von ihm verlangen, dass er einfach ohne jeglichen persönlichen Beweggrund handelte.

„Solange du mit mir nicht die alte Diskussion führst, dass wir nicht mehr in dem Zeitalter leben, wo Frauen noch am Herd standen, während Männer das Vermögen nach Hause brachten. Halt mich ruhig für altmodisch, weil ich das auf jeden Fall auch sein kann, aber ich finde es nicht verkehrt, wenn die Frau sich gerade in so einer Lage, einmal eine Pause gönnt und nicht ständig die Angst im Nacken sitzen haben muss, wie sie bloß ihre Familie ernähren soll, sondern sich stattdessen an dem Mann anlehnt, der dafür verantwortlich ist.“

Da sein Ton etwas härter geworden war, weil er in diesem Punkt wirklich nicht mit sich verhandeln lassen wollte, fügte er nun ruhiger hinzu, während er Emmas Hände in seine nahm: „Sei also bitte nicht zu stolz, meine Hilfe anzunehmen. Das Geld ist da. Mehr als ich je ausgeben könnte. Was das angeht, musst du dir wirklich keine Sorgen machen.“

 

„Weißt du ...“

Sie streichelte mit ihren Daumen über seine Finger, während sie im Kopf die Worte vorformulierte, die sie ihm sagen wollte. Es sollte nicht hart oder abweisend klingen. Denn das wollte sie bestimmt nicht.

„Ich will dich nicht vor den Kopf stoßen. Es ist ja so, dass das Baby unseres sein wird.“

Sie sah zu ihm auf und lächelte unsicher. Das war das erste Mal, dass Emma es wirklich so betrachtete. Es war nicht ihr Baby oder ihre Schwangerschaft. Es würde ihr gemeinsames Kind sein. Das war ... unglaublich.

„Aber genau das kann ich noch nicht realisieren. Ich kann mir einfach noch nicht vorstellen, dass mein Körper sich so verändern wird, dass alles anstrengender für mich ist. Vielleicht bin ich dir in ein paar Monaten schon sehr dankbar dafür, dass du mich entlastest. Bestimmt.“

Wieder senkte sie den Blick und fuhr leise, aber verständlich fort.

„Aber ich hab etwas gegen Abhängigkeit. Wenn möglich, möchte ich auf meinen eigenen Füßen stehen. Und dass jetzt alles so ... schnell geht, macht es für mich noch schwieriger.“

Das zuzugeben war gar nicht so leicht. Aber sie sollte es ihm lieber jetzt sagen, als ihn irgendwann wirklich kalt damit zu erwischen.

„Wir sind erst zwei Wochen zusammen. Zwei Wochen. Das ist ... nicht lange. Ich habe ein paar Mal bei dir übernachtet und werde ein Kind von dir bekommen. Das ist ... irgendwie total wahnwitzig. Vor diesen zwei Wochen hätte ich mir noch nicht einmal zugetraut, mit einem Mann zusammenzuleben ...“

Emma verstummte und dachte nun länger nach, bevor sie Cayden wieder ansah.

„Ich weiß, dass wir das alles gut machen werden. So gut, wie wir es können, sowieso. Aber ich werde über meinen Schatten springen müssen, um mich an dich zu lehnen. Das ist ... nun einmal nicht so meine Stärke.“

 

Er verstand es durchaus, was sie ihm sagen wollte. Aber das hieß nicht, dass er es auch einfach so hinnahm. Dennoch widersprach er Emma nicht.

Cayden wusste, dass die Frauen von heute anders tickten, als jene vor zum Beispiel hundert Jahren und je weiter man in der Zeit zurückreiste, umso unwahrscheinlicher wurde es, dass Frauen, die einen Mann zur Seite hatten, trotzdem um ihre Unabhängigkeit von ihm kämpften. Es war … Cayden war einfach so erzogen worden, dass ein Mann die Verantwortung für seine Familie trug und alles tat, um ihr ein gutes Leben in Sicherheit zu ermöglichen. Was sonst hätte er für eine Funktion in einer Familie haben können? Sie waren nicht umsonst biologisch so darauf programmiert. Vampire vielleicht sogar noch stärker als Menschen, denn ihre Frauen waren wirklich vom rein Körperlichen von ihrem Schutz abhängig. Gerade in der Schwangerschaft.

„Ich verstehe das“, meinte er schließlich.

„Mir selbst fällt es schwer, mich überhaupt auf irgendjemanden zu verlassen, wenn es um mein Leben geht. Mein bester Partner fürs Leben war immer schon ich selbst. Aber ich hoffe, dass irgendwann der Tag kommen wird, an dem du mich brauchst und ich beweisen kann, dass du dich auf mich verlassen kannst. Bis dahin werden wir uns eben irgendwie einig werden müssen. Dann gibt es eben ein paar Diskussionen mehr in unserer Beziehung. Dafür sind wir beide dickköpfig genug.“

Cayden lächelte, strich Emma über die Wange und lehnte sich zu ihr hinüber, um ihr einen Kuss zu geben. Vorerst zog er einen strategischen Rückzug vor. Sie würden sich schon irgendwie einig werden.

„Und was deinen Vorschlag angeht. Die Wanderausstellung über die Wale würde mich wirklich interessieren. Aber erst, nachdem wir etwas gegessen haben.“

 

„In Ordnung.“

Damit war das winzige Kriegsbeil – das mehr die Größe eines Zahnstochers gehabt hatte – begraben und Emma begnügte sich damit, es vielleicht irgendwann später wieder ausgraben zu müssen. Die Sachen, die sie vage angesprochen hatten, waren noch nicht vom Tisch. Teils leider, aber andererseits mussten sie es sich ja nicht schwieriger machen, als es ohnehin der Fall war. Das Leben war manchmal kompliziert und schwer genug. Und Dickköpfigkeit half nicht gerade, das zu ändern. Da hatten sie wohl beide etwas, an dem sie arbeiten sollten.

Emma schlang Cayden die Arme um den Hals und küsste ihn, bevor sie sich kurz an ihn kuschelte und die Augen schloss.

„Ich mag Wale“, meinte sie nun wieder leise kichernd.

„Aber dich mag ich lieber.“

Was sie mit einem weiteren Kuss bestätigte, bevor sie sich wieder gerade hinsetzte und einen Blick auf ihr Spiegelei warf.

„Gibst du mir eine Cocktailtomate ab?“

39. Kapitel

Am Montagmorgen kam es ihm merkwürdig unrealistisch vor, wieder zu arbeiten.

Das ganze Wochenende lang hatte er keinen einzigen Gedanken an die Arbeit verschwendet, und wenn er es getan hatte, dann nur deshalb, weil er sich Überlegungen über Emmas und seine Zukunft in der Firma gemacht hatte. Aber nichts was mit der Arbeit an sich zu tun hatte, die ihm plötzlich nicht mehr wie eine Befreiung von Langeweile, sondern viel mehr wie eine bedrückende Last vorkam.

Cayden liebte seine Arbeit. Das auf jeden Fall, aber momentan hätte er lieber noch länger mit Emma im Bett gelegen, sie im Arm gehalten und richtig ausgeschlafen. Denn momentan fühlte er sich alles andere als fit und ersehnte den Zeitpunkt von Vanessas Ankunft verzweifelter denn je herbei, obwohl sich zugleich auch alles bei dem Gedanken daran in ihm sträubte. Doch sein Instinkt war bisweilen stärker als seine Gefühle und der sagte ihm, dass er inzwischen ziemlichen Durst litt und es gerade die Kleinigkeiten immer deutlicher ans Licht brachten.

Die Angespanntheit in seinen Muskeln. Das permanente Stechen in seinen Schläfen. Der trockene Mund, obwohl er bereits eine ganze Flasche Wasser getrunken hatte. Die Gereiztheit nervigen Kunden gegenüber, die er kaum noch bändigen konnte und mit denen er früher so überhaupt kein Problem gehabt hatte. Aber am meisten fiel es ihm durch seine mangelnde Konzentrationsfähigkeit auf.

Cayden musste sich immer wieder dazu zwingen, zu seiner Arbeit zurückzukehren und dennoch schweifte er immer wieder zu Emma und dem Baby ab.

Das Wochenende war wirklich eines der Interessantesten gewesen, das er seit langem erlebt hatte. Sehr aufschlussreich, reich an Überraschungen und zugleich besonders intensiv. Ganz ohne Arbeit. Er hätte sich beinahe daran gewöhnen können, einmal das mit den Überraschungen abgesehen. Davon brauchte er nicht so viele, wenn er Emma hatte, die ihm genug Abwechslung schenkte.

Sein Blick wanderte von den Papieren auf seinem Schreibtisch zur Tür hinüber.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, zu wissen, dass Emma dort draußen war, ihrer Arbeit nachging und er einfach nur ein paar Schritte machen müsste, um bei ihr zu sein.

Er könnte mit ihr zusammen in die Teeküche gehen und ihr dort einen Kuss stehlen, so wie er es schon einmal getan hatte. Bei Gott, er müsste noch nicht einmal dieses Büro verlassen, um das zustande zu bringen.

Ein Knopfdruck würde genügen. Ein einziger Vorwand, um sie in sein Büro zu holen und dort könnte er sehr viel mehr tun, als sie zu –

Das Telefon klingelte, wodurch er so heftig zusammenzuckte, dass das Plastikgehäuse seines Kugelschreibers, mit dem er schon die ganze Zeit spielte, zwischen seinen Fingern protestierend knackte.

Vollkommen entgeistert starrte Cayden das bimmelnde Gerät an, als würde es gerade einen Lapdance auf seinem Tisch veranstalten, anstatt ihn aufzufordern, abzunehmen.

Noch zwei Mal klingelte es, bis er sich so weit gefasst hatte, dass er abhob, nicht jedoch ohne sich vorher noch einmal gründlich zu räuspern, als würde ihm das helfen, seine Gedanken an Emma fallenzulassen.

Es half auch nicht, dass er die nächste halbe Stunde damit verbrachte, sich mit einem weiteren dieser lästigen Kunden über eine Klausel zu streiten, die ihm selbst absolut unwichtig vorkam. Aber trotzdem konnte er nicht so einfach nachgeben und dem Kerl sagen, er solle sich das Scheißding auf die Stirn tätowieren lassen. Stattdessen übte er sich noch verbissener in Höflichkeit.

 
 

***

 

Die Zeit bis zur Mittagspause schien sich ewig hinzuziehen und die Arbeit immer mehr zu türmen, anstatt weniger zu werden. Cayden konnte es sich einfach nicht erklären.

Gut, er war heute nicht so effizient, wie er sollte, aber er hätte nicht gedacht, dass ihn das alles in seinem Zustand so verdammt zusetzte, dass er am liebsten mit einem Wisch seinen ganzen Schreibtisch leer gefegt hätte.

Gerade diese Gedanken brachten ihn jedoch dazu, noch sturer die anstehende Arbeit in Angriff zu nehmen und dafür sogar seine kostbare Mittagspause zu opfern, da er sonst nie rechtzeitig fertig werden würde, um pünktlich am Abend Schluss machen zu können.

Ein vergeblicher Versuch, denn er würde es selbst dann nicht schaffen, wenn er mit vampirischer Effizienz arbeiten würde. Wie immer stünde ihm eine halbe Nacht Überstunden bevor, die er sich selbst nicht einmal auszahlte, da er Arbeit als seine Freizeitbeschäftigung ansah. Zumindest in dieser Phase seines Lebens. Zudem gingen ihm jetzt die Arbeitsstunden am Wochenende ab, die er allerdings nur allzu gerne für Emma geopfert hatte. Denn eigentlich … war es jetzt so, dass er gar nicht mehr arbeiten wollte. Wirklich nicht. Obwohl sich das selbst für ihn seltsam anhörte. Aber wenn er eine Wahl hätte, er würde immer nur bei Emma sein wollen. Solange bis sie ihn satthatte, und selbst dann würde er es noch immer wollen.

Er war verliebt. Gott war sein Zeuge, es hatte ihn so richtig erwischt. Und das, obwohl er so etwas seinem alten Herz gar nicht mehr zugetraut hätte. Schließlich konnte er nicht nur Vanessa die Schuld daran gegeben, dass ihre Ehe noch immer nur auf dem Papier eine solche war, um ehrlich zu sein, war er selbst auch nicht mehr bereit gewesen, mehr an Gefühlen zu investieren. Gut, es war wirklich nicht leicht, sie zu mögen, wenn man sie einmal besser kannte, aber wenn sie es beide ein bisschen besser versucht hätten, vielleicht wäre es möglich gewesen.

Doch Cayden musste sich nichts vormachen. Was seine Gefühle für Emma anging, war es bisher keinem Menschen in den letzten hundert Jahren mehr gelungen, sie so intensiv entstehen zu lassen und das, obwohl ihre Beziehung alles andere als leicht war. Aber vielleicht war es ja auch gerade das, was sein Herz wieder hatte richtig leben lassen.

Nichts war schlimmer für einen Vampir als Langeweile. Aufregung lockte sie an wie Motten ins Licht und Emma war wirklich und wahrhaftig aufregend. Dabei war er gerade erst dabei, sie zu entdecken, während vieles von ihr noch im Verborgenen lag.

Und sie war von ihm schwanger. Ein Grund mehr sein Herz an sie zu hängen.

 
 

***

 

Heute verließ Emma sich in erster Linie auf ihre Augen. Mit Musik auf den Ohrhörern konzentrierte sie sich auf die vielen Aufträge und anstehenden Termine, die noch geordnet in den Kalender eingetragen werden mussten. Das Telefon hörte sie zwar, weil sie die Musik nicht zu laut aufgedreht hatte, aber meistens wurde das Telefonat sofort von Stella oder Cayden persönlich entgegen genommen und Emma hatte gar nichts damit zu tun. Sie hörte eher einmal den Anrufbeantworter ab und versorgte die ankommenden E-Mails, während sie mit dem Fuß unter ihrem Schreibtisch den Takt der Lieder mitklopfte. Eigentlich konnte man das für eine private Assistentin als recht unprofessionell werten, aber hätte Emma sich nicht abgeschottet, hätte sie sich gar nicht auf die Arbeit konzentrieren können. Oder – was noch schlimmer wäre – sie hätte Stella mehr erzählt, als gut war.

Oh man, sie sah aber auch so hübsch aus mit ihrem Babybauch. Dazu die glückliche Ausstrahlung und diese natürliche nette Art, die Stella an sich hatte ... Ja, da gäbe es definitiv ein großes Risiko, dass Emma ihr von dem Baby erzählte.

Umso mehr hängte Emma sich in die Arbeit, versuchte eisern nicht zu offensichtlich zur Bürotür zu schielen und auch vor sich selbst nicht zu stark darauf zu hoffen, dass Cayden mal wieder herauskommen und sich seinen Tee oder Kaffee in der kleinen Küche selbst machen würde. Denn selbst wenn, konnte sie ja nicht einfach hinterher gehen und sich ihm an den Hals werfen. Obwohl das sehr, sehr verführerisch war.

 

„Na, sowas.“

Stella setzte ihre Teetasse wieder ab, an der sie schon eine ganze Weile nippte, da gerade wieder etwas Ruhe im Büro eingekehrt war und sie ein bisschen sinnloses Herumsitzen ganz gut vertragen konnte, obwohl sie sich das früher nie erlaubt hätte. Doch Emma war eine ausgezeichnete Hilfe, oder besser gesagt, nun war eher Stella die Hilfe, aber wie man es auch drehte und wendete, sie war ihrer Kollegin mehr als dankbar.

Als diese sie fragend ansah, deutete Stella mit einem Fingerzeig auf das Telefon, auf dessen Anzeige neben der Eins ein Besetztzeichen leuchtete.

„Also entweder gehen hier alle Uhren falsch, oder der Chef arbeitet heute ausnahmsweise auch in seiner geheiligten Mittagspause durch. Was, so weit ich mich erinnern kann, noch nie in meiner Laufbahn hier vorgekommen ist. Hmm …“

Stella nahm einen weiteren Schluck von ihrem Tee und sah Emma fragend an.

„Kommt es eigentlich nur mir so vor, oder ist er in letzter Zeit anders? Heute scheint er irgendwie mit den Gedanken nicht bei der Sache zu sein. Letzte Woche war er total aufgekratzt. Am Donnerstag hing da auf einmal eine tief betrübte Wolke über ihm, als wäre jemand gestorben, obwohl er sich Mühe gegeben hat, es nicht zu zeigen. Freitags war er dann wieder total übergedreht, als könne er irgendetwas kaum erwarten. Ich versteh den Mann einfach nicht. Er wird doch erst 32. Midlifecrisis kann es dann ja wohl noch nicht sein. Oder werde ich einfach paranoid?“

Just in diesem Moment ging Emmas Gegensprechanlage los und Stella hätte sich fast mit Tee bekleckert, als sie verwundert der Stimme ihres Chefs zuhörte und ihre Augen ungefähr so groß wie Untertassen wurden, ehe sie sie argwöhnisch zusammen kniff.

„Bevor du in die Mittagspause gehst, könntest du mir bitte noch die E-Mail von Patrick Brown ausdrucken und zwei Mal kopieren, Em? Ich bräuchte die Unterlagen um spätestens zwei Uhr. Die E-Mail schicke ich dir gleich.“

Cayden wartete nicht einmal auf eine Antwort und es dauerte nicht lange, bis das Licht neben der Eins erneut aufleuchtete.

Was zum Henker ging hier vor sich?

„Hab ich irgendetwas verpasst, oder spielen meine Hormone schon so verrückt, dass ich zu halluzinieren beginne?“

Stella blickte Emma mit großen Augen an.

Ihr Boss hatte sie geduzt.

 

Emma hob fragend eine Augenbraue und zog sich die Stöpsel aus den Ohren.

Je weiter Stella ausführte, was sie mit „sowas“ gemeint hatte, desto mehr zog Emma gedanklich den Kopf ein. Was die Stimmungsschwankungen anging, konnte sie sich ungefähr denken, was los gewesen war. Zumindest das am Freitag. Alles andere ... könnte sie bestimmt auch erklären. Aber sie sollte es nicht, wenn Stella nichts mitkriegen durfte. Und das war nun einmal der Fall. Zumindest hatte Cayden nicht gesagt, dass sie sich nicht mehr vor den anderen Angestellten verstecken –

„Bevor du in die Mittagspause gehst, könntest du mir bitte noch die E-Mail von Patrick Brown ausdrucken und zwei Mal kopieren, Em? Ich bräuchte die Unterlagen um spätestens zwei Uhr. Die E-Mail schicke ich dir gleich.“

Emma klickte sofort ihren Posteingang an, noch bevor das Signal der eingegangenen Mail erklingen konnte. Da war die Mail von Mr. Brown. Dann nur noch ausdrucken.

Emmas Blick streifte Stella.

Sie stutzte, lächelte dann etwas verhalten und begriff ehrlich gesagt überhaupt nichts, als Stella ihre Frage stellte.

„Ähm ... Ich kenne mich mit Hormonen nicht besonders gut aus, aber ... was meinst du denn überhaupt?“

 

Stella sah Emma skeptisch an, dann in ihre halbleere Tasse und schließlich wieder zu Emma hinüber.

„Sag bloß, dir ist das gerade eben nicht aufgefallen?“, versuchte sie es erneut, aber es brachte offensichtlich überhaupt nichts, darum stellte Stella schließlich nachdenklich ihre Tasse ab und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, die Hände auf ihrem Bauch, wo das Baby gerade ein paar Turnübungen machte. Aber daran war sie inzwischen gewohnt.

„Er hat dich gerade geduzt, oder nicht? Und ich hab noch nicht gehört, dass dich jemand hier Em genannt hätte. Aber das ist doch eine Abkürzung für Emma, oder nicht? Sag, hab ich bei euch beiden irgendwas verpasst oder so? Ich meine, okay, du warst jetzt eine Woche weg, aber das erklärt nicht diesen Sinneswandel. Hm … Naja, vielleicht ist er momentan auch wirklich einfach nur schräg drauf. Schließlich hat er seine Frau jetzt schon fast zwei Wochen lang nicht gesehen. Ich weiß ja, wie es ist, wenn mein Mann ein paar Tage wohin muss. Danach ist er immer besonders anhänglich und würde mir auch noch das Kissen aufschütteln, wenn ich es zulassen würde. So sind sie eben.“

Stella lächelte verliebt, als sie an Sean dachte. Keine Ahnung, wieso andere Paare nach ein paar Jahren Ehe sich nicht mehr in die Augen sehen konnten, ohne zu streiten und sich schon bald darauf scheiden ließen. Sie war verliebt wie am ersten Tag, nur ohne die Angst, ihn gleich wieder zu verlieren, stattdessen mit einem Übermaß an Vertrauen, das sie sich seit Jahren erarbeitet hatten.

 

„Ich ...“

So musste es sich anfühlen, wenn einem das Herz in die Hose rutschte. Zumindest hatte Emma das Gefühl, dass sie sich auf einmal nicht mehr rühren konnte, sondern in ihrem Stuhl festgeklebt war, während sie Stella wie ein aufgeschrecktes Kaninchen ansah.

„Er ...“

Stella wusste in diesem Moment sicher nicht, wie dankbar Emma dafür war, dass die Sekretärin manchmal einfach über ihre eigenen Fragen hinweg redete. Da blieb oftmals gar keine Zeit, eine Antwort zu formulieren. Aber gerade jetzt hätte Stella noch Stunden weiterreden können und Emma wäre auch dann nichts eingefallen, was sie hätte sagen können. Außer ...

„Ja, das wird es sein. Er ... vermisst sie bestimmt.“

Gott, das fühlte sich an, als müsse Emma bei jedem Wort ätzende Pillen hinunterschlucken. Sie selbst war bloß froh, dass sie Vanessa zwei ganze Wochen nicht hatte sehen müssen. Und wenn sie an die letzte Situation dachte, in der sie ihr begegnet war umso mehr. Diese blöde Kuh war ...

„Ich mach mal die Kopien.“

Emma stand entschlossen auf, verbannte Vanessa aus ihren Gedanken und ließ sich von dem Silikonpüppchen nicht die Laune verderben.

 

Der Besucherausweis machte ein klackendes Geräusch, als Adam sich von der Rückwand des Fahrstuhls abstieß und in den breiten Flur des Büroraums trat, der sich vor ihm öffnete.

Lauter fleißige Menschen über Computertastaturen gebeugt oder am Telefon ... Hm. Der Herr mit Halbglatze telefonierte allerdings mit seiner Schwester. Und der Blonde suchte ein Apartment. Nein, ein Haus.

Adams Lippen verzogen sich zu einem kleinen Schmunzeln.

Er ging direkt auf das Büro am Ende des Flurs zu und traf wieder auf die Dame, die er schon bei seinem ersten Termin getroffen hatte. Sie war immer noch hier.

„Tag. Sagen Sie mal –“

Was zum ...?!

Eben noch im Begriff mit einem möglichst charmanten Lächeln an den Schreibtisch der Assistentin heranzutreten, fuhr eine eisige Klinge durch Adams Körper und ließ in konzentriert tief die Luft einsaugen. Sofort waren seine Fänge bereit, sich in jeden zu bohren, der dieses ... diesen ...

Adam wirbelte auf dem Absatz herum und starrte die Person an, die für das Kraftfeld verantwortlich sein musste. Letztes Mal war sie nicht hier gewesen. Es hatte ihn nicht umhauen können, wenn es ein sekundäres Kraftfeld war. Vielleicht hatte er es auch nicht berührt, aber jetzt.

Wo bist du ... Hexe!?

Dann ... sah er sie.

„Du ...?“

Sie schien sich wie in Zeitlupe ganz herumzudrehen. Oder war es nur sein Herz, das schneller schlug, als es selbst sein Körper erlauben dürfte?

Sie war es. Aber sie konnte es doch gar nicht sein. Das war ... schlichtweg unmöglich! Hexe hin oder her, sie konnte nicht hier sein! Adam hatte ... Er hatte sie sterben sehen!

 

Stella setzte ein höfliches Lächeln auf, als jemand der ihr bekannt vorkam, auf sie zuging. Natürlich kannte sie ihn nicht persönlich, aber diese Lippen … vergaß man nicht so schnell und danach diese strahlenden Augen.

Gerade wollte sie sich eine Antwort zurechtlegen, dass ihr Chef momentan nicht erreichbar war, während der Mann zu einer Frage ansetzte, als sich plötzlich ihre Haare im Nacken aufstellten und sie eine Gänsehaut bekam.

Als hätte sie es geahnt, drehte sich der Mann ruckartig und doch ungewöhnlich geschmeidig auf dem Absatz herum, dabei einen Ausdruck auf dem Gesicht, als wollte er gleich jemanden umbringen.

Stella beruhigte sich kein bisschen, als sie sah, wem dieser Blick galt.

Sofort war sie aufgesprungen, so schnell ihr Bauch es eben zu ließ, um Emma wenn nötig zur Seite zu eilen, während ihre andere Hand nach dem Telefonhörer griff, um im Fall der Fälle den Sicherheitsdienst zu rufen.

Ihr Finger schwebte bereits über dem Zahlenfeld, doch irgendetwas hielt sie noch zurück, während ein innerliches Zittern sie durchlief.

 

Emmas starrte den Mann an. Die Kopien zwischen beiden Händen blickte sie zu ihm auf und war für einen Moment wie gebannt, bevor sie das Gefühl von 'im falschen Film' in ihr breitmachte.

Ihre Augen huschten zu Stella, die aufgesprungen war. Sie hielt bereits den Telefonhörer in der Hand, was es für Emma nur noch schwieriger machte, ihren Kopf wieder so zu drehen, dass sie den Mann direkt ansah. Und direkt meinte in diesem Fall auch ... direkt. Alles andere schien in einen grauen Schleier zu verfallen und Emma fühlte ganz kurz, wie ihre Knie weich wurden, während sie nicht wusste, was sie sagen sollte.

Was war denn nur los?

 

Nein, sie war es nicht. Als würde er aus einem seltsamen Tagtraum aufwachen, verschoben sich ein paar Linien im Gesicht der Frau. Ihre Augen wurden runder und weicher, ihr Mund ein bisschen schmaler. Sie sah ihr auf jeden Fall ähnlich. Erschreckend ähnlich, wenn man es genau nahm. Aber nein, sie war es nicht.

Allerdings – und das brauchte nicht Adams Magen ihm zu bestätigen, wenn man den Zustand seiner Fänge betrachtete – konnte sie nicht leugnen, dass sie eine von Jenen war. Und zwar nicht nur eine X-beliebige.

„Bitte entschuldigen Sie.“

Das mit dem Sprechen, ohne auch nur den Ansatz der Zähne zu zeigen, war ein Kunststück, das er häufiger üben sollte. Bestimmt sah er gerade wie der Vollidiot aus, der er war. Himmel nochmal, er hätte die Frau beinahe angefallen!

„Ich wollte nur zu Ihrem Chef. Ich hatte heute Morgen eine E-Mail geschickt.“

Vorsichtig und möglichst unauffällig trat er von dem Schutzfeld hinunter und fühlte sofort, wie zumindest die Anspannung in seinem Nacken nachließ.

„Und ich ... hab wenig geschlafen. Da bin ich immer schreckhaft. Ich hoffe, ich hab mich nicht zu furchterregend aufgeführt.“

Er hatte mehr Grund, Angst vor ihr zu haben als umgekehrt. Ein Vampir konnte eine Hexe ihres Kalibers nur erwischen, wenn er entweder höllisch schnell oder ...

„Hat er denn Zeit? Der Boss?“

 

Stella beobachtete die Situation mit dem Blick eines Wachhundes, entschied dann jedoch, dass sie den Augenblick nicht noch weiter ausreizen wollte, also legte sie den Hörer wieder auf, ließ den Mann aber keine Sekunde lang aus den Augen und versuchte auch mit Emma den Blickkontakt zu halten, um mögliche nonverbale Botschaften von dieser aufzufangen, während der Fremde sich wieder etwas beruhigte. Aber das änderte nichts an ihren flatternden Nerven, und dass sie das Gefühl hatte, sämtliches Blut wäre aus ihrem Kopf gewichen.

Sie wollte sich lieber hinsetzen, aber dieser Schwäche gab sie sich nicht hin.

„Gehen Sie rein“, kam es überraschend aus ihrem Mund. Denn im Normalfall hätte sie vorher bei Mr. Calmaro nachgefragt, ob es für ihn passte, aber wenn hier jemand einen Anschiss nötig hatte, dann dieser unverschämte Kerl.

Hoffentlich wusch Calmaro ihm anständig den Kopf. So wie ihr Boss momentan drauf war, würde sie das nicht wundern, und da sie glaubte, er wäre ohnehin nicht unterzukriegen, konnte sie diesen nervösen Kerl auch ruhig zu ihm hineinschicken, ohne ihn vorher zu warnen. Da hatte sie heute irgendwie keine Skrupel. Außerdem wollte sie Emma aus der Schussbahn haben.

 

„Danke.“

Diesmal verkniff er sich das Lächeln, da es eher noch zur Anspannung in der Luft betragen würde, anstatt sie zu reduzieren. Stattdessen drehte er sich langsam zur Bürotür herum und versuchte das Knistern des Kraftfelds und die Bewegungen der Hexe in seinem Rücken zu ignorieren. Was wirklich schwierig war. Man drehte einer Hexe nur freiwillig den Rücken zu, wenn man sein Leben gern vorzeitig beenden wollte. Zumindest hatte das Leben es Adam so beigebracht.

„Und nochmal ...“

Die kleine Frau mit den nussbraunen Augen sah ihn so schockierend offen an, dass er fast vergaß, was er hatte sagen wollen.

„Entschuldigung für mein Benehmen.“

 

„Stella!“

Emma fuchtelte wild mit den Blättern in ihrer Hand herum und deutete mit den Kopien zwischen dem Besucher und der Bürotür hin und her. Gleichzeitig versuchte sie lautlos irgendwie herauszufinden, was in Stella gefahren war, diesen Typen einfach zu Cayden ins Büro zu lassen! Der Kerl konnte doch sonst was vorhaben! Was, wenn er was Übles im Schilde führte?! Sie sollten –

„Und nochmal ...“

Emma lächelte entgegen sämtlicher ihrer Instinkte. Der Mann war ihr unangenehm. Nicht unbedingt auf eine Art, die sie wirklich körperlich bedrohlich empfand, aber ... da war irgendwas faul.

Als er in Caydens Büro getreten war, sah Emma auf die Kopien der E-Mail in ihren Händen und warf das Bündel zerknüllter Blätter anschließend direkt in den Mülleimer.

„Wer ist das denn? Den hab ich noch nie gesehen. War der schon mal hier? Gab’s Ärger?“

 

Stella zuckte ungerührt mit den Schultern, da sie endlich wieder durchatmen konnte, nachdem der Kerl einfach so in Calmaros Büro spaziert war.

Schade, dass sie nicht sehen konnte, was dort drin vor sich ging, es hätte sie doch irgendwie brennend interessiert. Doch vorerst setzte sie sich wieder überaus umständlich hin, um eine Antwort für Emma noch ein bisschen hinauszuzögern. Nur um dann doch wieder aufzustehen, damit sie sich einen neuen Tee machen konnte, bevor Emma in die Mittagspause ging.

Erst in der Teeküche rief sie um die Ecke: „Ach, der war letzte Woche schon mal hier. Hat ein Beratungsgespräch von Calmaro gewollt, allerdings dachte ich nicht, dass er wieder kommt. Ansonsten hat unser Chef immer noch etwas zu potentiellen Kunden zu sagen, aber dieser hier ist danach einfach gegangen und Calmaro hat nichts weiter erwähnt. Wenn du was Genaueres wissen willst, musst du ihn schon selbst fragen. Willst du Tee?“

 

Cayden hob überrascht den Kopf von seinen Notizen, als plötzlich völlig unangekündigt die Bürotür aufging und ihm ein noch nicht allzu vertrautes Gesicht erschien.

Eigentlich hätte es ihn nicht überraschen sollen, trotzdem zog er fragend eine Augenbraue hoch und legte seinen Stift weg.

„Haben Sie irgendetwas vergessen?“

Ein Hauch von einem bitteren Geruch drang zu ihm herüber, direkt vom Luftzug, der durch die sich schließende Tür ausgelöst worden war. Es roch nach Furcht. Stellas, und Emma konnte er auch wittern, obwohl Stellas Angst fast alles überdeckte.

Sofort verfinsterte sich Caydens Gesicht und er spannte sich instinktiv an, während sich seine Fänge unaufgefordert meldeten. Wie er es doch hasste, wenn man ihn auf dem falschen Fuß erwischte. Besser gesagt: Wenn er schon gereizt war, ihn noch mehr reizte.

„Suchen Sie vielleicht Ärger?“

 

Die Farbe seiner Augen flackerte leicht, als sie in Windeseile sein Gegenüber prüften. Wie auch beim letzten Mal saß Calmaro lässig hinter seinem Schreibtisch und ließ sich erst bei seiner Frage die Stimmung anmerken, die Adam auf seiner Zungenspitze schmecken konnte.

Damit der Andere sich nicht auch noch provoziert fühlte, streckte Adam seine leeren Handflächen nach vorne.

„Nein.“

Ein paar Schritte tat er ins Büro hinein, was aber in dem riesigen Raum fast keinen Unterschied machte. Er hätte genauso gut an der Tür stehenbleiben können.

„Es tut mir leid, dass ich die Damen erschreckt habe. Das war absolut nicht meine Absicht.“

Immer noch auf der Hut und jede kleinste Bewegung von Calmaro abwägend, fuhr Adam fort.

„Ich hatte einfach nicht damit gerechnet, dass Sie sich mit einer Hexe ...“

Adam kniff sich in die Nasenwurzel und schloss für einen tiefen Atemzug die Augen. Sein Magen dankte ihm immer noch nicht, dass er so unvorsichtig in dieses Magiefeld getappt war.

„Wie halten Sie das bloß aus? Es ist zwar nur ein sekundäres Dreiecksfeld, aber die junge Dame hat ganz schön Potential. Ich hätte an Ihrer Stelle – mit Verlaub – ganz schön Angst um meinen Arsch.“

Zumal wenn ich mit eben jener Frau etwas Derartiges am Laufen hätte wie der Vampir, der immer noch wie ungerührt hinter seinem großen Schreibtisch thronte.

 

„Wenn ich Sie wäre, hätte ich auch ganz schön Angst um meinen Arsch, aber sicherlich nicht wegen meiner Assistentin. Die Sie im Übrigen überhaupt nichts angeht, verstanden?“, knurrte Cayden finster und bleckte dabei absichtlich seine Fänge. Vor seinesgleichen musste er sich schließlich nicht verstecken, gerade dann nicht, wenn er sich ohnehin nicht ganz kontrollieren konnte.

Erst recht nicht, wenn Adam sich offensichtlich vor Emma in Acht nahm, was wiederum bedeutete, dass sie vor dem Vampir nicht absolut sicher war, wenn dieser sich bedroht fühlte. Cayden glaubte nämlich nicht, dass dieser so einfach seine Überlebensinstinkte abschalten könnte. Nicht nachdem, was man ihm offensichtlich angetan hatte. Da konnte vermutlich auch Amnesie nichts dagegen ausrichten.

Wenn der Vampir sie auch nur einmal schräg ansah, würde er dem Kerl zeigen, dass eine Hexe noch harmlos im Gegensatz zu dem Drang – seine schwangere Frau zu beschützen – war.

„Also, was wollen Sie, wenn Sie schon einmal so meinen Terminkalender über den Haufen werfen? Aber beeilen Sie sich, ich habe schließlich nicht ewig Zeit.“

Es hätte vielleicht nach einem Witz klingen können, da Zeit etwas war, von dem ein Vampir mehr als genug hatte, aber er meinte es ernst und unterstrich die Geste auch noch, in dem er auf die Uhr auf der Telefonanzeige blickte. Eigentlich hätte er den Kerl gleich wieder rauswerfen sollen. Aber man bekam nicht oft die Gelegenheit, mit seinesgleichen zu reden. Aus gutem Grund.

 

Adams Blick nahm Einzelheiten wie kleine Hinweiszettelchen an seinem Gegenüber wahr. Ehering, was bedeutete, er war offiziell verheiratet. Das hieß, dass die Frau, die er so vehement und sofort vor einem Fremden verteidigte, entweder etwas gegen Eheringe hatte oder seine Geliebte war. Da Frauen nicht dazu neigten, sich gegen die Ehe und dessen Symbole zu stellen, tippte Adam auf Letzteres. Nun blieb eigentlich die Frage, wem Calmaro tatsächlich mehr zugeneigt war, aber seiner Reaktion nach zu schließen, war das schnell beantwortet.

„Ich weiß, dass sie mich nichts angeht. Wie ich bereits sagte, tut es mir leid, dass ich sie erschreckt habe. Ich hatte und habe nicht vor, ihr etwas zu tun. Es war nur ...“

Unglaublich merkwürdig.

„... überraschend.“

Da Calmaro ihn nicht sofort hochkant aus dem Büro geworfen hatte, wagte Adam sich noch ein paar Schritte vor, griff achtsam nach der Lehne des Besucherstuhls und wartete das winzige Kopfnicken des anderen Vampirs ab, bevor er sich auf dessen Erlaubnis hin setzte.

„Ich habe mich inzwischen ein wenig über die Unseren in Wellington und Umgebung informiert. Und da Sie mir mit der Information über diesen Tasken scheinbar sehr weiter geholfen habe, wollte ich Sie um einen weiteren Hinweis bitten.

Wenn ich allerdings Ihren Zeitplan wirklich durcheinanderbringe, lasse ich mich auch auf später vertrösten. An Zeit mangelt es ja nicht.“

Ein Lächeln. Ein Friedensangebot.

 

Cayden schwieg eine Weile, in der er den anderen einfach nur stumm beobachtete und musterte. Dabei hatte er Zeit, langsam wieder von seinem Trip herunter zu kommen, auf den ihn sein Blutentzug die ganze Zeit schon brachte und auch seine Fänge zogen sich schließlich wieder zurück.

Wie schon so oft an diesem Tag griff er wieder einmal nach seinem Wasserglas, um daraus zu trinken und obwohl es kein Ersatz für das war, was er wirklich brauchte, so befeuchtete es doch zumindest seine Kehle. Kurzweilig.

„Ich war auch ziemlich überrascht, als sie damit ankam“, meinte er schließlich deutlich ruhiger, auch wenn sein Blick immer noch stechend scharf war und es auch blieb. Dennoch, seine Antwort auf das Friedensangebot. Er war schließlich nicht absichtlich auf Streit aus.

„Was den Hinweis angeht, kann ich Ihnen nicht wirklich weiterhelfen. Ich kenne zwar ein paar Vampire, aber Sie werden wohl verstehen, wenn ich Ihnen nicht so einfach Informationen über sie geben kann. Zumindest würde ich persönlich das nicht wollen. Sie bestimmt auch nicht.“

Cayden lehnte sich etwas entspannter in seinem Stuhl zurück und befand, dass es ohnehin an der Zeit war, eine kleine Pause einzulegen, schließlich forderte Stress noch mehr seiner Kräfte, was wiederum die Dauer seiner Durststrecke drastisch reduzieren konnte, bis es noch schlimmer wurde.

„Haben Sie denn bisher etwas Interessantes herausgefunden?“

 

„Ja, Sie haben recht. Deshalb möchte ich auch keine Telefonnummern oder E-Mail-Adressen von Ihnen, sondern nur so etwas wie eine Einschätzung.“

Da Adam sich Taskens 'Firma' etwas genauer angesehen hatte und nicht verstehen konnte, wie die Menschen um ihn herum noch nicht über diesen ganzen Mist hatten stolpern können, fühlte er sich bei Calmaro an der richtigen Stelle, was Informationen anging. Zumindest wenn es um so etwas wie 'der will dir unter Garantie an die Nüsse' ging.

„Dieser Tasken ist scheinbar einer von der Sorte, denen das Alter nicht bekommt. Zwar habe ich nicht mit ihm selbst gesprochen, aber allein von ein paar indirekten Eindrücken hoffe ich sehr, dass ich ihm in meiner Vergangenheit nicht schon einmal über den Weg gelaufen bin. Er ist ja auch noch ... einer von den Jüngeren.“

Er schüttelte verständnislos den Kopf und schlug die Beine locker übereinander.

Komisch. Er hatte gedacht, er hätte braune, nicht grüne Socken angezogen.

Ohne am zweiten Fuß zu überprüfen, ob er nicht vielleicht beides getan hatte, schüttelte Adam den Gedanken ab und nahm lieber noch eine lockerere und vor allem defensivere Haltung ein. Wenn er das richtig abschätzen konnte, sollte er sich bloß nicht zu weit nach vorn wagen.

Aber er war nun einmal ... begierig, was neues Wissen anging.

„Ihre ... Assistentin.“ Freundin, Geliebte, zukünftige Mutter seines Kindes. Was auch immer sie alles war.

„Hat sie dieses Ding da draußen ... Ich meine, weiß sie, dass es auf Vampire anspringt? Sie wird doch nicht dafür sorgen wollen, dass Sie ihr nicht zu nahe kommen.“

Diesmal war sein Lächeln ein bisschen verschwörerisch. Allerdings nur insoweit, dass man es noch unverfänglich nennen konnte. Immerhin konnte keinem Vampir entgehen, nach was und wem die hübsche Dame da draußen roch. Daraus würde Calmaro ihm keinen Strick drehen können.

 

„In der Tat. Tasken ist noch einer von den ganz Jungen, denen man am besten noch ein paar auf den Hintern gibt. Nur ist er nicht nur jung, sondern auch feige, weshalb man es nicht mit ihm alleine zu tun bekäme, sollte man sich mit ihm anlegen, sondern gleich mit einer ganzen Horde von Leuten, die einem wirklich ans Leder gehen können. Das Beste ist bisher immer noch, ihn einfach zu ignorieren. Ihn und seine Tätigkeiten, zumal es auch Vampire gibt, die das was er tut, für eine gute Sache halten und sogar verteidigen würden.“

Obwohl er eigentlich nicht vorhatte, dem anderen zu helfen, da das etwas war, das ihn im Grunde nichts anging, konnte Cayden doch nicht verhindern, dass er im Kopf bereits eine Liste von Namen zusammenstellte, über die er nachdenken konnte. Vielleicht wäre da jemand dabei, der Adam weiterhelfen –

Als besagte Person erneut auf Emma zu sprechen kam, verstummten seine Gedanken und er wurde wieder wachsam, wenn er es auch nicht deutlich zeigte.

„Sie weiß nicht, was Sie oder ich sind“, sagte er ernst, wurde dann aber ein bisschen offener. Wie oft hatte er schließlich die Gelegenheit über solche Dinge zu sprechen. Wenn er es recht bedachte … gar nicht.

„Ich weiß auch nicht genau, weshalb sie diesen Abwehrmechanismus dort draußen angebracht hat, aber wenn sie sich dadurch besser fühlt, soll es mir Recht sein. Im Übrigen hält mich dieser Schutz nicht davon ab, zur Teeküche zu gehen, wenn ich es will, oder an ihren Tisch. Auch wenn ich zugeben muss, dass es kein gutes Gefühl ist. Aber man gewöhnt sich daran. Irgendwie.“

 

„Hört sich ein bisschen so an, als hätten sie schon öfter mit dem Bübchen zu tun gehabt, als Ihnen lieb ist.“

Eine bloße Feststellung. Warum der Jungspund sich für den alten Vampir interessierte, war klar. Doch es erleichterte Adam auf leicht unerklärliche Weise, dass Calmaro dem anderen offensichtlich nicht entgegen gekommen war. „Mal ehrlich, in solche Sachen sollten sich weder die Menschen noch einer von uns einmischen. Wenn es passiert, dann ist es reiner Zufall und soll wohl so sein.“

Er zuckte mit den Schultern.

„Und wenn uns irgendwann die Puste ausgehen sollte, ist das genauso. Was bringt es, einen Übervampir zu züchten? Wundert mich ja, dass Tasken dann keinen Bammel vor seiner eigenen Schöpfung hat.“

Solche Idioten konnte man einfach nicht verstehen. Aber Tasken war eben noch nicht alt genug, um weise und vernünftig zu sein. Da brauchten Vampire oftmals länger, als die kurzlebigen Menschen.

„Hm ...“

Als er nun doch ein bisschen mehr über die Hexe aus seinem Gegenüber herauskitzeln konnte, verfiel Adam ins Grübeln. Er war schon sehr lange keiner mehr begegnet. An damals konnte er sich nur noch in Erinnerungsfetzen erinnern. Aber er wusste sehr wohl, wie das Ganze ausgegangen war. Und welche Rolle er dabei gespielt hatte.

„Dann haben Sie Glück. Soweit ich mich auskenne, könnte Miss Barnes sehr wohl dafür sorgen, dass keiner von uns beiden ihrem Schreibtisch auch nur nahekommt. Schätzungsweise ist der Zauber so schwach, weil sie ihn universell angelegt hat. Hätte sie ihn auf Vampire geeicht, sähen wir alt aus. Fragt sich bloß ...“

Er strich sich mit der Handfläche über die Wange. Es ergab ein leicht kratzendes Geräusch, das ihn daran erinnerte, dass er sich schon vor zwei Tagen hatte rasieren wollen.

„Da sie Ihnen sehr nahe steht und trotzdem nicht weiß, was Sie sind ... Sie hat keinen Grund, sich vor Vampiren zu ängstigen, hab ich recht?“

Das könnte jetzt ein Schritt zu weit gewesen sein.

Adams Nackenhärchen stellten sich auf und er verfiel in diese gleichgültige Miene, die auch sein Gegenüber perfekt beherrschte, wenn es um den Verlust von emotionaler Kontrolle ging. Wenn der andere seine Assistentin im Unwissen ließ und sich trotzdem an ihr bediente, dann hatte die Dame allen Grund dieses Dreieck da draußen aufzubauen.

 

„Wenn Sie mich fragen, halte ich es ebenfalls nicht für richtig, unserer Rasse auf die Sprünge zu helfen. Würden wir uns ebenso schnell und leicht vermehren wie die Menschen, sehen wir spätestens in zwei oder drei Jahrhunderten alt aus. Vielleicht sogar schon früher. Kaum auszudenken, wenn so viele so alt werden würden.“

Die Welt wäre schneller leer getrunken, als die Menschen sich nachbevölkern könnten und bevor das geschah, war es nur eine Frage der Zeit, bis es einem Vampir nicht mehr reichte, nur hier und da einen Schluck von jemandem zu nehmen. Selbst heute, bei all dem Überfluss, gab es immer noch welche, die gerne töteten, obwohl sie es nicht müssten.

„Was meine … Assistentin angeht, bin ich Ihrer Meinung, allerdings ist sie trotz allem weniger eine Gefahr, als es eine andere Hexe wäre. Schließlich wurde sie nicht ausgebildet und so weit ich das beurteilen kann, hat sie auch keine Ahnung, welches wahre Potential in ihr steckt.“

Zudem glaubte er nicht, dass Emma zu solchen Grausamkeiten fähig wäre, wie man sie offenbar Adam angetan hatte, selbst wenn sie sich und ihre Kräfte sehr genau kennen würde und damit umgehen könnte. Emma war nicht so und würde es auch niemals sein. Sie war ein guter Mensch. Keine böse Hexe, die jeden zur Strecke bringen wollte, der Fangzähne besaß.

Adams nächste Andeutung brachte Cayden zuverlässig dazu, erneut seine Zähne zu blecken, wenn auch nur bildlich gesprochen.

„Ich würde ihr nie auch nur ein Haar krümmen!“, fuhr er halb hoch, ehe er sich wieder zur Ordnung rief, und statt einer weiteren bissigen Bemerkung, das Wasserglas umklammerte und noch einen Schluck davon nahm.

„Aber andere unserer Art würden es tun, besser gesagt, einer hatte es sogar vor. Er hat sie einfach auf eine öffentliche Toilette gezerrt und wollte sich dort ihres Blutes bemächtigen. Wäre er nicht noch so verdammt jung gewesen, ich hätte ihn auf der Stelle von seinem Durst erlöst. Verständlich, dass ihr der Schock immer noch in den Knochen sitzt und sie vorsichtig ist, aber sie weiß bis heute nicht, mit was genau sie es zu tun hatte. Zudem gibt es genug menschlichen Abschaum auf dieser Welt.“

 

Du solltest sie nicht unterschätzen.

Das hätte Adam ihm am liebsten offen und ehrlich ins Gesicht gesagt. Denn, ob ausgebildet oder nicht, Adam selbst konnte sich nicht vorstellen, dass eine Frau, die nichts von ihren Fähigkeiten wusste, so einfach ein derartiges Schutzdreieck errichten konnte.

Trotz Calmaros offener Reaktion verschränkte Adam locker die Arme vor der Brust und verfiel kurz in tiefes Nachdenken. Der andere Mann roch nicht nach Angriffslust. Nur ein wenig angespannt. Was seine Aussage noch bestätigte. Wenn er in der jungen Frau eine Blutquelle sehen würde, hätte er wohl nicht das Problem, sich an ihrer statt an ein Wasserglas zu klammern.

Als Adam wieder hochsah, hatte sich sein Gegenüber wieder beruhigt und wartete offensichtlich auf eine Reaktion. Wobei nicht ganz klar war, welche es sein sollte. Also tat Adam das, was er in diesen ganzen Jahren am meisten getan und was ihm gute Dienste erwiesen hatte.

„Wie gut kennen Sie sich denn mit Hexen aus? Kannten sie vor ihrer 'Assistentin' denn schon einmal eine?“

 

Der Themenwechsel tat ganz gut, auch wenn es keiner von der gigantischen Sorte war, sondern trotzdem noch sehr nahe an Caydens wunden Punkt herankam. Trotzdem war es einfacher, über Hexen verallgemeinert mit einem Fremden zu sprechen, als über Emma.

„Ich bin der einen oder anderen schon begegnet. Vorzugsweise jedoch halte ich mich von ihnen fern und versuche auch weiterhin, nicht ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Für gewöhnlich lassen sie einen in der jetzigen Zeit in Ruhe, wenn man kein großes Aufsehen erregt. Sie können schließlich nicht alle von uns erwischen und zugleich müssen selbst sie irgendwann einsehen, dass wir nicht alle blutrünstige Monster sind. Auch, wenn ich bezweifle, dass das jemals wirklich der Fall sein wird. Schließlich ernähren wir uns doch alle letztendlich von Blut. Aber um zu Ihrer Frage zurückzukommen, ich ließ keine näher an mich heran, als die Klinge meines Schwerts zuließ, falls sie verstehen, was ich meine. Em– … ich meine, meine Assistentin ist eine Ausnahme. Sie hat ihr Talent nicht zu ihrem Beruf gemacht und ich hoffe, sie wird auch nie so wie ihre Vorfahren werden.“

Ansonsten hätte er ein wahrhaft bitteres Los gezogen, was seine Liebe anging. Sie waren vielleicht Feinde, was die Gesellschaft des Übernatürlichen anging, aber eben nicht von Natur aus.

 

„Verstehe.“

Zumindest, was das mit dem Sicherheitsabstand einer Schwertlänge anging. Adam selbst hätte vorhin auch gern irgendetwas gehabt, außer seinen Reißzähnen, um dem Gefühl von Déjà-vu in seinem Magen Herr zu werden. Ob ausgebildet, sich über ihre Kräfte bewusst oder nur eine Anfängerin, die mit ihrem Talent esoterische Bücher wälzte und die Vorschläge darin ausprobierte: Diese kleine Assistentin sollte Calmaro mehr Sorgen machen, als sie es offensichtlich tat. Und irgendwie hatte Adam das Bedürfnis, sein Gegenüber etwas in die richtige Richtung zu lotsen. Es wäre schade um ihn, wenn er in seinem Alter noch dem Leichtsinn zum Opfer fallen sollte.

„Das Talent einer Hexe kann man nicht rein an den Techniken messen, die sie benutzt. Ein wichtiges Indiz ist die Energie, die in ihren Konstrukten zurückbleibt, wenn die Hexe nicht mehr vor Ort ist, um es direkt zu versorgen. Wenn das Feld letzte Woche vollkommen still war, brauchen Sie sich keinerlei Sorgen zu machen.“

Ach. Sieh an ...

Adam rührte keine Wimper, lächelte aber innerlich, als er ein leichtes Zucken von Calmaros Augenbrauen wahrzunehmen glaubte.

„Sollte es anders gewesen sein, würde mich interessieren, ob sie eine Hexenklinge besitzt.“

 

Warum hatte Cayden das Gefühl, gerade belehrt zu werden?

Vielleicht bildete er sich das aber auch einfach nur ein, dennoch ließ ihn der Gedanke nicht gerade kalt, ebenso wenig wie das Wissen, das dieser Mann offenbar über Hexen hatte. Vermutlich mehr, als Cayden selbst es besaß, was wirklich beachtlich war, aber auch nicht ungewöhnlich, wenn man direkt mit dem Feind zu tun gehabt hatte. Was bei ihm zum Glück nicht allzu oft der Fall gewesen war.

„Und mich würde interessieren, was Sie täten, wenn es so wäre. Warum interessiert Sie das Thema überhaupt so sehr? Wollen Sie sich einfach nur wieder erinnern, oder macht es Ihnen einfach nichts aus, in alten Wunden zu bohren?“

Außerdem, selbst wenn er diesem Adam mehr über Emma verraten wollte, was nicht der Fall war, hätte er sie dazu auch selbst befragen müssen und sie einfach einmal so beim Abendessen zu fragen, ob sie vielleicht eine Hexenklinge vererbt bekommen hatte, wäre ziemlich unpassend gewesen. Zudem interessierte es ihn momentan wenig. Er hatte bei Gott andere Sorgen, solange sie ihn damit nicht im Schlaf überfiel.

 

Das konnte man als durchaus berechtigte Fragen ansehen. Aber Adam wollte in diesem Fall, der ganz offensichtlich verzwickter war als so manch anderer, nicht wirklich darauf eingehen. Er konnte Calmaro doch sowieso nicht davon überzeugen, dass es besser war, sich vor der Dame im Vorzimmer, die – zumindest für einen Vampir – auch ganz klar erkennbar die Dame in seinem Bett war, etwas in Acht zu nehmen. Magische Nadeln waren nur eine kurze, aber grausame Modeerscheinung gewesen. Aber das hieß nicht, dass Miss Barnes ihrem Boss nicht den Hintern ankohlen konnte, wenn sie es wollte.

„Ich würde das Weite suchen. Zumindest so lange ich nicht geklärt habe, wie Miss Barnes' Meinung zu Vampiren ist.“

Er lächelte schief und streckte nun seine Beine lang vor sich aus, während er die Fingerspitzen beider Hände aneinanderlegte.

„Aber zurück zu dem, weswegen ich schon wieder bei Ihnen auf der Matte stehe. Es geht mir um eine gewisse Liasana. Sie können mir vielleicht sagen, ob ich mich auch vor ihr lieber in Acht nehmen sollte?“

 

Allein für diese Bemerkung hätte Cayden den anderen einen Kopf kürzer machen können, doch im Grunde wusste dieser das nicht besser und er selbst wusste nicht viel über den anderen. Vielleicht war dieses Misstrauen berechtigt, wenn man einmal in einer Situation gewesen war, die einem das Leben hätte kosten können.

Außerdem bedeutete jedes Aufflackern von Wut nur, dass er Emma im Grunde nicht traute, wenn er sich von bloßen Worten schon aus der Reserve locken ließ und das stimmte nicht. Er vertraute Emma, und selbst wenn sie ihn irgendwann doch mit anderen Augen sah und ihn lieber umbrachte, als seine Gefühle für sie zu erwidern, dann wäre das Schicksal. An seinen eigenen Gefühlen konnte er schließlich nichts ändern und es würde auch weiterhin stimmen, dass er ihr kein Haar krümmen würde. Eher starb er, als ihr oder dem Baby zu schaden.

Darum ging Cayden auch gar nicht darauf ein, sondern wunderte sich stattdessen ein bisschen, dass Adam von Liasana wusste, die mehr auf der Durchreise war, als wirklich dauerhaft in Neuseeland. Nun, bei Vampiren bedeutete Durchreise meistens auch etwas anders, als bei Menschen. Sie könnte durchaus längere Zeit, bis zu ein paar Jahren hier bleiben, ehe sie weiter zog. Was wusste er schon?

„Lia ist ein Musterstück unserer Rasse und dank ihres Alters auch inzwischen mit allen Wassern gewaschen, die es braucht, um selbst als Frau in unserer Gesellschaft unabhängig zu sein. Man kann sich ausgezeichnet mit ihr über alle möglichen Themen unterhalten. Sie ist sehr weltgewandt, und wenn man ihr Vertrauen besitzt, ist sie eine wertvolle Verbündete. Ich würde nicht gerade sagen, dass es einfach ist, mit ihr in Kontakt zu treten, vor allem nicht als männlicher Vertreter unserer Rasse, aber sie ist definitiv nicht die Art von Gefahr, die Tasken darstellt. Viel mehr muss man sich in ihrer Nähe davor hüten, nicht Gegenstand ihrer beflügelnden Statements oder Ansichten zu werden, die ebenso gnadenlos wie auch oft der Wahrheit entsprechend sind. Aber ich war schon des Öfteren Mittelpunkt ihres Gesprächs und habe es auf jeden Fall überlebt. Sie hat einen gewissen Charme, dem man am Ende fast alles durchgehen lässt. Zugleich kann sie aber auch sehr ernsthaft und mitfühlend sein.

Es ist schade, dass es nicht mehr von ihrer Sorte gibt, aber wenn jemand Ihnen vielleicht helfen kann, dann ist sie es. Ihre wohltätige Ader würde gar nichts anderes zulassen, wobei man sie auf keinen Fall für naiv halten sollte. Stimmt das ungefähr mit Ihren Recherchen überein?“

 

Jetzt betrachtete Adam den Rothaarigen mit einer leicht amüsierten Miene. Da konnte man doch wirklich nicht genau einschätzen, was Calmaro so für Spielchen mit den Frauen spielte. Er war verheiratet, hatte eine Hexe zur Geliebten, über die er absolut kein Wort verlieren wollte und jetzt schrieb er romantische Lobeshymnen über eine von ihnen ...

Interessant.

Durchaus interessant. Und sogar beneidenswert, wenn man bedachte, was Adam in den letzten Jahren an Frauenbekanntschaften vorzuweisen hatte. Wobei das andere Gründe hatte, als die, dass er keine hätte finden können, die er gemocht hätte.

„Ja, in etwa.“

Mit einem Ruck erhob er sich, schüttelte ein Hosenbein korrekt über seine Schuhe und hielt Calmaro dann die Hand hin.

„Vielen Dank. Und ich hoffe, Sie nehmen mir die Sache heute nicht allzu übel. Mit dem Gedächtnis gehen einem leider auch viele Manieren verloren.“

Jetzt grinste er so breit, dass die Narben um seine Lippen unangenehm spannten.

„Wir sehen uns.“

 

Cayden wusste einfach nicht, was er von Adam halten sollte. Einerseits war es einmal wieder angenehm, jemanden seiner eigenen Art zu treffen, der nicht vollkommen durchgeknallt war, andererseits hatte dieser eine so unverblümte Art und Weise, dass man es nicht gleich persönlich nehmen durfte. Trotzdem … irgendwie … fand er ihn sogar sympathisch.

Vielleicht war das der Grund, weshalb er Adam bei der Tür noch einmal zurückrief, ehe dieser sie öffnen konnte.

„Warten Sie.“

Cayden kam geschmeidig aus seinem Sessel und zu dem anderen hinüber, wo er ihm einen Moment lang schweigend in die Augen sah, ehe er seinen Entschluss fasste.

„Ich habe nicht übertrieben, als ich sagte, dass Lia besonders für Männer unserer Art meist nicht erreichbar ist. Aber wenn Sie mir Ihre Nummer geben, könnte ich ein gutes Wort für Sie bei ihr einlegen. Das dürfte Ihnen den Start etwas erleichtern. Ob sie Ihnen allerdings weiterhelfen kann, weiß ich nicht.“

 

Er musterte den anderen Vampir kurz mit einem offen überraschten Ausdruck auf dem Gesicht. Einen Sinneswandel dieser Art hätte Adam ihm so auf die Schnelle nicht zugetraut.

Trotzdem schob er seine Hand ohne Zögern in die Innentasche seines Jacketts und holte eine kleine graue Visitenkarte heraus.

Er reichte sie Calmaro mit einem weiteren schiefen Lächeln.

„Ich liebe diese Dinger. Wissen Sie, aus wie vielen Varianten man aussuchen kann?“

Er griff wieder nach der Türklinke und drückte sie diesmal auch hinunter.

„Danke.“

Damit schloss er die Tür hinter sich und ließ den bösen Blick der Sekretärin über sich ergehen, die er mit einem kleinen Heben seiner Mundwinkel hinnahm.

„Ladys. Ich wünsche einen schönen Nachmittag. Und verzeihen sie noch einmal mein Benehmen von vorhin.“

Vielleicht sollte er Blumen schicken. Oder nein. Die Zeiten waren leider vorbei.

 

Emma sprang sofort auf, nachdem der Unbekannte das Vorzimmer verlassen hatte. Sie sah ihm nach, indem sie hinter einer großen Topfpflanze hervorlugte.

Seltsamer Kerl.

Sah nicht aus, wie ein Kunde. Obwohl die manchmal auch ziemlich ... merkwürdig waren. Aber keiner von denen trug zwei unterschiedliche Socken.

„Ich bringe dem Chef mal die Kopien rein.“

Bevor Stella antworten konnte, hatte Emma geklopft und bekam auch sofort das erhoffte 'Herein' zu hören, woraufhin sie ins Büro ging.

40. Kapitel

Emmas Gesicht sah so verlockend friedlich aus, während sie schlief, dass Cayden am liebsten ebenfalls gerne die Augen geschlossen hätte, um seiner Müdigkeit nachzugeben und eben jenen Frieden zu erlangen, der ihr offensichtlich gerade bestimmt war.

Doch er musste noch einiges erledigen, und wenn er die wertvolle Zeit mit Emma nicht dafür aufwenden wollte, dann musste er eben mit sich selbst Kompromisse schließen. Es war vielleicht auch besser, sie nicht zu lange so dicht bei sich gekuschelt zu haben.

Schon vorhin war jeder Kuss eine süße Qual gewesen, die fast schmerzhaft geworden war. Cayden wusste nicht, wie lange er das noch aushalten würde, aber er war sich im Klarem darüber, dass es nur noch schlimmer werden würde, wenn er nicht endlich trank.

Sein Blick fiel automatisch auf Emmas Hals und das genügte, um seine Fänge hervor schießen zu lassen und seine Speichelbildung anzuregen.

Angewidert von sich selbst und seiner schwachen Beherrschung löste er sich schließlich langsam von ihren Händen und schob sich unter der Decke hervor aus dem Bett.

Sofort kroch ihm eine Gänsehaut die Arme hoch, als er die kuschelige Wärme und diesen köstlichen Duft nach ihnen beiden, verlor und lautlos das Schlafzimmer verließ.

Arbeit war besser als an seinen Durst zu denken und vor allem käme er dann nicht in Versuchung, Emma im Schlaf ein bisschen anzuknabbern. Auch wenn ihm allein der Gedanke widerstrebte, so wusste er nicht mehr, wie sehr er sich selbst im Schlaf vertrauen konnte.

Vielleicht war es sogar besser, wenn sie bis zu Vanessas Ankunft wieder bei ihren Freunden schlief, so sehr er sie auch vermissen würde.

 
 

***

 

Caydens Augen brannten wie die Hölle und in seiner Stirn schien das kleine Männchen von einer Spitzhacke auf einen Presslufthammer umgestiegen zu sein.

Er konnte sich bei den rasenden Kopfschmerzen kaum noch konzentrieren, trotzdem zwang er sich dazu, erst einmal ein Glas Wasser hinunter zu stürzen, sich die Augen erneut zu reiben, einmal anständig zu gähnen und sich schließlich wieder über den Donelli-Vertrag zu beugen.

Seine Schrift war abgehakt und krakelig, sodass er seine eigenen Notizen kaum noch entziffern konnte. Das lag aber nicht nur daran, dass ihm bereits vor Müdigkeit der Blick verschwamm, sondern seine Hände zu zittern begonnen hatten.

Er musste sich nur noch bis zum Ende der Seite durchkämpfen. Danach würde er eine Pause machen.

Wenn ihm nur nicht die Augen so brennen würden …

Es war so angenehm, sie kurz geschlossen zu halten …

Und sein Kopf war auch so … schwer …

Er brauchte noch einen Kaffee, aber die Küche war so weit … weg …

Caydens Kopf, der schon auf seinem Arm gestützt gewesen war, sank schließlich endgültig nieder, der Stift rollte ihm aus der Hand und fiel zu Boden, als seine Finger ihn nicht mehr halten konnten.

Er bemerkte noch nicht einmal, dass er einschlief. Er tat es einfach.

 

Emma sah auf die Uhr neben dem Bett und rieb sich mit dem Handrücken über die Augen. Es war ... noch nicht einmal sechs.

Jetzt rubbelte sie sich über die kalte Nasenspitze und setzte sich mit einem Gähnen etwas weiter auf. Irgendwie war hier etwas faul. Zwar hatte sie vorhin nicht die Uhrzeit überprüft, aber ihr war klar, dass es lange her war, seit ihr aufgefallen war, dass Cayden nicht neben ihr im Bett schlief. Zu lange, um sie nicht zu beunruhigen.

Dazu kam, dass es in der gesamten Wohnung totenstill war. Keine Stille, die jemand hinterließ, wenn er sich geräuschlos bewegte. Sondern wirklich ... still.

Es zog Emma aus dem Bett, auf nackten Sohlen über die kalten Fußböden und zuerst in die Küche. Ihre Hoffnung darauf, dass er bloß wieder nicht zu lange im Bett hatte liegen können, wurde enttäuscht und Emma schlang sich aus einem ihr unbekannten Bedürfnis heraus, die Arme um den fröstelnden Körper.

War er gegangen? Weil er ... nicht mit ihr in einem Bett schlafen wollte?

Ein leises Gluckern aus dem Wohnzimmer brachte Emma auf eine weitere Möglichkeit. Eine, die sofort eine finstere Miene auf ihrem noch leicht zerknitterten Gesicht erscheinen ließ. Ihre Schritte wurden schneller und sie wurde schon ein bisschen stinkig, als sie durch das Wasser des Aquariums einen Schemen erkennen konnte.

Natürlich.

Gerade noch so konnte Emma das Bedürfnis unterdrücken, ihre Fäuste in die Hüften zu stemmen.

Arbeit, hm?

Er hatte Glück, dass er im Schlaf einfach nur zum Knutschen aussah und Emmas Herz dahinschmolz wie Eis in der Sonne.

„Cayden?“

Der Pulli war flauschig, als sie Cayden von hinten die Arme um den Körper schlang und ihr Gesicht in seinen Nacken kuschelte.

Sie stutzte.

Emmas Hand wanderte neben ihre Lippen in seinen Nacken und Emma stellte sich sofort gerade hin, als sie erkannte, was hier los war.

Er war krank!

Als sie die Fingerspitzen aneinander rieb, die gerade noch auf seiner Haut gelegen hatten, konnte Emma einfach nicht anders, als den Eindruck als 'fiebrig' zu bezeichnen.

„Cayden?“

Nun kniete sie sich neben ihn und legte ihre Hand auf seine Wange.

„Cayden, wach auf. Du musst ins Bett gehen. Du bist krank und hast Fieber.“

 

Es war, als würde er durch Sirup waten und als bestünde sein ganzer Kopf nur noch aus Watte. Dumpf drangen Laute an sein Ohr, allerdings konnte er sie nicht richtig identifizieren, doch sein Geruchssinn war messerscharf.

Caydens Nasenflügel bebten, als der Duft von einem warmen, lockenden Körper in seine Nase stieg.

Einen adrenalingeschwängerten Moment lang, bevor er seine Fänge in die Hand schlagen konnte, die ihn da berührte, erkannte er den Geruch und er wich erschrocken davor zurück.

Sein Stuhl knallte samt ihm in den nächsten Schrank, während er Emma mit weit aufgerissenen Augen anstarrte und sich schließlich heftig atmend und leicht verwirrt umsah.

Cayden musste nur die Papiere auf dem Boden, das kleine Nachtlager auf seinem Schreibtisch und Emma im Pyjama sehen, ehe ihm alles wieder einfiel.

Sofort wurde sein Blick entschuldigend, während er sich den steifen Nacken rieb und hinter hervor gehaltener Hand gähnte.

„Tut mir leid. Ich muss wohl eingeschlafen sein“, kam es nuschelnd hinter seiner Hand hervor, da seine Lippen-Zunge-Fangzahn-Koordination noch nicht ganz klappte.

„Wie spät–“

Sein Blick fiel auf die Armbanduhr, die neben seiner Schreibtischlampe lag und ihn verhöhnte.

Nein, oder? Es konnte doch nicht schon so spät sein?

Er fühlte sich ganz und gar nicht ausgeruht, alles tat ihm weh und ihm war verdammt kalt. Aber nichts gegen seine staubtrockene Kehle, die bei jeder Schluckbewegung wie Säure brannte.

Vollkommen verkatert griff er nach seinem halbleeren Wasserglas und trank den Rest leer, ehe er Emma wieder ansah, die er vermutlich mit seinem Aufwachmanöver fast zu Tode erschreckt hatte.

„Du bist schon wach?“, fragte er wenig geistreich. Sein Verstand wollte momentan noch nicht so schnell in die Gänge kommen.

 

Emma plumpste ziemlich unelegant auf ihren Hintern und wäre weiter umgefallen, wenn sie sich nicht mit den Händen abgestützt hätte. Erschrocken und mit heftig klopfendem Herzen sah sie zu Cayden hoch, der halb stolpernd im nächsten Möbelstück gelandet war.

Herrgott ...

„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.“

Wer hier wen erschreckt hatte, blieb in diesem Moment offen und Emma versuchte vom Boden hochzukommen, ohne dabei eine vollkommen schlechte Figur zu machen. Ihrer Laune hatte der Adrenalinstoß allerdings nicht besonders weiter geholfen.

„Es ist fast sechs. Aber das ist egal. Du gehst wieder ins Bett.“

Und diesmal tatsächlich!

Emma ging zu ihm hinüber, nahm seine eiskalte Hand und fing an, ihn hinter sich her in Richtung Schlafzimmer zu ziehen.

„Ich mach dir noch einen kräftigenden Tee und eine Wärmflasche, wenn du sowas besitzt. Aber dann ruhst du dich aus.“

Sie drehte den Kopf, um ihn gleich jetzt scheltend anzusehen. Zur Vorbeugung, sozusagen.

„Und wenn du jetzt mit Büropflichten kommst ... Mit Fieber geht man nicht arbeiten. Sonst liegt man danach gleich eine ganze Woche im Bett.“

 

Dass ihn einmal jemand so derart überrumpeln konnte, kam auch relativ selten vor, aber Emma gelang es wie auf wundersame Weise.

Cayden verstand zwar, was sie ihm sagte, aber sein Gehirn hatte es gerade einmal geschafft, das Gesagte zu verarbeiten, als er schon vor dem Bett stand.

Einfach so hatte sie ihn hierher gezogen, obwohl er sich sicher war, dass er das sicherlich nicht einfach so freiwillig getan hatte.

Wie leicht sie es fertigbrachte, ihn aufs Bett zu zwingen, war schon erschreckend. Vor allem, da er fast wie ein Baum um- und in die Kissen fiel.

Trotzdem versuchte er sich sofort wieder aufzurappeln.

„Em, ich bin nicht krank. Ich werde nie krank, weshalb ich auch keine Wärmeflasche besitze. Das ist also gar nicht nötig.“

Außerdem konnte er nicht einfach faul im Bett rumliegen, während die Arbeit ihm über dem Kopf wuchs. Was sie mehr oder weniger ja schon getan hatte.

„Im Übrigen hast du mich gerade einfach auf dem falschen Fuß erwischt, okay? Tut mir leid, dass ich noch nicht ganz wach war, aber jetzt bin ich es und nach einer schönen langen Dusche, werde ich auch wieder fit sein. Also mach dir keine Sorgen, ich habe alles im Griff.“

Er kämpfte sich auf seine Knie hoch und umfasste Emmas Gesicht, damit sie ihm direkt in die Augen sehen konnte.

„Ich bin nur ein bisschen verkatert, weil ich statt neben dir in diesem weichen Bett, auf einem harten Sessel zusammen mit Verträgen geschlafen habe. Da würde es doch jedem Mann so gehen“, versuchte er sie mit sanfter Stimme zu überreden, damit sie ihm nicht noch einmal so einen Blick wie eben im Flur zuwarf. Der konnte wirklich beängstigend sein.

Um seine Worte noch zu bekräftigen küsste er sie zart auf die Lippen, was einer reinen Folter glich, da er den Geschmack ihres Blutes regelrecht auf seiner Zunge schmecken konnte, wenn er ihr so nahe war. Trotzdem zwang er sich zu einem unschuldigen Lächeln.

„Darf ich jetzt bitte wieder aus dem Bett?“

 

Emma war schon klar, dass sie Cayden nicht wie ein kleines Kind behandeln konnte. Was aber nichts daran änderte, dass ihr diese Erkenntnis gegen den Strich ging.

„Und ob du krank bist.“

Sie fuhr ihm mit ihrer Hand in den Nacken und spürte sofort wieder die Hitze unter seiner Haut und den leichten Schweißfilm, der ihn vollkommen auskühlen würde, wenn er sich nicht ins warme Bett legte.

„Soll ich ein Fieberthermometer holen, um dich zu überzeugen?“

Als er sie küsste, wurden Emmas Züge sofort weicher. Sie seufzte.

„Kann schon sein, dass du alles im Griff hast. Aber wenn du dir noch mehr abverlangst, wird sich das bloß rächen. Leg dich zumindest noch ein paar Stunden hin. Bis zehn. Können wir uns darauf einigen?“

Sie hatte die Hoffnung, dass er länger im Bett bleiben würde, wenn er feststellte, wie gut ihm die Ruhe tat. Und selbst wenn es nur ein paar Stunden waren, würde das bestimmt schon einmal weiterhelfen. Auf jeden Fall mehr, als wenn er es ignorierte und sich im Büro hinter seinen Schreibtisch klemmte.

 

„Ich …“

Nun, was konnte er darauf schon erwidern? Cayden wusste, dass Emma recht hatte. Er wusste, dass er zwar nicht krank war, es ihm aber nicht mehr gut genug ging, um sich weiteren Stress auszusetzen und vielleicht … half ein wenig Schlaf ja noch die Symptome etwas aufzuschieben oder sie zumindest erträglicher zu machen.

„In Ordnung.“

Er gab sich geschlagen.

„Aber wirklich nur bis zehn Uhr.“

Cayden strich ihr noch einmal über die Wange, ehe er sich resignierend wieder ins Bett legte und die Decke bis zu seinem Kinn hochzog. Er fror inzwischen wirklich erbärmlich.

„Eine Wärmeflasche habe ich wie gesagt nicht, aber Tee … wäre schön.“

Eigentlich wollte er Emma nicht darum bitten, schließlich war sie nicht dafür verantwortlich, dass es ihm wieder besser ging. Das musste er schon selbst erledigen. Doch wenn sie ihn schon so vehement dazu zwang, im Bett zu bleiben, würde es ohnehin nicht anders gehen.

Cayden kuschelte sich enger in das Kissen und sah zu Emma auf.

„Danke, Em.“

Das meinte er ernst. Dass sie sich überhaupt Sorgen um ihn machte, bedeutete ihm sehr viel. Niemand sonst tat es.

Doch als Emma ihm schließlich den Tee brachte, war er schon längst wieder vor Erschöpfung eingeschlafen.

 

„Keine Ursache.“

Sie streichelte ihm über die Haare und küsste ihn sanft, bevor sie in die Küche hinüber ging, um Tee zu kochen. Allerdings blieb es nicht beim normalen Kräutertee, den Cayden zuhauf in seiner großen Schublade lagerte. Emma zog verschiedene Döschen heraus, mischte die Sorten und suchte dann in den Schränken nach einer Thermoskanne. Für eine Tasse lohnte sich der Aufwand ohnehin nicht, und wenn er später noch Tee wollte, brauchte Cayden nicht extra aufzustehen, um sich einen zu machen.

Und die Kanne hatte noch eine ganz andere, positive Nebenwirkung. Sie war aus Metall.

Emma drehte sie vor dem Befüllen um und sah sich den Boden an. Sie klopfte dagegen, zeichnete mit der Fingerkuppe einen Kreis darauf und holte dann eine spitze Steakgabel aus der Besteckschublade. Der Zinken hinterließ keine tiefe Rille, als Emma damit an dem Boden der Thermoskanne herum ritzte. Aber es reichte, um die spiegelverkehrte Rune anzubringen und sie anschließend zu aktivieren.

Der Tee würde so schmecken, wie sonst auch. Vielleicht etwas frischer. Aber die Wirkung war jetzt auf jeden Fall verstärkt, und wenn das eingeritzte Symbol tief genug war, konnte sie Cayden damit ziemlich gut aufpäppeln. Denn dass er noch weniger aß, wenn er sich nicht gut fühlte, glaubte Emma zu wissen.

 
 

***

 

„Vielen Dank und auf Wiederhören.“

Stella legte auf und schob die Papiere vor sich zurecht. Das war der letzte Anruf für heute, den sie entgegen nehmen würde, aber es erleichterte sie nicht wirklich. Stattdessen gab es einen anderen Grund, warum sie schon wieder auf die Uhr sah.

„Sag mal, Emma. Müssen wir uns wegen ihm sorgen machen?“

Sie nickte in Richtung Bürotür. Der Boss war heute noch nicht aufgetaucht, obwohl es geheißen hatte, er würde nur etwas später kommen. Doch inzwischen war es schon nach Mittag.

 

„Ich weiß nicht genau.“

Doch, sie wusste. Und zwar, dass sie sich ziemliche Sorgen um ihn machte. Schon seit er nicht pünktlich um zehn Uhr im Büro erschienen war, hatte kaum etwas Emma auf ihrem Bürostuhl halten können. Sie fluchte innerlich schon seit Stunden und ärgerte sich maßlos darüber, dass sie nicht einfach schnell Stella Bescheid geben und zu Cayden nach oben fahren konnte.

Es war ja okay, wenn er im Bett blieb. Vermutlich war das sogar besser. Aber wenn es ihm so schlecht ging, dass er sich gar nicht abmeldete ... Vielleicht sollten sie einen Arzt anrufen?

„Ich werd ihm mal eine Nachricht auf sein Blackberry schicken.“

Hey Du! Na, wie geht’s dir? Wir machen uns Sorgen hier unten. Wenn du was brauchst, melde dich bitte. Und wenn es nur mehr Tee oder eine Wärmflasche ist. Hab dich lieb! Emma

 

Cayden kam gerade aus der Dusche, als er den Piepton seines Blackberrys im Wohnzimmer hörte. Seltsam. Eigentlich hätte sein Gehör bereits etwas nachlassen müssen, aber er hatte es immer noch einwandfrei gehört. Zudem fühlte er sich auch etwas besser. Vielleicht der viele Schlaf oder Emmas Fürsorge. Ihr Tee war lecker gewesen und hatte seiner trockenen Kehle etwas Linderung verschafft. Leider war er inzwischen leer.

Da er es nicht eilig hatte, nachzusehen, wer ihn erreichen wollte, da sein Blackberry heute schon x-mal losgegangen war, trocknete er sich erst einmal gründlich ab und zog sich dick an.

Cayden fühlte sich immer noch schwach, und wenn er nur daran dachte, sich in einen Anzug zu zwängen und hinunter ins Büro zu fahren, wollten seine Kopfschmerzen ihn auch schon wieder umbringen. Ansonsten blieben sie eigentlich recht erträglich.

Erst nachdem er einen halben Liter Orangensaft hinunter gekippt und sich schwer auf die Couch hatte fallenlassen, ging er seine eingegangenen Nachrichten durch, wobei er nicht umhin konnte, die Uhrzeit zu bemerken.

Eigentlich konnte er es fast nicht glauben, dass es schon so spät war. Schließlich hatte er das Gefühl nur ganz kurz weggenickt zu sein. Aber offenbar war seine zeitliche Wahrnehmung ebenso daneben, wie alles andere auch im Moment.

Kurz überflog er die Anrufs- und Nachrichtenliste, antwortete aber schließlich nur einer einzigen Person – Emma.

Danke. Ich hab’s hier recht gemütlich, außer dass mir meine Krankenschwester fehlt. Ich hoffe, bei euch ist alles in Ordnung. Wenn ihr mich braucht, komme ich sofort, aber wenn es nicht allzu dringend ist … würde ich mich lieber noch ein bisschen hinlegen. Danke noch mal für deinen Tee und mach heute nicht zu lange. Ich liebe dich. Cayden

 

Alles klar, ruh' dich aus. x

„Er lässt ausrichten, dass er immer noch krank ist. Wenn aber was Wichtiges sein sollte, können wir ihn erreichen.“

Da Stella sowieso in weniger als einer Stunde nach Hause gehen würde, war das für die Assistentin nicht mehr allzu wichtig. Aber Emma wollte trotzdem etwas zu der E-Mail gesagt haben, die gerade von Cayden im Vorzimmer eingetroffen war. Zwar nur in ihrem persönlichen Posteingang, aber das war auch besser so. Vor allem, wenn man den Satz bedachte, der Emma ein warmes Lächeln ins Gesicht zauberte.

 
 

***

 

„Ich weiß nicht genau, welchen Farbcode er möchte.“

Emma suchte sich durch den Aktenschrank in Caydens Büro und versuchte die Farbpalette für die Flyer einer bestimmten Band zu finden. Aber die Akte war nicht da. Zumindest nicht da, wo sie normalerweise war. Hatte er sie mit nach oben genommen?

„Hör mal, ich kann die Unterlagen gerade nicht finden. Aber es ist das gleiche Grün wie bei dem Schriftzug mit den Tourdaten ... Natürlich ist der grün.“

Sie warf die Schublade zu und schloss auch die Bürotür hinter sich, als sie wieder ins Vorzimmer ging.

„Ich weiß den Code nicht. ... Nein. ... Grün jedenfalls ... Ja, genau dasselbe Grün. Exakt dasselbe Grün.“

Emma rollte mit den Augen und ließ sich wieder hinter ihren Schreibtisch in den Stuhl sinken. Zwei weitere Anzeigen für besetzte Leitungen leuchteten an ihrem Telefon und dieser Grafiker machte sie langsam aber sicher wahnsinnig. Mit Betonung auf 'langsam'.

„Das mit den Tourdaten. ... Die DATEN! Nicht die Orte ... Ja, genau ... Ja, sie sind grün.“

Oh Gott, das war doch –

„Ja ... Ja. Gern geschehen.“

Und das hatte sie jetzt wirklich eine ganze halbe Stunde ihres Lebens gekostet? Es war zum Schreien!

Bloß gut, dass schon wieder das Telefon läutete.

„C&C Corp. Mr. Calmaros Büro. Was kann ich für Sie tun?“

Während sie zuhörte, verschob sie ein paar E-Mails in die Unterordner des Posteingangs und zog sich dann ihr Notizbuch heran.

„Nicht im Yasmin Inn, sondern im Bakaroo ... Ja, geht in Ordnung. Können Sie uns bitte eine E-Mail mit Bildern der Location und den Daten schicken? Wie viele Plätze zum Beispiel ... Danke ... Ihnen auch. Wiederhören.“

Also vom Yasmin Inn ins –

„Ey!“

Emma verhunste das zweite O bei Bakaroo, weil ihre Hand erschrocken über ihr Notizbuch zuckte, als man sie so von der Seite anquatschte. Ihr Kopf zuckte hoch und sie sah den Mann an, der vollkommen aus dem Nichts und vor allem lautlos neben ihrem Schreibtisch aufgetaucht war.

Er war schmal, blass und hatte eine beeindruckende Hakennase, die auf seine schmalen Lippen hinunter zeigte. Eigentlich hätte er ganz sympathisch aussehen können, wäre da nicht der seltsame Ausdruck auf seinem Gesicht gewesen, der Emma sämtliche Härchen auf ihren Unterarmen aufstellte.

„Is' Calmaro da? Ich hab’n Termin.“

Emma brauchte gar nicht im Kalender nachzusehen, was den Mann anscheinend ein wenig ärgerte. Zumindest kräuselte sich sein Mund und er senkte seinen Kopf irgendwie mit einer drohenden Geste, als Emma ihm antwortete.

„Mr. Calmaro ist nicht im Büro. Heute den ganzen Tag nicht und vermutlich auch Morgen nicht.“

„Aber ich hab 'nen Termin. Komme im Namen von Mister Tasken.“

Okay, ein weiterer Grund, den Kerl unsympathisch zu finden.

„Das tut mir leid, aber ich kann nichts daran ändern. Mr. Calmaro ist krank und nicht hier.“

„Hör' mal, Puppe –“

Emma zuckte in ihrem Stuhl zurück und ihre Augen schlossen sich kurz in einer seltsamen Reaktion auf die Bewegung, die sie nur schemenhaft hatte wahrnehmen können. Hatte der Kerl sie ... schlagen wollen?

Nur vorsichtig öffnete Emma die Augen wieder, nachdem sie ein vollkommen unnatürliches Zischen wahrgenommen hatte. Es erinnerte sie an ... ein Fauchen?

Der Mann war ein Stück von ihrem Schreibtisch zurückgetreten und funkelte sie aus seltsam ungesund braunen Augen an.

„Morgen komm ich wieder. Hörst du? Wenn er dann nicht da ist, werd ich ungemütlich. Alles klar?“

41. Kapitel

Cayden schaltete zufrieden den Herd ab, und verpackte auch noch den gebratenen Fisch so auf einem Teller, dass er ihn zum Wärmen ins Rohr stellen konnte, damit er zusammen mit den Beilagen nicht kalt wurde, bis er Emma von der Arbeit loseisen konnte.

Sie war spät dran. Zwar nicht für seine Verhältnisse, aber normalerweise arbeitete sie nur so lange, wenn auch er es tat und er immer noch etwas von ihr brauchte. Da er aber hier war und keine Ahnung hatte, wie die Lage unten im Büro aussah, hatte er beschlossen, sie holen zu kommen.

Arbeit war wichtig, aber gerade sie sollte es wirklich nicht übertreiben. Die Firma würde es schon überleben, schließlich hatten sie gerade genug Anfragen.

Cayden selbst hatte zwar keinen Hunger, aber Emma würde sicher welchen haben, weshalb er schon für sie gekocht hatte.

Seltsamerweise ging es ihm wirklich besser. Der Durst war immer noch unerträglich, aber die Nebenwirkungen waren ein gutes Stück abgeklungen. Vielleicht würde das ja doch kein zu großer Kampf bis Donnerstag werden. Zumindest solange würde er noch mit seiner nächsten Blutmahlzeit warten müssen, bis Vanessa endlich von ihrer Europatour zurück war.

Dass sie so lange weggeblieben war, würde noch unangenehm für sie beide werden. Nicht nur wegen seiner gewaltigen Durststrecke. Es gab auch noch andere Dinge, die er mit ihr zu besprechen hatte. Dinge, die ihr mit Garantie nicht gefallen werden.

Nachdem Cayden auch noch den Tisch gedeckt und alles fürs Essen hergerichtet hatte, zog er sich seine Schuhe an und fuhr ins Büro hinunter.

Als er den Flur entlang ging, begrüßte ihn ein vertrautes Bild von Verlassenheit. Alle anderen waren schon gegangen. Kein Wunder, es war wirklich schon zu spät für Emma.

Er fand sie hinter ihrem Mac geklemmt, wie sie mit fliegenden Fingern etwas in die Tastatur tippte und ihn dabei noch nicht einmal bemerkte.

„Und da dachte ich immer, ich wäre hier der Workaholic“, begrüßte er sie leise mit einem warmen Lächeln und kam näher. Allerdings nicht zu nahe. Schließlich wusste er nicht, wie er in seinem Zustand Emmas Abwehrmechanismus vertragen würde. Vielleicht gar nicht gut.

„Mach Schluss für heute, Em. Ich habe uns etwas gekocht.“

 

Emma zuckte so übertrieben heftig zusammen, dass ihr Stuhl knarzend protestierte. Ihr Abwehrdreieck knisterte leise in ihren Ohren, als er sich ganz automatisch ein ganzes Stück weiter auflud, um Emma beschützend zu umgeben.

Erst als sie Cayden wirklich sah, wechselte ihre Stimmung von leicht panisch zu erleichtert, um dann von einer Welle von Besorgnis abgelöst zu werden. Gott, er sah wirklich fertig aus. Mit leichten Schatten unter den Augen und ziemlich blass um die Nase. Bloß das Fieber war wohl runter gegangen, denn er hatte keine roten Wangen und auch keine glasigen Augen.

„Hi. Was machst du denn hier?“

Sofort stand sie auf, ging um ihren Schreibtisch herum und umarmte Cayden ganz fest. In diesen Klamotten sah er so aus, als gehöre er wirklich nicht hierher. Hier war er der Boss im makellosen Anzug. Nicht – so wie jetzt – in Jeans und Kuschelpulli.

„Ich wollte dir noch was zu essen besorgen, aber ich bin nicht raus gekommen.“

Sie hatte sich nicht mehr auf die dunkle Straße getraut, nachdem der seltsame Kerl endlich aus dem Büro verschwunden war. So, wie der sich aufgeführt hatte, wagte Emma zu fürchten, dass er irgendwo noch herumlungerte.

„Geht’s dir ein bisschen besser?“, wollte sie wissen, nachdem sie ihn endlich ein Stück weit losgelassen hatte, damit sie zu ihm aufsehen konnte.

 

Er musste den Atem anhalten, als ihre Umarmung ihn beinahe überwältigte und selbst als sie ihn wieder ein Stück losließ, brauchte er noch einen Moment, bis er ihr antworten konnte.

„Ja, etwas besser. Aber … vielleicht hast du ja doch recht. Ich meine, das mit dem Kranksein.“

Das zu sagen, fiel ihm schwer, weil er sie dadurch offen anlog und er hasste es abgrundtief, lügen zu müssen. Auch wenn Vampire häufig dazu gezwungen wurden. Trotzdem wollte er Emma nicht anlügen. Das fühlte sich einfach nicht gut an.

Andererseits hatte er heute auch viel Zeit gehabt, um über seine Situation nachzudenken und dass es von Mal zu Mal gefährlicher für sie wurde, wenn sie ihm so nahe kam. Er wollte sie weder beißen, noch sich schon jetzt vor ihr outen. Er wollte dieses Leben mit ihr, so zerbrechlich es noch war, nicht schon von Anfang an zerstören. Darum die Lügen. Darum die Beherrschung …

Darum die Worte, die er schließlich hinzufügte, nachdem er noch einmal ihre Hand gestreichelt hatte.

„Du glaubst gar nicht, was das für eine Folter für mich ist, aber ich denke, gerade weil sich da etwas anbahnt, wäre es wohl besser, wenn wir vorerst nicht zu sehr auf Tuchfühlung gehen. Ich will … euch beiden nicht schaden.“

Eigentlich hätte er anstecken sagen sollen, aber er wollte sie nicht mehr anlügen, als nötig. Eine verdrehte Wahrheit war besser, als nur zu lügen.

„Aber das hindert uns ja nicht daran, uns den Bauch vollzuschlagen, nicht wahr?“, sprach er in etwas motivierenderem Tonfall weiter.

„Komm, mach hier Schluss und dann essen wir erst einmal etwas.“

 

„Ja.“

Sie nickte, weil Emma klar war, wie gefährlich allein eine ausgewachsene Grippe in ihrem Zustand werden konnte. In einem oder zwei Monaten sollte das weniger ein Problem sein, aber solange sie nicht über die kritische Grenze der drei Monate hinweg waren ... Eigentlich war selbst beim Sex echte Vorsicht geboten. Aber da Emma danach nichts aufgefallen war oder es ihr auch nicht schlecht gegangen war ...

Als sie Cayden jetzt ansah, wurden ihre Wangen ein bisschen rot und ihr Herz klopfte nachdrücklicher in ihrer Brust. Allein die Erinnerung an die Nacht auf der Couch war ... na, es brachte einiges in Emma zum Klingen.

„Gut, dann packe ich zusammen.“

Der Mac war schnell heruntergefahren, die Handtasche aus der verschlossenen Schublade geholt und sie beide im Aufzug nach oben verschwunden.

Oben angekommen schlug ihnen sofort ein herrlicher Duft nach Essen entgegen, aus dem Emma Fisch heraus zu riechen glaubte.

„Mmh ... duftet gut. Was gibt es denn?“

 

Woran immer Emma auch dachte, ihre körperliche Reaktion darauf, brachte ihn fast um sämtliche Selbstbeherrschung, um keine seiner vampirischen Merkmale aufkommen zu lassen. Darum lenkte er sich mit Gedanken an Büroarbeit und Überstunden ab. Das half meist, um errötende Wangen und eine höhere Pulsfrequenz zu verdrängen.

Doch erst der Duft in seiner Wohnung half ihm wirklich, sich Emmas Gegenwart nicht zunehmend intensiver bewusst zu werden.

„Kräuterfisch in Rahmsoße und Frühlingskartoffeln. Dazu einen ganz banalen Vanillepudding.“

Cayden führte Emma in die Küche und wies sie sofort auf ihren Platz, damit sie nicht auch noch auf die Idee kam, ihm irgendwie beim Anrichten der Speisen helfen zu wollen. Er sah ihr an, dass der Tag auch für sie anstrengend gewesen war, darum sollte sie sich jetzt auf jeden Fall ausruhen.

Das Essen war schnell serviert und auch die Getränke, weshalb es schon bald zu dem schwierigen Teil des Abends kam. Das Essen.

Cayden hatte weder Lust auf feste Nahrung, noch glaubte er, großartig etwas hinunter zu bekommen. Er aß für gewöhnlich schon zu wenig für einen Menschen, aber heute würde es noch schlimmer sein. Trotzdem wahrte er den Anschein und stocherte zumindest nicht zu auffällig in seinem Fisch herum.

„Ich denke nicht, dass ich diese Woche noch arbeiten kann. Ich fühle mich wirklich nicht so gut“, begann er schließlich.

„Auch wenn es verdammt seltsam ist, da ich noch nie einen Tag gefehlt habe. Das … daran muss ich mich erst einmal gewöhnen. Aber jetzt zu dir, wie war heute dein Tag? Ging es einigermaßen?“

 

„Dann bleib einfach im Bett. Ich kann dir nochmal so einen Tee machen, wenn du möchtest. Und Morgen bringe ich dir eine Wärmflasche.“

Sie zwinkerte und zupfte dann mit ihrer Gabel ein Stück von ihrem Fisch, das sich selbst unter den Zinken schon wie weiche Butter anfühlte. Auf der Zunge zerging es in herrlichem Geschmack, der Emma aufatmen ließ. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie kaum etwas gegessen und wirklich großen Hunger gehabt hatte.

„Ja, es ging schon. Die Grafikabteilung hatte ein paar Unsicherheiten, was die Farbpaletten anging, aber das haben wir geregelt.“

Sie wedelte mit der Gabel in der Luft herum.

„Wirklich köstlich das Essen. Vielen Dank.“

Wie gern hätte sie ihn geküsst, aber das würde sie dann in spätestens einer Woche vielleicht bereuen. Mehr, als sie sich jetzt auch nur vorstellen konnte.

„Ansonsten ... Es war so ein schmieriger, unheimlicher Typ für dich da. Ein Angestellter von Tasken. Der war ein bisschen ungemütlich.“

 

Seine Gabel blieb kratzend auf dem Teller stehen, nachdem er wieder einmal eine Kartoffel durch die Soße gejagt hatte, ohne sie allerdings zu essen.

Allein die Erwähnung von Tasken ließ Adrenalin in sein Blut schießen. Er hätte heute wohl doch arbeiten sollen.

„Wenn du mit ihm das nächste Mal Hilfe brauchst, hab keine Scheu dich bei mir zu melden. Taskens Angestellte sind alle ungemütlich, genauso wie ihr Boss selbst. Ich will nicht, dass du zu viel Kontakt zu ihnen hast. Sie sind … sie haben nicht wirklich Skrupel.“

Als er den letzten Satz sagte, hatte er Emma besonders nachdrücklich in die Augen gesehen. Er wollte ihr zwar keine Angst machen, aber sie sollte wissen, dass die Typen nicht harmlos waren. Ganz und gar nicht harmlos, schließlich waren sie Vampire.

Doch um sie wieder von dem Thema abzulenken, forderte er sie stattdessen auf, einmal den Pudding zu probieren und ob sie herausfand, welches Gewürz noch darin war außer echte Vanille.

 
 

***

 

Cayden konnte gar nicht wirklich glauben, dass sie in dieser Nacht nicht bei ihm sein würde. Es fühlte sich beinahe wie die vergangene Woche an. Nur dass er ihr wenigstens persönlich gute Nacht sagen und ihr ein Taxi nach Hause besorgen konnte.

Es war schlimm, sie nicht zum Abschied küssen oder anständig umarmen zu können, doch war es so einfach sicherer.

Nur noch zwei Tage. Danach wäre alles anders.

Das betete er sich ständig hinunter, als er ihr mit einem bitteren Gefühl hinterher blickte.
 

 

***

 

Irgendetwas stimmte nicht. Er hatte Schmerzen.

Cayden warf sich keuchend zwischen den Bettlaken und Kissen hin und her. Seine Kehle brannte wie Feuer, während seine Fänge sich anfühlten, als würde man sie langsam aus seinem Kiefer brechen. Er träumte von Blut und Töten. Von einer aufgerissenen Wunde an einem zierlichen Hals. Braunes Haar, das in einer Blutlache klebte. Irgendwo weinte ein Baby …

Fauchend riss es ihn in die Höhe. Ein Kissen fiel zu Boden, während Schatten um ihn herum tanzten. Erst als sich seine Augen an das dunkle Licht gewöhnten, konnte er sein Zimmer erkennen. Allerdings nicht mehr so gut, wie er es sollte. Doch zumindest war er allein. Da war kein Blut. Kein toter Körper und kein schreiendes Baby.

Aber das, was sich in der Realität befand, war ebenfalls erschreckend.

Cayden sah an sich herab und zog das feuchte Shirt von seinem bebenden Brustkorb. Auch auf seiner Oberlippe und Stirn konnte er die Feuchtigkeit spüren. Ebenso wie in seinem Nacken und den Armen.

Sein Körper begann sich selbst anzugreifen …

Seine Instinkte wollten bei dieser Erkenntnis Panik schieben, doch sein Verstand zwang sie zur Ruhe. Das war nicht das Ende. Das war es noch lange nicht. Er wusste aus Erfahrung, dass er es noch länger als eine Woche in diesem Zustand aushalten würde, bevor er vollständig wahnsinnig wurde. Es war also alles in Ordnung. Morgen würde die Tortur vorbei sein. Er musste nur geduldig sein … und die feuchten Sachen loswerden.

Auf wackeligen Beinen schlurfte Cayden zu seinem Bad. Eine Dusche würde ihm Linderung verschaffen und es war auch noch etwas von Emmas Wundertee da, der ihm seltsamerweise zu helfen schien. Er würde diesen Tag also auch noch überstehen. Nur wusste er nicht, ob er sie heute noch einmal sehen konnte.

Es wäre besser, wenn sie das Treffen auf morgen verschieben würden. Morgen Abend. Dann war es wieder sicher für sie.

Und sie würde wieder denjenigen in ihm sehen, den sie kennengelernt hatte. Momentan war er weit davon entfernt. Das zumindest, zeigte ihm sein Spiegelbild. Es war gänzlich unmöglich die voll entblößten Fänge einfach zu ignorieren.
 

 

***

 

„Und? Alles okay?“

Kathy legte den Holzlöffel auf die Arbeitsplatte neben dem Herd und drehte sich zu Emma herum, die ihr Handy auf den Küchentisch fallenließ. Jeder ihrer Bewegungen war unterdrückte Wut anzusehen und trotzdem bemühte sie sich, die Emotionen hinunter zu schlucken.

„Ja, ihm geht’s besser“, war die knappe Antwort, auf die Rob gleich ansprang, der gerade mit einem offenen Bier aus dem Wohnzimmer kam.

„Fährst du dann doch hin?“

„Nein.“

Es kam wie aus der Pistole geschossen und so maulig, dass Rob die Augenbrauen fragend hochzog.

„Ich meine, nein, er hat was vor.“

„Na, dann können wir wenigstens unseren geplanten Abend durchziehen. Hier, schnippel mal die Tomaten, bitte.“

Ein Messer in die Hand zu bekommen und damit auf unschuldige Tomaten einzuhacken, war Emma gerade sehr recht. Sie konnte sich sonst etwas oder in ihrem Fall jemanden dabei vorstellen und brauchte keine Skrupel vor ihren eigenen, bösen Gedanken zu haben. Aber es regte sie nun einmal auf! Da war Cayden drei Tage lang so krank, dass er im Bett blieb und Emma aus seinem Apartment verbannte. Aber sobald es ihm besser ging, zu wem wollte er?

Zu Vanessa ...

Emma äffte den Namen gequält nach, während sie die Tomaten in ungleiche, aber kleine Würfel schnitzte.

Vanessa, diese blöde Kuh! Diese aufgedonnerte, fiese Pute mit ihren Silikonmöpsen.

Bestimmt wartete sie schon im durchsichtigen Negligé auf Cayden. Ein Glas Champagner in der Hand, das Emma ein Monatsgehalt kosten würde. Die Schnepfe würde ihm mit der Hand zuprosten, an der sie den sündhaft teuren Ehering trug. Und dann würde sie ...

„Emma!“

Erschrocken sah sie hoch, aber Kathy zerrte ihr lediglich das Schneidebrett unter den Händen fort und besah sich das Massaker mit ungläubigem, fast traurigem Blick.

„Em, wenn ich Mus gewollt hätte, hätte ich das gesagt.“

Kathys Augen wanderten von der roten Masse auf dem Brett zu Emma und blieben skeptisch an ihrer Mitbewohnerin haften.

„Er hat was Blödes gesagt, stimmt’s?“

Emma biss die Zähne aufeinander. Nein, er hatte nichts anderes gesagt, als Emma schon von Anfang an gewusst hatte. Dass es im Vertrag stand. Der Vertrag, der so viel mehr bedeutete, als 'Ich liebe dich' oder ein Baby.

Stumm nickte Emma und zwang sich dann zu einem Lächeln. „Aber weißt du was? Ist eben so.“

Und es würde noch ein paar Mal an diesem Abend an ihr zerren. Emma würde die Eifersucht nicht ständig unterdrücken können und sie würde sich ausmalen, was Vanessa mit Cayden anstellte.

„Okay.“

Kathy schüttelte hinter Emmas Rücken den Kopf und rührte wieder in der Gemüsepfanne, die bereits köstlich duftete. Aus dem Wohnzimmer nebenan war bereits der Vorspann zum Film zu hören und Rob steckte seinen Kopf zur Tür herein, um Emma mit der Sonnenblume zu ärgern, die er zwischen den Fingern drehte.

„Kein Blümchenfilm heute ihr beiden.“
 

 

***

 

Das Ticken der antiken Standuhr war ihm noch nie lauter vorgekommen, als in der letzten Stunde und die Möbel, Bilder, Antiquitäten um ihn herum, schienen noch befremdlicher auf ihn zu wirken, als sie es ohnehin schon getan hatten.

Er war zuhause.

Oder zumindest das, was er offiziell als seinen Hauptwohnsitz angeben musste. Ein zuhause war es nie gewesen. Noch nicht einmal ein sicherer Zufluchtsort oder eine Höhle. Nein, viel mehr das Gegenteil. Er verabscheute diesen Ort.

Heute mehr denn je, machte es ihm doch nur noch klarer bewusst, was ihm offiziell gehörte oder besser gesagt, was offiziell alles an ihm dran hing. Jedoch entsprach das nicht im geringsten dem, was er sich wünschte und wonach er sich sehnte.

Sein Herz gehörte Emma. Dort sollte er sein. Nicht in diesem kalten, unpersönlichen Haus, das mehr als Ausstellungsstück für ein Hochglanzmagazin gepasst hätte, als zu zwei lebenden und atmenden Personen. Selbst eine kalte Gruft wäre persönlicher gewesen.

Die Uhr schlug erneut eine Viertelstunde. Der Klang reizte ihn, machte ihn wütend und ungeduldig zu gleich.

Er wartete schon zu lange.

Trotzdem blieb er weiterhin in dem teuren Wildledersessel sitzen. Das nervöse Auf- und Abgehen hatte er schon vor zwei Stunden aufgegeben, nachdem sie ihn erneut warten ließ.

Sie – die Frau, an die zu denken ihm zuwider war und dennoch konnte er inzwischen an nichts anderes mehr denken.

Angespannt und ungeduldig begannen sich erneut seine zittrigen Finger zu bewegen. Sie spielten mit dem kleinen festen Gegenstand in seiner Hand, den er heute zum letzten Mal getragen hatte.

Lediglich eine blasse Linie um seinen Ringfinger deutete noch darauf hin, was er vor kurzem noch gewesen war. Doch auch sie würde schon bald verschwunden sein. Dann wäre er endgültig frei ...

Eine weitere Schmerzwelle jagte durch seinen Körper und ließ seine Zähne aufeinander krachen, während sich jeder seiner Muskeln anspannte. Es raubte ihn den Atem und doch zwang er sich dazu, tief und langsam ein und aus zu atmen, bis der Schmerz erneut abflaute.

Rasend vor unterdrückter Wut befeuchtete er sich die spröden Lippen und schmeckte Salz und noch etwas anderes darauf. Inzwischen war der Schweißfilm auf seiner Haut schon deutlich zu sehen und es wurde immer mehr.

Ihm lief die Zeit davon.

 

Das subtile Geräusch wie ein Schlüssel in ein dazu passendes Schloss gesteckt und herum gedreht wurde, riss ihn vom Stuhl hoch.

Cayden war schon bei der Tür, noch bevor diese zwei Zentimeter offen stand, und zerrte sie Vanessa regelrecht aus den Händen.

Erschrocken ließ sie ihre Reisetasche neben dem vollausgewachsenen Kofferset auf dem Treppenabsatz fallen und gesellte sich beinahe selbst dazu, hätte Cayden sie nicht am Arm gepackt und ins Haus gezogen.

Mit einem lauten Knall donnerte er die Tür hinter ihr zu. Die Koffer hatten draußen zu bleiben.

„Dein Flug war schon seit drei Stunden da. Warum hat das dann bei dir so lange gedauert?“, fauchte er sie an, ehe er den letzten Rest an Selbstbeherrschung zusammenkratzte und nicht auch noch hinzufügte, dass er das sogar extra nachgeprüft hatte. Stattdessen beugte er sich näher zu ihr hinüber und nahm ihre Witterung auf.

Beinahe wäre er an die Decke gegangen, als er mehrere Gerüche an ihr feststellte, allerdings nichts, was auf Reiseanstrengungen hingedeutet hätte.

Beschwichtigend legte Vanessa ihre Hände auf seine Brust und sah ihn so herzzerreißend entschuldigend an, dass es beinahe geklappt hätte. Bei jemandem, der nicht vollkommen ausgehungert war.

„Es tut mir wirklich leid, dass ich zu spät bin. Aber der Fahrer hatte eine Reifenpanne und zu allem Überfluss auch noch einen kaputten Reservereifen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr mich das geärgert hat. Da bezahlt man ein so teures luxuriöses Fahrserviceunternehmen und dann passiert sowas. Auf diese Leute ist einfach kein –“

Cayden legte seinen Zeigefinger auf ihre Lippen. Schweigend war sie ihm schon immer lieber gewesen. Der herablassende Tonfall, mit dem sie gerne über andere Leute herzog, war zwar besser, als der einschleimende Ton, den sie ihm schenkte, trotzdem konnte er es nicht ausstehen.

„Ich habe keine Lust, keine Geduld und auch sicher kein Interesse daran, mir deine tragische Leidensgeschichte während der Reise anzuhören. Du bist zu spät.“ Was bedeutete, dass er schon längst am Limit war.

Sie sah seine Gedanken in seinen Augen, weshalb sie sofort auf sanft und nachgiebig schaltete. Schließlich wollte sie ihm gefallen und ihn nicht noch weiter aufregen.

„Kann ich dann wenigstens noch ins Bad, mich etwas frisch machen?“, versuchte sie es nun mit ihrem einschleimenden Tonfall.

„Nein. Ich hab schon aus schlimmeren Hälsen getrunken, als aus deinem parfümierten. Also, lass es uns endlich hinter uns bringen. Danach kannst du dich immer noch frisch machen.“

Ohne noch auf weitere Einwände zu hören, zog er sie durch die riesige Marmorhalle direkt in den Salon und schloss die Türen ab. Personal war zwar keines mehr im Haus, aber sicher war sicher. Er wusste nicht, ob er sich jetzt noch ausreichend kontrollieren konnte, um einen Biss als einen Kuss zu tarnen, sollte man sie erwischen.

„Ich hoffe, du weißt noch, was in unserer Abmachung steht. Denn das hier wird heute sicher kein Zuckerschlecken für dich werden. Ich habe dich davor gewarnt, mich allzu lange hungern zu lassen. Also will ich dir nur geraten haben, dass du für morgen alle Termine abgesagt hast.“

Cayden zog sie zu dem Sessel heran, auf dem er selbst die letzten Stunden verbracht hatte, und zwang sie, sich zu setzen.

„Ich weiß noch sehr genau, was in dem Vertrag steht und wenn du hältst, was du versprochen hast, wird es mir nichts ausmachen, wenn du dieses Mal mehr von mir nehmen musst. Also quäl dich nicht länger, sondern lass es uns hinter uns bringen und uns dann angenehmeren Dingen zuwenden.“

Obwohl er deutlich ihre Aufregung spüren konnte und dass ihr seine Erscheinung nicht unbedingt behagte, so hatte sie dennoch keine Angst und ihr Tonfall war mehr als schmeichelnd, während sie sich den weißen Kaschmirschal vom Hals zog, der perfekt zu ihrem hautengen Reisekostüm passte.

„Komm“, forderte sie ihn verführerisch lächelnd auf und legte dabei ihren Kopf zur Seite, um ihren Hals vor ihm zu entblößen.

Wären seine Fänge nicht schon längst bereit gewesen, spätestens bei diesem Anblick wären sie es und beinahe wäre er auch darauf eingegangen. Stattdessen biss er die Zähne zusammen und schüttelte langsam den Kopf.

„Nein. Nicht der Hals.“ Das war ihm inzwischen viel zu intensiv und persönlich, weil er ihr dabei viel zu nahe kam und das wollte er auf keinen Fall mehr.

Mit einem aufregenden Lächeln blickte Vanessa ihn wieder an und setzte sich anders hin, ehe sie ihre Beine vor ihm spreizte, wodurch ihr Rock höher rutschte.

„Dann vielleicht hier?“, fragte sie einladend und strich mit ihrer Hand von ihrem Knie angefangen die Innenseite ihres Oberschenkels hinauf.

Der Vampir in ihm brüllte laut auf, ob dieser herrlich verlockenden Einladung, doch dem Mann in ihm schnürte sich nur noch mehr der Brustkorb zu und er wandte angewidert den Blick ab. Sie war einfach nicht das, was er wirklich begehrte. Im Grunde genommen war sie es nie gewesen.

Ohne auch nur im Geringsten auf ihre Andeutungen einzugehen, schnappte Cayden sich schließlich ihr Handgelenk, zog es zu sich hoch, ehe sich seine Fänge in ihre Armbeuge vergruben, bevor Vanessa die Bewegung auch nur irgendwie realisiert hatte.

Keine Sekunde später wich er fauchend vor ihr zurück und wischte sich das Blut von den Lippen, während er sie mit wilden Augen fixierte.

„Du hast getrunken“, stellte er mit knurrendem Tonfall fest, dabei seine Wut kaum noch bändigen könnend. Denn damit hatte sie soeben seine Hoffnung auf Erlösung zunichtegemacht. Er würde niemals von ihr trinken, wenn sie Alkohol im Blut hatte. Mochte es noch so eine geringe Menge sein.

Gott, wie er diese Frau hasste!

„Nur etwas Champagner im Flugzeug. Keine große Sache. Ich dachte, das könnte uns beide, etwas entspannen. Schließlich haben wir uns so lange nicht mehr gesehen. Also komm. Trink. Ich seh doch, wie durstig du bist.“

Cayden schloss voll finsterer Gefühle die Augen.

Er konnte nicht mehr.
 

 

***

 

„Ah!“

Kathy und Emma zuckten gleichzeitig zusammen. Allerdings war es bei Emma schlimmer, weil sie die Schüssel mit Popcorn in den Händen hielt und das bei der hastigen Bewegung in einem Regen aus Knabberzeug endete.

„Oh Gott. .. Ich erschreck bei sowas jedes Mal.“

Emma fischte sich Popcorn aus dem Ausschnitt und steckte es sich in den Mund, während sie gespannt nach vorn gelehnt weiter den Film verfolgte.

„Ja, ich auch. Dabei war so klar, was passiert.“

„Ladys!“

Rob klang mahnender, als noch die ersten paar Male, als seine Mitbewohnerinnen angefangen hatten, sich über den Film zu unterhalten. Aber über Batmans Sexyness musste man einfach ein paar Worte verlieren. Genauso, wie man darüber kurz ein paar Sätze diskutieren musste, wer der beste Gegenspieler des schwarzen Ritters und wer am unheimlichsten davon war. Rob hatte zuerst auf stur gestellt und weiter den Film verfolgt, den er bis jetzt schon dreimal gesehen hatte. Aber jetzt war es wohl genug mit der Geduld.

Naja, nicht ganz. Immerhin pflückte er Emma noch mehr Popcorn aus dem langen Haar und lächelte.

„Steht dir nicht.“

Sie streckte ihm die Zunge heraus und stellte die Schüssel besser wieder auf dem Couchtisch ab. Man wusste ja nie, welche Reißer die Erfinder der Story noch vorgesehen hatten. Solange der Joker noch unterwegs war, dürften es noch einige werden.

Kurz fiel ihr Blick auf die kleine Sammlung auf dem Couchtisch. Offene Packungen Kekse, Chips, Popcorn, Salzstangen. Ein Schokopudding und halbvolle Bierflaschen. Kathys Weinglas und das von Emma. Allerdings ohne Wein. Stattdessen mit Kinderpunsch ...

Natürlich hatte Emma das Vibrieren nicht verpassen können, das eine mögliche SMS von Cayden in ihrer Jeanstasche verursacht hätte. Aber gerade jetzt, wo sie ihr Glas ansah, wurde der Drang wieder übermächtig stark, noch einmal nachzusehen. Es war schon halb elf. Vielleicht war er schon wieder zu Hause. In seinem Appartement.

Bevor Emma sich ausmalen konnte, was er vorher getan und warum eine ausgiebige Dusche nötig sein könnte, wandte sie sich wieder dem Film und der nächsten gut geplanten Schrecksekunde zu.

Es folgten noch mehrere, genauso wie ein zu erwartendes, großes Finale und die Lust auf mehr, wenn man das knackige Kostüm von Batman bedachte.

„Und jetzt? Noch einen oder wollt ihr ins Bett?“

„Also ich würde noch einen anschauen.“

Emma schnappte sich ihr großes Lieblingscouchkissen und kuschelte sich damit in die Ecke zwischen den beiden Sofas auf dem Boden.

„Was haben wir denn noch?“

„Einen koreanischen Krimi, einen von Stephen King und ... die Unglaublichen.“

„Oh, die will ich sehen.“

Kathy stimmte absolut mit Emma überein.

„Von den beiden anderen bekomm ich nur Albträume.“

Dafür brauchte sie die Filme gar nicht. In den letzten paar Nächten war es wieder schlimmer geworden. Aber so einen Zeichentrickfilm konnte man sich vor dem Schlafengehen schon gefahrlos ansehen. Vielleicht half das sogar gegen die grausigen Erscheinungen, die sich Emmas Unterbewusstsein so ausdachte.

„Okay. Dann die leichte Kost.“

Rob stand auf und machte sich an der Spielekonsole zu schaffen, die gleichzeitig als DVD-Player diente, während auch Emma sich hochkämpfte.

„Ich hol noch was zu Trinken.“

Als sie schon fast in der Küche war, rief sie noch einmal ins Wohnzimmer.

„Hat eigentlich noch jemand Lust auf Eis?“
 

 

***

 

„Ich verlasse dich!“, wiederholte er nun noch einmal, da Vanessa es beim ersten Mal nicht kapiert zu haben schien. Doch auch dieses Mal starrte sie ihn nur ungläubig an.

„Was? Wieso? Ich … das war doch nur ein Glas Champagner!“

Cayden hielt in seinem aufgebrachten Marsch durch den Salon inne und starrte Vanessa finster an.

„Um den Champagner geht es hier gar nicht. Es geht um dich und genauso sehr um mich! Ich will dein Blut nicht mehr. Ich will überhaupt nichts mehr von dir. Dass du dich schon wieder nicht an eine unserer Abmachungen gehalten hast, ist hierbei nur noch das i-Tüpfelchen auf dem ganzen Mist, der mich nicht mehr interessiert!“

Okay. Er brüllte. Aber Brüllen war besser, als um sich zu schlagen oder Vanessa am Ende doch noch anzufallen. Bei Gott, sie blutete immer noch leicht aus der Wunde, die er ihr zugefügt hatte und der Geruch ihres Blutes war für ihn, wie das rote Tuch für einen Stier. Es machte ihn halb wahnsinnig. Aber er musste das hier endgültig beenden. So konnte es einfach nicht mehr weitergehen. Das hatte er schon vorher gewusst, doch da hatte er geglaubt, dass er vorher noch einmal seinen Hunger stillen konnte. Doch selbst das war ihm nun verwehrt und irgendwie … war ein Teil in ihm sogar ganz froh darüber.

Er wollte nichts mehr mit Vanessa zu tun haben. Nicht, seitdem er nun so viel mehr für Emma empfand. Frustriert und sich mehr denn je nach ihr sehnend, tigerte er weiter.

„Aber warum?“, verlangte Vanessa nun fast schreiend zu wissen, während sie ihn von der anderen Seite des Salons wütend anstarrte.

„Zehn Jahre! Bedeutet dir das gar nichts? Zehn Jahre war ich für dich da, habe dir mein Blut gegeben, dich am Leben erhalten, für dich gesorgt und jetzt ist einfach Schluss? Einfach so?“

Wieder blieb er stehen. Dieses Mal konnte er seine Verachtung nicht mehr verbergen und sein plötzlich ruhiger Tonfall untermalte die Schwere seines Blicks nur noch.

„Nein. Es bedeutet mir nichts. Du bedeutest mir nichts. Also lass es gut sein. Du hast mich nie geliebt und dank meinem Blut bist du immer noch so jung wie damals. Selbst das wird noch eine ganze Weile anhalten. Auch ohne mich. Zudem bist du reicher denn je und ich werde dir das nicht nehmen. Also, lass es gut sein. Wir sind fertig.“

Cayden ging auf die Tür zu. Er hatte nichts mehr zu sagen. Doch so arglos, wie sie bisweilen war, stellte Vanessa sich ihm mit funkelndem Blick in den Weg.

„Nein, sind wir nicht, du verdammtes Arschloch!“

Sie verpasste ihm eine schallende Ohrfeige und holte bereits zur zweiten aus, als er ihre Hand abfing und sie mit seinem ganzen Körper gegen die Tür presste. Zunächst wehrte sie sich noch mit Händen und Füßen gegen seinen Griff, kratzte und schlug ihn, doch nur allzu schnell erlahmten ihre Versuche, als sie schließlich instinktiv die Angst vor dem packte, was er war.

Seine Fänge lagen nur Millimeter von ihrer Halsschlagader entfernt. Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, Vanessa bluten zu lassen, sie leiden zu lassen, und zwar richtig. Aber das wäre nicht er selbst gewesen.

„Ein Rat noch“, flüsterte er daher leise an ihr Ohr, während er seinen Griff lockerte.

„Du hast mich immer unterschätzt, mich bis zum Äußersten gereizt und das, was ich bin, nicht wirklich ernst genommen. Aber das, Vanessa, wird dir irgendwann zum Verhängnis werden. Nicht bei mir. Vielleicht auch nicht beim nächsten. Aber irgendwann wirst du bei irgendjemandem von meiner Art zu weit gehen und dann wirst du nicht mehr so leicht davon kommen. Vergiss das nie.“

Cayden ließ sie los, öffnete die Tür und ging, ohne sich noch einmal nach Vanessa umzudrehen. Er würde nicht mehr zurückkommen. Nie wieder. Er war hier fertig.

 

So sehr ihn sein Herz auch zu Emma zog und er nach diesem Streit mit Vanessa zu ihr und in ihre Arme wollte und so sehr ihn dieser ganze Bruch mit seinem sonst so perfekten Plan auch quälte, er musste noch etwas anderes erledigen. Etwas Wichtiges. Vorher konnte er Emma nicht unter die Augen treten.

Doch es war eine ziemlich schlechte Ausgangslage, in der er sich befand. Geschwächt von seinem Durst, aufgewühlt und gereizt von dem Streit mit Vanessa, vermischt mit der Tatsache, dass er das hier schon so lange nicht mehr getan hatte, standen seine Chancen auf Erfolg schlechter als sonst. Zwar immer noch gut genug. Aber wie er schon zu Vanessa gesagt hatte, würde das hier auch für ihn kein Zuckerschlecken werden. Er war momentan zu angreifbar und doch war gerade diese Tatsache es, die ihm helfen würde. Vorausgesetzt, er fand das richtige Stadtviertel.

Aber eigentlich brauchte er nur den heruntergekommenen Häusern, den schmutzigen Straßen, den zwielichtigen Gestalten und dem Gestank von Abschaum und Tod folgen. Denn dort war er genau richtig.

Das perfekte Jagdgebiet eines Vampirs, der keine andere Wahl hatte, oder zumindest keine Skrupel Menschen offen anzufallen. Manchmal sogar sie zu töten. Hier würde es schließlich kaum jemanden interessieren.

Cayden hatte zwar nicht vor, jemanden umzubringen, als er eine finstere Gasse durchquerte, aber er würde auch sicherlich nicht fragen, ob ihm jemand einen Drink spendieren wollte.

Es dauerte zum Glück nicht lange und Schritte hefteten sich an seine Fersen.

Abschaum zu jagen, war ihm schon immer lieber gewesen, als von einem Unschuldigen zu nehmen, auch wenn er es trotzdem nicht gerne tat. Er wollte niemandem etwas gewaltsam wegnehmen. So war er einfach nicht erzogen worden.

Aus den Schritten wurden nun zwei Paar und sie passten sich seinem erhöhten Tempo an, als er vorgab sich immer wieder verängstigt umzudrehen und er schließlich auch zu rennen anfing. Was seinem Körper das Letzte abverlangte, denn eigentlich wollte er sich einfach nur umdrehen und zubeißen. Doch er musste noch aushalten.

Cayden wusste, dass er nur getrieben wurde. So war das doch immer. Sonst hätten sie ihn schon längst eingeholt, anstatt mit ihm zu spielen. Also folgte er absichtlich dem vorgegebenen Weg, verirrte sich scheinbar immer mehr in dem Labyrinth aus leerstehenden Häusern und Lagerhallen, bis er in eine weitere finstere Gasse gescheucht wurde, wo er direkt in jemanden hineinlief.

Hände packten zu, drehten ihn so gekonnt mit dem Gesicht zur Wand, dass selbst er zunächst nur verblüfft war, doch nun musste er in die Gänge kommen und handeln, bevor die Treiber sich ebenfalls zu der kleinen Party gesellten.

Cayden riss seinen Kopf zurück und knallte ihn mit voller Wucht gegen die Nase seines Angreifers, sodass diese knackend nachgab und derjenige zu Boden sackte. Der Geruch des Blutes belebte ihn, doch anstatt sofort zuzuschlagen, riss er den Bewusstlosen noch tiefer in die Schatten, denn schon kamen die beiden Treiber zum Anfang der Gasse, die er auf keinen Fall warten lassen wollte.

Er stürzte sich mit übermenschlicher Geschwindigkeit auf beide, obwohl sein Durst ihn schon bemerkenswert langsam gemacht hatte.

Da die beiden Männer nicht mit dem Angriff gerechnet hatten, konnte Cayden sie trotzdem zu Boden reißen und sie von den billigen, aber für ihn trotzdem gefährlichen Messern befreien, die sie schon rein instinktiv im Griff gehabt hatten.

Während er auf dem einen hockte und dessen Arme mit der Hand am Boden hielt, fasste er nach dem anderen Kerl, der sich tretend und winden von ihm befreien und zu seinem Messer wollte. Doch Cayden zog ihn wieder zurück und packte ihn so, dass dieser nun ebenfalls mithalf, mit seinem Gewicht den Mann am Boden festzuhalten.

Noch einmal erneuerte er seinen Griff, sodass er den Kopf seiner ersten Beute stabilisierte und nicht allzu viele Schläge abbekam, als er schließlich seine Fänge in den schmutzigen Hals rammte.

Sein erster Schluck war zunächst prüfend, ob der Kerl überhaupt genießbar für ihn war. Doch nachdem er weder irgendwelche frischen Substanzen noch Alkohol im Blut des Mannes feststellen konnte, begann er richtig zu trinken.

Das war der Moment, an dem dieser sich heftig wehrend zu schreien anfing.

Nur, dass ihn hier weder jemand hören noch ihm jemand helfen würde. Darum hatten sie ihn ja hierher gelockt.

Hände rissen an Caydens Haaren, an seinem Arm und überhaupt an allem, was sie zu fassen bekamen, während der Körper unter ihm sich immer wieder aufbäumte und der stechende Geruch von Angst und Panik immer intensiver wurde.

Er trank nicht zu viel von dem Ersten, obwohl sein brüllender Durst ihn zu sehr viel mehr angetrieben hätte. Doch Cayden kannte sich gut genug, um zu wissen, wann er jemandem wirklich schaden konnte. Deshalb ließ er schließlich von dem wimmernden Mann ab, versorgte nur grob dessen Wunde, um keine Spuren zu hinterlassen und ließ ihn dann los.

Kaum begriff der Kerl, dass er frei war, suchte er auch schon das Weite, anstatt seinen Freunden zu helfen. Auch das war nichts Neues.

Gut für Cayden, denn so konnte er sich in aller Ruhe um den Kerl kümmern, auf dem er immer noch hockte und der inzwischen schon vollkommen starr vor Entsetzen war.

Er wehrte sich noch nicht einmal, als Cayden zubiss, was seine schmerzenden Rippen und seine brennende Kopfhaut ihm auf alle Fälle dankten.

Zehn Minuten später war alles vorbei. Sowohl der ungewollte Akt der Gewalt, wie auch die schmerzenden Auswirkungen seiner Durststrecke.

Cayden fühlte sich mit jedem Schritt, den er wieder in Richtung Innenstadt tat, besser. Seine Kräfte, seine Ausdauer und Vitalität kehrten zurück und die Schmerzen in seinen Gliedern kamen lediglich noch von den unfreiwilligen Prügel, die sein Körper während des Trinkens hatte beziehen müssen. Aber nichts, was nicht bald wieder verschwinden würde.

Eine heiße Dusche und frische Sachen und er war wieder wie neu geboren.

Einzig und allein der goldene Ring in seiner Hosentasche erinnerte ihn noch an die Qualen dieses Abends und sogar an einige unangenehme Momente in den letzten zehn Jahren. Doch auch diesen wurde er auf dem Weg zu seinem Appartment los, in dem er ihn in die Dose eines Obdachlosen warf, der ihn um etwas Kleingeld anbettelte.

Zwar keine Kloake, so wie er sich das eher vorgestellt hätte, aber immerhin erfüllte er noch zum Schluss einen guten Zweck.
 

 

***

 

Es war zwar schon viel zu spät, als er frisch geduscht und dieses Mal mit seinem Wagen unterwegs vor Emmas Haus parkte und innerlich sowohl zitterte, wie auch betete, dass sie noch wach sein möge.

Es war zwar egoistisch von ihm, doch er wollte sich nach diesem Abend nur noch in ihre Wärme verkriechen und alles andere vergessen. Wenigstens heute Abend wollte er nicht mehr an all die Dinge denken, auf die er absolut nicht stolz war. Aber zumindest war er nun frei, als er an die Tür klopfte, da er zwar noch Licht gesehen hatte, aber keinen ihrer Mitbewohner aufwecken wollte.

 

„Ich find diese runden Dinger so cool! Das wäre doch mal ein Ersatz für den Bus.“

„Du fährst doch eh nicht mit dem Bus.“

„Dann würde ich aber mit dem Bus fahren.“

Kathy begeisterte sich nicht nur für die Transportmittel, sondern überhaupt für das hübsche Eiland, auf dem die 'Unglaublichen' gerade ihren Showdown erlebten. Gemeinsam als Familie und natürlich mit ganz viel Drama.

Emma mochte die kleine Tochter der Familie mit den dunklen Haaren. Ihre Kräfte waren die Coolsten und außerdem fand sie die Einstellung des Mädchens irgendwie gut. Normal sein ... hatte doch etwas für sich.

Sie nahm einen Schluck Kinderpunsch und ein paar Chips und kaute knuspernd vor sich hin. Oh man, zum Glück war das nichts, auf das sie wegen der Schwangerschaft verzichten musste. Kaffee und Weißwein waren Opfer genug. Wie sie sich als Raucherin hätte fühlen müssen, wollte sie sich gar nicht vorstellen.

„Gibst du mir auch welche?“

Die Tüte raschelte über Emmas Kopf, als Rob herzhaft hineingriff und sich eine ganze Hand voll Chips auf Vorrat heraus holte. Bei Emma eine gute Idee. Denn wenn sie einmal die Herrschaft über die Tüte hatte, konnte diese sich fast in Lichtgeschwindigkeit leeren.

Wieder ein Rascheln, aber diesmal hielt Emma inne und sah mit Rob zusammen in Richtung Küche.

„Hat’s geklopft?“

Emma zuckte die Schultern und Kathy stellte verwundert den Ton leiser, bevor sie nach einem zweiten, diesmal deutlichen Klopfen an der Tür, auf Pause drückte.

„Oh man ...“

Rob stand seufzend auf. Wenn jemand so spät in der Nacht noch vorbei kam, dann konnte es nur ein sehr guter Freund sein oder jemand, der sich in der Tür geirrt hatte. Egal, was der Fall war, Rob hätte nie eines der Mädels um diese Uhrzeit an die Tür gelassen. Selbst er warf normalerweise zuerst einen prüfenden Blick durch den Türspalt, bevor er öffnete.

Emma hörte ihn mit jemandem reden. Aber außer „Hi“ verstand sie das Gemurmel nicht. Sie bekam bloß mit, dass Rob denjenigen an der Tür offensichtlich hereinließ.

Kathy tauschte mit Emma fragende Blicke.

 

Eigentlich hatte er damit rechnen müssen, aber er war trotzdem überrascht nicht Emma an der Tür zu sehen sondern einen Mann.

Hätte sie ihm nicht schon so viel von ihren Mitbewohnern erzählt, wäre er vielleicht auf der Stelle eifersüchtig geworden, so aber begrüßte er Rob – sofern es wirklich Rob war – freundlich und entschuldigte sich für sein spätes Erscheinen, ehe er sich vorstellte.

Offenbar hatte auch Emma etwas über ihn erzählt, denn Cayden musste nur seinen Namen erwähnen und schon ließ der andere ihn herein.

Neugierig betrat er das fremde, ihm völlig unbekannte Haus und sah sich um, bis Rob ihn durch den Flur ins Wohnzimmer führte.

Alles war so anders, als er es gewohnt war und doch konnte er nicht umhin, es auf der Stelle gemütlich zu finden. Allein die Gerüche im Haus waren heimelig und einladend. Cayden fühlte sich sofort wohl.

Sein Herz schlug plötzlich schneller, als er um die Ecke kam und Emma zusammen mit einer zweiten Frau gemütlich vor dem Fernseher sitzen sah.

Kathy beachtete er kaum, da er nur noch Augen für Emma hatte.

„Guten Abend. Ich hoffe, ich störe nicht.“

Gott, er wollte sie einfach nur umarmen und küssen. Wagte es jedoch nicht, so einfach in ein fremdes Territorium vorzudringen.

 

Konnten einem wirklich die Augen aus dem Kopf fallen?

Emma war sich nicht so sicher und bemühte sich daher redlich, ihre unglaublich überraschte Miene wieder zu ordnen, bevor sie möglichst schnell vom Boden hochkam.

„Hi!“

Sie war noch nicht ganz auf den Füßen, aber doch irgendwie schon auf dem Weg durch den halbdunklen Raum. Dass sie nicht stolperte oder irgendwo dagegen rannte, war vermutlich eine Nebenwirkung des Schwebens, das Caydens überraschender Besuch bei ihr verursachte.

Oh man, er war hier!

„Hi“, sagte sie noch einmal, bevor sie ihn überschwänglich umarmte.

Man merkte sofort, dass er von draußen kam. Selbst die Kapuzenjacke war kühl und erst recht Caydens Hände, die Emma in ihre nahm, bevor sie ihm einen Kuss auf die Lippen gab.

Anstatt noch einmal 'Hi' zu sagen, strahlte sie ihn ungefähr eine Minute lang ungläubig und total glücklich an, bevor sie sich darüber klar wurde, dass sich zwei Augenpaare mehr als neugierig auf sie beide richteten.

„Ähm ...“

Emma dachte nicht einmal daran, Caydens Hand loszulassen, sondern lehnte sich auch noch an ihn, während sie die Truppe miteinander bekannt machte.

„Die reizende Dame auf dem Sofa ist Kathy und der nette Herr, der dir die Tür aufgemacht hat, ist Rob. Und das hier ... ist Cayden.“

Am liebsten hätte sie ihn gleich wieder umarmt und „mein Cayden“ hinzugefügt. Aber Emma konnte sich gerade noch so beherrschen. Stattdessen sah sie immer noch mit einem überglücklichen Funkeln in den Augen zu ihm hoch.

„Wir schauen DVD. Willst du ... dich dazu setzen? Oder was zu trinken?“

Ihr Herz machte einen erschrockenen Sprung, als Emma der giftige Gedanke kam, er könnte nur kurz vorbei gekommen sein. Nur für ... ach, was wusste sie schon? Vielleicht wollte er nur Hallo sagen oder ihr etwas bringen oder ... Keine Ahnung.

Er sollte nicht gleich wieder gehen!

 

Cayden war sich gar nicht im Klaren darüber, dass sein Gesicht ungefähr genauso strahlen musste, wie das von Emma, als er sie auf sich zustürmen sah. Dabei war sie so flink, dass er gerade noch die Arme ausbreiten konnte, um sie abzufangen, als sie sich so euphorisch an ihn schmiegte.

Er tat es ihr gleich und hob sie dabei sogar von den Füßen, bis viel zu schnell der Moment kam, an dem er sie wieder ein Stück loslassen musste, obwohl ihm das gerade gar nicht recht war. Aber er sah natürlich ein, dass es auch ziemlich unhöflich gewesen wäre, sich nicht vorzustellen.

Umso glücklicher jedoch war er über Emmas Angebot.

„Ja, sehr gerne. Schließlich habe ich schon viel von den berühmten DVD-Abenden hier gehört. Und nein danke. Ich … habe heute schon genug getrunken“, fügte er noch etwas leiser hinzu, während er Emmas Handrücken streichelte und sich der Bedeutung bewusst wurde, wie sehr seine Worte der Wahrheit entsprachen. Aber zum Glück musste er sich darüber momentan keine Sorgen mehr machen. Seine einziges Verlangen war nun nur noch bei Emma zu sein und das war er. Es könnte ihm momentan also gar nicht besser gehen, auch wenn er immer noch etwas aufgewühlt, über die vergangenen Ereignisse an diesem Abend war.

 

„Okay, gut, dann ...“

Emma wurde sich erst jetzt bewusst, dass ihr das Herz aufgeregt bis zum Hals schlug. In dieser Situation war sie nie wirklich gut. Mit Rob und Kathy kam sie klar und mit Cayden natürlich auch. Aber die Drei zusammen waren irgendwie ein bisschen einschüchternd. Zumal Emma niemand war, der sich locker und offen zu seinen Gefühlen für einen Mann bekannte. Selbst vor ihren beiden besten Freunden nicht.

Aber da er nun einmal hier war und Emma sich riesig und ehrlich darüber freute, wollte sie ihr Bestes tun, damit alles gut lief.

Wobei sie da schon über das erste Problem stolperte.

„Also ... ich sitze auf dem Fußboden. Zwischen den Sofas. Da ist’s wegen des Teppichs sehr gemütlich. Aber wenn du lieber auf der Couch sitzen willst ...“

„Ich kann mich zu Rob setzen, wenn ihr wollt“, bot Kathy netterweise an, aber Cayden lehnte genauso höflich ab und setzte sich zu Emma auf den Fußboden. Dort konnte sie ihm auch gleich das reichhaltige Menü an Knabberzeug zeigen, bei dem sie betonte, dass er sich einfach nehmen sollte, wenn er Lust darauf hatte.

„Und bitte ohne vorher zu fragen. Glaub mir, wenn du zweimal hier warst, musst du dich eh selbst bedienen.“

Nachdem sie es sich alle wieder bequem gemacht und den Film gestartet hatten, konnte Emma trotzdem nicht anders, als sich ganz nah an Caydens Ohr zu lehnen und ihn so leise wie möglich etwas zu fragen.

„Geht’s dir wieder besser?“

 

Der Film interessierte Cayden herzlich wenig, zumal er gar keine Ahnung hatte, worum es ging und sich das wohl auch nicht mehr ändern würde. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf Emma gerichtet, auch wenn sein Blick geradeaus ging.

Als sie ihn jedoch ganz leise und doch gut verständlich frage, ob es ihm besser ginge, drehte er langsam den Kopf zu ihr herum, sodass ihre Nasen beinahe aneinanderstießen. Dabei sah er ihr tief in die Augen, während er seinen Arm um ihre Schultern schlang.

Seine Antwort bestand aus einem einzigen gehauchten Wort.

„Ja.“

Caydens Lippen streiften nur flüchtig die von Emma, weil er sich nur allzu sehr der Zuschauer bewusst war, die gerade dabei waren, nicht zu versuchen, herzusehen. Aber das hieß nicht, dass sie nicht trotzdem noch immer da gewesen wären. Also gab er sich vorerst damit zufrieden, Emma einfach näher an sich zu ziehen, sie zu streicheln, mit ihrem offenen Haar zu spielen und so zu tun, als würde er sich für den Film interessieren, während seine Gedanken um ganz andere Dinge kreisten.

Irgendwann, es musste schon gegen Ende des Filmes sein, während die Wachsamkeit der beiden Wächter auf der Couch etwas nachließ, zog Cayden Emma leise auf seinen Schoß, sodass er sie richtig in den Arm nehmen und seine Hände auf ihren Bauch legen konnte, während er sein Kinn auf ihrer Schulter abstützte und auch immer wieder sein Gesicht in ihrem Haar vergrub.

Er wollte einfach nur noch in ihrem Duft abtauchen, ihre Wärme spüren und es genießen, keine Bedrohung mehr für sie und das Baby zu sein. Dabei war ihm die fremde Umgebung egal. Sogar die Anwesenheit von ihm fremden Personen war nicht wichtig. Momentan drehte sich seine kleine Welt nur um Emma und dem neuen Leben, das in ihr heranwuchs.

 

Glücksgefühle rieselten durch Emmas Körper, als er sie nicht nur in den Arm nahm, sondern sie nach einer Weile sehr geschickt auf seinen Schoß zog. Ganz kurz war es Emma peinlich. Aber wirklich nur für den Hauch eines Moments, der so schnell wieder verging, dass ihr kaum noch klar war, dass das Gefühl aufgetaucht war. Stattdessen lehnte sie sich vertrauensvoll an Cayden an, legte ihre Hände auf seine und versuchte nicht ganz so offensichtlich verträumt zu lächeln, während sie zwar den Fernseher anstarrte, aber nicht eine Sekunde der Handlung des Films mitbekam.

Als dieser allerdings zu Ende ging, war Emmas Nervosität sofort wieder da und es kam irgendwie Leben in ihren Körper, das nicht wusste, wohin es als erstes sollte. Natürlich wollte sie so an Cayden gekuschelt sitzenbleiben. Aber andererseits war es wirklich schwierig für sie sich vor Kathy und Rob so zu offenbaren. Noch dazu wollte sie nicht, dass die beiden sich sofort aufs Abstellgleis gestellt fühlten, bloß weil Cayden beschlossen hatte, vorbeizukommen. Immerhin hatten die beiden sich so gefreut, dass Emma einmal wieder zu Hause war und auch gleich Feuer und Flamme für den DVD-Abend gewesen war.

Erst als Rob aufstand, um den Film aus dem Player zu nehmen, sah Emma, dass die Situation gar nicht so kompliziert sein musste, wie sie sich das ausmalte. Denn Rob sah nicht etwa mit einem Blick auf sie herunter, der besagte, dass ihm der Neue in der Runde nicht ganz geheuer war, sondern er sah einfach ... ganz normal aus.

„Also ich arbeite ja Morgen erst ab zehn und würde noch eine DVD schaffen. Wie steht’s mit euch?“

Kathy antwortete mit einem herzhaften Gähnen und indem sie von der Couch aufstand und ihr Glas und ihren Puddingbecher zusammenpackte.

„Ich schwirr ab ins Bett. Morgen sind wieder Überstunden angesagt und meinen Boss kann ich mit wenig Schlaf selbst mit der Aussicht aufs Wochenende nicht ertragen. Ich wünsch euch was. Gute Nacht.“

„Nacht.“

Emma sah zu Cayden hoch, aber eigentlich wusste sie schon, was die vernünftige Antwort auf Robs Angebot war.

„Ich persönlich sollte auch ins Bett. Strenger Chef, du weißt schon.“

Sie grinste und versuchte dann irgendwie von Caydens Schoß hochzukommen, ohne sich zwischen ihm und dem Couchtisch einzuklemmen oder Cayden ihren Po ins Gesicht zu halten.

„Okay, dann schau ich allein. Cayden, du bist sicher? Jetzt würde auch ordentliches Programm laufen. Ich hab den Zeichentrick nicht ausgesucht.“

Da Rob sich die Hülle mit dem koreanischen Krimi schnappte, versucht Emma umso schneller das Wohnzimmer zu verlassen und zog Cayden einfach mit sich. Als würde irgendjemand glauben, dass sie ihn hier ließ, wenn er doch ganz schnell mit ihr in ihr Bett gehörte!

 

Mit einem Gemisch aus Bedauern und Erleichterung ließ er Emma wieder los und stand ebenfalls auf. Das Bedauern kam daher, weil er sie überhaupt loslassen musste und die Erleichterung, weil das bedeutete, sie würden gleich ganz für sich alleine sein.

Er wünschte Kathy ebenfalls eine gute Nacht und konnte über Emmas Kommentar, was den strengen Chef anging, nur grinsen.

Bei Robs Frage, was einen ‚Erwachsenenfilm‘ anging, musste er leider passen. Emma war schneller.

„Tut mir leid, Rob. Mir wurde gerade das Stimmrecht entzogen. Viel Spaß noch.“

Emma zog ihn vehement zu ihrem Zimmer, das er noch nie gesehen hatte und auf das er durchaus äußerst neugierig war. Weshalb er sich auch zunächst gründlich umsah, anstatt seinem spontanen Verlangen nachzugeben.

Das Flair war das gleiche, wie der Rest vom Haus, nur waren hier viel mehr von Emmas persönlichen Gegenständen zu entdecken und Cayden trat sofort an ein Bild heran, das offenbar sie und ihre Mutter darstellte. Danach ein paar Fotos von ihr und ihren Mitbewohnern. Vermutlich auch eines vom Kater Percy.

Als Emma schließlich die Tür ganz schloss, richtete Cayden sich wieder auf und sah sie an. Sehr lange, ehe er auf sie zu ging.

42. Kapitel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

43. Kapitel

Steve gab ein leises Pfeifen von sich, als er die offensichtlich teure Eingangshalle des renovierten Bürogebäudes aufmerksam musterte und seine Neugierde trotz des Ernstes ihres Besuches nicht zügeln konnte.

So war er früher auch gewesen. Jung und naiv. Jetzt, drei Jahre vor der Pensionierung, hatte er so gut wie alles gesehen, was man in seinem Beruf nur sehen konnte, wenn man nicht ständig am Schreibtisch hockte und er wusste, dass er gerade bei so dicken Fischen wie diesem Calmaro bloß keine Sekunde lang, seine Aufmerksamkeit vernachlässigen durfte. Es waren gerade die stillen, offenkundig braven Bürger, die die meisten Leichen im Keller hatten.

Bei diesem Kerl, wegen dem sie heute Morgen bereits eine Sightseeingtour durch die Stadt machen mussten, stapelten sich bestimmt schon die Leichen. Es würde ihm eine Freude sein, jede einzelne davon auszugraben.

„Ich kann einfach nicht fassen, dass der Kerl zu so etwas fähig ist“, bemerkte Steve, als sie alleine im Fahrstuhl standen. Offensichtlich immer noch leicht schockiert, dass sein Lieblingsmusikproduzent so ein Schwein sein sollte. Nun, es wurde einmal Zeit, dass der Junge in die Realität fand, bevor ein Bandenmitglied mit einer Waffe ihn mit Gewalt dazu zwang.

Benett war immer noch der Meinung, dass sein Partner hinter einem Schreibtisch besser aufgehoben wäre, als bei ihm auf der Straße. Aber in drei Jahren würde das ohnehin nicht mehr sein Problem sein und im Augenblick hatte er größere Sorgen.

Die Fahrstuhltüren öffneten sich, und obwohl es noch relativ früh war, herrschte schon reges Treiben in den kleinen überschaubaren Büroabteilungen. Natürlich saß der Boss ganz hinten.

„Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe“, raunte Benett seinem Neuling leise zu, während er jedes einzelne Gesicht gründlich musterte.

„Klappe zu und Augen offen halten. Hab’s nicht vergessen.“

Oh Wunder.

Da momentan nur ein Schreibtisch vor Calmaros Büro besetzt war, wandte er sich an die brünette Sekretärin und zeigte ihr seine Dienstmarke.

„Morgen. Ist ihr Boss zu sprechen? Wir hätten einige Fragen an ihn.“

 

Den Ohrwurm vom Morgen summend tippte Emma ein paar Geschäftsbriefe ab. Immer wieder standen ihr Bilder von der vergangenen Nacht und auch vom gemeinsamen Morgen mit Cayden vor dem inneren Auge, was sie häufig ein wenig aus dem Konzept brachte und ihre Arbeitsgeschwindigkeit ein bisschen bremste. Und dabei war heute die Hölle los.

Immer nur zwischendurch kam Emma überhaupt dazu, sich den Aufgaben zu widmen, die täglich erledigt werden mussten. Ansonsten lief heute das Telefon Sturm und ständig kamen neue E-Mails mit irgendwelchen Anfragen herein. Gut für Cayden und die Firma, denn das versprach eine gute nächste Saison, aber so langsam wusste Emma nicht mehr, ob das Summen noch auf Kontrolle oder nahenden Wahnsinn hindeutete. Könnte schon sein, dass ihr irgendwann wegen der ganzen Hetze der Kragen platzte.

Weiter tippend bemerkte sie zwei Männer, die auf das Büro zukamen und schließlich für die Anmeldung vor ihrem Schreibtisch stehenblieben.

Lächelnd sah Emma auf und wünschte den beiden erst einmal einen guten Tag, selbst wenn ihr das Herz sofort seltsam hektisch zu klopfen begann, als sie die Formulierung des älteren Polizisten hörte.

War denn etwas passiert?

Emma warf einen Blick zu Caydens Bürotür und nahm dann den Hörer vom Telefon, um die beiden anzumelden.

„Sie können direkt reingehen. Möchten Sie Kaffee oder Tee?“

Emma ging zur Tür hinüber und öffnete sie für die beiden Polizisten. Sie hoffte bloß, dass die beiden wirklich etwas zu trinken wollten. Denn das hieße, dass Emma zumindest die Stimmung auffangen konnte, wenn sie das Zeug im Büro ablieferte.

 

Verwundert legte Cayden den Telefonhörer wieder auf, nachdem Emma ihm seinen Besuch angekündigt hatte.

Was wollte denn die Polizei hier? Hatten ihn die Typen gestern Nacht denn erkannt? Aber selbst wenn, keiner von denen wäre so dumm, deswegen zur Polizei zu rennen, schließlich würde ihnen das niemand glauben.

Aber warum dann? War vielleicht etwas mit Brad? Er hatte schon lange nichts mehr von seinem Freund und Bandmanager gehört. Nicht, seitdem er sich bis ins Krankenhaus gesoffen hatte. Aber selbst das konnte er sich nicht wirklich vorstellen. Eigentlich hatte Cayden keine Ahnung, um was es ging, weshalb auch herumrätseln nichts brachte. Zudem kamen geraden die beiden Polizisten herein.

Der Jüngere bestellte bei Emma einen Kaffee. Der sehr viel ältere Cop lehnte dankend ab und musterte ihn stattdessen mit Augen, die nichts Gutes versprachen. Trotzdem stellte er sich höflich vor und zeigte ihm auch seine Dienstmarke.

Rein der Form halber bot Cayden den beiden an, sich zu setzen, doch alles in ihm wurde mit einem Schlag wachsam, als er die Gefühle im Raum witterte und sein Vampirsinn ihm sehr deutlich vermittelte, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte.

„Meine Assistentin sagte mir, sie hätten ein paar Fragen an mich. Um was geht es, meine Herren?“

Der ältere Mann lehnte sich scheinbar lässig aber trotzdem irgendwie steif in seinem Stuhl zurück, nachdem beide sich gesetzt hatten.

„Ich bin kein Freund von langen Ansprachen, also mache ich es kurz. Wo waren Sie gestern Abend zwischen 21 Uhr und 6 Uhr heute Morgen?“

Obwohl Cayden es sich nicht anmerken ließ, begann er sich doch zusehends zu versteifen. Erst recht, da ihm nicht der ausdruckslose Blick des älteren und der fast schon vorwurfsvolle Blick des jüngeren Polizisten entging.

Er stand unter Verdacht. Wegen etwas, das er gestern in diesem Zeitraum getan hatte. Ein Zeitraum, in dem er unglücklicherweise ziemlich aktiv gewesen war.

Zum einen hätte er da die Trennung von Vanessa hinter sich gebracht, aber deswegen würde man ihm wohl kaum so einen Blick schenken. Dann wären da noch die drei Typen gewesen, an denen er seinen Durst gestillt hatte. Gut möglich, dass es tatsächlich um diesen Vorfall ging. Eigentlich sogar die einzige Möglichkeit, denn Sex mit Emma zu haben, war vielleicht in den Augen der Kirche als verheirateter Mann ein Verbrechen, aber sicherlich nicht in denen der Justiz.

Trotzdem wollte er nicht so recht glauben, dass es sein Verbrechen an Verbrechern gewesen sein sollte.

Gerade als er den Mund öffnen wollte, kam Emma mit dem Kaffee herein. Cayden vermied es, sie auch nur anzusehen, sondern fixierte stattdessen den graumelierten Cop, der ihn ebenfalls nicht aus den Augen ließ.

Schweigend warteten sie, bis sie das Büro wieder verlassen hatte.

„Also?“, versuchte es Detective Benett noch einmal.

„Ich war unterwegs. Aber das ist wohl kaum ein Verbrechen. Also, wieso sagen Sie mir nicht einfach, weswegen Sie hier sind, denn ich bin ebenso kein Freund langer Reden.“

Der Cop blieb kühl und gefasst so wie Cayden. Nur der Jüngere gab ein leises Schnauben von sich, versteckte es aber gekonnt hinter einem Schluck aus seiner Kaffeetasse.

„Hat Ihr Weg Sie gestern Nacht zufälligerweise auch nach Hause geführt?“

Cayden wurde immer unwohler zumute, zögerte aber nicht mit seiner Antwort.

„Natürlich. Sonst würde man es wohl kaum ein Zuhause nennen.“

„Interessant.“

Nun lehnte sich der Mann etwas nach vorne und kramte einen Block aus seiner Jackentasche, auf dem wohl Notizen standen.

„Laut angaben des Portiers unten in der Lobby besitzen Sie einen Zweitwohnsitz direkt über unseren Köpfen, und obwohl der Mann mir keine näheren Angaben geben wollte, gab er jedoch zu, dass Sie das Bürogebäude abends oft nicht mehr verlassen haben. Was mich vermuten lässt, dass Sie hier öfter schlafen als in ihrem angeblichen Zuhause. Wollen Sie das abstreiten?“

„Nein, wohl kaum. Aber ich wüsste nicht, was daran falsch wäre, wenn man nach der Arbeit schon zu müde ist, um durch die halbe Stadt zu fahren, nur um in einem Bett zu schlafen, das ich hier ebenfalls haben kann.“

„Und was ist mit ihrer Frau? Vermissen Sie sie denn nicht, wenn Sie ständig auswärts schlafen?“

Cayden hatte keine Ahnung, was das jetzt wieder sein sollte, aber er würde wohl erst eine offene Antwort aus dem Cop heraus kitzeln können, wenn er dessen Fragen erst einmal beantwortete. Zumindest hoffte er das.

„Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, was die Frage soll. Sie ist ebenso oft beruflich unterwegs, wie ich Überstunden in diesem Büro hier mache. Nach zehn Jahren Ehe muss man sich damit abfinden, sich nicht öfter sehen zu können und überhaupt ist sie die meiste Zeit nicht einmal auf unserer Insel. Warum sollte ich also zuhause schlafen, wenn mich hier und dort ein leeres Bett erwartet?“ Oder besser gesagt erwartet hatte. Schließlich gab es da nun Emma, doch das würde er diesen beiden Menschen sicherlich nicht auf die Nase binden. Ebenso wenig, dass er gestern Nacht zu besagter Zeit auch bei ihr gewesen war.

„Das stimmt allerdings. Ich kann mir vorstellen, dass das sehr belastend für Ihre Ehe sein muss. Streiten Sie sich denn oft … deswegen?“

Wieso interessierte es diesen Benett, ob er deswegen mit seiner … Frau…

Cayden setzte sich kerzengerade in seinem Stuhl auf, bevor er die Reaktion verbergen konnte.

„Was ist mit ihr?“, wollte er immer noch ruhig, aber keinesfalls mehr gelassen wissen. Irgendetwas im Ausdruck des anderen veränderte sich, doch es war so subtil, dass selbst Cayden es nicht erkennen konnte, weshalb er sich an den Jüngeren wandte. Der sah eindeutig durcheinander aus. Und auch sein Geruch vermittelte zwiespältige Gefühle. Er war verunsichert.

„Bevor ich Ihnen das sage, hätte ich gerne noch eine andere Frage von Ihnen beantwortet.“

Cayden sah wieder den älteren Mann an, der schließlich in Richtung seiner linken Hand nickte.

„Wo ist Ihr Ehering?“

Dass der Kerl ihm noch immer eine Antwort verweigerte, machte Cayden wütend, weil er sich nun verdammt sicher war, dass hier irgendetwas nicht stimmte und er wollte sofort wissen, was es war, anstatt das Frage-und-Antwort-Spielchen zu spielen.

„Ich habe ihn verloren. Also, was ist mit meiner Frau?“

Nun wurde der Blick des Bullen eindeutig kalt.

„Wieso sagen Sie uns das nicht? Sie müssten es schließlich am besten wissen.“

„Und woher sollte ich das? Ich weiß nur, dass sie gestern verspätet von ihrem Flug heimgekommen ist. Danach bin ich gegangen und habe sie seither nicht gesehen.“

„Und in welchem Zustand war sie, als Sie gegangen sind?“

„In normaler Verfassung, vielleicht etwas müde vom Flug, aber ich versteh nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hat, also sagen Sie mir endlich, was mit meiner Frau ist!“

Zugegeben, Vanessa war ihm absolut egal, aber dass man ihn hier behandelte, als müsse er gleich freiwillig ein Geständnis abgeben, ging ihm verdammt gegen den Strich, und obwohl sein Tonfall immer noch kühl und beherrscht war, waren seine Gefühle es nicht. Er hasste es, wenn man Spielchen mit ihm spielte, um ihn hereinzulegen. Denn das taten die beiden doch, oder etwa nicht? Oder warum sahen die beiden ihn nun an, als wäre es so offensichtlich, dass er etwas ausgefressen hätte, und wie naiv es doch war, es nicht zuzugeben.

„Okay, noch einmal“, begann Cayden absolut beherrscht, obwohl er gerade noch so seine Fänge zurückhalten konnte.

„Ich weiß nicht, was mit meiner Frau ist. Es ging ihr gut, als ich sie gestern Nacht verlassen habe und ich bin auch bis jetzt nicht mehr in meinem Haus gewesen. Also, wenn etwas mit ihr ist, sagen Sie es mir bitte.“

Der alte Cop seufzte schließlich und stand auf.

„Eigentlich hätte ich von einem Mann wie Ihnen mehr erwartet. Zumindest, dass Sie das nötige Rückgrat besitzen, zu Ihren Taten zu stehen. Aber wenn das so ist: Cayden Calmaro, ich verhafte Sie wegen des dringenden Tatverdachts auf schwere Körperverletzung und sollte sich der Zustand Ihrer Frau nicht mehr verbessern, können Sie sich mit Todesfolge rühmen.“

Was?!

 

Emma hatte sich etwas irritiert an ihren Schreibtisch gesetzt und kurz mit dem Gedanken gespielt, die Gegensprechanlage für Lauschzwecke zu nutzen. Aber das wäre nicht nur sehr unreif, sondern auch noch gefährlich gewesen, wenn man sie erwischt hätte. Die beiden Polizisten hatten nämlich nicht so ausgesehen, als wären sie zu einem Schwatz hier oder hatten nach jahrelanger Fahndung ein Fahrrad gefunden, das Cayden als gestohlen gemeldet hatte. Irgendwie hatten die beiden Männer etwas ... Schwerwiegenderes an sich.

Leicht nervös zupfte Emma an ihrem Rocksaum herum und tippte dann weiter ein paar Diktate ab. Allerdings nicht, ohne immer wieder einen Blick auf die Bürotür oder auf den Knopf der Gegensprechanlage zu werfen.

Was war denn nur los?

Eigentlich konnte es ja gar nichts Schlimmes sein. Oder war einem Verwandten von Cayden vielleicht etwas passiert. Dann kam doch auch die Polizei vorbei, oder nicht?

Mit einem unwirschen Geräusch widmete sich Emma wieder ihrem Diktat. Immerhin ging sie das alles nichts an. Und Cayden würde ihr schon erzählen, was los war, wenn er es ihr anvertrauen wollte.

Sie hoffte nur, dass es ihm gut ging und er keine schlechten Nachrichten erhalten hatte.

 

Cayden begriff es noch immer nicht. Nicht einmal, als der Cop ihm seine Rechte erklärte und ihn dazu aufforderte, die Hände über den Kopf zu nehmen und sich umzudrehen.

Erst als er die Handschellen sah, kam wieder Leben in Cayden und er sprang von seinem Stuhl auf, was sofort die Polizisten in Alarmbereitschaft versetzte. Doch er rührte sich nicht weiter, obwohl alles in ihm nach Flucht schrie.

Es war zwar unbegründet, fliehen zu wollen, da er nichts getan hatte, was das hier rechtfertigen würde, aber allein der Gedanke, in Ketten zu liegen ...

Er wollte fauchen, die Cops bedrohen und ihnen zeigen, dass sie ihn schon niederschießen müssten, um ihn zu bekommen, doch das alles war der irrationale Teil in ihm, der sich in Sicherheit bringen wollte. Sein zivilisierter Verstand jedoch riet ihm, sich nicht zu wehren und zu tun, was man ihm sagte. Denn auch wenn er es hasste, gefesselt zu sein, so war es doch besser zu kooperieren. Schließlich würde alles andere nur noch mehr Verdacht auf ihn ziehen und das, obwohl er nichts getan hatte.

Schweren Herzens und all seine Instinkte unterdrückend, biss Cayden die Zähne zusammen und nahm die Hände hinter den Kopf, damit Mr. Harter-Bulle ihn festnehmen konnte.

Cayden könnte die Handschellen ganz einfach zerreißen. Das wäre kein Problem für ihn gewesen. Er könnte selbst die beiden Menschen außer Gefecht setzen, bevor diese auch nur irgendetwas registrierten. Doch was hätte das bewiesen? So schwer es ihm auch fiel, er ließ sich widerstandslos abführen und musste dabei all seine Selbstbeherrschung aufbieten, daran nichts zu ändern.

Eigentlich hatte er gedacht, er hätte schon seine schlimmsten Momente im Leben hinter sich gebracht, doch da hatte Cayden sich wohl geirrt. Der Marsch vor das Büro – direkt unter Emmas Augen! – und die anschließende Tortur den Büroflur entlang, an den vielen Mitarbeitern vorbei, das war mit Abstand das Schlimmste, was man ihm in zweihundert Jahren angetan hatte.

Dabei noch seine Würde zu behalten und den Blick nicht zu senken, war schwerer, als einen ganzen Berg auf den Schultern zu tragen. Doch am Quälendsten war, dass er nicht die Chance bekam, Emma irgendetwas zu erklären, da man ihn so rasch wie möglich raus führte, wie einen … wie einen Verbrecher.

 
 

***

 

„Hallo? Ja, hier ist Cayden Calmaros Büro. Ich muss Mr. Fletcher sprechen.“

Emma stand neben dem Gummibaum und sah durch den Flur immer noch auf die Türen des Aufzugs, die sich bereits vor Stunden geschlossen zu haben schienen. Cayden war verhaftet worden. Das war kaum zu übersehen gewesen. Und anstatt irgendetwas Sinnvolles zu tun, hatte Emma – wie alle anderen im Büro – zuerst einmal mit Neugier und dann mit Verwirrung und anschließend mit Unglauben reagiert.

Er hatte nichts gesagt, sie nicht einmal eines Blickes gewürdigt. Genauso, wie die Polizisten kein Wort für die kleine Sekretärin übrig gehabt hatten. Niemand hatte ihr etwas erklärt.

Aber blöd war Emma auch nicht!

„Nein, kann ich nicht. Mr. Calmaro ist verhaftet worden. Ich muss Mr. Fletcher sofort sprechen.

...

Dann soll er sein Sandwich wieder einpacken und später weiter essen!“

Gott, die arme Frau am anderen Ende der Leitung konnte doch auch nichts dafür. Aber Emma konnte gerade nicht anders, als ein wenig ihree Unsicherheit auf sie umzuleiten.

Scheiße, er war in Handschellen abgeführt worden!

 
 

***

 

„Ich weiß nicht, wie oft ich es Ihnen noch sagen soll“, knurrte Cayden inzwischen vollkommen entnervt, weil dieses Verhör nun schon mehr als eine Stunde andauerte und ohnehin nichts dabei raus kam.

„Ich habe meine Frau ungefähr um halb zehn Uhr abends verlassen. Wir hatten uns gestritten, weil ich die Scheidung wollte und ja, dabei sind wir lauter geworden, aber ich habe sie nicht geschlagen und schon gar nicht verprügelt!“

„Aha. Und Sie sagen, Sie haben das Haus um halb zehn verlassen?“

„Ja!“

Verdammt noch mal, wie oft sollte er das dem Kerl noch sagen?

„Und dabei ist alles ganz friedlich abgelaufen? Keine Sachen sind geflogen oder geworfen worden. Sie oder Ihre Frau haben nichts in ihrem Heim beschädigt?“

„Nein. Als ich ging, war alles so, wie es sein sollte. Obwohl ich ihr durchaus zutraue, dass sie anschließend vor Wut irgendwelche Antiquitäten zertrümmert haben könnte.“

„Und dieser Drang überkam Sie nicht?“

Nein, zu dem Zeitpunkt nicht, aber momentan reizte es Cayden tatsächlich etwas, seine Faust direkt auf den braunen Schnauzer seines Gegenübers zu donnern. Allerdings beließ er seine Hände, wo sie waren – deutlich ruhig vor sich auf dem Tisch – und beantwortete weiter sinnlose Fragen.

„Nein, schließlich bin ich es, der die Scheidung will. Warum sollte ich also wütend werden?“

Der ältere Mann mit dem ausdruckslosen Gesicht zuckte einfach nur mit den Schultern.

„Keine Ahnung. Vielleicht hat sie etwas gesagt, was Ihnen nicht gefallen hat. Vielleicht ging es um das gemeinsame Vermögen. Löcher im Ehevertrag, was weiß ich?“

Je mehr Cayden sich aufregte, umso ruhiger wurde ihm am Ende zu Mute. Weshalb er sich nur mit einem eindeutigen Blick vorlehnte und den Cop fixierte.

„Ich habe den Vertrag selbst aufgesetzt. Da gibt es keine Schlupflöcher und meine Frau bekommt nicht nur das Haus, sondern auch noch eine äußerst großzügige Entschädigung, von der Sie nur träumen können. Zudem verdient sie selbst genug. Daher ist diese Anschuldigung wirklich lächerlich.“

Cayden lehnte sich wieder zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Er hatte das alles schon so satt.

„Sagen Sie mir jetzt endlich, was mit meiner Frau ist? Körperverletzung sagt im Allgemeinen nichts über den Zustand der betreffenden Person au,s und wenn sie nur einen gebrochenen Arm oder so hat, dann würde ich sie gerne persönlich fragen, was diese Anschuldigung soll!“

„Sie können nicht mit Ihrer Frau sprechen.“

„Und warum nicht? Weigert Sie sich etwa, nachdem sie mich hierher gebracht hat?“

„Sie liegt im Koma und im Übrigen, war es Ihre Haushälterin Megan Fleur, die Sie der Tat beschuldigt. Sie hat Mrs. Calmaro heute Morgen bei Arbeitsbeginn bewusstlos aufgefunden und das, was von Ihrer Einrichtung noch übrig geblieben ist. Es war nicht das erste Mal, sagt sie, nur dass es noch nie so sehr eskaliert ist.“

Wäre Cayden nicht von Natur aus blass, er wäre bei den Worten des Polizisten aschfahl geworden. Er hätte nicht gedacht, dass es um Vanessa so schlimm stand, dass sie im Koma lag und mehr denn je, fragte er sich, was das alles hier sollte und wer es nun wirklich gewesen war. Wenn es wirklich passiert war. Irgendwie glaubte er immer noch an einen äußerst bösen Scherz.

„Ist mein Anwalt endlich da?“, fragte Cayden statt irgendetwas auf die deutlicheren Anschuldigungen zu sagen. Das hier überstieg selbst sein Fachwissen. Außerdem hatte er ohnehin nicht das Gefühl, irgendwie weiter zu kommen. Sie wollten ein Geständnis von ihm, das er nie machen würde, da er unschuldig war. Also konnten sie hier noch die ganze Nacht sitzen.

„Vor ungefähr zehn Minuten“, klärte der Schnauzer ihn fast schon mit einem schelmischen Grinsen in den Augen auf. Zehn Minuten, in denen er sich weniger hätte ärgern müssen. Menschen waren wirklich das Letzte. Zumindest einige von ihnen.

 
 

***

 

Wellingtons berühmtes Vorzeigepromipärchen aufgedeckt

 

Haushälterin packt aus: „Es war kein Einzelfall, dass Mr. Calmaro seine Frau misshandelte, nur dieses Mal dachte ich, er wäre noch einen Schritt weiter gegangen …“

Aus Angst um ihr Leben schwieg die langjährige Angestellte der Familie Calmaro, doch nun bricht sie das Schweigen. Lesen Sie mehr darüber auf Seite 4.

 

„Das ist doch –“

Mit einem unwilligen Murren knüllte Stella die Zeitung mehr zusammen, als dass sie sie faltete und warf sie auf ihren Schreibtisch. Natürlich hatte sie den Artikel auf Seite 4 bereits gelesen. Trotzdem. Sie wusste nicht, was sie denken sollte.

„Das ist doch alles absolute Scheiße, oder nicht? Wer schreibt nur diesen Mist?!“

Eigentlich hätte ihr Tonfall empört sein sollen, doch er war auch eine ganze Spur verunsichert, und da ging es nicht nur ihr alleine so. Im ganzen Büro herrschte eine merkwürdige Stimmung.

 

„Reporter, die dafür bezahlt werden.“

Emmas Stimme war absolut ausdruckslos und sie blickte auch nicht zu Stella hinüber, als diese ihre Meinung zu dem Zeitungsartikel kundtat. Emma hatte ihn schon gelesen. Mehrmals.

„Weißt du, wie weit er mit den Lindberg-Verträgen gekommen ist? Wenn die am Montag raus sollen, müssen wir sie noch überprüfen und mitsamt Korrekturen bei der Rechtsabteilung einreichen.“

Als sie sich ein paar Fenster an ihrem Mac aufrief und konzentriert auf den Bildschirm starrte, konnte Emma Stellas Blick beinahe auf ihrer Haut spüren. Welche Gefühle sich darin spiegelten, wusste sie zwar nicht, aber Emma wollte es auch nicht wirklich mitbekommen. Schon allein die Anstrengung, ihre Finger davon abzuhalten, dauernd zu zittern, war groß genug.

Sie wollte nicht darüber reden. Sie wollte ihre Arbeit machen. Und zwar so, als wäre nichts passiert. Alles würde weiterhin reibungslos laufen, bis Cayden das Missverständnis aufgeklärt hatte, wieder zurückkam und alles seinen gewohnten Gang ging.

 

„Glaubst du ernsthaft, dieser Lindberg wird sich dafür interessieren, ob er seine Verträge pünktlich bekommt? Vermutlich denkt er sowieso gerade über einen Rückzieher nach. Wäre schließlich nicht der Erste heute.“

Was wirklich nicht lustig war. Nicht nur, dass permanent Leute anriefen, um Bestätigung oder sonst etwas über die aktuellen Schlagzeilen zu bekommen, sondern auch welche, die nicht mit einer Firma unter Vertrag gehen wollten, die ein solches Oberhaupt hatte.

Wie auf Kommando klingelte es erneut und Stella griff rasch nach dem Hörer, ehe Emma es tun konnte. Die Ausdruckslosigkeit ihrer Kollegin machte ihr bereits genug Sorgen. So kannte sie Emma einfach nicht.

Stella kam nicht weit mit ihrer höflichen Begrüßungsformel, ehe sie auch schon mit einem geblafften „Kein Kommentar“ auflegte.

„Also Emma. Raus mit der Sprache, juckt dich das alles überhaupt nicht? Ich meine, okay, du kennst ihn noch nicht so lange wie ich, aber du musst doch auch eine eigene Meinung über die Sache haben. Ich persönlich kann’s einfach nicht glauben. Ich meine, ich habe ihn noch nie die Kontrolle verlieren sehen. Nicht mal bei diesem bescheuerten Mason Garett. Mal ehrlich, wenn ich den Typen schon sehe, würde ich ihm am liebsten was auf die Stirn tackern, aber Calmaro behandelt ihn immer ganz höflich und ich hab ihn auch so nie schreien oder sonst was hören und das ist in unserem Beruf wirklich nicht leicht.“

Sie seufzte und strich sich nachdenklich über den geschwollenen Bauch.

„Andererseits sind es doch gerade die Ruhigen und Kontrollierten, die irgendwann austicken. Zumindest wenn man nach den Statistiken geht. Trotzdem …“

 

Emma zuckte leicht zusammen, als Stella so rüde das Telefonat beendete und den Hörer mit einem lauten Knall auf den Apparat zurück warf. Das war nicht der erste Anruf heute, der mit schlechter Laune endete. Und es würde auch nicht der letzte sein. Nicht für heute und nicht für eine ganze Weile, bis die Sache aufgeklärt war.

Ihr Blick, der sich sowieso nicht wirklich auf den Bildschirm hatte konzentrieren können, verlor vollkommen den Halt und glitt ins Leere, während Emmas Finger bewegungslos auf ihrer Tastatur verharrten.

Stellas Worte waren natürlich zu ihr durchgedrungen. Sogar weiter, als Emma es wahrhaben wollte. Denn seit 'es' passiert war, machte sie sich zum ersten Mal Gedanken darüber, was sie eigentlich davon hielt. Und ... was sie glaubte oder nicht.

Cayden war ihr gegenüber auch nie laut oder auch nur ein bisschen genervt aufgetreten. Er war immer die Ruhe selbst oder zumindest wirkte er so gut wie nie aufgebracht. Allerdings hatte er einiges an Kraft ... Und seine Frau, mit der er schon so lange verheiratet war, wusste bestimmt, welche Punkte sie treffen musste ...

Bevor sich ein echtes Horrorszenario vor Emmas Augen ausbreiten konnte, zog sie wieder ihre eigene kleine Schutzhülle über ihr Herz und brachte es damit zumindest minimal dazu, den Puls etwas hinunter zu bremsen. Sie wollte doch gar nicht daran glauben, dass Cayden so etwas getan haben könnte. Er war zuvorkommend, höflich, liebevoll und sanft. Er könnte nie ...

Ihr energetisches Dreieck knisterte leise, als Emmas Gehirn ihr Bilder von Tokio zeigen wollte. Blaue Flecken am nächsten Morgen ...

„Ehrlich gesagt will ich dazu vor allen anderen gar keine Meinung haben“, antwortete Emma wahrheitsgemäßer, als sie es eigentlich hatte vor Stella tun wollen. Aber wenn sie schon dabei war ...

„Du hast recht: Erstens kenne ich ihn noch nicht besonders lange, zweitens kann ein Mensch sehr viele verschiedene Gesichter haben und drittens wissen wir noch gar nicht wirklich, was überhaupt passiert ist. Ich werde meine Meinung bestimmt nicht auf einem dummen Schmierenartikel bilden.“

In dem stand, dass das Ehepaar oftmals laut geworden war. Dass sie sich gestritten hatten ...

Er hatte an diesem Abend Vanessa verlassen. Und war ... danach zu Emma gegangen.

Verdammt Cayden ...

 

Stella blickte nachdenklich auf ihre leicht vernachlässigten Fingernägel. Sie hatte zwar nicht mehr so viel Stress wie früher, aber auch keine Lust, sich schon wieder den Nagellack neu zu lackieren.

„Du hast ja recht. Aber es heißt doch nicht umsonst, dass in jeder Geschichte ein Körnchen Wahrheit steckt. Irgendetwas muss also an der Sache dran sein und ich glaube auch nicht, dass sich diese Tussi selbst geschlagen hat. Obwohl, zutrauen würde ich ihr wirklich alles. Nur verstehe ich nicht, warum das Ganze. Die beiden sahen doch immer so glücklich miteinander aus. Ich meine, ich dachte schon, in meiner Ehe würde was nicht stimmen, weil ich mich ab und zu mit Sean streite, während die beiden kein einziges Mal auch nur eine Meinungsverschiedenheit hatten. Mann, ich versteh’s einfach nicht.“

Stella seufzte und stand etwas umständlich von ihrem Stuhl auf, ehe sie an Emma vorbei in die Teeküche ging.

„Willst du auch einen Tee? Also ich brauch jetzt dringend einen, bevor ein weiterer dieser Idioten hier sturmläutet.“
 

 

***

 

Seine erste Nacht hinter Gittern seit … einer langen langen Zeit. Cayden hätte fast durchdrehen können, hasste er es doch, seiner Freiheit beraubt zu sein und vor allem schon wieder wegen etwas, das er gar nicht getan hatte. Diese Parallelen gefielen ihm überhaupt nicht. Einzig der Umstand, dass niemand mehr von damals wissen konnte, beruhigte ihn etwas. Ließ es doch darauf schließen, dass es sich tatsächlich nur um Zufall handelte.

Dennoch, dass er erneut in der Falle saß, wegen irgendeiner Intrige, die jemand gegen ihn spann, fand er zum Verrücktwerden. Noch dazu, weil er wie damals nicht einfach ausbrach und das Weite suchte, obwohl Folter zu jener Zeit noch eine beliebte Befragungsmethode gewesen war und zum Glück heute verboten wurde. Dennoch, wieder blieb er, wo er war. Bestraft für etwas, das er nicht getan hatte und darauf hoffend, dass auch dieses Mal alles richtiggestellt wurde. Sollte das nicht geschehen, konnte er immer noch ausbrechen.

Eine neue Identität anzunehmen, würde ihm nichts ausmachen. Das machte er schließlich schon seit Jahrhunderten so. Doch jedes Mal hieß es, alles was er kannte und ihm etwas bedeutete, zurückzulassen. Gegenstände, Orte, geliebte … Menschen.

Nein! Er wollte das nicht tun müssen. Nicht, wenn es bedeutete, dass er Emma verlieren würde.

Natürlich könnte er sie in sein Dasein einweihen, da er es ohnehin vorgehabt hatte. Aber dennoch würde es noch lange nicht bedeuten, dass sie sich ihm anschloss.

Oh Gott, hoffentlich glaubte sie diesen ganzen Unsinn über ihn nicht. Allein der Gedanke, es wäre so, zwang ihn in die Knie.

Cayden vergrub sein Gesicht hinter seinen Händen und ließ den Kopf hängen. Er wusste nicht, was er tun sollte. Die einzige Hoffnung, die er momentan hatte, war, dass Vanessa aus dem Koma aufwachte und die Sache richtigstellte. Dass seine Haushälterin log, war schon grausam, schließlich hatte er sie wirklich gemocht. War sogar mehrmals zu einer Grillparty bei ihrer Familie eingeladen worden.

Ich hätte wenigstens einmal hingehen sollen …

Trotzdem war das kein Grund, ihn so zu verraten. Denn eigentlich war es Vanessa gewesen, die diese arme Frau immer wieder zurechtgestutzt und herum gescheucht hatte, bis er ihr gesagt hatte, sie solle die Haushälterin in Ruhe lassen, wenn sie nicht selbst ihre Hände schmutzig machen wollte. Diese Drohung hatte gewirkt. Danach war eigentlich Ruhe gewesen, aber was wusste er schon? Er war doch nie länger dort gewesen, als nötig. Zumindest nach den ersten Jahren dieser falschen Ehe.

Cayden stand von dem auf, was man als Bett bezeichnete und tigerte unruhig in der viel zu kleinen Zelle herum.

Vanessa musste einfach wieder aus dem Koma aufwachen. Selbst wenn sie schwerer verletzt worden war, als es ein Mensch im Normalfall überlebte, würde sein Blut, das immer noch in ihr war, bei der Heilung helfen. Er hatte ihr zwar schon längere Zeit nichts mehr gegeben, aber da er so alt war, wirkte es besser und länger, als das eines jungen Vampirs. Es müsste also ausreichen. Dennoch, wenn manche Verletzungen zu schwerwiegend waren, konnte selbst das nichts mehr ändern. Aber dann wäre sie schon längst tot …

Gott, er wusste einfach nicht, was er tun konnte.

 
 

***

 

„Sie sitzen ziemlich tief in der Tinte“, begrüßte sein Anwalt ihn am nächsten Morgen.

„Erzählen Sie mir etwas, das ich noch nicht weiß“, gab Cayden ausdruckslos zurück.

„Nun, zu den belastenden Aussagen Ihrer Haushälterin kommt auch noch die Aussage von Mrs. Calmaros Visagisten hinzu. Er behauptet, oftmals vor den Fotoshootings besonders viel Zeit auf das Abdecken von blauen Flecken am ganzen Körper aufgewendet zu haben und als wäre das noch nicht genug, ist auch die Aussage dieses Mannes durch irgendein Schlupfloch gekommen und in der Presse gelandet. Niemand weiß, wer da auspackt, aber das ist auf keinen Fall gut und die Polizei kann auch nichts gegen das Gesetz der Meinungsfreiheit machen.“

Cayden schwieg.

Das war wirklich etwas Neues.

„Wie geht es meiner Frau?“

Fletscher warf ihm nur kurz einen Blick über den Tisch, ehe er seine Aktentasche öffnete, um einige Papiere herauszuholen, die sie durchgehen mussten.

Der Kerl glaubte ihm ebenfalls nicht. Aber das musste er zum Glück auch nicht. Er war Anwalt.

„Ihr Zustand bessert sich, aber sie ist noch nicht aufgewacht.“

Gut. Solange es bergauf ging, war ihm alles recht.

 
 

***

 

„Hier steht, dass sich die Gerüchte hauptsächlich auf die Aussagen der Haushälterin und des Visagisten stützen. Allerdings wissen die auch nur Dinge aus zweiter Hand. Geräusche aus dem Nebenraum und blaue Flecken.“

„Vielleicht nimmt sie die Pille. Da musste man mich auch nur einmal knuffen und ich hab ausgesehen, als hätte man mir eine reingehauen.“

Die Arme auf die Tischplatte gelegt und ihr Kinn darauf gebettet, sah Emma aus kleinen Augen wenig überzeugt zu Kathy hinüber. Immerhin war es ein großer Unterschied, ob man einen winzigen Bluterguss hatte oder halb tot geprügelt auf der Intensivstation im Krankenhaus lag.

„Bestimmt nimmt sie die Pille. Immerhin ist es ziemlich schlecht fürs Geschäft, wenn sie schwanger wird.“

Gott, wenn sie noch bitterer klang, konnte sie sich gleich ein paar Falten ins Gesicht meißeln. Was sollte das denn? Emma verstand selbst nicht, warum sie sich mit dem Gedanken von ehelichem Sex zwischen Vanessa und Cayden noch mehr wehtat. Als wäre es nicht schon schlimm genug.

„Es kann also immer noch alles ein großes Missverständnis sein. Oder die Leute lügen, weil sie gut bezahlt werden.“

Die Zeitung knisterte leise, als Rob sie auf den Tisch legte und mit der Hand den Artikel glatt strich, den sie zu dritt nun schon zum ungefähr hundertsten Mal durchackerten. Aber es kam einfach nichts dabei heraus.

„Kann schon sein. Aber wer sollte sie dafür bezahlen, dass sie ihn so reinreiten? Außerdem ... Wer hat dann seine Frau verprügelt?“

Immer wieder – egal, wie sehr sie versuchte, es abzustellen – zuckte Emma innerlich zusammen, wenn jemand Vanessa 'seine Frau' nannte. Natürlich war sie es. Laut Vertrag, laut Gesetz und ...

Emma vergrub ihr Gesicht in ihren Armen und spürte, wie ihr Atem heiß gegen ihre brennenden Augenlider schlug. Ihre Stimme war ein Murmeln. „Was soll ich nur ... wegen des Babys machen?“

Ihre Schultern fingen gerade an zu zucken, als Stühle gerückt wurden und sich schließlich ein Arm um Emmas Rücken legte.

„Emmi, bitte mach dir nicht so viele Sorgen. Er ist es bestimmt nicht gewesen. Das wird schon alles, wirst sehen.“

Zum Glück konnte Emma den leicht verzweifelten Blick ihrer Mitbewohnerin nicht sehen, der ebenfalls ein paar Tränen in den Augen standen.

 
 

***

 

„Mr. Calmaro. Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie mir nicht genau sagen, was Sie in besagter Nacht getan haben. Vage Andeutungen werden vor Gericht keinen Bestand haben, und wenn Sie nicht einen Zeugen haben, der für Sie aussagt, sieht es nicht besonders gut für Sie aus. Also, noch einmal, was ist genau in jener Nacht passiert, genauer gesagt, wo waren Sie und wenn möglich, mit wem?“

Cayden rang einen stummen Kampf mit sich selbst. Dass sein Anwalt inzwischen total genervt war, störte ihn kein bisschen. Sollte er ruhig. Er bezahlte ihm schließlich eine horrende Summe für nur eine Stunde. Umso länger sie also brauchten, umso mehr verdiente der Mann an ihm. Weshalb er auch keinerlei schlechtes Gewissen hatte.

Aber das hieß noch lange nicht, dass Cayden sich gut fühlte. Er wollte Emma nicht in diese Sache hineinziehen, doch wenn er es musste, würde er es tun. Blieb ihm denn eine andere Wahl? Vor allem, wenn er auch sie nicht von seiner Unschuld bezeugen konnte, würde es dann etwas helfen, wenn sie wüsste, dass er bei ihr gewesen war, als seine Frau angeblich von ihm zusammengeschlagen worden war?

Cayden wusste gar nichts mehr. Nur, dass er endlich hier raus und ihr alles erklären wollte.

„Weiß man denn inzwischen, wann genau es passiert sein soll?“, war schließlich seine Gegenfrage.

Man konnte förmlich sehen, wie sein Anwalt sich zusammen iss, aber das störte Cayden nicht. Er wartete auf eine Antwort.

„Nun, man kann zumindest schon ziemlich genau anhand der Forensik sagen, dass der Angriff auf Ihre Frau ungefähr zwischen neun Uhr Abends und Mitternacht stattgefunden haben musste. Haben Sie ein Alibi für diese Zeit?“

Cayden schwieg nur kurz.

„Nein, nichts Genaues, und solange ich nicht den absolut genauen Zeitpunkt habe, werde ich auch niemanden sonst, in die Sache hineinziehen. Schlimm genug, dass man mich so in den Dreck zieht.“ Emma sollte nicht ebenfalls zur Zielscheibe desjenigen werden, der ihn so im Visier hatte.

Fletcher seufzte.

„Dann wird das noch ein langer Tag werden.“

Cayden schenkte ihm nur einen vielsagenden Blick.

44. Kapitel

Einen dicken Schal um den Hals und fest in eine Strickjacke gewickelt stand Emma an der Terrassentür und blickte in die Nacht hinaus. Der Himmel war fast sternenlos, da der starke Wind Wolkenfetzen darüber scheuchte. Selbst das fahle Licht des Mondes fiel immer nur unterbrochen auf den kleinen Garten.

Ihre Augen wirkten trüb und ihre Wangen blass unter den roten Rändern ihrer Lider.

Sie wusste immer noch nicht, was sie tun sollte. Kathy und Rob waren vor einer Stunde ins Bett gegangen und hatten selbst das erst getan, als Emma versprochen hatte, nicht zu lange hier zu stehen und sich Sorgen zu machen. Allerdings war 'zu lange' ein dehnbarer Begriff.

Ein tiefes Seufzen entrang sich ihrer Brust und Emma blinzelte vollkommen müde und mit den Nerven am Ende. Sie konnte schon gar nicht mehr über die ganze Sache nachdenken. Alles war hin und her gedreht worden, analysiert und so positiv ausgelegt, wie es überhaupt nur möglich war. Und trotzdem ... war da ein Körnchen, das Emmas Magen sich zusammenziehen ließ. Wenn sie nur –

Erschrocken zuckte sie zusammen.

Eiskalte Finger strichen ihr den Nacken entlang und graue Wolken zogen sich in dem kleinen Garten zusammen, der unter Emma lag – still und scheinbar friedlich. Aber ... da war jemand gewesen.

Eine Hand flach gegen die Scheibe gedrückt versuchte Emma mit klopfendem Herzen auch das Stück des Gartens zu sehen, das von der Terrasse aus im Schatten lag.

Schlich da draußen jemand herum?

Ihr Blick zuckte zur Uhr, die schon weit nach Mitternacht anzeigte.

Wer um diese Zeit in fremden Gärten herum –

Diesmal tat sie sogar einen Schritt von der Scheibe zurück. Ihr Puls hämmerte ihr in den Ohren und Emmas Lippen hatten sich zu einem halb erstickten Laut geöffnet.

Da ... war definitiv ... jemand.

 
 

***

 

In dieser Nacht war Cayden zu müde, um noch großartig über irgendetwas nachzudenken. Dennoch ließen seine Gedanken ihn nicht in Ruhe. Dass er so unvorsichtig gewesen war ...

Kurz nach seiner Verhaftung hatte er alle möglichen Proben abgeben müssen und nun war ein weiteres belastendes Beweismittel hinzugekommen. Seine Speichelprobe passte perfekt zu der Probe, die man in der Bisswunde an Vanessas Arm hatte entnehmen können. So hatte es ihm zumindest sein Anwalt noch vor dem Abendessen erklärt. Auch wenn unklar war, wie sein Gebissabdruck dazu passen sollte, da es keine hundertprozentige Übereinstimmung gab. Doch dieses kleine Detail übersahen sie geflissentlich. Hauptsache sie hatte nun einen stichfesteren Beweis für sein Vergehen. Er saß also nicht nur in der Tinte, sondern bis über den Hals so richtig tief in der Scheiße.

Er hätte ihre Wunde versorgen sollen. Auch wenn es nur ein kleiner Biss gewesen war, so hatte es doch nun ausgereicht, um zumindest zu beweisen, dass er sie an diesen Abend blutig gebissen hatte. Etwas, das kein normaler Mensch tat.

Bestimmt verkündeten die Presseleute nun voller Stolz, dass zu seinem Verbrechen auch noch offenbar Geistesgestörtheit hinzukam. Es war zum … Verzweifeln.

Cayden sah keine Lösung mehr. Selbst wenn er Emma als Zeugin angab, war da doch auch immer noch die Stunde, die er nicht bei ihr gewesen war, sondern Jagd auf Blut gemacht hatte.

Vanessa … war sie tatsächlich so grausam, dass sie ihm das alles antat, oder war sie nur eine Marionette in einem sehr viel größeren Spiel?

Wenn er das doch nur wüsste …

Und was war mit Em?

Gott, er vermisste sie und nicht zu wissen, wie es ihr ging, machte ihn rasend. Vor allem, da so gut wie jedes ihn betreffende Detail in der Presse gelandet war. Sie hätte schon am Rande der Welt wohnen müssen, um nichts davon mitzubekommen. Bestimmt kannte sie bereits alle Lügen. Aber glaubte sie ihnen auch?

Was, wenn ja? Wie sollte er ihr bloß klarmachen, dass da jemand ein falsches Spiel mit ihm spielte? Denn, warum Herrgott noch mal, sollte er Vanessa verprügeln? Er hatte keinerlei Grund dazu. Vor allem hatte er sie noch nie geschlagen. Nie, kein einziges Mal. Nicht einmal nur eine Ohrfeige.

Cayden schlug keine Frauen und er würde es nur dann tun, wenn er keine andere Wahl mehr hätte und sein Leben davon abhängen würde. Doch selbst da kam es immer noch auf die Situation an.

Nein, er hatte das nicht getan. Aber es gab niemanden, der ihm glaubte. Selbst bei Em war er sich nicht sicher. Er hatte sie bisher kein einziges Mal sprechen können.

Ob es ihr und dem Baby gut ging?

Unruhig warf sich Cayden auf die andere Seite, verfolgte mit seinem Blick den blassen Mondschein, der durch das vergitterte Fenster hereindrang und kleine Linien auf den Boden zeichnete.

War sie in Sicherheit?

Er hatte es vermieden, ihren Namen zu nennen, aber was wenn bereits jemand hinter ihr her war? Was, wenn das alles hier nur der Anfang war? Selbst wenn nicht, wie … wie sollte er danach wieder normal weitermachen können? Sein Ruf war geschädigt. Schwerwiegend. Daran gab es nichts mehr zu rütteln. Denn an Wunder glaubte er nicht.

Wenn er es doch nur könnte … vielleicht würde er dann für eines beten.

 
 

***

 

Wind war aufgekommen. Er bog die Wedel des hohen Farns in Richtung Rasen und zupfte an den Kübelpflanzen herum. Emma konnte selbst mit weit geöffneten Augen nicht genug erkennen, um sich etwas zu beruhigen. Lediglich ihr blasses Selbst sah sie in der spiegelnden Terrassentür und sie spürte ihr Herz in ihrem Hals schlagen.

Zitternde Finger suchten nach dem Lichtschalter, während Emma sich eigentlich so wenig wie möglich bewegen wollte. Nicht auffallen. Vielleicht ...

Sie erschreckte sich selbst damit, dass sie das Licht ausschaltete und damit plötzlich im Stockdunkeln stand. Der Kühlschrank summte in ihrem Rücken und irgendwo im Flur knackte es leise. Zu leise, als dass es eine Ursache haben könnte, die Emmas Puls derartig in die Höhe treiben sollte.

Trotzdem musste sie sich die Strickjacke enger um den Körper wickeln und verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen, um hinter dem Holzrahmen der Tür ein wenig Sichtschutz zu suchen.

Bloß ... vor was?

Emmas Augen gewöhnten sich – für ihren Geschmack – viel zu langsam an die Dunkelheit. Sie konnte nicht genau –

„Ah!“

Ein Ruck schien durch die Glasscheibe zu gehen, an der eben noch ihre Hand gelegen hatte. Als hätte der Wind oder ... etwas anderes heftig dagegen geschlagen.

Emma war so stark zusammengezuckt, als hätte sich an der glatten Oberfläche geschnitten. Ihr Puls raste so schnell, dass sie das Gefühl hatte, ihre Trommelfelle müssten unter dem Druck nachgeben und sie atmete stoßweise gegen die Hand, die sie sich vor den Mund geschlagen hatte.

Gott. Wer zum ...?

Wieder erschrak sie furchtbar, als sie von draußen jetzt seltsame Geräusche hörte. Es war ... Irgendwie klang es ein bisschen so, als würden sich zwei Katzen ordentlich die Meinung geigen, aber da war irgendetwas ... falsch. Knurren und Fauchen, aber ...

 

Verdammter Vollidiot!

Mit einem Fauchen, das er wirklich nicht unterdrücken konnte, trieb er den anderen gegen die Wand. Sie bluteten beide aus nebensächlichen Schürfwunden.

Aber das war nicht das Problem. Der Kerl war einfach zu blöd, zu jung oder zu arrogant, um zu erkennen, dass es Zeit war, Leine zu ziehen. Im schlimmsten Fall war er alles auf einmal.

„Verzieh dich.“

Seine Stimme fraß sich in Form eines dunklen Knurrens auf sein Gegenüber zu. Etwas, das selbst das dümmste Tier verstanden hätte. Aber nein, diese Dumpfbacke zog vorerst nur ein wenig den Schwanz ein.

„Du hast mir nichts zu sagen. Du hast selbst kein Anrecht auf sie.“

Das Zittern in den Worten machte klar, dass der Kleine das Wort 'Anrecht' nur dank jemand anderem benutzte. Es war ihm aufgedrückt worden. Was die Sache allerdings nicht weniger Besorgnis erregend machte. Eher im Gegenteil.

„Richtig.“

Der Jungspund wollte noch ausweichen, fing sich allerdings nur einen Schlag auf die Nase ein, bevor er von Adams Unterarm unter dem Kinn gegen einen Pfosten der höher gelegenen Terrasse gerammt wurde. Wut stand in Adams frostig blauen Augen und er konnte das schmerzende Zerren in seinem Inneren nur zu deutlich spüren. Es war egal, ob es der richtige Zeitpunkt dafür war. Es fühlte sich nur teuflisch gut an, dieses Brennen an jemandem auszuleben.

„Derjenige, der auch nur entfernt so etwas wie ein Anrecht auf sie hat, wird dir wesentlich härter in den Arsch treten als ich. Ich werde dir einfach nur die Fänge rausreißen und sie dir in die gegenüberliegende Körperöffnung stopfen, wenn du nicht Leine ziehst. Verstanden?“

Schon allein für die Aktion mit dem Fenster hatte es der Mistkerl verdient. Scheiße, wollte er sie alle an den Pfahl liefern? Wenn die Hexe auf diese Weise heraus bekam, dass es Vampire in ihrer Nähe gab, konnten sie sich alle zusammen eine neue Insel suchen. Wenn sie schnell genug waren und die Hexe ihnen allen nicht vorher die Haut über die Ohren zog, wohl gemerkt.

 

In eine kauernde Position auf den Boden gesunken lauschte Emma in die Dunkelheit.

Der Wind fegte immer noch über die Terrasse. Aber die ... Tiere waren still geworden. Unheimlich still. Es hatte nicht so geklungen, als wäre einer als Sieger und der andere als Verlierer aus dem Streit hervorgegangen. Es war so, als ... wären sie einfach verschwunden.

Die Finsternis begann auf Emma einzudrücken. Sie schlang sich um sie, fing an, so stark um ihren Kopf zu wirbeln, dass ihr schwindelig wurde. Sie fühlte sich ... so allein.

„Bitte ...“

Emma schlang die Arme um ihren Bauch und zog die Beine so an, dass sie ihre Stirn auf ihren Knien ablegen konnte.

„Du ... darfst das einfach nicht getan haben ...“
 

 

***

 

Am nächsten Morgen war es amtlich. Mehr oder weniger. Cayden hatte kaum sein Frühstück angerührt und darüber nachgedacht, dass er es nicht mehr sehr lange hier aushalten würde, ohne deutlich seine Nerven zu verlieren, da bekam er auch schon Besuch von seinem Anwalt, der ihm die ziemlich vernichtende Botschaft brachte, dass die Polizei nun genug Beweise zu haben glaubte, um Cayden vor Gericht zu zerren.

Cayden nahm die Nachricht ruhig auf. Allerdings nicht, weil er sich so gut beherrschte, oder es ihn nicht weiter kümmerte, sondern weil er langsam wirklich zu begreifen begann, wie ernst es war.

Es war nicht so, als hätte er das nicht schon vorher gewusst, aber irgendein Teil von ihm hatte es immer noch nicht richtig glauben können. Als Fletcher ihm jedoch den Gerichtstermin nannte, fiel eine Mauer in ihm zusammen und seine Hände zitterten ebenso sehr zu, wie Caydens Herz wie wild verrückt schlug.

Er kam vor Gericht.

Für etwas, das er nicht getan hatte.

Alle Beweise sprachen gegen ihn.

Warum nur?

Cayden hörte gar nicht richtig zu, als sein Anwalt ihm die nächste Vorgehensweise erklärte und verkündigte, wie alles ablaufen würde. Er drängte ihn auch noch einmal dazu, sein Alibi preiszugeben, doch Cayden reagierte mit Nichtachtung. So lange, bis man ihn wieder in seine Zelle sperrte und er wieder alleine war.

Erst als ihm fast schwarz vor Augen wurde, bemerkte er, dass er die ganze Zeit kaum noch geatmet hatte und schnappte nach Luft.

Bilder von Horrorszenarien huschten vor seinen Augen vorbei.

Wie er so lange hinter Gitter verbringen musste, bis man nicht mehr übersehen konnte, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Wie sein Durst ihn nach einer Weile überwältigte, so dass er Mitgefangene angriff. Wie er in der Psychiatrie landete. Wie er von dort aus von irgendwelchen geheimen Regierungsmitgliedern abgeholt und für immer für Forschungszwecke weggesperrt wurde.

Doch das war nichts, absolut nichts zu dem Gedanken, Emma nie wieder zu sehen …

Cayden war schon aufgesprungen und beim Fenster, ehe er überhaupt weiter nachgedacht hatte. Seine Hände lagen darauf, bereit dazu, es einfach herauszureißen, doch er besann sich noch einmal.

Nein, noch war die Verhandlung nicht gelaufen. Noch war Vanessa nicht aufgewacht, um entweder zu bestätigen, was alle behaupteten, oder ihn – so unwahrscheinlich das nach all den Dingen auch war – zu entlasten. Es war also noch nichts entschieden.

Er konnte immer noch verschwinden. Er musste nur … abwarten. So schwer es ihm auch fiel. Abwarten war jetzt das Wichtigste.

Die Frage war nur, wie lange er das noch konnte.

 
 

***

 

Der Himmel war passend trüb, als Emma an der Bibliothek aus dem Bus stieg und sich mit hochgezogenen Schultern auf den Weg zu dem Gebäude einen Block weiter machte. Das Hauptquartier der Polizei in Wellington war grau und trist. Daran konnten auch die farbigen Elemente nichts ändern, die irgendwann in den letzten Jahren hinzugefügt worden waren.

Emma sah an dem Gebäude hoch, ließ sich für ein paar Sekunden kleine Regentropfen auf das Gesicht nieseln und stieg dann die paar Stufen zum Haupteingang hoch. Die Tür war schwer und der Empfang dahinter auffällig unordentlich. Sofort stieg in Emma so etwas wie Protest und Unterstellung hoch. Wer sich so präsentierte, konnte doch keine ordentlichen Ermittlungen führen.

„Guten Morgen. Ich soll mich hier anmelden. Zu einer Befragung.“

Ihre Stimme klang in der leeren Halle nach und ließ Emma frösteln. Eigentlich mochte sie Polizisten. Die Institution an sich war ihr immer nur positiv in Gedanken gewesen. Aber jetzt ... Wie schnell sich so etwas doch ändern konnte.

Sie musste ihren Ausweis vorlegen, bekam ihn zurück und verharrte dann wartend für ein paar Minuten in der kalten Halle, bevor sie von einem Beamten abgeholt wurde. Die Gänge, entlang denen sie dem Mann folgte, waren ebenfalls grau und unordentlich. Allerdings auf eine andere Art und Weise, wie es der Empfang gewesen war. Hier schien alles zu brummen und zu wuseln. In den kleinen Büros klingelten verschiedene Telefone, Männer und Frauen liefen an Emma vorbei und Aktenberge wurden auf kleinen Wägelchen durch das Gebäude gerollt.

„Bitte, Miss Barnes.“

Sie wurde in einen Raum geführt, der Emma irgendwie an ein Sprechzimmer erinnerte. Es sollte vermutlich ein Büro sein, denn es standen Aktenordner in Regalen und Papier auf dem großen Schreibtisch, aber irgendwie wirkte es trotzdem steril.

Der junge Polizist setzte sich ihr gegenüber hinter das große Möbel und schob an der Maus des PCs herum, um den Bildschirm zum Leben zu erwecken.

„Lassen Sie uns gleich anfangen. Ihre persönlichen Daten auf dem Ausweis stimmen noch?

Name: Emma Lynn Barnes.

Familienstand: ledig

Geburtstag: –“

„Ja, es stimmt alles.“

Der Polizist sah ihr ausdruckslos ins Gesicht und tippte dann die Daten von ihrem Ausweis in den Computer. Ein kleines Fenster ploppte auf, von dem Emma nicht sehen konnte, was es beinhaltete. Ihren Strafzettel für falsch parken von vor vier Jahren?

„Sie sind Angestellte bei der C&C Corporation. Welche Aufgabe erfüllen Sie dort?“

Emma machte schon nach den ersten drei Wörtern dicht. Was sollte sie hier eigentlich? Wenn diese Leute wollten, dass sie Cayden auch noch belastete, dann würde sie sofort aufstehen und gehen. Sie konnten sie ja nicht dazu zwingen, etwas zu sagen. Wie war die Polizei überhaupt darauf gekommen, sie zu befragen? Hatte ... Cayden irgendetwas gesagt? War es vielleicht wichtig für ihn, dass sie hier war?

„Ich bin eine von Mr. Calmaros persönlichen Assistentinnen.“

„Seine Sekretärin.“

Eine kleine Pause.

„Ja. Seine Sekretärin.“

„Sie sind also die meiste Zeit im Büro, wenn auch Ihr Chef im Büro ist?“

„Richtig.“

Der junge Mann sah ihr in die Augen und wartete. Emma blickte zurück.

„Können Sie das weiter ausführen?“

„In wiefern?“

Er konnte froh sein, dass sie überhaupt etwas sagte. Bei dieser einschüchternden Atmosphäre und der Tatsache, dass sie nicht wusste, ob sie hier war, um Cayden zu be- oder ihn zu entlasten.

„Bleiben Sie immer so lange im Büro, bis ihr Chef Schluss macht und nach Hause geht? Sind sie schon im Büro, wenn er zur Arbeit kommt?“

„Meistens ja. Und ich komme vor ihm ins Büro. Wenn er anfängt, müssen einige Dinge schon auf seinem Schreibtisch liegen.“

„Dann waren sie auch am Donnerstag im Büro, bis ihr Chef gegangen ist?“

„Nein.“

Ein Zucken der Augenbraue bei dem Polizisten.

„Nein?“

„Mr. Calmaro war am Donnerstag nicht im Büro. Er war krank. Ein paar Tage schon. Eine Grippe und Fieber.“

„Er war nicht im Büro an diesem Tag? Überhaupt nicht?“

„Überhaupt nicht.“

Wieder schob er hektisch die Maus hin und her, klickte ein paar Sachen an und wandte sich dann in seinem Drehstuhl so, dass er an einen Stift herankam.

„Gut, dann können Sie eigentlich schon wieder gehen. Das war alles.“

„Aber ich kann Ihnen sagen, wo er ab 23 Uhr war.“

Emmas Stimme schien vom Klopfen ihres Herzens zu beben. Angst durchflutete ihren Körper, auch wenn das vollkommen irrational und fehl am Platze schien. Sie brauchte ... keine Angst zu haben. Sie sagte doch nur die Wahrheit.

Aber was ... wenn Cayden nicht wollte, dass sie das tat?

„Das ist interessant. Und woher wissen Sie, wo Mr. Calmaro ab 23 Uhr war? Erzählen Sie mal.“

Und Emma ... erzählte.

 
 

***

 

„Also Mr. Calmaro. Sie können froh sein, dass wenigstens ein Mensch bereit ist, sein Schweigen zu Ihren Gunsten zu brechen. Ich nehme an, bei der Dame handelt es sich laut ihrer Aussage um Ihre Geliebte. Sagt Ihnen der Name Emma Barnes etwas? Zumindest nehme ich stark an, dass sie diejenige welche ist, die Sie bisher für sich behalten wollten.“

Cayden verbarg den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht, der Bände sprach. Zum einen bedeutete er, dass er ganz genau wusste, wer hinter diesem Namen steckte und dass er keinesfalls froh darüber war, diejenige welche nun mit hoher Wahrscheinlichkeit in die Verhandlungen mit hineinziehen zu müssen.

„Woher wissen Sie das?“, wollte er schließlich wissen, nachdem seine erste Überraschung etwas abgeklungen war.

„Die Beamten haben einige Ihrer Mitarbeiter zur Befragung vorgeladen und dort gab Miss Barnes von selbst an, dass Sie im Zeitraum von 23 Uhr bis in den Morgenstunden bei ihr gewesen waren. Sie können wirklich von Glück reden, dass wenigstens sie ihren Mund aufgemacht hat. Das grenzt die ganzen Ermittlungen ein. Weshalb ich Sie fragen möchte, was Sie in den restlichen zwei Stunden getan haben, die von dem Zeitpunkt reicht, an dem der Fahrservice Ihre Frau vor der Tür abgesetzt hat und Sie anschließend zu Miss Barnes fuhren?“

Cayden unterdrückte einen Fluch.

Ach, Em …

„Ich habe Ihnen UND der Polizei bereits gesagt, was ich in diesem Zeitraum getan habe. Zuerst habe ich auf meine Frau gewartet. Danach habe ich ihr verkündet, dass ich sie verlassen werde und die Scheidung will. Das hat sie nicht gut aufgenommen und es eskalierte in einem Wortstreit. Sie hat geschrien und ich bin schließlich gegangen, da ich mir das nicht länger mit anhören wollte. Punkt.“

Fletcher – der wohl zum hundertsten Mal Caydens Worte auf einem Block notierte – sah nicht einmal hoch.

„Wie lange vermuten Sie, hat dieser Streit gedauert?“

Cayden dachte nach, weil er es selbst nicht genau sagen konnte.

„Ich denke, seit der Ankunft meiner Frau bis zu dem Zeitpunkt, als ich sie verlassen habe, sind ungefähr eine halbe Stunde vergangen. Wenn überhaupt.“

„Und was haben Sie danach getan, da Sie nicht sofort zu Miss Barnes gingen?“

Fast hätte Cayden geknurrt. Diese Fragerei nervte ihn nicht nur enorm, dass er sich dabei auch noch ständig wiederholen musste, war wohl das Schlimmste.

„Ich war spazieren und das in der Nähe der Docks. Also weit weg von meiner Frau. Hat man denn inzwischen herausfinden können, ob etwas gestohlen wurde?“

Nun sah Fletcher doch hoch.

„Nein. Es waren – wie Sie wissen – sehr wertvolle Gegenstände im Haus, Schmuck im Tresor, teure Uhren und Ohrringe in den Schubladen. Aber nichts davon wurde gestohlen, weshalb die Polizei auch nicht annimmt, dass es ein oder mehrere Einbrecher gewesen sein könnten. Zudem waren nur das Wohnzimmer und ein Teil der Eingangshalle zerstört. Alle anderen Räume waren unversehrt. Sie haben keine Ahnung, ob das irgendetwas bedeutet?“

Cayden schüttelte den Kopf.

„Nein, und wenn ich es wüsste, hätte ich es Ihnen bereits gesagt.“ Mehr oder weniger. Das kam auf die Situation an.

„Gut. Dann bleibt uns jetzt nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass der Zeitpunkt des Angriffs nach 23 Uhr stattgefunden hat, oder Ihre Frau Sie entlastet. Ansonsten wird es nicht allzu gut aussehen, mit all den belastenden Beweisen.“

Ja, da machte sich Cayden keine Illusionen mehr. Es sah ganz und gar nicht gut aus.

 
 

***

 

Eine Stunde, nachdem sein Anwalt ihn verlassen hatte, tauchte er auch schon wieder bei Cayden auf, mit einem wohl noch nie da gewesenen Lächeln im Gesicht.

Cayden traute diesem Lächeln nicht, dennoch begann sofort sein Herz schneller zu schlagen und er konnte es kaum erwarten, bis sie in dem Raum ankamen, wo sie sich in Ruhe unterhalten konnten.

„Also, welchen Grund gibt es zum Lächeln?“, wollte Cayden immer noch trübsinnig und ohne Hoffnung wissen.

Sein Anwalt knallte seine Aktentasche auf den Tisch, ohne sie allerdings wie üblich zu öffnen und pflanzte sich auf den Stuhl Cayden gegenüber.

„Etwas Wunderbares, Mr. Calmaro. Soeben habe ich einen Anruf erhalten. Ihre Frau ist vor ungefähr einer Stunde aufgewacht und auch bereits ansprechbar. Sie kann sich zwar nicht in allen Einzelheiten an den Angriff erinnern, kann aber auf alle Fälle alle Anschuldigungen Ihnen gegenüber abweisen. Sie sagt, sie kenne den Angreifer nicht und vermute, es wäre ein Einbrecher gewesen. Auf jeden Fall schien sie entsetzt zu sein, als sie hörte, dass Sie als Tatverdächtiger in Untersuchungshaft sitzen. Die Polizei hat zusammen mit einem Psychologen noch einmal eine ausführliche Befragung mit ihr durchgeführt und laut Aussage Ihrer Frau schließlich Ihre Freilassung bewilligt. Sie können sofort raus.“

Cayden starrte seinen Anwalt nur ausdruckslos an. Sein Innerstes war wie … eingefroren oder das Gesagte wollte einfach nicht ganz bei ihm ankommen.

„Was ist mit den Beweisen? Die Beschuldigungen meiner Haushälterin und des Visagisten meiner Frau?“

„Die Polizei hat Mrs. Calmaro auch darüber befragt und sie hat weder bestätigt noch die Anschuldigungen abgewiesen. Sie meinte nur, sie liebe Sie und sei nur deshalb immer noch ungehalten wegen Ihrer Entscheidung, sie zu verlassen. Mehr wolle sie dazu nicht sagen und dadurch sind der Polizei die Hände gebunden. Wenn Ihre Frau Sie nicht wegen Misshandlung anzeigt, dann kann niemand etwas dagegen tun.“

„Zumal ich sie nie misshandelt habe!“

„Wie dem auch sei, Sie sind frei und können gehen. Sobald Sie noch ein paar letzte Formulare unterschrieben haben.“

Das klang wirklich gut und befreiend. Warum fühlte Cayden sich dann nicht so?

 
 

***

 

Es war tatsächlich schön, sich wieder frei bewegen zu können, dennoch schien ein Teil von ihm immer noch hinter Gitter zu sitzen. Caydens Brustkorb fühlte sich beklemmt und kalt an, während er seine wenigen Sachen vom Gefängnisaufenthalt fest in der Hand hielt und in den rotverfärbten Himmel blickte.

Er tat es eine ganze Weile, obwohl ihn Leute auf dem Bürgersteig beim Vorbeigehen anstarrten und heimlich mit dem Finger auf ihn zeigten und tuschelten. Doch zu seinem Glück schien seine Entlassung noch nicht bis zur Presse durchgedrungen zu sein.

Als der Himmel schließlich tiefblau zu werden begann, machte sich Cayden auf den Weg. Man hatte ihm sein Handy wieder gegeben, und obwohl er mehrmals den Gedanken hegte, Emma anzurufen, musste er nun eine Weile mit sich alleine sein.

Er war immer noch durcheinander, wusste nicht, was er als Nächstes tun oder wohin er gehen sollte. In sein Penthouse wollte er nicht. Allein der Gedanke, dorthin zu gehen, bereitete ihm Unbehagen. Zum einen, weil er sich zuerst den Augen des Portiers stellen müsste und dann war noch die Tatsache, dass Emma nicht dort war, aber so viele Erinnerungen an sie. Nein, selbst dort wäre er nicht alleine, deshalb ging er einfach in irgendeine Richtung ohne Ziel los.

Caydens Weg führte ihn in einen der Parks, wo er sich abseits der erleuchteten Wege bewegte und die frische Luft immer wieder tief einatmete. Er hatte sich sogar die Schuhe und Socken ausgezogen, um das Gefühl des kühlen Grases auf seinen Fußsohlen zu spüren und sich so wieder langsam zu erden.

Als er sich sicher war, dass niemand in der Nähe war, sprang er auf einen der Bäume und ließ sich auf einen dicken Ast nieder, sodass seine Füße in der Luft baumelten.

Durch die Baumkrone hindurch konnte er den klaren Sternenhimmel sehen und musste unwillkürlich daran denken, dass wenigstens sie sich in seinem fast zweitausendjährigen Dasein nicht verändert hatten. Das war das Einzige, das sich wohl wirklich nie änderte. Alles andere konnte man so unfassbar schnell verlieren.

Er könnte Emma verlieren.

Vielleicht hatte er sie schon verloren ...

 

Er verhielt sich für menschliche Verhältnisse leise. Aber eben doch so laut, dass ihn jeder Vampir ohne Probleme hätte hören können. Das Gras bog sich unter seinen Schuhen und man hörte es leise rascheln. Wie ein Hauch im Wind.

Den Blick geradeaus gerichtet lief Adam durch den dunklen Park direkt auf einen der dicken Bäume zu, die etwas weiter entfernt von den hohen Farnen allein standen. Es sah zielstrebig aus, wie er durchs kalte Gras lief, aber doch irgendwie so, als hätte er nichts weiter vor, als spazieren zu gehen.

Unter einem der Bäume blieb er stehen. Seine Nackenhaare stellten sich auf, als er sich herumdrehte – die Deckung vollkommen aufgab – und sich schließlich lässig mit dem Rücken gegen den dicken Stamm des Baumes lehnte. Eine Position, die klar machte, dass er nicht auf einen Angriff aus war. Immerhin war er es, der offen angegriffen werden konnte. Ohne, dass er seinen möglichen Gegner hätte rechtzeitig sehen können.

Aber Adam war nun einmal der Meinung, dass sie weder Gegner noch Feinde waren. Eher waren sie sich in mehr als einem Punkt ähnlich. Selbst wenn der andere das nicht wusste und vielleicht nie verstehen würde. Adam war es eigentlich gleich. Wenn man es recht bedachte, war es sogar besser so.

„Nett hier.“

Er klang ruhig und die Worte hörten sich wirklich ein bisschen so an, als würde er an einer Bar in einem gemütlichen Pub stehen und nicht mitten in der Nacht in einem menschenleeren Park.

„Perfekter Blick auf den Sternenhimmel. Abgelegen ... Einsam.“

Eine Pause entstand, die sein unsichtbarer Gesprächspartner wohl nicht zu brechen gedachte. Adam nahm es ihm nicht übel. Wäre er in seiner Situation, hätte er sich unter Umständen auch zurückgezogen. Allerdings ...

„Ich kenne eine nette kleine Bar, etwas außerhalb von Wellington. Kaum Städter dort. Kaum jemand, der viel Zeitung liest.“

Schweigen.

„Das Bier ist auch ganz okay.“

 

Cayden überlegte kurz, dann sprang er von seinem Ast, direkt vor Adam und sah ihm in die Augen.

„Das hat mich dann überzeugt, wie?“

Er wartete nicht direkt auf eine Antwort, sondern rieb sich stattdessen den Nacken und sah sich im Park um.

„Ich war schon lange nicht mehr in einem Pub. Lass uns gehen.“

Was auch immer gerade sein Innerstes aufwühlte, nichts konnte dazu beitragen, noch mehr Unruhe in ihm zu stiften. Was machte es da schon aus, mit einem ihm fremden Vampir in ein Pub auf ein Bier zu gehen? Das war schon eher beruhigend. Schließlich wusste er ohnehin nicht, was er als Nächstes tun sollte. Da war es besser, die Führung einmal jemand anderem zu überlassen.

Cayden verließ den Platz unter dem Baum und warf sein Zeug in die nächste Mülltonne, ehe er Adam noch einmal ansah.

„Laufen oder Fahren?“

Eigentlich hätte er nichts dagegen, sich einmal anständig die Beine zu vertreten, aber da Cayden gerade beschlossen hatte, die Führung einem anderen zu überlassen, mischte er sich da nicht ein.

 

Anstatt eine verbale Antwort zu geben, zog Adam etwas aus seiner Hosentasche. Kurz ließ er den Schlüssel vor Caydens Gesicht baumeln und drückte dann auf das kleine Knöpfchen. Sofort war als Reaktion das typische Piepen und das Leuchten von Blinkern an einem der nahe geparkten Autos zu erkennen.

„Es ist ziemlich weit außerhalb“, meinte er nur zur Erklärung und ließ Cayden auf der Beifahrerseite einsteigen. Der Wagen ging zwar als Sportmodell durch, aber Adam hatte darauf geachtet, dass er auch genug Beinfreiheit und sogar einen Rücksitz bot. Immerhin wusste man nie, wie schnell man aufbrechen und doch einiges an Habseligkeiten mit sich führen musste.

Ziemlich schnell ließen sie die Stadt hinter sich, fuhren am Stadion vorbei, die Bahnstrecke entlang und bogen dann von der Küstenstraße ins Landesinnere. Um diese Uhrzeit begegneten ihnen noch einige Autos, aber zu späterer Stunde würde es hier fast unheimlich still werden. Etwas, das Adam zu schätzen wusste.

Über einen kleinen Schotterweg erreichten sie ein Farmgelände, auf dem ein niedriges, aber ordentliches Haus im Dunkeln stand. Hier parkte Adam den Wagen, schloss ihn ab und zeigte dann mit einem Kopfnicken zu einer kleinen Ansammlung von Lichtern, die etwas den Hügel hinunter an einem Flusslauf lagen.

„Zur Ortschaft können wir laufen.“

 
 

***

 

Ein Vorteil, den man hatte, wenn man ein Vampir und nicht ganz dumm war, war der, dass immer genug Geld zur Verfügung stand. Was bei ihrem Metabolismus auch durchaus nötig war, schließlich kippten Adam und er ein Bier nach dem anderen, und sofern es ihn selbst anging, spürte er noch absolut gar nichts. Sie redeten nicht einmal viel. Cayden starrte stattdessen die meiste Zeit nur auf einen imaginären Punkt und gab ein paar Laute von sich, wenn Adam ein Thema auf den Tisch zu bringen versuchte.

Die meiste Zeit hörte Cayden gar nicht zu. Er war mit seinen Gedanken ganz wo anders. Doch schließlich kam irgendwann der Punkt, an dem er nicht einmal irgendeinen Laut von sich gab, sondern nur noch vor sich hin starrte, bis er die vollbusige Kellnerin schließlich heran in ihre leicht abgeschiedene Ecke winkte und zwei doppelte Jack Daniels bestellte.

Erst als diese wieder zurückkam und er die beiden Jacks hinunter gekippt hatte, wandte er sich an Adam.

„Weißt du eigentlich, wie das ist, wenn man so lange wie ich alles absolut unter Kontrolle hatte? Jeder Tag birgt keine Überraschungen mehr, alles wird zur Routine, und obwohl manchmal Langeweile aufkommt, ist es doch nicht übel und dann plötzlich von einem Moment auf den anderen ändert sich alles. Man kennt sich selbst nicht mehr. Man kennt die Leute um sich herum nicht mehr. Alles entgleitet einem …“

Cayden knurrte frustriert und winkte erneut nach der Kellnerin. Es war besser vom Bier runter und auf etwas Härteres umzusteigen, wenn er auch nur irgendwie ein gelösteres Gefühl verspüren wollte.

 

Adam registrierte Caydens Umschwung auf härteren Alkohol mit Gleichgültigkeit. Erstens konnte der andere tun, was er wollte und zweitens musste er eine ganze Flasche von diesem Fusel hinunter kippen, um auch nur pelzige Zehen zu bekommen.

Was Adam allerdings mit größerem Interesse beobachtete, war die Tatsache, dass der Alkohol – wie wenig er auch körperlich bewirken mochte – scheinbar Caydens Zunge etwas löste. Oder war es einfach die Last, die zu schwer wurde? Adam hatte den anderen Vampir schließlich nicht ohne Grund in diese gottverlassene Bar geschleppt. Es gab etwas zu bereden. Oder zumindest hatte Cayden etwas loszuwerden, wenn er darunter nicht einknicken wollte.

Adams blaue Augen blickten versonnen unter den schwarzen Wimpern hervor.

„Ich kenne das Gefühl.“

Was der Wahrheit entsprach. Vielleicht hatte er nie alles so gut unter Kontrolle gehabt, wie sein Gegenüber. Er konnte sich nicht erinnern. Aber das war ja der Punkt. Daran, sich selbst nicht mehr zu erkennen, nichts mehr zu kennen und sich halt- und ziellos zu fühlen – das kannte er nur zu gut.

„Was willst du jetzt tun?“

Viele Möglichkeiten gab es nicht: Gehen oder Bleiben.

Bloß hing an beiden Varianten so viel mehr.

Adam bestellt noch zwei Whiskey.

 

„Ich weiß es nicht genau“, gab Cayden zu und ließ einen Rest von der goldenen Flüssigkeit in seinem Schnapsglas hin und her schwappen, dabei sah er sich eher desinteressiert in der Bar um.

„Das mit der Firma bekomme ich irgendwie hin. Ruf hin oder her, das ist nicht das Problem.“

Er wollte ohnehin nicht mehr zu lang von früh bis spät arbeiten, und selbst wenn er die Firma verlor, es war ihm egal. Nur um die vielen Mitarbeiter nicht. Die waren ihm ganz und gar nicht egal.

Doch das Schlimmste war die Sache mit Emma.

„Sei ehrlich. Glaubst du, ich hätte meine Frau verprügelt und meine gesamte Wohnzimmereinrichtung dazu, obwohl ich mich an dem Tag von ihr getrennt habe?“

Es klang immer noch so unrealistisch, dass sich Cayden ernsthaft fragte, wie man überhaupt nur auf diese stumpfsinnige Idee kommen konnte.

Gut, spätestens morgen früh würde jeder erfahren, dass Vanessa ihn entlastet hatte, das dürfte das Schlimmste beheben. Dennoch, das Misstrauen war geschürt worden.

 
 

***

 

Und eine weitere Meldung aus Wellington. Heute ist Cayden Calmaro aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Vor ein paar Tagen war der bekannte Firmenchef unter dem Verdacht verhaftet worden, seine Frau misshandelt zu haben. Vanessa Calmaro wurde von einer Angestellten in ihrem Haus aufgefunden und musste sofort in ärztliche Behandlung übergeben werden. Bis heute lag sie auf der Intensivstation und war nicht ansprechbar. Da sich ihr Zustand jedoch besserte, war sie in der Lage, ihren Ehemann zu entlasten. Laut Aussage von Mr. Calmaros Anwalt werden alle Anklagen gegen den Musikmogul fallen gelassen. Seine Frau will keine Anzeige gegen ihn erstatten. Stattdessen laufen nun Ermittlungen gegen Unbekannt.

 

Emma schaltete das Radio aus und setzte sich mit ihrer Tasse Tee an den Küchentisch. Vor ihr lag ihr Handy auf der Tischplatte. Regungslos und stumm.

Schon seit einer Stunde wusste die Öffentlichkeit, dass Cayden entlassen worden war. Also musste es sogar noch länger her sein, dass er aus dem Gefängnis gekommen war.

Warum hatte er sich noch nicht gemeldet?

Emma nippte an ihrem Tee und drückte auf eine Taste an dem kleinen Telefon. Nein, am Akku lag es nicht. Empfang hatte sie auch.

Was er wohl machte?

Und ... wollte sie überhaupt, dass er sich meldete?

 
 

***

 

Sein Mund verzog sich leicht, als ihm die brennende Flüssigkeit den Rachen hinunter rann. Was die Menschen an diesem Zeug fanden, verstand er immer nur ansatzweise, wenn er es in sehr seltenen Momenten schaffte, sich auf dem Niveau eines Schwipses zu trinken. Was nicht oft vorkam.

„Ich habe keine Ahnung, was du getan hast. Ich kenne dich nicht.“

Adams Blick hielt dem von Cayden stand.

„Und dass ich glaube, dass du nicht so dumm wärst, so etwas zu tun, weil es aufgrund von ... Gemeinsamkeiten zwischen dir und mir viel gefährlicher wäre, als es scheint, hilft dir nicht.“

Er nahm noch einen Schluck von dem Whiskey.

„Immerhin bin nicht ich es, von dem du eigentlich wissen willst, was er über dich urteilt.“

 

Cayden schenkte Adam einen kurzen Seitenblick.

Eigentlich hatte der andere recht und er selbst wusste nichts über den blauäugigen Vampir. Rein gar nichts. Dennoch, obwohl er sich äußerst selten so fühlte, war er ganz froh, einmal einen Artgenossen in der Nähe zu haben, dem er keine zahnärztliche Behandlung angedeihen lassen musste.

Was wiederum die Frage aufwarf, warum Adam eigentlich hier war. Immer noch auf der Suche nach Antworten?

Eine Weile schwieg er. Ließ das Gesagte auf sich wirken und hing seinen eigenen Gedanken nach, während er die Kellnerin am Ende dazu brachte, ihm gleich die ganze Flasche Jack Daniels hier zu lassen. Das ersparte ihr Fußweg und ihm eine Durststrecke.

„Ich gebe dir Recht“, meinte er schließlich.

„Sofern ich den Mut aufbringe, den Tisch hier zu verlassen, sollte ich mich tatsächlich um das Wesentliche kümmern, aber bis dahin, erzähl mir, wie du so über die Runden kommst. Wo beschaffst du dir deine Nahrung?“

Cayden fragte das mehr so, als wolle er das Thema wechseln und als würde es ihn nicht brennend interessieren. Aber tatsächlich tat es das irgendwie. Er war es einfach nicht mehr gewohnt, zu jagen.

 

Um das Wesentliche kümmern.

Adam musterte den anderen Vampir unauffällig von der Seite. Ein bitterer Geschmack breitete sich auf seiner Zunge aus, der ihn schal an etwas erinnerte, das er gern gegen so manche Fetzen seiner Vergangenheit eingetauscht hätte. Da wurden sie alle so alt, sammelten so lange Lebenserfahrung ... und trotzdem waren sie so sehr in sich selbst gefangen, dass sie das Wesentliche in eine Ecke drängten. Aus ihrem Kopf und ihren Gefühlen. So weit von sich, dass es so leicht für einen anderen war ...

Seine Fänge kratzten über den Rand des Glases, als er einen weiteren großen Schluck Alkohol in sich hinein kippte. Vergangenheit. Schon lange vorbei. Zu Asche zerfallen und in alle Winde verstreut.

Trotzdem brannte es noch. Auf seinen Lippen. In seinem Inneren ...

„Im Supermarkt.“

Adams Blick sank auf die Tischplatte und er wartete kurz ab, bis seine Fangzähne sich so weit zurückgezogen hatten, dass er sein Gegenüber nicht aus Versehen aggressiv stimmte. Es war sein Schmerz, nicht der eines anderen. Auch wenn er den gleichen Fehler zu machen drohte.

„Im Internet. Heutzutage gibt es ganze Untergrundgruppen, die so sein wollen, wie wir. Sie bieten sich untereinander an. Vollkommen harmlos eigentlich, aber eine Gelegenheit, wenn du mich fragst. So, wie die drauf sind, fällt einer von uns gar nicht auf. Wir sind sogar weniger seltsam drauf als so mancher Mensch.

Ansonsten ... Finstere Ecken, dreckige Hälse ... das Übliche.“

Oder man hatte ein Scheißglück und fand jemanden, der es einem freiwillig gab. Und sogar mehr dazu, als man sich je zu wünschen wagte.

 

„Im Internet? Tatsächlich?“

Auf diese neue Botschaft musste Cayden noch ein großes Glas hinunter würgen, ehe er auch nur irgendetwas darauf sagen konnte.

„Wieso komme ich mir dabei noch älter vor? Was ist aus den guten alten Zeiten geworden, wo man noch in Bordellen der einen oder anderen etwas abzapfen konnte? Zumindest, wenn man Lust auf mehr als nur einmal beißen hatte.“

Was er momentan sicherlich nicht hatte. Zumindest nicht mit einer Wildfremden. In seinem jetzigen Lebensabschnitt gab es nur Emma.

Emma …

Immer wieder nur Emma …

Cayden wollte fluchen oder zumindest die halb geleerte Flasche quer durch den Raum schleudern, doch alles was er tat, war mit dem Rücken an der Wand zu sitzen und ausdruckslos auf seine Finger mit dem Glas zu starren, während seine Augen voller Emotionen waren, die er nicht hinauslassen konnte. Nicht einmal jetzt. Nicht einmal hier.

Er wollte irgendjemandem den Hals dafür umdrehen, dass er sich so fühlte.

„Warum bist du eigentlich hier, Adam? Wir kennen uns nicht. Wir schulden uns nichts und ganz ehrlich, ich bin auch nicht der freundschaftliche Typ. Also, warum bist du hier?“

 

„Das funktioniert auch jetzt noch, wenn du das vorziehst. Allerdings ...“ Er warf Cayden einen verschwörerischen Blick zu. „... sind weder die Etablissements, noch die Damen mit dem zu vergleichen, was du als 'gute alte Zeiten' bezeichnest.“ Nicht mehr, seit das Schönheitsideal von gesund kurvig zu knochig umgeschwenkt hatte.

Adam war jedes Mal halb am Verzweifeln, wenn er diese Hungerhaken durch die Straßen laufen sah. Nichts, an dem man sich festhalten konnte, nichts, worin man seine Fänge versenken wollte. Es gab nur noch wenige, die –

Sofort wurde Adam aufmerksam, als Cayden die wohl unausweichliche Frage nach den Beweggründen für dieses Treffen ansprach. Seine Nackenmuskeln spannten sich an und in seinem Kopf ratterten die Ausreden herunter, die er sich für diesen Fall zurechtgelegt hatte.

Reines Interesse.

Sympathie einem seiner Art gegenüber.

Langeweile.

Seine Suche nach seiner eigenen Vergangenheit.

Aber das alles ... wäre mehr oder weniger gelogen. Selbst wenn er alles miteinander verband, wäre es noch nicht ganz das, was ihn wirklich zu diesem anderen Vampir zog.

Er zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung.“

 

Das half ihm auch nicht weiter. Weder was seine Frage anging, noch bei seinen anderen Problemen, und der Alkohol trug auch nicht gerade dazu bei. Eher wurde er langsam gereizt davon, was keine sehr gute Mischung mit seinen restlichen Gefühlen war.

Cayden schob endlich die Flasche von sich. Er hatte genug getrunken, zumal das Zeug ohnehin nicht half, Probleme zu lindern oder gar zu beheben.

„Ich weiß, das ist sicher eine seltsame Frage, aber so von Artgenosse zu Artgenosse – kann ich heute bei dir übernachten? Ich meine, ich kann mir auch selbst einen Unterschlupf suchen, aber ich weiß nicht, ob ich dann nicht irgendjemandem, der Ärger macht, die Knochen breche.“

Es war schlimm, sich so aufgeladen und gewaltbereit zu fühlen. Doch zumal kam es auch bei Cayden vor, seinen Frust in einem anständigen Kampf abbauen zu wollen. Aber sicherlich nicht an einer wehrlosen Frau.

Allein der Gedanke daran regte ihn noch mehr auf.

„Ich denke, ich habe genug für heute.“

Cayden winkte die Kellnerin heran, um zu bezahlen und noch ordentlich Trinkgeld zu geben, damit wenigstens eine Person glücklich schlafen konnte.

 
 

***

 

Er schloss die Haustür auf und suchte nach dem Lichtschalter. Sofort wurde der große Raum im Erdgeschoss von warmem Licht erfüllt. Direkt rechts neben dem Eingang stand ein Ledersofa, an dem vorbei man auf einen großen Holztisch zuging. Daneben war direkt die Küchenecke mit dem Sitz- und Arbeitstresen, der diesen Bereich vom Rest des quadratischen Raumes trennte.

Alles war aufgeräumt und sauber. Einmal von dem wenigen Geschirr in der Spüle abgesehen und einem Buch über die Geschichte Neuseelands, das aufgeklappt, verkehrt herum auf dem Sofa ruhte.

„Da hinten geht’s zum Badezimmer.“

Er zeigte rechts auf eine Tür und öffnete diejenige zu seiner Linken, die den Blick auf ein kleines, ordentliches Zimmer freigab. Möbliert mit einem Doppelbett, einem Kleiderschrank und einer hellen Kommode, sah der Raum einladend, aber wenig persönlich aus.

„Fühl dich wie zu Hause. Im Badschrank ist eine unbenutzte Zahnbürste. Telefon ist neben der Couch.“

Er wünschte Cayden keine gute Nacht, weil er sehr gut einschätzen konnte, wie wenig das zutreffen würde. Stattdessen wandte er sich zu der Wendeltreppe, die auf die Galerie hinaufführte, und setzte seinen Fuß auf die erste Stufe.

„Ich schlafe ziemlich tief für ... einen von uns. Und ... Geräusche kannst du getrost ignorieren.“

 

Cayden sah sich unauffällig in dem Raum um und begann erst jetzt so langsam die Müdigkeit in seinen Knochen und seinem Herzen zu spüren. Weshalb er nicht viel auf Adams Worte sagte.

„Danke. Ich werde trotzdem leise sein.“

In dem einen Danke lag mehr Dankbarkeit, als er schon seit Ewigkeiten einem anderen Vampir hatte zuteilwerden lassen. Normalerweise ging er ihnen aus dem Weg oder hatte keinen Grund dankbar zu sein, aber mit Adam ging es ihm seltsamerweise anders. Eigentlich … war es fast tröstlich, jemanden wie ihn zu haben. Jemanden, bei dem man nichts erklären oder sich verstellen musste. Ja, Cayden hatte wirklich allen Grund, dem anderen dankbar zu sein.

Für eine Weile zog sich Cayden in das Zimmer zurück, das Adam ihm angeboten hatte und versuchte nachzudenken, oder besser gesagt, nicht nachzudenken. Was auch immer. Er konnte ohnehin nicht verhindern, dass seine Gedanken ein Eigenleben entwickelten und sich nach einer Weile nur noch um Emma kreisten.

Er vermisste sie wahnsinnig und zugleich hatte er panische Angst, ihr wieder gegenüberzutreten und dabei ihre Ablehnung zu erfahren. Vielleicht lehnte sie ihn nicht ab. Das wäre gut möglich nach den heutigen Nachrichten. Aber was, wenn doch? Was, wenn dieser ganze Mist ihr Vertrauen in ihn erschüttert hatte?

Cayden wusste nicht, was er denken sollte, also stand er schließlich noch einmal auf, um sich die Zähne zu putzen, sich etwas das Gesicht zu waschen und dann nur noch in Unterwäsche unter die Bettdecke zu kriechen.

Sein Handy hielt er dabei fest in der Hand, mit Emmas Nummer auf dem Display.

Wie lange Cayden den Bildschirm immer wieder aktivierte, wenn dieser das Licht abschaltete, wusste er nicht, aber es war ein sehr langes Hin und Her, bis er schließlich den Mut aufbrachte, um wenigstens eine Nachricht zu tippen: Em, es tut mir leid, dass ich mich erst jetzt melde. Ich brauchte etwas Zeit für mich alleine. Willst du dich morgen mit mir treffen? Ich möchte gerne mit dir reden, will das aber nicht am Telefon tun. Ich hoffe, es geht euch beiden gut. In aufrichtiger Liebe Cayden

 

„Wo bist du?“

Nur eine der vielen Fragen, die Emma gern an Cayden gestellt hätte. Zusammen mit „Geht es dir gut?“.

Warum er allein sein wollte und nicht gleich mit ihr redete, wollte Emmas Verstand als etwas akzeptieren, was er selbst entscheiden musste. Sie steckte nicht in seiner Situation und konnte sich noch nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie es sich anfühlen musste. Andererseits brannte ihr Herz bei jedem Schlag, wenn sie daran dachte, was das heißen könnte. Sie hätte bestimmt als Erstes zu ihm gewollt. In Sicherheit. Zu einem Menschen, der ihr Halt geben würde.

War sie das für Cayden denn nicht?

Und die andere Frage: Glaubte sie denn selbst, dass sie das für ihn sein könnte? Nach alldem, was sie in den vergangenen Tagen gehört, gelesen und gesehen hatte? War das Versprechen von Liebe so viel stärker als ihr Verstand, der sie davor warnte, sich jemandem anzuvertrauen, der sich auch nur möglicherweise derartig gewalttätig an Frauen vergriff?

Ihre Finger zitterten, als sie die SMS in ihr Handy tippte und sie abschickte. Anschließend schaltete sie das Telefon sofort ab, legte es auf ihren Nachttisch und drehte sich auf die andere Seite. In ihre Decke vergraben schloss Emma die Augen.

War sie vielleicht wirklich einfach zu dumm?

Reden klingt gut. 13 Uhr. In dem kleinen Restaurant, wenn dir das recht ist.

45. Kapitel

Cayden war schon um 12 Uhr in der Nähe des Restaurants, das er mit Emma bereits zweimal besucht hatte. Natürlich ging er nicht gleich hinein, sondern drückte sich in die Schatten einer Seitengasse gegenüber des Häuserblocks mit dem Restaurant.

Also eigentlich ganz nahe am Büro, und obwohl er die Ablenkung eines stressigen Tages regelrecht vermisste, zog es ihn dennoch nicht dorthin. Nein, er war noch nicht bereit, sich alledem zu stellen, weshalb er sich auch vor den vorbeigehenden Passanten im Schatten verbarg.

Heute Morgen hatte er die Zeitung gelesen. Sein momentanes Leben war natürlich bereits ordentlich ausgeweidet und in aller Öffentlichkeit verteilt worden. Doch zumindest wurde damit auch seine Unschuld verbreitet. Wenigstens das, was die Sache mit dem Gewaltverbrechen anging. Die Presse hatte natürlich auch gleich den Faden aufgenommen, dass es offenbar nicht das erste Mal gewesen sein soll, dass er Vanessa geschlagen hatte. Und in der Klatschpresse ging sogar das Gerücht herum, seine Frau hätte nur für ihn ausgesagt, weil sie Angst hatte, er würde sie sonst doch noch umbringen.

Zum Glück aber blieb diese Geschichte vorerst im untersten Niveau der Printmedien. Dennoch … es fühlte sich nicht gut an, so etwas über sich zu hören und doch ganz genau zu wissen, dass es nicht stimmte. Cayden hätte nicht einmal die Mittel dafür, um zu bewerkstelligen, dass man Vanessa umbrachte, während er hinter Gitter saß und noch einmal, er hatte auch jetzt keinen Grund dazu, ihr wehtun zu wollen …

Immer noch über das nachdenkend, was sein Leben so rapide verändert hatte, verging die Zeit nach und nach, während er keine Sekunde lang den Eingang des Restaurants aus den Augen ließ.

Erst als Emma auftauchte, richtete er sich kerzengerade auf und sein Herz begann loszudonnern. Sofort zitterten seine Finger und seine Kehle wurde ganz trocken, während es unangenehm in seinem Nacken kribbelte und seine Sinne in höchster Alarmbereitschaft waren.

Er hatte Angst.

Verdammt große Angst.

Und es brauchte am Ende sogar mehrere Anläufe, ehe er es schaffte, aus den Schatten zu treten, die Straße zu überqueren und Emma in das Restaurant zu folgen.

Dass sich sofort viele Blicke auf ihn richteten, war ihm egal. Sein eigener war fest auf Emma geheftet, die bereits einen Platz gefunden hatte.

Elegant, aber mit zitternden Knien, schlängelte er sich zwischen den Tischen hindurch und glitt schließlich auf die lederne Sitzbank Emma gegenüber. Er war ein einziges Nervenbündel, obwohl er es sich so gut wie möglich nicht anmerken ließ. Lediglich seine Finger zitterten, weshalb er sie schließlich ineinanderschob.

Cayden hatte bereits den Mund geöffnet, um etwas zu sagen, doch irgendwie wollte nichts heraus kommen. Weshalb er es noch einmal versuchte, mit dem gleichen Ergebnis.

Dabei hatte er das bei Adam heimlich geübt. Doch nun fehlten ihm die passenden Worte, weshalb er schließlich einfach nur seufzte und über seine eigene Unfähigkeit freudlos lächelte.

„Ich habe dich vermisst, Em.“

 

Es war zehn vor eins, als sie im Restaurant ankam. Warme Luft schlug ihr entgegen und sie zog sich die weiße Wollmütze vom Kopf, bevor sie sich einen freien Tisch suchte. Relativ nah am Eingang, aber doch so weit davon entfernt, dass nicht jeder, der vorbeiging, sie sehen konnte. Ein Tisch, an dem sie nicht nebeneinandersitzen konnten.

Nicht weglaufen. Nicht weglaufen. Nicht weglaufen.

Mit einer fahrigen Bewegung streifte sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr und versuchte dann ihre Finger mit der Speisekarte zu beschäftigen. Allerdings hatte das genau den gegenteiligen Effekt, da das Papier das Zittern ihrer Hände in sehr sichtbarem Maße übertrug.

Sie hatte doch sowieso keinen Hunger.

Nein, das stimmte nicht ganz. Denn ihr Magen knurrte schon die ganze Zeit und Emma hatte sogar das Gefühl, sich etwas schwach zu fühlen, weil sie seit dem Apfel zum Abendessen am Tag vorher, nichts mehr zu sich genommen hatte. Aber sie hatte keinen Appetit. Nichts, das mehr Substanz hatte als ein Smoothie, hätte sie herunter gebracht. Sie würde Kaffee bestellen.

Etwas zum Festhalten.

Dabei würde es gar nicht so schlimm werden. Sie würden reden, mehr mussten sie gar nicht tun. Nur reden. Wie erwachsene Menschen, denn damit ließ sich fast jedes Problem lösen.

Ja genau. Es wird schon alles seine Richtigkeit finden und dann –

Ihr Herz boxte ihr in den Magen und ihre Augen fingen von einer Sekunde auf die andere zu brennen an, als sie ihn sah. Irgendetwas hatte sich um Emmas Herz gelegt und drückte so stark zu, dass sie nicht atmen konnte. Nicht einmal denken oder sich bewegen. Selbst als er sich schon zu ihr gesetzt hatte.

Gott, er sah ... genauso aus, wie immer.

Das dürfte sie eigentlich gar nicht überraschen, aber irgendwie tat es das doch. Emma wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber das hier ... war es eindeutig nicht gewesen.

Das Bedürfnis, ihre Hand auszustrecken und Cayden zu berühren, ihm über die Hände zu streicheln oder ihn einfach in den Arm zu nehmen, sich an ihn zu drücken ... war riesengroß.

Er hatte sie vermisst?

Sie hatte ... in seiner Abwesenheit anscheinend gar nicht bemerkt, dass die Welt um sie sich zu drehen aufgehört hatte.

Dafür tat sie es jetzt mit doppelter Geschwindigkeit und riss Emma mit sich.

„Geht es ... dir gut?“

 

Er war nicht so gefasst, wie er es eigentlich sein wollte und auf Emmas Frage, wusste er eigentlich auch nicht wirklich eine Antwort. Aber es war ein Anfang. Wenn auch nur ein dürftiger.

„Ja … nein … naja, nicht wirklich“, gestand er schließlich leise und musste all seinen Mut aufbringen, um Emma in die Augen zu sehen.

Wieso kam er sich so schuldig vor, obwohl er nichts getan hatte? Vielleicht, weil er nicht wusste, was für ein Urteil auf ihn wartete? Oder, weil es sehr wohl Dinge gab, die er ihr verheimlichte und die man nicht so einfach auf die leichte Schulter nehmen konnte?

Cayden war sich nicht sicher, was davon zutraf. Aber es war auf jeden Fall eine Mischung aus allem. Dennoch, der wesentliche Grund für dieses Treffen hier, würde sich nicht davon beeinträchtigen lassen.

„Em … das, was man mir vorwirft oder vorgeworfen hat, das stimmt nicht. Ich weiß nicht, wer es war, aber ich hatte keinen Grund dazu. Warum auch? Ich liebe dich. Ich will mit dir zusammen sein. Für dich und das Baby da sein, wieso sollte ich dann so etwas Dummes tun?“ Noch dazu so offensichtlich? Wenn er es wirklich getan hätte, dann auf wesentlich subtilere Art und Weise. Es wäre schließlich nicht die erste Leiche in seinem Leben. Aber sicher die sinnloseste.

 

Emma versteifte sich keine Millisekunde, nachdem Cayden das Thema anschnitt, das sie eigentlich hatte noch eine Weile umschiffen wollen. Ihre Wirbelsäule drohte zu knirschen, als sie die Anstrengung auf sich nahm, ihren Kopf Cayden weiter zuzuwenden.

Wieso sollte ich so etwas Dummes tun?

Weil sie dir mit dem Vertrag gekommen ist. Weil sie darauf bestanden hat, dass du sie nicht so einfach verlassen kannst. Weil sie dich zwingen wollte. Weil sie ... Weil du ein einziges Mal deine gelassene Fassade nicht aufrechterhalten konntest.

Emma wurde richtig flau im Magen, als ihr diese Gedanken durch den Kopf schossen. Was tat sie denn da? Nächtelang hatte sie alles so gedreht und gewendet, dass sie ihm glauben konnte. Entgegen allen Argumenten der Presse, gegen den Verdacht. Und jetzt? Wie konnte sie denn so grausam sein, ihm jetzt nicht zu glauben? Warum hörte sie nicht auf ihr ängstlich bebendes Herz, das genau wusste, dass er unschuldig war?

„Ich ...“

Die Stimme versagte ihr und Emma schluckte einen brennenden Kloß in ihrer Kehle herunter.

„Ich weiß nicht.“

 

Sie glaubte ihm nicht ...

Oh Gott, sie glaubte ihm wirklich nicht!

Sie dachte, er wäre tatsächlich zu so etwas fähig?!

Für einen Moment blieb Cayden das Herz stehen und alles um ihn herum schien sich zu drehen, ehe er zurück in den Ledersitz sackte und zur Seite blickte. Alle Spannung war aus seinem Körper gewichen. Er fühlte sich wie erschlagen.

Eigentlich konnte Cayden es gar nicht wirklich glauben.

„Ich habe noch nie eine Frau geschlagen“, meinte er leise.

„Wenn mein Leben oder das meiner Liebsten davon abhinge, dann vielleicht ja, aber diese Macht hat Vanessa nicht über mich. Sie ist unwichtig. Sie bekommt alles, was sich eine geschiedene Frau an Abfindung nur wünschen kann. Ich hatte keinen Grund. Überhaupt keinen.“

Warum glaubte sie ihm nur nicht? War es denn so offensichtlich, dass er noch sehr viel mehr vor ihr verbarg? Aber in diesem Fall hatte das eine mit dem anderen noch nicht einmal etwas zu tun!

 

Jetzt fing Emmas Körper an zu zittern. Zu beben, wenn man es genau nahm. Denn Emma hatte das Gefühl, gleich unter den Tisch zu rutschen, weil sie sich nicht mehr auf dem Stuhl halten konnte. Sie hatte ... ihn verletzt.

Dummerweise fiel ihr dazu im ersten Moment nur ein, dass ihr das noch nie bei einem Mann gelungen war. Nicht einmal im Ansatz – selbst wenn sie es gewollt hatte. Und jetzt, da sie es wirklich getan hatte – ohne es zu wollen – fühlte es sich so an, als hätte sie sich selbst eine Gabel in die Brust gestoßen.

„Was ist ... mit eurem Vertrag?“, wollte sie mit leiser, aber fester Stimme wissen. Ihre Augen wurden gegen ihren Willen kalt. Es war etwas, mit dem er Emma immer einen Riegel vorgeschoben hatte. Etwas, das ein Geheimnis gewesen war. Entweder packte er jetzt alle Karten auf den Tisch oder ...

Jetzt wurde Emma richtig schlecht.

 

Cayden saß in der Falle. Es sah zwar nicht so aus, aber er war mit Emmas Frage tatsächlich noch mehr in die Ecke gedrängt worden.

Eigentlich hatte er gehofft, sie würde nicht auf den Vertrag zu sprechen kommen.

Allerdings hätte er wissen müssen, dass Hoffnung in letzter Zeit Mangelware gewesen war. Es hatte einfach so kommen müssen.

Caydens Finger zupften unauffällig am Saum seines beigefarbenen Pullovers, während er seine Gedanken zu bändigen versuchte, die sich regelrecht überschlugen. Erstens war das Restaurant hier absolut ungeeignet, um so etwas zu besprechen. Zweitens war es schon etwas merkwürdig, dass bisher keine Kellnerin aufgetaucht war, um ihn aus dieser Antwortsmiesere herauszuholen und drittens, er konnte Emma jetzt noch nicht die ganze Wahrheit sagen.

Gerade nach dem Schock seiner Verhaftung würde das nur noch mehr Zweifel in ihr schüren. Sie würde glauben, dass er ihr noch sehr viel mehr verheimlichte, als seine bloße Existenz und dass er somit durchaus im Stande wäre, diese schrecklichen Dinge zu tun, denen man ihn bezichtigt hatte. Nein, sie würde es nicht verstehen. Er würde sie und das Baby stattdessen nur verlieren.

Davor hatte er sogar noch mehr Angst, als ihr die Wahrheit zu sagen. Ein Grund, es erst recht nicht zu tun.

Cayden bemerkte nicht, wie er eine ganze Weile schwieg, ehe er schließlich hochsah und seine Schuldgefühle ob seiner Verschwiegenheit sich in seinen Augen widerspiegelten.

Schließlich schüttelte er leicht den Kopf.

„Es gibt keinen Vertrag mehr zwischen ihr und mir, aber …“ Genau das würde alles nur noch komplizierter machen. Allerdings war es für eine Weile kein Problem, an seine wöchentliche Ration Blut zu kommen. Nur war das für ihn keine Dauerlösung.

„… es wird nicht leicht werden. Trotzdem …“

Er atmete gequält tief ein und aus.

„Trotzdem kann ich dir das jetzt nicht erklären. Ich möchte es gerne, aber nicht jetzt. Nicht hier. Nicht so. Du würdest es nicht verstehen.“

 

Ich würde es nicht verstehen.

Verdammte ... Natürlich verstehe ich es nicht, wenn du mir nur solche kryptische Brocken an den Kopf wirfst! Wie sollte ich auch?! Hättest du mir von Anfang an gesagt, was es mit diesem verfluchten Vertrag auf sich hat, dann ...

Emmas Augen wurden noch kälter und sie atmete flacher. Sie ärgerte sich. Nein, eigentlich ... war sie stinksauer!

Dabei hatte sie sich überhaupt nicht ärgern wollen. Eigentlich hatte sie hier sitzen, sich mit Cayden versöhnen und das alles vergessen wollen! Es sollte besser werden und sich nicht so ... beschissen anfühlen!

Um sich nicht bockig in ihrem Stuhl zurückzulehnen und die Arme abweisend vor der Brust zu verschränken, schob Emma ihre Hände flach unter ihre Oberschenkel und starrte auf die Tischplatte. Der klebrige Ring auf dem Plastik war ihr vorher gar nicht aufgefallen ...

Sie schwiegen eine Weile. Emmas Lippen fühlten sich an wie verklebt und sie konnte auch keinen Gedanken fassen, der sie jetzt irgendwie weiter gebracht hätte. Wenn sie zur Hölle nur gewusst hätte, was sie wollte!

 

Ihr Duft war heiß und scharf wie eine gewetzte Klinge.

Er verstand es, aber er konnte nichts dagegen tun. Nicht jetzt und schon gar nicht hier.

„Emma ... Ich kann es dir jetzt nicht sagen. Dafür ist es zu … kompliziert. Aber es ist nicht das, was du denkst.“

Ach, das war es doch nie.

Aber in diesem Fall konnte Emma denken, was sie wollte, darauf käme sie tatsächlich nicht. Ansonsten müsste er sich ernsthafte Sorgen darüber machen, dass er sich nicht mehr gut genug tarnen konnte, um für Menschen menschlich zu wirken.

„Und das ist auch nicht der Grund, weshalb ich hier sitze. Ich will doch nur, dass du weißt, dass ich diese Dinge nicht getan habe und nicht nur, weil die Presse sich nun entschieden hat, etwas anderes zu drucken, sondern weil es die Wahrheit ist. Ich mag meine Geheimnisse haben. Wir kennen uns vielleicht noch lange nicht so richtig, wie wir das wollen, aber das heißt nicht, dass ich plötzlich eine komplett andere Persönlichkeit habe, als du kennen gelernt hast. Ich bin immer noch der Gleiche, egal wofür man mich beschuldigt.“

 

„Okay!“

Es kam so schneidend über ihre Lippen, dass es eine eisige Spur darauf hinterließ. Aber für jetzt ignorierte Emma das einfach. Stattdessen tat sie das, was sie bei anderen in solch miesen Situationen gar nicht glauben konnte. Sie sagte, was sie fühlte.

„Weißt du, wie sich das für mich anhört? Es hört sich in meinen Ohren so an, als hältst du mich nicht nur für naiv, sondern auch noch für dumm. Aber Cayden, ob du es glaubst oder nicht, ich habe mir während deines Aufenthalts im Gefängnis auch Gedanken gemacht. Ich bin nicht nur vor der Glotze gesessen und habe geglaubt, was man mir in den Klatschnachrichten vorgekaut hat. Ich habe tatsächlich – ja, stell dir vor – nachgedacht. Gegrübelt. Darüber, wie wahrscheinlich die Variante der Geschichte ist, die ich mir so sehnlich wünsche. Wer dich wohl aufs Kreuz gelegt hat und warum. Wie es derjenige geschafft hat, dass deine Ehefrau da auch noch mitspielt, wenn sie doch ihr Leben dabei riskieren musste.“

Emmas Stimme war anstatt anzuschwellen noch leiser geworden. Stechende Nadeln aus Eis schienen aus ihrem Mund zu springen und das, obwohl in ihr ein Orkan aus Feuer tobte, der sich einen Ausgang über heiße Tränen in ihren Augen suchen wollte.

„Ich habe nie angenommen ... nie annehmen wollen, dass du getan hast, was man dir vorgeworfen hat. Aber du hast recht: Wir kennen uns kaum. Ich weiß so gut wie gar nichts über dich. Außer, dass du immer wunderbar zu mir warst.

Trotzdem frage ich mich, wie ich es bewerkstelligen soll, dir ohne Zweifel zu glauben, wenn du mir noch nicht einmal zutraust, einen Ehevertrag zu durchblicken.“

 

Cayden konnte sie nicht ansehen, während Emma sein Herz mit jedem ihrer Worte schwerer und schwerer machte, bis er glaubte, es müsse unter der Last zerquetscht werden. Stattdessen blickte er auf die dunkle Holzvertäfelung an der Wand, schwer daran arbeitend, das Zittern seines Körpers zu verbergen.

Selbst als Emma mit ihren Worten fertig war und bestimmt auf eine Reaktion oder Antwort von ihm wartete, konnte er sich nicht rühren.

Cayden fühlte sich wie erstarrt in dem Wissen, noch nie solch intensive Gefühle gehabt zu haben, wie er es in diesem Augenblick tat.

Er war zerrissen zwischen dem Verlangen, alles vor Emma zu offenbaren, was ihn betraf und dem brennenden Begehren nach ihr, das ihn dazu brachte, die dümmsten Dinge zu tun, die man nur tun konnte. Hauptsache sie verließ ihn nicht.

Er fühlte sich ohnmächtig in seiner Hilflosigkeit und ungleich verletzlich. Es war, als würde sie wirklich real sein Herz – sein Leben in Händen halten und es bedurfte nur ihre alleinige Entscheidung, ob sie ihn vernichtete oder am Leben ließ.

Diese Schwäche war ihm gleich, da er sie mehr als sein eigenes Leben liebte. Aber es war dennoch nicht leicht, dieses Wissen zu ertragen.

Während er schwieg, kam schließlich doch eine Bedienung an ihren Tisch, um nach Bestellungen zu fragen. Irgendetwas musste er wohl gemurmelt haben, denn die junge Frau rauschte schnell wieder ab.

Vielleicht hatte er ihr auch gesagt, sie solle sich ihre Bestellungen sonst wohin stecken.

Er wusste es nicht.

Schließlich schloss Cayden die Augen, um sich zu fassen. Um all diese explosiven Gefühle hinter der fleischlichen Hülle zu lassen, wo sie keinen Schaden anrichten oder ihn noch tiefer in seine Miesere hineinreiten konnten.

Daher war sein Äußeres fast kühl, als er endlich wieder den Mut aufbrachte, um Emma anzusehen.

„Du kannst es nicht“, meinte er endlich, auch wenn sie vermutlich keine Ahnung hat, was er meinte.

„Du kannst es nicht bewerkstelligen, mir ohne Zweifel zu glauben. Dafür bist du zu klug und achtest zu gut auf dich selbst. Man muss dein Vertrauen verdienen und das ist nicht leicht. Ich weiß, wie es ist, wenn man nur schwer jemandem vertrauen kann. Mir geht es selbst so. Und gerade weil ich so unglaublich ...“

Cayden schluckte das Wort hinunter, dass er hatte sagen wollen. In ihren Augen war er nicht alt. Schon gar nicht unglaublich alt. Aber bei Gott, in diesem Augenblick fühlte er jedes einzelne seiner Lebensjahre auf sich.

„Gerade weil ich so Vieles gesehen und erlebt habe, fällt es mir nur umso schwerer“, wich er schließlich aus. Im Grunde bedeutete es ohnehin das Gleiche.

„Ich habe dir einmal gesagt, dass die Sache zwischen Vanessa und mir nur auf einer Scheinehe aufgebaut ist. Weshalb ein simpler Ehevertrag kein Grund für mich wäre, dir etwas zu verschweigen. Du könntest den offiziellen Vertrag jederzeit von mir haben, wenn du ihn möchtest, allerdings wirst du nicht das darin finden, was du suchst. Du suchst eine Antwort, zu der ich noch nicht bereit bin, sie dir zu geben. Nicht, weil ich dir nicht vertrauen würde … sondern weil ich dich so sehr liebe, dass es mir Angst macht, auch nur daran zu denken, ich könnte dich verlieren.“

Cayden holte tief Luft. Sein Atem zitterte dabei.

„Ich weiß, dass du offen und aufgeschlossen bist. Dass du dir lieber deine eigene Meinung bildest, anstatt auf andere zu hören und selbst entscheidest, was du glauben willst und was nicht, sofern dir alle Fakten bekannt sind. Aber, Em … Im Augenblick sind da so viele Zweifel in dir. Wie willst du objektiv bleiben, wenn dich bereits eine bloße Behauptung so verwirren kann?“

Er rieb sich übers Gesicht, wollte seine Worte stoppen, aber er konnte es nicht. Nicht ohne, daran zu ersticken.

„Das, was ich dir momentan nicht sagen kann, betrifft mich. Mich und mein ganzes Leben. Es ist nichts, was ich einfach von mir wegschieben könnte. Nichts, was nicht voll und ganz ein Teil von mir wäre. Und wenn du dir nicht langsam, nach und nach selbst ein Bild davon machen kannst, werden die vorgefertigten Meinungen anderer dich zu stark beeinflussen und womöglich, könntest du es dann nicht akzeptieren. Du würdest womöglich mich nicht akzeptieren. Und das ist etwas, vor dem ich inzwischen rasende … Angst habe. Erst recht, nachdem ich noch nicht einmal weiß, ob du mich überhaupt …“

Cayden schaffte es nicht, den Satz zu vollenden. Nicht nur, weil ihm die Stimme dabei versagte, sondern die Bedienung in diesem Augenblick mit Getränken kam.

Er hatte gar nicht gewusst, dass er Orangensaft bestellt hatte. Frisch gepresst, mit Fruchtstückchen ...

Er sprach nicht weiter, selbst als die junge Frau bereits wieder verschwunden war, sondern starrte einen einzelnen Wassertropfen auf dem beschlagenen Glas an, der hinunterlief.

Sein Kopf war leer. Cayden wusste absolut nicht, wie es weitergehen würde, außer, dass er Angst hatte.

 

Emma starrte Caydens Profil an, als wäre es das Einzige, was sie vor dem Strudel aus Wahnsinn bewahren konnte, der sich gerade vor ihren Füßen geöffnet hatte. Sie verstand kein Wort von dem, was er ihr gerade gesagt hatte. Oder vielleicht mochte sie die Aneinanderreihung von Worten verstehen, aber nicht, wie er sie damit von irgendetwas überzeugen wollte. Ja, sie glaubte ihm, dass er sie nicht für dumm und naiv hielt. Sogar das mit dem Ehevertrag kaufte sie ihm ab. Alles ... in Ordnung und nachvollziehbar. Aber der Rest ...

Weil das normalerweise immer einigermaßen funktionierte, versuchte Emma alle Informationen in kleinere Teile zu brechen. In kleinere Häppchen, sozusagen, die ihr Hirn besser schlucken und verarbeiten konnte. Dabei konzentrierte sie sich am meisten auf die letzten paar Sätze, die Cayden gesagt hatte. In denen es um ... ihn gegangen war. Und um dieses Geheimnis, das er ihr nicht preisgeben wollte, sondern das sie nach und nach von selbst herausfinden und akzeptieren sollte.

Emma kam leider nur Negatives in den Kopf, was er damit hätte meinen können. Da er es ihr aber sicher nicht sagen würde, wenn sie jetzt noch mehr die Krallen ausfuhr, seufzte sie leise und ließ den Kopf hängen.

„Cayden, kannst du mir sagen ...“

Sie blickte auf und hoffte so sehr, dass er ihren Blick erwidern würde. Dass sie ihm dadurch zumindest die Antwort auf ihre Frage ohne Zweifel glauben würde.

„Dieses Geheimnis, das mit dir zu tun hat ...“ Ihre Kehle wurde trocken, aber Emma zwang sich trotzdem, weiterzusprechen.

„Gefährdet es dich?“ Sie starrte zwar nicht mehr, hielt aber seinen Blick eisern fest. „Oder mich? Ist es etwas, das mir Sorgen bereiten müsste? Sorgen um dich, mich oder ... das Baby?“

Wie eine tödliche Krankheit. Oder eine Sucht, die ihn doch so aggressiv machen konnte, dass er in einem Moment des Rausches oder des Entzugs um sich schlug?

 

Auch sein Tonfall war nun ruhiger. Sanft, vorsichtig.

„Nein, Em. Es ist nichts Ansteckendes oder sonst irgendeine Krankheit. Ich bin, was ich bin. So wie ich vor dir hier sitze. Euch beiden droht keine Gefahr. Das würde ich nicht zulassen.“

Langsam, zögernd und den letzten Rest an Mut zusammenkratzend den er noch hatte, legte Cayden seine Hand mit der Innenseite nach oben auf den Tisch und schob sie zu Emma hinüber.

„Bitte, Em. Lass uns nicht mehr streiten. Es tut mir leid, dass ich dir etwas verschweige, aber darüber hinaus gibt es nichts, was ich mir zu Schulden habe kommen lassen. Ich bin immer noch die Person, die ich vor ein paar Tagen gewesen bin. Vielleicht etwas erschütterter, aber … ansonsten hat sich nichts geändert. Meine Gefühle zu dir sind die gleichen und das werden sie auch bleiben.“

 

Emma sah vorsichtig von Caydens Gesicht zu seiner Hand und dann wieder zurück. Es musste unglaublich seltsam für ihn aussehen. Dass sie so stark zögerte und ... sich offenbar nicht entscheiden konnte. Dabei war es gar nicht wirklich so. Emma wusste sehr wohl, was sie wollte. Und sie war auch drauf und dran, es zu tun, es war nur ...

Es gab so viel zu bedenken. Sich zu schützen und vorsichtig zu sein. Sie vertraute Cayden in einem Maße, das vielleicht gar nicht klug war. Was, wenn er sie einfach manipulierte? Oder ...

Erst als ihre Hand schon in seiner lag, kühle Haut auf ebenso kühler Handfläche, wurde Emma sich bewusst, dass es leicht gewesen war, Cayden zu berühren und auch ihm damit zu zeigen, dass sie den Streit beenden wollte. Ihr Herz schien mit dem Rest ihres Körpers um die Wette zu zittern und Unsicherheit rann durch ihre Adern wie flüssiges Eis. Auf einmal schien sie jeden Blick eines jeden Anwesenden im Restaurant auf sich zu spüren. Jeden missbilligenden Gedanken einer anderen Frau, wie dumm sie doch war, sich von diesem Mann hinters Licht führen zu lassen. Sie sollte es doch besser wissen.

„Was wird jetzt passieren?“

 

Es war nicht schwierig, Geduld für Emma aufzubringen. Er hätte noch sehr viel mehr auf sich genommen als ihr Zögern. Schlimm war nur, dass es überhaupt dazu kommen konnte. Das war es, was ihn quälte, aber nicht, dass Emma einen gesunden Menschenverstand besaß.

Dennoch beruhigte ihn ihr kleines Entgegenkommen mehr, als alle anderen wenigen positiven Ereignisse in letzter Zeit. Nicht einmal seine Freilassung hatte ihn in diesem Maße beruhigen können. Das konnte nur ihre Hand in seiner.

„Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht. Was ziemlich ungewohnt für mich ist. Allerdings … würde ich mich gerne etwas ausruhen. Vielleicht sollten wir beide das. Ich persönlich habe nicht viel Schlaf in letzter Zeit bekommen, oder Ruhe und morgen … morgen werde ich mich dem Chaos im Büro stellen müssen. Es muss dort bereits schlimmer zugehen, als in der Hölle. Schließlich war ich sehr viel länger nicht da, als angenommen. Allerdings, mit dir im Vorzimmer mache ich mir weniger Sorgen deswegen.“

Er lächelte leicht. Nicht viel, aber immerhin etwas.

 

Ihre Hände wurden so schnell wärmer, als sich ihre Finger miteinander verschränkten, dass Emma sich kurz nur auf dieses kleine Wunder konzentrieren konnte. Es war schon seltsam, dass sie der Hautkontakt mit Cayden so stark von allem anderen ablenken konnte, was um sie herum wirbelte. Selbst die hämmernden Sorgen schienen weniger laut in ihrem Kopf zu dröhnen und Emma schaffte es sogar, ihre Muskeln wieder ein wenig zu entspannen und den Geruch des Milchkaffees wahrzunehmen, der langsam auf dem Tisch vor ihr kalt wurde.

„Es ist gar nicht so chaotisch. Allerdings sind ein paar Kunden abgesprungen, mit denen du sprechen solltest. Viele sind sich noch unschlüssig. Aber wenn du dich darum kümmerst, sie anrufst ...“

Dann würden ein paar Wenige sich umstimmen lassen. Nicht jeder wusste, dass hinter einer kleinen Band der Produzent aus Wellington steckte, der angeblich seine Frau misshandelt hatte. Und wie schnell war über so etwas Gras gewachsen ... Bis zum Sommer vielleicht. Wenn die Konzertsaison losging.

„Stella und ich haben alles am Laufen gehalten, so gut es ging. Wir können dich auf jeden Fall über den aktuellen Stand informieren. Es ist ... Es geht schon.“

 

Nun wurde sein Lächeln größer, während sein Daumen sanft über Emmas Handrücken streichelte und er sie nicht aus den Augen ließ.

„Ich wusste, dass ich da ein gutes Team in meinem Büro habe. Danke, für alles, Em. Du bist mir wirklich immer wieder eine große Hilfe.“

Da nun vorerst die Wogen zwischen ihnen beiden etwas geglättet worden waren, er aber dem Frieden noch nicht ganz trauen konnte, ließ er Emmas Hand nicht los, während er einen Schluck von seinem Orangensaft nahm.

„Ich werde das schon irgendwie regeln“, fuhr er fort.

„Aber vielleicht ist das sogar ein guter Aufhänger, um mich langsam nach einem Nachfolger umzusehen. Ich will nicht mehr so viel arbeiten wie früher, gerade dessen bin ich mir in letzter Zeit nur allzu deutlich bewusst geworden. Das Leben … ist einfach viel zu kurz.“

Nicht seines, sonder das der Menschen um ihn herum und wie schnell er sie verlieren konnte, hatte er soeben die Erfahrung gemacht. Erneut. Er hatte es schon vorher gewusst, doch man hatte ihn noch einmal gründlich daran erinnern müssen.

„Wie geht es eigentlich dir? Mit unserem Baby alles in Ordnung?“

 

„Ist doch kein Problem.“

Nein, das mit der Arbeit war wirklich keinerlei Problem gewesen. Emma wäre sich sogar vollkommen blöd dabei vorgekommen, wäre sie einfach zu Hause geblieben. Aus Protest oder irgendwelchen anderen Gründen. Es hatte auch kaum einen der Angestellten gegeben, der sich nicht jeden Morgen pünktlich hatte blicken lassen. Immerhin kannte fast jeder in der großen Firma Cayden persönlich. Vielleicht nicht von langen Gesprächen, aber die Hand hatten ihm fast alle mindestens einmal geschüttelt. Und die meisten wussten auch, dass er mit seiner Frau eine absolute Musterehe geführt hatte. Obwohl Vanessa ... starker Tobak sein konnte.

„Du weißt, dass ich dafür bin, dass du weniger arbeitest ... Absoluter Egoismus.“

Sie wurde gegen ihren Willen ein bisschen rot und senkte den Blick wieder auf ihren Kaffee, von dem sie immer noch keinen Schluck gekostet hatte. Ihr leerer Magen hätte es ihr vermutlich sowieso nicht gedankt.

Und im nächsten Moment hätte sie sich ohnehin an dem Getränk verschluckt, als Cayden sie nach ... dem Baby fragte.

Ihr Mund klappte einmal wortlos auf und dann wieder zu, bevor Emma sich etwas verlegen eine Strähne aus der Stirn strich und mit gesenkten Wimpern antwortete.

„Ich denke ... es ist alles in Ordnung.“

Der Untersuchungstermin beim Arzt war nächste Woche. Emma hatte sich bis jetzt kaum Gedanken darüber gemacht. Es war zu viel passiert, was sie davon abgelenkt hatte.

 

„Gut.“ Er atmete erleichtert auf.

„Das ist gut. Eine Sorge weniger.“ Blieben noch hundert andere. Allerdings wollte er momentan nicht darüber sprechen, also erkundigte sich Cayden nach einem weiteren Schluck Orangensaft nach Emmas Mitbewohnern und erzählte ihr, dass er sie sehr nett gefunden hatte, nur eben noch nicht dazu gekommen war, ihr das zu sagen. Vor allem Rob mochte er auch auf Anhieb, solange er keinen Grund hatte, auf diesen männlichen Mitbewohner eifersüchtig zu sein.

Irgendwann wurde ihm jedoch das Getuschel unerträglich. Natürlich hörte er auch so ständig die Gespräche der Menschen um ihn herum, wenn er in der Öffentlichkeit war, und konnte sie für gewöhnlich einfach ausblenden, doch gerade weil permanent auch über ihn gesprochen wurde, fiel ihm das auf Dauer ziemlich schwer. Weshalb er letztendlich bezahlte und Emma bat, ihn noch ein Stück zu begleiten.

Auf der Straße war es schon besser, vor allem die frische Luft tat ihm gut und dieses Mal freute er sich sogar über die Sonne, die auf sie schien.

Allerdings wurde ihm immer mulmiger zu Mute, je näher sie dem Bürogebäude kamen. Dabei war er unschuldig und hatte nichts getan, um die Blicke der Fremden zu verdienen. Dennoch, es behagte ihm gar nicht. Lieber wäre er bei Nacht und Nebel in seine schützenden vier Wände zurückgekehrt.

Vor dem Eingang drehte Cayden sich schließlich zu Emma. Er war hier immerhin nicht der Einzige, dem wohl flau im Magen war.

„Emma, wenn dir nicht wohl dabei ist, kann ich das verstehen und dann werde ich dir hier auf Wiedersehen sagen. Allerdings wenn nicht, dann … würde es dir etwas ausmachen noch ein bisschen nach Oben zu kommen?“

46. Kapitel

Es hatte angefangen, nachdem sie das Restaurant verlassen hatten.

Vielleicht auch schon früher, aber erst, als sie aus der Schusslinie der vielen Leute gekommen waren, die sogar mit Argusaugen bespitzelten, wie Cayden Emma in die Jacke half, schlug das miese Gefühl so richtig ein.

Emmas Nackenhärchen stellten sich schnurgerade auf und sie wurde schlagartig nervös. Sie fühlte sich beobachtet. Und das nicht von den dummen Leuten, die meinten, sie könnten hinter vorgehaltenen Händen verbergen, dass sie sich das Maul über Cayden zerrissen. Nein, es war ... noch etwas anderes. Das Gefühl kam ihr bekannt vor. Auf eine Art und Weise, die Emma überhaupt nicht behagte und sie noch näher an Cayden drängte, als sie es ohnehin auf der Straße wagte.

Nur schwer konnte sie dem Drang widerstehen, über ihre Schulter zu sehen. Da wäre sowieso nichts zu sehen. Vielleicht jemand, der mit dem Finger auf Cayden zeigte. Aber mehr ... bestimmt nicht.

Allerdings wurde das Gefühl stärker, je näher sie dem Bürogebäude kamen, in dem Emma noch ein paar Sachen hatte liegen lassen. Immerhin hatte sie sich zwar mit Cayden treffen, aber nach der Pause wieder ins Büro gehen wollen. Jetzt kam ihr der Weg dorthin irgendwie ... abweisend vor.

„Emma, wenn dir nicht wohl dabei ist ...“

Sie sah ihn so erschrocken an, dass es ihr selbst sofort auffiel und Emma den Eindruck schnell zu korrigieren versuchte. Es hatte sie nur ... auf dem falschen Fuß erwischt. Sie war nicht wegen Cayden erschrocken, sondern ...

Als Kies hinter ihr knirschte, fuhr Emma doch herum und machte ganz automatisch einen halben Schritt auf Cayden zu. Ihre Hand legte sich auf seinen Bauch, um Schutz bei ihm zu suchen und erst als Emma erkannte, dass nur der Reifen eines parkenden Autos das Geräusch verursacht hatte, zog sie sich zurück.

Verlegen sah sie zu Cayden auf.

„Ich muss nur schnell meine Sachen aus dem Büro holen.“

 

Emmas schneller Herzschlag und ihre Unruhe entgingen ihm nicht. Weshalb er auch die ganze Zeit nichts sagte, musste er doch damit leben, dass es momentan so zwischen ihnen war.

Bei Gott, man hatte ihn beschuldigt, eine Frau krankenhausreif geprügelt zu haben und vorhin noch hatte Emma ihm seine Unschuld nicht geglaubt. Nun waren da Zweifel. Er konnte es ihr wirklich nicht verdenken.

Allerdings wurde seine Aufmerksamkeit erneut erweckt, als sie plötzlich anders reagierte, als er es gedacht hätte. Sie wirkte … gehetzt.

Das konnte er sich nicht erklären.

„Ist gut. Ich warte dann … oben, wenn es dir nichts ausmacht.“

Er wollte sich nicht schon heute den Leuten im Büro stellen müssen. Schlimm genug, dass er bereits durch die Lobby musste, wo man ihn nur allzu gut kannte und das schon seit Jahren.

Überraschenderweise grüßte Paul ihn mit einem Nicken und zeigte dabei sogar ein kleines Lächeln. Cayden nickte grüßend zurück, wollte sich aber nicht näher mit dem Mann an der Rezeption unterhalten.

Also ging er mit Emma zum Fahrstuhl und setzte sie schließlich in der Chefetage ab, ehe er selbst nach oben fuhr.

Sofort merkte er, dass sein kleines Reich mehrere Tage nicht bewohnt worden war. Nicht etwa, weil es muffig gerochen hätte oder etwas in dieser Art. Seine Haushälterin hatte offenbar trotz der Gerüchte immer noch bei ihm sauber gemacht. Aber es war trotzdem so ein verlassenes Gefühl in der Luft.

Dennoch ging Cayden nicht in der Wohnung herum, um nach dem Rechten zu sehen, sondern wartete auf Emma, nachdem er seine Schuhe ausgezogen hatte.

Als sie endlich kam, half er ihr wieder aus der Jacke und konnte sich seine Frage nicht verkneifen. Er hatte Minuten lang Zeit gehabt, ihre Reaktion auf der Straße zu analysieren und sich Gedanken dazu zu machen.

„Was war das vorhin, Em? Fühlst du dich irgendwie … verfolgt?“

Selbst aus seinem Mund klang es lächerlich, allerdings meinte er es absolut ernst.

 

Etwas überrascht und noch mehr verlegen wegen ihrer Reaktion auf der Straße hob Emma nicht den Blick, sondern blieb verloren im Flur vor Cayden stehen und überlegte sich, was sie sagen sollte. Fühlte sie sich denn ... verfolgt? Vorhin, das war ein ungutes Gefühl gewesen. Im Rückblick war Emma sogar unendlich froh darüber, dass Cayden bei ihr gewesen war. Ansonsten hätte sie sich vielleicht fluchtartig ins Gebäude gerettet.

Leicht müde von diesem ganzen Wirbel in ihrem Leben schüttelte sie langsam den Kopf.

„Ach, das war ...“

Sie brach ab, wusste aber immer noch nicht, was sie jetzt machen sollte. Zum ersten Mal kam sie sich in Caydens Penthouse wie ein Gast vor. Wie jemand, der nicht tun und lassen konnte, was er wollte. Es war ... unangenehm.

„Ich schlafe in letzter Zeit wieder etwas unruhig. Vielleicht waren es nur die Nerven. War ja nichts.“

Niemand, der gegen eine Fensterscheibe donnerte oder irgendwelche streunenden Tiere, die sie nachts erschreckten. Nur ... ein Autoreifen auf Kies.

 

Kein Wunder, ihr Jedisandmann war ja schließlich auch nicht hier gewesen. Doch das verschwieg Cayden. Diese Bezeichnung musste er sich wohl erst wieder verdienen.

„Dann setz dich doch erst mal. Ich muss ohnehin meine Fische füttern.“

Er wollte Emma zu nichts drängen, und auch wenn seine Fische sicher noch nicht vom Fleisch gefallen waren, so würden sie doch bestimmt schon hungrig sein. Außerdem war es eine gute Beschäftigung.

Es war angenehm warm in der Wohnung, dennoch machte Cayden zuerst Feuer im Kamin. Er brauchte jetzt dringend ein heimeliges Gefühl. Kaminfeuer war für diese Eigenschaft geradezu prädestiniert.

Danach holte er das Fischfutter aus dem Schrank und ging zu dem riesigen Aquarium hinüber, das in dem großen Regal stand, das ihm als Trennwand diente.

Auf dem ersten Blick sahen alle Fische gut aus. Allerdings schienen sie bereits zu ahnen, dass es etwas zu Essen gab, kaum dass er die Schiebefläche in der Abdeckung geöffnet hatte.

Cayden gab die angemessene Menge ins Wasser und schloss den Deckel wieder. Wie immer beruhigten ihn die Bewegungen und der Anblick der Fische. Je bunter sie waren, umso besser. Egal was sie kosteten.

„Möchtest du Tee?“, fragte er schließlich, nachdem das Futter restlos verschwunden war.

 

„Ja, gerne.“

Sie kam sich auf dem leeren Sofa ohnehin vollkommen verlassen vor. Gleich, nachdem sie sich gesetzt hatte, und sich nicht hatte dazu überwinden können, Cayden zu lange zu beobachten, hatte ihr Kopf ihr einen bösen Streich gespielt. Emma hatte kaum hingesehen, aber ... dieses Sofa. Natürlich war ihr eingefallen, was sie hier schon gemeinsam getan hatten. Sofort hatte Emma sich abgewendet, auf ihre Hände gesehen, die gefaltet in ihrem Schoß lagen.

Zum Glück kam ihr Cayden mit dem Tee zur Hilfe. Zuerst hauptsächlich verbal, was er sofort zunichtemachte, als er an ihr vorbei zur Küche ging. Emma konnte ihn riechen, musste verträumt die Augen schließen und ihr Herz brannte leise vor Verzweiflung. Sie wollte so gern zu ihm in die Küche gehen, ihn umarmen und sich an ihn kuscheln. Es sollte alles vergessen sein. Emma wollte ihm so gern glauben – sich sicher sein, dass er kein Schwein war, das sich nur ausgezeichnet tarnte.

„Weiß man denn, wer es war?“

Emma drehte sich auf dem Sofa herum, sodass sie in die Küche sehen konnte.

„Ich meine, hat Vanessa eine Beschreibung von dem Kerl geben können?“

 

Cayden hielt kurz inne, als er nach den Teetassen greifen wollte und sich Emmas Fragen durch den Kopf gehen ließ. Danach stellte er sie vorsichtig auf die Arbeitsplatte.

„Man hat mich nicht gerade ausführlich über den Fall in Kenntnis gesetzt. Aber die offizielle Version lautet, dass sie den Mann nicht kannte und man ihn für einen Einbrecher hält, der sie überfallen hat, weil sie alleine zuhause war. Da jedoch nichts gestohlen, sondern zusätzlich nur Sachbeschädigung verübt wurde, hält die Polizei das für unwahrscheinlich.“

Das Wasser im Wasserkocher fing zu kochen an und Cayden stellte ihn ab, damit der Tee nicht brühend heiß wurde. Danach suchte er Emmas beliebte Teesorte heraus und gab sie in einen Filter, den er in die Teekanne hing. Er hielt nicht viel von Beuteltee, aber das war nichts mehr Neues für sie.

„Ich persönlich glaube jedoch nicht, dass es so gewesen ist. In dem Haus gibt es sehr viele wertvolle Gegenstände. Sogar kleine Dinge, die keine Mühe gemacht hätten, sie einfach einzustecken. Aber nichts davon wurde angerührt. Wenn du mich fragst, tippe ich auf irgendeinen eifersüchtigen Liebhaber. Sie hatte schließlich genug davon.“

Auch wenn ihm diese Version nicht in den Kopf ging. Da war immer noch zu Vieles, was sich nicht richtig anfühlte. Schließlich hatte er Vanessa verlassen. Sie wäre also eine freie Frau gewesen, und selbst wenn es nur ein eifersüchtiger Liebhaber gewesen wäre, dann hätte der doch sicher irgendetwas mitgehen lassen. Soweit er wusste, waren die Kerle nämlich nicht gerade reich gewesen. Nun, vielleicht hatte der Typ auch einfach nur Panik gekriegt.

Während der Tee zog, lehnte sich Cayden mit verschränkten Armen an die Küchenzeile und starrte nachdenklich ins Leere. Er hatte bereits genug Zeit damit verbringen können, über all das nachzudenken, daher würde er auch jetzt zu keinem Ergebnis kommen. Das wusste er.

Er versuchte es trotzdem.

 

„Aber ein Liebhaber hätte doch gar keinen Grund mehr zur Eifersucht gehabt.“

Emma zog ihr Bein angewinkelt auf das Sofa und legte ihren Arm über die Rückenlehne, um Cayden besser ansehen zu können. Er sah müde aus. Nicht unbedingt so, als hätte er die vergangenen paar Nächte nicht geschlafen, sondern einfach ziemlich fertig. Was Emma an ihm gar nicht kannte. Es war immer noch anders, als die Vorboten seiner Grippe, bei denen sie gesehen hatte, dass es einfach an der Krankheit lag, die an ihm zehrte. Jetzt war es ...

Oh Gott, sie wollte ihn einfach nur in den Arm nehmen!

Da das Bedürfnis so stark wurde, dass Emma nicht mehr sagen konnte, ob sie in den nächsten Sekunden nicht doch aufspringen würde, sah sie aus dem Fenster. Der trübe Nachmittag half nicht unbedingt, die Stimmung zu heben, aber zumindest passte er zur Situation wie die Faust aufs Auge.

„Du hast sie doch verlassen an diesem Abend. Sie war nicht nur wieder frei, sondern die beiden hätten sich auf dem Geld ausruhen können, das sie bekommen wird ...“

Wenn ... das denn stimmte. Emma hasste sich für den Gedanken, dass es im anderen Fall viel mehr Sinn ergeben würde. Wenn der Liebhaber gerne mehr aus der Scheidung geschlagen hätte. Vielleicht stand Vanessa doch ohne Vermögen da?

„Oder hat vielleicht ... sie auch ihn verlassen?“

Um sich allein mit dem Geld ein gutes Leben zu machen und sich eine neue Affäre zu suchen? Emma lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als sie an etwas dachte, was Cayden noch tun konnte ... Auf Emmas Unterarmen breitete sich sogar eine Gänsehaut aus, als sie daran dachte. Aber vermutlich würde es ... Einiges an Klarheit in die Sache bringen.

„Willst du ... denn mit Vanessa sprechen?“

Jetzt sah sie ihn doch wieder an und versuchte dabei so viel Haltung zu bewahren, wie möglich. Verdammt, sie hatte ihn gerade derart auf Eis gelegt und sich beinahe mit Cayden gestritten. Was, wenn er zu Vanessa ging und erkannte, dass er einen Fehler ...

Scheiße.

 

Cayden blieb still und reglos, während er sich Emmas Sicht anhörte, die ihm vielleicht weiterhalf, da er das Gefühl hatte, nur noch im Kreis zu denken. Aber eigentlich war klar, dass sie auch nicht mehr in dieser Sache sehen konnte als er. Sie beide wussten zu wenig, als dass sie den vollen Umfang hätten erfassen können.

Als sie schließlich auf Vanessa zu sprechen kam, schüttelte er langsam den Kopf und begutachtete seine Zehenspitzen.

„Nein, um ehrlich zu sein. Ich will nicht mit ihr sprechen. Ich will in Wahrheit gar nichts mehr mit ihr zu tun haben. Weil mir irgendein Gefühl sagt, dass sie an der ganzen Sache nicht ganz unschuldig ist. Ich kenne sie zu gut. Ich war dabei, als ich mit ihr schlussgemacht habe. Darüber war sie sehr wütend, weil es ihr nie allein ums Geld ging, sondern …“

Er presste die Lippen fest aufeinander.

Cayden hatte zwar das Gefühl, Emma alles von sich erzählen zu können und dass es bei ihr sicher aufgehoben wäre, doch er konnte es nicht.

„… sie hat mir in manchen Dingen hinterher gestrebt. Wollte wie ich sein. Verstand aber natürlich nicht, dass sie das nie sein kann und vielleicht war es auch meine Schuld, dass ich ihr das nie so deutlich klar gemacht habe. Dennoch …“

Er seufzte.

„Ich weiß einfach nicht mehr, was ich denken soll. Aber vermutlich wäre es wirklich besser, noch einmal mit ihr zu sprechen. Auch, wenn ich nicht glaube, dass sie mir nach allem diesen Gefallen so einfach tun wird, in dem sie Klartext redet. Vielleicht weiß sie auch wirklich nichts.“

Da der Tee nun lange genug ziehen konnte, nahm Cayden den Beutel heraus und stellte alles auf ein kleines Tablett, samt Zucker und kleinen Löffelchen, ehe er es zu Emma hinüber trug und auf den Couchtisch abstellte.

Er schenkte ihr ein, ehe er sich seine eigene Tasse füllte.

Die Frage, wo und wie nah er wohl bei ihr sitzen durfte, ohne ihr zu nahe zu treten, umging er einfach damit, dass er sich gar nicht setzte.

Nachdem er sich ausreichend Zucker in den Tee getan hatte, ging er zum Fenster hinüber, um hinauszusehen.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich es einmal bereuen könnte, zu heiraten. Selbst wenn’s keine richtige Ehe war.“

 

Emma sah, wie sich der Dampf auf der Oberfläche der heißen Flüssigkeit kräuselte. Ihre Finger streckten sich nach der Tasse aus, schlossen sich darum und nahmen für einen Moment die Wärme in sich auf. Emma sagte nichts. Stumm und nachdenklich betrachtete sie die Tasse in ihrer Hand.

Für Sekunden schloss sie die Augen, ließ dieses ganze Chaos auf sich wirken und versuchte – vielleicht zum ersten Mal, sich in Cayden hineinzuversetzen. In den Cayden, der vollkommen unschuldig war. Den man aus seinem Büro in Handschellen abgeführt hatte. Der in der Zelle hatte sitzen müssen, nicht wissend, was passieren würde. Der nicht wusste, ob es noch einen Menschen gab, der zu ihm hielt, wenn er ...

Emma sah auf, betrachtete die Silhouette, die sich vor dem Grau des Fensters abzeichnete. Alleingelassen?

Sie zog ihre Hände von der warmen Tasse und stand auf. Mit leisen, weichen Schritten – nicht mehr unsicher, sondern zielstrebig – ging sie zur Fensterfront hinüber.

Neben Cayden angekommen sah Emma zum Fenster hinaus. In Nieselregen und einen trüben Tag ...

„Manche Dinge ... sollte man nicht bereuen müssen.“

Sie sah zu ihm auf, ohne den Kopf zu drehen. Stille legte sich zwischen sie beide. Aber Emmas Hand zitterte nicht, als sie sich auf Caydens Rücken legte, zu seiner Seite glitt und sie ihn endlich umarmte. Nur halb, sich an ihn lehnend. Vorsichtig. Aber doch ... er würde es hoffentlich verstehen.

 

Sein Herz beschleunigte sich, als Emma näherkam.

Ihre Nähe war tröstlich und quälend zugleich, obwohl er sich die ganze Zeit schon Mühe gab, nicht daran zu denken.

Aber es war unmöglich, sie nicht berühren zu wollen, als sie so dicht bei ihm stand und ihr Duft zusammen mit dem warmen Aroma des Tees seine Nase erfüllte.

Inzwischen konnte er sogar sehr genau dadurch erkennen, dass sie sein Kind in sich trug. Es war anders, ungewohnt und doch nun so deutlich für ihn, dass er sich fragte, wie er es anfangs überhaupt nicht hatte wittern können.

Als er schließlich Emmas Hand auf seinem Rücken spürte, musste er die Tasse auf einem der Bücher im Regal neben dem Fenster abstellen, da ihm wohl sonst der Tee übergeschwappt wäre.

Seine Finger zitterten.

Cayden wagte sich nicht zu rühren, als sie sich gänzlich an ihn lehnte und er ihre Wärme durch den dünnen Pullover fühlen konnte.

Es war wirklich eine Qual, so lange, bis er seine Hand vorsichtig um ihre Taille legte und sie auf diese Art an sich festhielt.

„Und manche Dinge …“, begann er leise, fast flüsternd.

„… hört man auf zu bereuen.“

Cayden neigte seinen Kopf, drehte ihn nur leicht in Emmas Richtung und sah sie schließlich an.

„Zum Beispiel unsere letzte Nacht in Tokio.“

 

Als sie spürte, wie Cayden nun seinen Arm um sie legte, horchte Emma wachsam in sich hinein. War da Furcht oder Misstrauen? Nein ... Nein, Angst hatte sie tatsächlich nicht vor ihm. Keine Furcht vor dem, was man ihm vorwarf. Emma konnte sich einfach nicht vorstellen, dass er sie je schlagen würde. Wie war nur irgendjemand auf diese abwegige Idee gekommen? Vielleicht war da kurz das Aufbegehren eines winzigen Teils von ihr, der immer noch vorsichtig sein wollte. Ein Teil, den Emma gar nicht ganz abstellen wollte. Immerhin wusste sie nicht, was passiert war.

Aber das Meiste wollte sich noch mehr an Cayden schmiegen. Emma wollte ihren Kopf an seine Schulter lehnen, aber noch wagte sie das nicht. Es stand noch Einiges zwischen ihnen. Und Emma war selbst so stark daran schuld, dass sie noch nicht sofort über ihren Schatten springen konnte. Selbst wenn sie es eigentlich gern getan hätte.

Eine Weile blieb sie stumm, doch dann schlich sich ein winziges Lächeln auf Emmas Lippen.

„Ich wusste nicht, dass du die Nacht bereut hast.“

Sie sah mit lächelnden Augen in seine.

„Die Folgen vielleicht.“

 

Vorsichtig erwiderte Cayden ihr Lächeln.

„Die Folgen habe ich nie bereut“, gestand er ihr immer noch in diesem leisen, beruhigenden Tonfall.

„Ich freue mich auf unser Baby. Daran hat sich nichts geändert.“

Er wollte sie küssen. Sie in seine Arme schließen. Festhalten und bei sich wissen, allerdings unterdrückte Cayden diese Impulse mit jahrhundertelanger Beherrschung.

Er sah wieder aus dem Fenster.

„Aber ich bereute die Art unseres ersten Zusammenkommens. Wir waren beide betrunken und damals noch nicht das füreinander, was wir inzwischen geworden sind. Doch inzwischen weiß ich, dass wir diesen Schubs … dieses Loslassen vielleicht gebraucht haben. Sonst wäre es womöglich nie so weit gekommen.“

 

Es prickelte in Emmas Innerem. Vor Erleichterung und noch mehr Gefühlen, die sie im Moment nicht benennen konnte. Oder vielleicht auch vorsichtshalber nicht benennen wollte.

„Ich freue mich auch.“

Es war die Wahrheit. Emma freute sich und bekam gleichzeitig Angst davor, dass sie sich nicht würden vorbereiten können. Was, wenn diese ganze Sache Cayden so stark beanspruchte oder seinen Ruf so stark schädigte, dass er keine Zeit für das wachsende Baby hatte?

Emmas Gesichtsausdruck wurde wieder düsterer und sie sah überlegend aus dem Fenster auf die Stadt hinaus. Am liebsten hätte sie jetzt sofort damit angefangen, zu planen. Sie wollte Bücher wälzen, Listen schreiben und für das Baby einkaufen gehen.

Sich ablenken ... Das wusste Emma.

„Ich hätte mich niemals so ... an dich herangetraut“, flüsterte sie. „Wirklich nicht.“

Mit geröteten Wangen sah sie Cayden wieder an.

„Eine merkwürdige Nacht.“

 

Cayden dachte nicht darüber nach, als er Emmas gerötete Wange zärtlich streichelte, ehe er die Hand wieder runter nahm und sich auf die Landschaft vor dem Fenster konzentrierte.

Er sollte sie nicht so berühren, aber er wollte es und es machte ihn ziemlich wütend, dass es jemand geschafft hatte, diesen Keil zwischen ihnen beiden zu treiben. Allein das würde schon zu Vanessa als Schuldige passen. Doch er schob diese Gedanken beiseite. Genauso wie seine Wut.

„Und ich hätte dich vermutlich noch Jahre lang vor meinem Büro sitzen haben können, ohne wirklich mehr zu sehen als eine fleißige Mitarbeiterin. Eigentlich habe ich zu der Zeit ohnehin nur meinen Job gesehen.“

Er schnaubte leise und schüttelte über sich selbst den Kopf.

„Weißt du, wäre das alles nicht so gekommen, ich hätte noch weitere zehn Jahre so weiter gemacht wie bisher. Arbeiten, Überstunden, Arbeiten. Mehr war da nicht. Aber inzwischen bin ich … geläutert.“

Nun drehte er sich doch ganz zu ihr herum, ohne den Arm von ihrer Seite zu nehmen.

„Und es war tatsächlich eine merkwürdige Nacht. Allerdings werde ich auch nie den Tanz vergessen. Die Gäste sahen so aus, als wollten sie gleich die Sittenpolizei holen, weißt du noch?“

Caydens immer noch mulmiges Gefühl im Bauch begann sich langsam zu ändern und er lächelte verschmitzt, als er an diesen Tanz dachte.

 

Ihr Kichern schien im Wohnzimmer ziemlich laut widerzuhallen. Als hätte der Raum schon lange darauf gewartet, dass jemand ein fröhliches Gefühl in ihn entließ. Und jetzt verstärkte er es, so gut er konnte.

„Wie könnte ich das vergessen ...“

Nun wurde Emmas Lächeln warm und auch ein wenig melancholisch.

„Wobei ich ... unseren Tanz auf der Gala auch mochte.“

Wieder musste sie sehr leise lachen.

„Ich war so unglaublich nervös. Vor all diesen reichen Leuten. Wäre Lia nicht gewesen ... ich hätte wahrscheinlich nie mit dir getanzt, sondern wäre still und leise abgehauen.“

 

„Und du hättest mich tatsächlich mit all diesen Leuten alleine gelassen?“, fragte Cayden voller gespielter Empörung und schlug sich getroffen die freie Hand aufs Herz, ehe er wieder lächelte und etwas ernster wurde.

„Ich hätte mehr als Hunderttausend Dollar gezahlt, um einmal mit dir tanzen zu können, Em. Um ehrlich zu sein, wollte ich meine Assistentin auf keinen Fall mit einem der anderen reichen Schnösel teilen. Lia wusste das, weshalb sie mich auch so hoch mit dem Bieten getrieben hat. Ja, zugegeben, sonst wäre ich etwas eifersüchtig auf den Glücklichen geworden.“

Etwas war zwar untertrieben, aber das musste er Emma ja nicht direkt auf die Nase binden.

„Und du sahst wirklich hinreißend aus in diesem Kleid.“

 

Emma merkte gar nicht, wie sie sich nun doch näher an Cayden herantraute und sich an ihn drückte. Immer noch nicht so, wie sie es schon getan hatte – vor dieser Sache. Aber es war ein großer Schritt nach vorne.

Mit einem geschmeichelten Lächeln zwinkerte sie Cayden verschwörerisch zu.

„Und ich konnte auf jeden Fall sicher sein, dass niemand von diesen Reichen das gleiche Kleid tragen würde.“

Das passierte manchen Hollywoodstars mit den angesagtesten Designer-Stücken. Aber mit ihrem Kleid von der Stange, selbst wenn es für Emmas Verhältnisse teuer gewesen war, war sie absolut auf der sicheren Seite gewesen.

„Du warst aber auch ... zum Dahinschmelzen.“

 

Nun musste Cayden wirklich grinsen, während er versuchte, sich nicht Emma entgegen zu lehnen, um dieses Gefühl von Nähe noch zu verstärken.

„Vorsicht. Wenn du solche Sachen sagst, könnte ich am Ende ebenfalls noch rot werden.“
 

 

***

 

Die Stimmung während dieses gemeinsamen Nachmittags war zwar nicht so gelöst, wie sie es schon einmal gewesen war. Doch auf jeden Fall bereits deutlich besser, als in diesem kleinen Restaurant. Und Cayden gab sich wirklich die ganze Zeit über Mühe, nichts zu tun, was Emma als Anstoß nehmen könnte. Dabei fühlte er sich tatsächlich fast wie ein unsicherer Teenager bei seinem ersten Date. Nur ohne das Gestotter und Herumgezappel.

Als es Zeit war, für Emma zu gehen, weil sie natürlich nicht über Nacht bleiben konnte, war Cayden sogar wieder voller Hoffnung und Optimismus. Das alles würde schon wieder werden. Er brauchte also keine Angst zu haben. Obwohl er das natürlich trotzdem hatte, wenn es um Emma ging.

Noch lange, nachdem sie dann schließlich gegangen war, dachte er über diesen Nachmittag und die vielen Abende nach, die er mit ihr verbracht hatte.

Cayden brauchte es sich nicht zu bestätigen. Er wusste es schon längst und doch wurde er sich immer sicherer, was Emma anging. Sie war die Richtige, und selbst wenn sie die Falsche gewesen wäre, sein Herz hätte sich ohnehin nicht mehr umentschieden. Blieb am Ende also nur noch eines zu tun – ihr die ganze Wahrheit zu sagen.

Doch das war ein Schritt, zu dem er mehr Mut brauchte, als er derzeit hatte. Aber er würde ihn gehen. Er musste ihn einfach gehen. Irgendwann, wenn das schlimmste Chaos erst einmal beseitigt worden war.
 

 

***

 

Cayden wusste am nächsten Tag nicht, was schlimmer war. In Handschellen von der Polizei abgeführt zu werden und das vor dem ganzen Büro, oder als freier Mann zurückzukehren. Ebenfalls vor dem ganzen Büro.

So unsicher, zittrig und unwohl fühlte man sich selten im Leben, aber Cayden ließ sich seine Gefühle nicht anmerken. Er grüßte jeden, so wie er seine Mitarbeiter auch früher schon gegrüßt hatte, egal wie die Reaktion darauf war.

Manche verwickelten ihn in ein Gespräch, waren einfach nur froh, dass er endlich wieder da war und anderen sah man wiederum die vielen Fragen an, die sie ihm nicht zu stellen wagten.

Er hätte heute ohnehin keine Fragen beantworten wollen. Stattdessen gab es Unmengen an Arbeit aufzuholen und so viel Schaden zu begrenzen, wie es nur ging.

An Emmas Schreibtisch angekommen, begrüßte er sie – mit Vornamen –und schenkte ihr ein Lächeln, das nur für sie allein bestimmt war.

Wenn er eines in den letzten Tagen gelernt hatte, dann das, dass er ihre Beziehung nicht mehr geheim halten wollte. Dass sie es wert war, offen gelebt zu werden und dass er sich niemals für sie schämen würde.

Natürlich begrüßte er auch Stella, jedoch wie gehabt. Danach verzog er sich in sein Büro, krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch und machte sich an die Arbeit. Bis zum Ende des Tages würden bestimmt nicht nur seine Finger, sondern auch sein Ohr von den vielen Telefonaten glühen.

 

Emma schaffte es nicht, sich vor Stella zusammenzureißen. Sie strahlte über das ganze Gesicht, als Cayden auftauchte und sie auch noch ganz normal grüßte, als wäre es das Natürlichste der Welt, dass sie sich mit Vornamen ansprachen. Es fehlte nur noch, dass er sich über den Schreibtisch lehnte und ihr einen kurzen, vertraulichen Kuss auf die Lippen drückte. Allein bei der Vorstellung klopfte Emmas Herz schneller. Selbst wenn sie wusste, dass das in naher Zukunft nicht passieren würde.

Erst als Cayden im Büro verschwunden war und die direkte Leitung nach draußen an ihrem Apparat aufleuchtete, gestattete sich Emma ein Gähnen. Stella war in die Teeküche gehuscht, um Kaffee für Cayden zu machen und würde ihm das Tablett auch ins Büro bringen. Es war also an Emma, sich den ersten Telefonaten zu stellen, die beide Assistentinnen bis jetzt eisern ignoriert hatten. Ständig klingelte der Apparat und der E-Mail-Eingang lief über vor widersprüchlichen Mails. Da würde der Boss Einiges ins Reine bringen müssen.

Ich hole uns später was vom Thailänder.

Emma klebte sich ein Post-it an den Bildschirm, das sie daran erinnern sollte, telefonisch vor halb eins etwas beim Thai zu bestellen, damit sie genug Zeit hatten, in der Mittagspause in Ruhe zu essen. Bei dem Wirbel im Büro würde sie es sonst wahrscheinlich vergessen.

Wieder das Telefon.

„C&C Corporation, Mr. Calmaros Büro. Sie sprechen mit –“

Emmas Mund verzog sich, als hätte sie kräftig in eine Zitrone gebissen.

„Er telefoniert gera-“

Wieder wurde sie unterbrochen. Das Fußvolk sollte wohl die Klappe halten, wenn ein ach so wichtiger Kunde sprach.

„Nein.“

Dann eben kurz und bündig.

„Genau das habe ich gesagt.

...

Nein, können Sie nicht.

...

Wiederhören.“

Sie legte den Hörer betont sanft auf die Gabel und drehte sich dann zum Mac um. Allerdings sprang eine Gänsehaut Emma so unerwartet und intensiv an, dass sie die Zähne hart aufeinander biss und in der halben Drehung erstarrte. Emma hatte nicht einmal genug Zeit, um zurückzuschrecken.

„Hey Puppe.“

Verdammt.

„Sie können gleich wieder gehen. Mr. Calmaro ist sehr beschäftigt und kann leider mit niemandem sprechen, der keinen Termin hat.“

Der Mann, der Emma so unheimlich war, dass sie sich stark zusammenreißen musste, um ihre Stimme nicht zittern zu lassen, lehnte sich in einer Geste nach vorn, die das Krabbeln in Emmas Nacken noch anwachsen ließ.

„Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich nicht so’n Termin brauche. Mein Boss und dein Boss sind Kumpels und er hat mich reinzulassen. Verstanden, du –“

Das Energiefeld knisterte so stark, dass Emma das Gefühl hatte, ihre Sicht würde sich kurz trüben. Der Mann wich zurück, anstatt – wie geplant – näher auf ihren Schreibtisch zuzugehen.

„Ey, Miststück. Was zur Hölle bist du denn für eine?“

Er giftete sie mit einem Blick an, der Emma zum Telefon greifen ließ. Ihre Miene wurde hart und spiegelglatt wie Eis.

„Ich rufe den Sicherheitsdienst.“

 

„Ich rufe den Sicherheitsdienst.“

Verwundert über Emmas Stimme und dem, was sie gesagt hatte, stellte Stella schnell den Zucker auf das kleine Tablett und eilte mit Calmaros Kaffee aus der Teeküche. Noch ehe sie ganz den Typen gesehen hatte, überfiel sie eine Gänsehaut, wie nur Tasken oder einer seiner Leibeigenen es fertigbrachten.

Sofort fuhr Stella ihre Krallen aus und der Beschützerinstinkt einer werdenden Mutter schlug zu.

„Wie ich sehe, ist Mr. Tasken wieder einmal so unhöflich, uns einen unangekündigten Besucher zu schicken.“

Ihre Stimme war nicht weniger frostig, als die von Emma, während sie das Tablett mit dem dampfenden Kaffee auf ihrem Schreibtisch abstellte und sich hinter ihrem Bildschirm in Sicherheit brachte, allerdings ohne sich zu setzen.

„Sie können Ihrem Boss gerne ausrichten, dass Mr. Calmaro bald überhaupt keinen Besuch mehr entgegen nehmen wird, wenn er sich keine besseren Manieren angewöhnt.“

Flink zischte die Maus in ihrer Hand hin und her.

„Morgen. 11:10 Uhr. Wäre das für Sie okay? Gut, dann wäre das ja wohl geklärt und richten Sie Ihrem Boss noch schöne Grüße aus. Auf Wiedersehen.“

Mit verschränkten Armen giftete Stella den Kerl so offensichtlich an, wie es kaum noch ging. Der Typ sollte sich endlich verziehen, sonst würde sie tatsächlich den Sicherheitsdienst rufen.

 

Der Kerl hatte nur einen herablassenden und trotzdem eklig anzüglichen Blick für Stella übrig. Und das, obwohl die erfahrene Assistentin die Situation so viel besser im Griff hatte, als Emma es je gekonnt hätte. Wie sie das bloß hinbekam?

Emma stand ebenfalls auf, hielt aber den Hörer des Telefons immer noch in der Hand.

„Meine Kollegin sagte auf Wiedersehen.“

Sie hatte schon damit gerechnet, dass sie damit die Aufmerksamkeit wieder auf sich zog. Und das nicht gerade im positiven Sinne. Bah, allein der Gesichtsausdruck und die leicht angehobene Oberlippe des Kerls waren ...

Emma schauderte und die Härchen auf ihren Unterarmen stellten sich auf. Das Energiefeld waberte angespannt um die Schreibtische herum und doch konnte Emma es nicht glauben. Nein, das musste an der Müdigkeit liegen. Oder war der Kerl irgendwie total bescheuert und hatte sich die Zähne machen lassen?

Die Energie schlug in Richtung des Mannes aus und er wich einen Schritt zurück.

Emma drohte schlecht zu werden. Der Typ sah so aus, als wolle er sie anspucken.

„Pass schön auf deinen Arsch auf, wenn du heimgehst ... Hexe.“

Sein Gelächter brannte auf Emmas Gesicht. Und das hielt auch noch an, als der Mann verschwunden und die Aufzugtüren hinter ihm geschlossen waren.

 

„Verdammter Freak. Dass man sich überhaupt mit sowas abgeben kann, verstehe ich nicht. Aber dieser Tasken scheint diese Typen zu sammeln wie Actionfiguren.“

Stella ließ sich kurz in ihren Stuhl sinken. Ihr zitterten die Beine so sehr, dass sie vermutlich Calmaros Kaffee vollkommen verschüttet hätte. Dann sah sie zu Emma.

„Hey, alles in Ordnung? Mach dir keine Sorgen, was der Typ gesagt hat. Die haben mich schon schlimmer beschimpft. Das sind nichts als leere Drohgebärden.“

Stella meinte es ernst, fügte aber nicht hinzu, dass sie sich nach solchen Begegnungen immer von ihrem Mann hatte abholen lassen.

47. Kapitel

„Nochmal danke, dass du mich abgeholt hast.“

Emma stellte den letzten Teller in den Schrank, den sie gerade abgetrocknet hatte, und hielt das Geschirrtuch für Rob hin, damit er seine Hände trocknen konnte.

„Schon okay. War ja kaum ein Umweg.“

Was nicht ganz richtig war, aber Emma nahm den Kommentar dankbar hin und verabschiedete sich dann.

„Ich mach noch ein paar Sachen für Morgen fertig. Gute Nacht dann.“

„Nacht.“

Emma nahm sich eine Flasche Wasser und einen Apfel mit in ihr Zimmer, bei dem sie die Tür ordentlich schloss und auch die Vorhänge in Richtung Garten zuzog. Kathy war noch nicht zu Hause und Emma wollte nicht, dass ihre Freundin auf seltsame Gedanken kam, wenn sie sie dabei beobachtete, wie sie das tat, was sie vorhatte.

Zuerst setzte sie sich aufs Bett, schob ihr Kissen ein Stück zur Seite und griff hinter den Rahmen des Bettes, wo ihre Finger nach einer kleinen Weile des Suchens auf Metall trafen. Vorsichtig tastete Emma an dem Dolch entlang, damit sie sich nicht schnitt. Erst als sie den Griff gefunden hatte, zog sie das kleine Werkzeug heraus und hielt es abwägend in den Händen.

Ja, ein Werkzeug. So hatte Emma es bis jetzt gesehen. Nicht als das, was der Dolch ebenfalls sein konnte ...

Die Kuppe ihres Zeigefingers zeichnete die Rune auf dem Griff nach, die sie nur zu aktivieren brauchte, um den Dolch für mehr einzusetzen. Sehr viel mehr, als nur Schutzzeichen zu ritzen.

Emma seufzte, bevor ein entschlossener Ausdruck auf ihr Gesicht trat und sie den Dolch auf den Schreibtisch legte. Unter ihrem Nachtkästchen verborgen stand ihre kleine Holzkiste. Die Truhe, in der sie ein paar Hilfsmittel aufbewahrte. Die Metallplättchen für das Schutzzeichen im Büro ... ein kleines Notizbuch mit Runen, die sie nur selten benutzte ... Kräuter und Öle.

„Irrsinnig ...“

Ja, vielleicht war es das. Oder auch wahnsinnig. Was sollte Cayden bloß denken, wenn sie so etwas in seinem Büro installierte? Eine Falle für ...

„... einen Vampir.“

Ebenfalls unter dem Nachtkästchen zerrte sie ein dickes Buch in Ledereinband heraus und schleppte es ebenfalls zum Schreibtisch, wo sie die Lampe anknipste und mit dem Finger das Alphabet am Buchschnitt bis zum V nachfuhr.

„Vampyr ...“

Emma begann zu lesen, die Version des Aberglaubens. Die Sache mit dem Knoblauch und dem Kruzifix. Ein paar Abschnitte über bestimmte Salzarten, die auf die Schneide von Waffen gerieben werden konnten, um die Wunden in der Haut des Vampyrs offen zu halten.

„Zu bannen ist der Vampyr ... hmhmhm ...“

Mit einem komplexen Hexagramm, einer Runensäule ...

Emmas Finger spielten mit dem Dolch, der sich im perfekten Gleichgewicht auf zwei Fingern balancieren ließ. Erst, nachdem sie den Abschnitt über die Bannfalle dreimal durchgelesen hatte, zeichnete sie die Runen ein paar Mal mit Bleistift auf ein Blatt Papier vor. Sie gelangen ihr nicht sofort. Und erst, als sie denen im Buch aufs Haar glichen, holte Emma magnetisierte Metallchips aus ihrer Kiste und begann mit der eigentlichen Arbeit.

 
 

***

 

„Haste mich vermisst, Hexe?“

Das Schutzfeld lag wie eine knisternde Glasscheibe zwischen ihnen. Aufgeladen von Emmas Energie, die den Kerl allerdings nur insoweit in Schach hielt, dass es nicht sein Mundwerk betraf. Zu schade. Denn der schmutzig-schmierige Kerl hatte nicht einmal das geringste Maß an Anstand, als er Emma musterte.

„Ich hab dich vermisste, weißte? Zum Glück hab ich 'ne Menge Phantasie und fünf fleißige Helfer.“

Er hob die Finger und wackelte damit vor Emmas Gesicht herum, bis Stella von den Toiletten her um die Ecke bog und er sich eine Maske aufsetzte, die Emma noch mehr erschreckte, als das anzügliche Gehabe.

Sie konnte es nur als die Fratze eines Raubtiers bezeichnen, dem schon der Speichel auf der Zunge zusammenlief, als er Stella und ihren Babybauch musterte.

„Setzen Sie sich!“

Emma zischte ihn an und der Kerl zog sich tatsächlich ein Stück zurück. Allerdings nicht, ohne jetzt laut zu werden und auf seinen Termin zu pochen, der schon vor fünf Minuten begonnen hatte.

„Was is’n das für ein Saftladen?! Ich geh da jetzt einfach rein. Ich hab’n Termin für Mr. Tasken!“

„Nein, das werden Sie nicht.“

Emmas Hand war nach hinten gezuckt. Nur ein Stück in die Richtung, in der sie den Dolch unter ihrem Blazer an ihrem Rücken versteckt hatte.

„Setzen Sie sich hin. Es dauert nur noch eine Minute.“

Was der Wahrheit entsprach. Und Emma war heilfroh, dass sie den Kerl in Caydens Büro lassen konnte, bevor er hier die Einrichtung kurz und klein schlug.

Da konnte sie sogar sein anzügliches Lächeln ignorieren, das er ihr zuwarf, als er die Tür hinter sich schloss.

 

Cayden hätte beinahe gestöhnt, als er in seinem Terminkalender sah, wen er da zu erwarten hatte.

Tasken wäre schon der Letzte gewesen, den er hier sehen wollte, aber einer seiner Lakaien war nicht weniger schlimm. Was der Typ wohl schon wieder von ihm wollte?

Vermutlich das gleiche wie immer und Caydens Antwort würde auch wie immer ausfallen. Wann kapierte der Vampir das endlich?

Es war bestimmt nicht seine Absicht, das Telefonat mit einem immer noch interessierten Kunden so lange hinauszuzögern, aber da ihm inzwischen so viele abgesprungen waren, musste er nehmen, was er kriegen konnte. Auch wenn es ihm nicht gefiel.

Anfangs war es bei der Firmenneugründung ebenfalls nicht anders verlaufen, weshalb es ihm nicht allzu viel ausmachte, solange er seine Ansprüche nicht zu tief schraubte.

Nach dem unendlich langen Telefonat ließ Cayden Taskens Lakaien endlich hereinschicken und bestellte auch noch eine Flasche stilles Mineralwasser bei Emma.

Er war am Verdursten und das einmal im absolut menschlichen Sinne.

„Also, was will er dieses Mal von mir?“, begrüßte Cayden den anderen Vampir wenig freundlich. Er hatte keine Geduld sich mit seinesgleichen herumzuschlagen und schon gar nicht mit Abschaum dieser Sorte.

 

Emma biss die Zähne fest aufeinander und ging dann in die Teeküche, wo sie eine Flasche Wasser aus einer Kiste nahm, sie öffnete und zusammen mit einem Glas auf das kleine Tablett stellte, mit dem sie auch immer den Kaffee zu Cayden hinein trugen.

Natürlich hatte sie ihm nicht sagen wollen, sie würde ihm das Wasser lieber später bringen. Wenn der seltsame Typ weg war.

Mit einem unterdrückten Seufzen stützte sie sich mit beiden Händen schwer auf die Küchenzeile und atmete mit geschlossenen Augen zweimal tief durch. In dieser Haltung – ein wenig nach vorn gebeugt – spürte sie die Form des Dolches deutlich in ihrem Rücken. Es war einerseits beruhigend, andererseits war es erschreckend, dass sie es überhaupt für nötig hielt, eine Waffe mit ins Büro zu bringen.

Er geht gleich wieder. Nur ein paar Minuten, dann schickt Cayden ihn weg. Vielleicht darf er nie wiederkommen.

Emma drückte sich von der Küchenzeile ab, zupfte sich Haare und Kleidung zurecht und nahm dann das Tablett an sich, um es ins Büro zu bringen.

 

„Ne, hat er nich gesagt. Ich soll’s nur herbringen und Ihnen sagen, Sie soll’n sich’s nochmal überlegen, weil –“

Der Kerl unterbrach seinen schlecht artikulierten Redeschwall und sah Emma von der Seite her an, als sie ins Büro kam und an ihm vorbei zum Schreibtisch ging. Emma stellte betont ruhig das Tablett vor Cayden ab, schenkte ihm Wasser in das Glas und richtete sich dann auf.

Das Feld stand. Alle Eckpunkte waren perfekt ausgerichtet angebracht. Wenn Emma die Augen schloss, konnte sie es sogar summen hören. Allein ihre Nähe zur unvollständigen Falle lud diese minimal auf.

„Bitte. Möchtest du auch Gebäck oder Kaffee?“

Emma wich dem Blick des Besuchers – der immer noch mitten im Büro stand – mit viel Mühe aus. Scheiße, so ohne das Kraftfeld kam er ihr noch viel ... unangenehmer vor.

Schmeiß ihn raus. Bitte!

Doch Cayden tat nichts dergleichen, sondern lehnte nur höflich etwas Zusätzliches zum Wasser ab und ließ Emma wieder gehen.

Ein paar Schritte weit kam sie auch. Dann griffen Krallen nach ihrem Nacken, schabten an ihrer Haut entlang, als der Kerl anfing so dreckig zu kichern, dass Emma das Gefühl hatte, es müsse ihr den Magen aushebeln. Dieses Geräusch hatte so einen unangenehmen Nachklang, enthielt irgendetwas ... Dunkles, das Emma sogar von ihrem direkten Weg zur Tür ablenkte und sie dazu brachte, ihren Kopf einzuziehen. Selbst das Tablett hielt sie so, dass es wie ein Schutzschild vor ihrem Bauch lag.

Ihre rechte Hand allerdings lag frei an ihrer Hüfte. Bereit um –

„Ey, Hexe!“

Die dreckigen Finger umfassten Emmas Handgelenk.

Adrenalin explodierte in ihrer Blutbahn. Emma riss ihre Hand weg, das Tablett schepperte zu Boden und der eklige Mistkerl konnte nur noch ein verdutztes Gesicht machen, bevor sich die Zeit für Emma zu verlangsamen schien. Sie spürte das Brennen an der Stelle, wo der Typ sie gepackt hatte, doch das war nebensächlich.

Das Summen schwoll in ihren Ohren an, die Punkte luden sich auf und Emma wurde ohne ihr bewusstes Zutun in die Mitte des Hexagramms gezogen, wo sie in einer schnellen, fast schon eleganten Bewegung den Dolch aus seinem Versteck zog.

Das Summen wurde lauter und gebärdete sich aggressiv.

„Was für 'n Scheiß machst –“

Er wollte auf sie zutreten, hatte schon die Hand ausgestreckt ...

Doch Emma ließ sich in die Hocke fallen und rammte den Dolch in den Boden. Er schnitt sich durch das Material bis in den Beton wie Butter. Getrieben von Emmas Energie bohrte er sich tief und sandte mit einem tiefen Vibrieren einen harten Impuls in das Hexagramm. Es gab einen Schlag wie von einer Druckwelle.

Emma musste sich am Knauf des Dolches festhalten, um nicht umgerissen zu werden, als sich die Energiesäule um den Mann bildete und ihn mit Wucht von den Füßen riss.

Irgendetwas krachte hinter ihr, vollkommen außerhalb ihrer Angriffsfläche auf den Kerl, den sie im Blick hatte. Aber dafür hatte sie jetzt keine Zeit. Noch musste sie mehr Energie in die Falle pumpen, die Säule mit einem Energiegewirr füllen, das den Mann festkleben, ihn lähmen und unschädlich machen würde.

Er zappelte kaum.

Wieder spürte Emma das Brennen an ihrem Handgelenk, als sie sich nun langsam aufrichtete.

Ein Brennen, dessen Ursache sie kannte.

Ganz im Gegensatz zu –

Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus.

Emma starrte den Dolch in ihrer Hand an. Das Blut in ihrem Körper schien zu splittern, sich in ihre Adern zu graben ... während Emmas Augen sich ungläubig weiteten.

„Nein ...“

Ihre Finger zitterten und ihr Atem rang sich in einem ängstlichen Keuchen über Emmas Lippen.

Langsam drehte sie sich um.

 

Cayden bemerkte Emmas Angespanntheit, während sie ihm Wasser ins Glas einschenkte. Weshalb er sie auch unauffällig beobachte, aber dankend ablehnte, als sie ihm noch etwas anderes anbieten wollte. Sie sollte das Büro verlassen, wenn es ihr hier nicht behagte und bei dem Anblick des anderen Vampirs, würde er das auch nur zu gut verstehen.

Es reichte schon, dass er sich mit Taskens sinnlosen Forderungen und unzivilisierten Boten abgeben musste. Emma sollte das nicht tun müssen.

Cayden entging auch nicht der Blick, den der Vampir Emma schenkte, als sie zur Tür gehen wollte, woraufhin er sich ein tiefes, kehliges Knurren verkneifen musste.

Der Vampir hatte hier keinerlei Rechte. Das hier war Caydens Revier, und sobald Emma gegangen war, würde er das diesem auch ordentlich einbläuen. Durchaus mit Gewalt, wenn es sein musste. Keiner verängstigte hier seine Mitarbei-

Caydens Augen weiteten sich, als der Vampir sie doch tatsächlich dreckig angrinste.

Sofort wollte er den Kerl von Emma wegziehen und ihm irgendetwas brechen, doch das konnte er schlecht vor ihr tun, weshalb er sich mit aller Gewalt dazu brachte, sitzen zu bleiben. Doch innerlich kochte er vor sengender Wut.

Dann … ging plötzlich alles unglaublich schnell.

Der Vampir wagte es tatsächlich, Emma anzufassen, worauf diese sich dem Griff entwand und das Tablett polternd zu Boden ging.

Sofort schoss Cayden aus seinem Stuhl hoch, doch er kam nicht weit, ehe er vollkommen erstarrte.

Nein!

Er konnte es spüren. Wie ein heftiges Sommergewitter, das langsam anrollte, stieg die Spannung im Raum greifbar intensiv an, bis es schließlich losbrach.

Cayden konnte keinen Finger mehr rühren, da der Anblick ihn regelrecht schockte. Er … konnte es nicht fassen.

Irgendetwas schien seine Sinne zu beeinträchtigen, denn die Szene vor ihm spielte sich zu schnell ab, als dass er noch irgendwie hätte reagieren können.

Emma wurde auf einen imaginären Punkt gerissen. Hinter ihrem Rücken zog sie einen Dolch hervor, und noch ehe Cayden begriff, was das genau für einer war, rammte sie ihn mit einer Wucht in den Boden, die er bis in die abgeschiedenste Zelle seines Körpers spüren konnte. Ganz so, als hätte sie die Klinge direkt in ihn gebohrt.

Es riss ihn von den Füßen.

Unglücklicherweise nicht direkt auf den Boden, sondern zuerst in seinen Sessel zurück, ehe sein Körper diesen unter sich und der gewaltigen Wucht regelrecht zermalmte.

Es trieb ihm mit voller Kraft die Luft aus den Lungen und als wäre das noch nicht genug, legten sich unsichtbare Fesseln um seinen ganzen Körper und drückten zu.

Cayden konnte nicht anders. Sein Instinkt übernahm sein rationales Denken, als er sich gegen diese unsichtbare Macht zu wehren begann, und zwar mit allem, was er hatte.

Seine Fänge schossen aus seinem Kiefer, während ihm ein wütendes Fauchen entkam und er sich am Boden wand.

Jeder seiner Sinne fühlte sich so an, als würde er von irgendetwas eingesogen werden.

Mal flackerte die Welt vor seinen Augen, mal war sie unklar. Die Geräusche um ihn wurden dumpf, dann wieder dröhnend laut, ehe sie wieder vollkommen verstummten.

Ohnmacht wollte ihn überfallen und sein Körper ihm nicht mehr richtig gehorchen. Doch er kämpfte weiter. Verbitterter, härter.

Er hasste es, gefangen zu sein.

Cayden schnappte nach Luft. Sein Brustkorb fühlte sich so eng an.

Er warf sich mit aller Macht zwischen den Trümmern des Sessels hin und her, bis er spürte, wie langsam seine Arme, dann seine Beine und schließlich auch seine Sinne freikamen.

Und plötzlich … war es vorbei.

Was auch immer ihn gehalten hatte, fiel endgültig von ihm ab, sodass er sich ein Stück aufrichten und wieder durchatmen konnte.

Sein ganzer Körper zitterte vor Adrenalin, als er etwas Distanz zwischen sich und seinem zerborstenen Bürosessel brachte, der ihm ein paar spitze Krallen in den Rücken getrieben hatte. Erst bei dieser Bewegung sah er den bewusstlosen Vampir auf der anderen Seite des Schreibtischs am Boden liegen.

Sofort schoss sein Blick zu Emma.

Nein … nicht so!

 

Emmas Atem ging schnell und keuchend. Doch er war flach und gehetzt. Ihre Hand hielt inzwischen den Knauf des Dolchs so fest umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie zitterte am ganzen Körper. Weniger vor Anstrengung, obwohl sie die Falle weiterhin aktiviert hielt, als vielmehr vor Panik, die über ihr zusammenschlagen wollte.

Die Angst kroch in Emmas Schuhe, ihre Beine hinauf und wickelte sich wie eine ausschlagende Schlingpflanze um ihren Bauch und bohrte sich durch ihre Brust direkt in ihr Herz. Es konnte kaum noch ihren Puls aufrechterhalten, ohne in tausend Scherben zu zerspringen.

Wie ... die Energiesäule, die Cayden gefangen gehalten hatte.

Die Informationen erreichten Emmas Hirn wie Donnerschläge.

Cayden war gefangen gewesen. Die Falle hatte ihn erkannt. Eine Falle, die –

Der Körper des fremden Vampir plumpste zu Boden, als Emma die Falle abschaltete.

Auf der Hut senkte sie leicht den Kopf, drehte ganz automatisch den Dolch so, dass die Schneide nach oben zeigte. Ihre Finger lagen auf den Runen, die sie noch nie benutzt hatte – bereit sie zu aktivieren.

Die Bruchstücke des Bürostuhls krachten leise, als er sich bewegte. Emma konnte seinen schweren Atem hören. Das Geräusch mit dem der Tonlage überein bringen, das vor Sekunden als hohes Fauchen durch den Raum geschnitten hatte.

Als sich ihre Blicke trafen, glaubte Emma schreien zu müssen.

Der Dolch bebte in ihrer Hand, doch die Runen am Griff glommen leicht, als Emma mit erstickter Stimme die Stille durchbrach.

„Also ist es das?“

 

Cayden hielt nicht lange ihrem Blick stand, sondern schloss die Augen, als er sich noch weiter aufrichtete und dabei an der Wand abstützte.

Weder brachte es etwas, seine Fänge zu verbergen, nun, da Emma sie unweigerlich gesehen hatte, noch etwas zu leugnen.

Er war in ihre Falle geraten. Das wurde ihm jetzt klar. Sehr deutlich sogar, wie ihm das Brennen im Rücken und das Zittern in jedem einzelnen seiner Muskeln bewusst machten.

Es hatte ihn ganz schön an Kraft gekostet, als er die unsichtbaren Fesseln gesprengt hatte.

Adam behielt also recht. Sie war nicht einfach eine unwissende Hexe.

„Was glaubst du, was es ist, Em?“, fragte er leise und hob langsam wieder den Kopf.

Er wich ihrem Blick nicht länger aus, blieb ihm doch ohnehin keine andere Wahl.

 

„Herrgott, Cayden ...“

Die Kraft wollte aus Emmas Muskeln weichen, aber das war nicht der Grund, warum sie das Gefühl hatte, in die Knie zu gehen. Ihr war gleichzeitig eiskalt und trotzdem brach ihr der Schweiß aus, als sie Cayden ansah. Sie konnte den Blick nicht von ihm nehmen, geschweige denn, ihn irgendwie von seinem Mund losreißen.

Ein Grollen baute sich in ihrer Brust auf. Tief und mit Krallen besetzt, die sich auf dem Weg in Emmas Rachen in alles schlugen, was sie erreichen konnten. Verdammt, sie wollte schreien. Sie wollte explodieren, dieses Büro in Schutt und Asche legen, würde es nur bedeuten ...

„Ich wollte nicht dich bannen!“

Als würde das irgendetwas erklären oder ändern.

Emmas Augen fingen an zu brennen und ihr Blick verschwamm, bevor sie wieder Klarheit hineinblinzelte.

„Ich wollte doch nur ... Ich hatte solche Angst. Seit diesem Überfall hab ich Albträume. Fast jede Nacht. Irgendetwas hat vor meinem Haus rumgelungert. Ich dachte, dass es Tiere waren. Bis gestern dieser Kerl ...“

Sie deutete in einer nebensächlichen Bewegung mit dem Dolch auf den anderen Vampir, was dessen Körper unter kleinen Restladungen zum Zucken brachte.

„Ich wollte doch nicht, dass du ...“

Jetzt konnte sie wirklich nur noch Caydens Silhouette gegen die helle Wand erahnen, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.

„Verdammte Scheiße, Cayden, du bist ein Vampir!“

 

Cayden zuckte unweigerlich zusammen und sein Blick huschte kurz zur Tür.

Zum Glück war sein Büro gut isoliert, sodass höchstens noch sein scharfes Gehör, etwas von draußen wahrnahm. Wäre es anders, Stella oder sonst irgendjemand wäre bereits hereingeplatzt.

Zwar hatte er bei der Restaurierung dieses Gebäudes nicht an diese Art von Gespräch gedacht, aber an andere Dinge, die niemandem zu Ohren kommen sollten.

Langsam, um Emma nicht zu irgendwelchen unüberlegten Handlungen zu bewegen, stand Cayden vorsichtig vom Boden auf, während er ihren Dolch nicht aus den Augen ließ.

Er wollte nicht so in die Ecke gedrängt sein, wie er es am Boden tat. Trotzdem hatte er das Ganze nicht gewollt.

„Ich weiß, was ich bin, Em“, sagte er leise, ruhig, obwohl es in seinem Inneren tobte, die Angst ihm beinahe jedes Wort abschnürte.

„Darum wollte ich auch nicht, dass du es so erfährst und … was heißt das, du fühlst dich verfolgt? Warum Herrgott noch mal, hast du nicht gesagt, dass dir der Kerl zu nahegetreten ist? Ich hätte ihn ...“ Er verbiss sich, was er eigentlich sagen wollte. „Du hättest es mir sagen sollen. Ich hätte mich darum gekümmert, dass du in Sicherheit bist.“

Beinahe wollte er rüber gehen und dem Vampir in die Seite treten. Dass dieser für Emmas Albträume verantwortlich war, würde er noch bezahlen. Man spielte nicht mit Menschen. Schon gar nicht mit jenen, die Cayden liebte!

 

„Nicht!“

Emmas Stimme war scharf und sie wischte sich mit einer schroffen Bewegung über die nassen Augen. Ihr war klar, dass selbst dieser kurze Moment, diese Sekunde der Unaufmerksamkeit, sie Einiges kosten konnte.

„Tu das nicht.“

Erst jetzt, da sie sich etwas anders hinstellte, protestierten Emmas Muskeln, die schon die ganze Zeit angespannt gewesen waren. Und auch jetzt besserte sich die Anspannung nicht.

„Erzähl mir nicht, ich hätte dich um Hilfe bitten sollen. Was hättest du denn getan? Ich wusste doch gar nicht ...“

Ihr Blick blieb wieder an seinen Lippen hängen. Emma ... konnte sie nicht sehen. Wenn er den Mund geschlossen hielt, konnte sie seine Reißzähne nicht sehen.

„Ich bin wirklich so blind gewesen?“

Nein, nicht nur blind. Unglaublich dumm!

Sie hatte ihn geküsst! Auf diesen Mund, auf diese Lippen! Sie hatte ...

Immer noch steckte so viel Wut in Emma, dass sie gar nicht wusste, wohin damit. Wut auf sich selbst, auf Cayden, auf ... das, was er war. Und darauf, dass sie nicht wusste, was sie nun tun sollte!

Im Moment konnte sie ihn nur weiterhin anstarren, zitternd, mit wild klopfendem Herzen.

 

Cayden versuchte, Emmas Tränen nicht zu nahe an sich heranzulassen. Dass sie überhaupt wegen ihm weinte, wo sie doch sonst so gut wie nie weinte, machte es nur noch schlimmer. Er machte es schlimmer. Vielleicht hätte er ihr das Ganze doch schon sehr viel früher erklären sollen. Aber wann?

Wie wusste man, wann es der richtige Zeitpunkt war?

Cayden sah sich langsam im Raum um, ehe er sich ein bitteres Seufzen verkniff.

Es gab keinen richtigen Moment. Das wurde ihm plötzlich klar. Aber es gab sehr wohl den falschen und gerade der, hatte soeben stattgefunden.

„Nein, Em“, meinte er schließlich leise und verbarg dabei nicht seine Betroffenheit. „Du warst nicht blind, sondern ich sehr vorsichtig. Ich wollte nicht …“

Er schüttelte den Kopf. „Ich wollte wirklich nicht, dass du es auf diese Weise erfährst.“

Er machte einen entsprechenden Bogen mit der Hand, die den ganzen Raum einfasste. „Und was den dort angeht.“ Cayden zeigte mit finsterer Miene auf den bewusstlosen Vampir. „Weiß ich sehr wohl, was ich getan hätte.“ Aber was genau, wollte er Emma lieber nicht sagen.

„Weißt du denn, warum er hinter dir her war? Ich dachte, er wäre eigentlich wegen mir hier. Tasken ist …“

Wieder schüttelte er den Kopf.

„Em. Bitte nimm den Dolch herunter. Ich werde dir nichts tun und was Taskens Lakai angeht, hast du ganze Arbeit geleistet.“

Gott, er wollte zu ihr, wagte es jedoch nicht, sich auch nur ein Stück nach vorne zu lehnen. Emma sah so aus, als würde sie gleich explodieren und ihre Wut versengte ihm beinahe die Nase.

„Bitte, Em.“ Er sah sie flehend an.

Sie machte ihm mit ihrer Haltung tatsächlich Angst. Doch nicht vor ihr, sondern um sie.

 

Emma hatte die Lippen fest aufeinander gepresst, konnte aber die Schwäche nicht verbergen, die sich mit jedem Schniefen deutlich machte, das sie nicht verhindern konnte. Lieber wollte sie entschlossen und beherrscht aussehen. Von ihr aus auch gefährlich. Aber so, wie Cayden sie ansah ... Es spiegelte sich mehr Mitleid in seinen Augen als irgendetwas anderes.

Der Dolch hob sich ein Stück. Bis vor Emmas Augen, sodass sie die scharfe Klinge für einen Moment ansehen und Caydens Bitte abwägen konnte. Skeptisch und immer noch nicht sicher, was sie tun sollte, drehte sie die Waffe zumindest um.

Sofort hatte sie das Gefühl, etwas in sich zusammenzusinken.

Ihr Blick streifte den Körper des bewusstlosen Vampirs. Sein Mund stand offen, die Fangzähne ragten fast aufreizend offen hervor und Emma schloss nun doch seufzend für eine Sekunde die Augen, bevor sie sich einfach auf den Boden sinken ließ.

Es war das Dümmste, was sie gerade machen konnte. Denn wenn Cayden sie angreifen sollte, hätte er leichtes Spiel. Selbst wenn sie ihren Dolch noch in der Hand hielt. Vampire waren schneller, als es das menschliche Auge zumeist wahrnehmen konnte. Emma hätte ... wenig Chancen.

Aber irgendwie ... scherte sie das kaum.

„Setz dich.“

Dass sie einen verständnislosen und eher unwilligen Blick erntete, überraschte Emma nicht. Trotzdem zeigte sie auf die Stelle vor sich auf dem Boden.

„Ich weiß, was du kannst. Setz dich, dann stecke ich den Dolch weg.“

 

Dass sie den Dolch wegstecken würde, sobald er ihrer Aufforderung nachgekommen war, war ein gutes Argument und letztendlich der einzig wirkliche Grund, warum er sich dazu entschloss, ihrer Anweisung zu folgen.

Obwohl Cayden schon so einige Aufklärungsgespräche über Vampire, oder zumindest so etwas in der Art gehabt hatte, wünschte er sich doch zumeist in solchen Augenblicken, er wäre ein stinknormaler Kerl. Ein Mensch und kein Vampir.

Trotzdem würde er sich nie für das schämen, was er von Geburt an war.

Langsam und immer noch darauf bedacht, so unauffällige Bewegungen wie möglich zu machen, kam Cayden näher, setzte sich aber so vor Emma hin, dass er auch den anderen Vampir im Auge behalten konnte und er fast zwischen den beiden war.

Nur zur Sicherheit.

„Der Dolch?“

Cayden forderte Emma mit einem Blick auf, ihn wegzulegen, während er seine eigenen Hände untätig auf den Knien abgelegt hatte. Sogar seine Fänge hatten sich inzwischen wieder zurückgezogen.

Emma musste also nichts fürchten. Zumindest nichts Offensichtliches. Außerdem würde er ihr nie mit Absicht wehtun.

„Woher weißt du es? Ich dachte, du hast das alles nur für Märchen gehalten.“

 

Sie legte ihn auf den Boden. Ihre Hand ruhte noch darauf, während sie Cayden eingehend musterte. Erst, nachdem sie meinte, seiner Haltung eine gewisse gewohnte Gelassenheit ablesen zu können, zog Emma die Hand zurück und legte sie in ihren Schoß.

Als er ihr diese Frage stellte, musste Emma leise lachen. Bitter und scharf, so wie die Antwort auf die Frage auch in ihr kleine Splitter hinterließ.

„Ich wusste es erst, als die Falle funktioniert hat. Bis vor ...“

Sie zeigte ihren Verlust des Zeitgefühls mit einer wegwerfenden Handbewegung an.

„Bis vor ein paar Minuten hätte ich euch beide noch in die Welt von Mythen und Legenden oder ins Kino verfrachtet. Ich ... Es gibt ein Buch. Eines, das wichtig für mich ist – für mich als Hexe. Darin ... sind Vampyre beschrieben. Alles, was die Hexen über sie wissen.“

Seufzend rieb sie sich die Nasenwurzel und schob sich ein paar verirrte Haarsträhnen nach hinten.

„Wäre nicht leicht gewesen, mir das zu erklären, das geb ich zu.“

Sie glaubte es ja jetzt immer noch nicht ganz, wenn sie in Caydens Gesicht sah. Er hatte sich nicht verändert.

„Aber ... dass du es geheim halten konntest ... Du musst alt sein. Älter als der da.“

 

Er wusste, es war blödsinnig, aber dass Emma von sich selbst so offen als Hexe sprach, behagte ihm ganz und gar nicht. Schließlich war sie rein geschichtlich gesehen … sein Feind und er der ihre.

Und vor allem, da sie offenbar mehr an Wissen besaß, als er sich bis gerade eben bewusst gewesen war, war ebenfalls nicht leicht zu verdauen.

Bei Gott, er hätte ihr noch nicht einmal diese Falle zugetraut, und dass er so stark dagegen ankämpfen musste, um freizukommen, beruhigte ihn kein bisschen.

Dass Emma auf sein Alter zu sprechen kam, ließ seinen Magen stark zusammenkrampfen und ihn auf seine Finger sehen.

Er wich ihrem Blick aus.

Meist konnte er leicht ignorieren, wie viele Jahre er schon auf dieser Erde wandelte. Man war schließlich so alt, wie man sich fühlte. Oftmals galt das auch für Vampire. Doch dann gab es wieder Tage, da wurde man sich jedes einzelne Jahr bewusst und so war es auch jetzt.

„Das Alter hat damit nichts zu tun. Eher die Erziehung und letztendlich wohl auch der Charakter.“

Er schenkte dem anderen Vampir einen flüchtigen, angewiderten Blick, ehe er sich wieder Emmas Blick stellte.

„Was weiß dieses Buch über Vampire?“

Vielleicht wusste sie ja nicht alles oder es war sogar falsches Wissen dabei.

Warum ihn das interessierte, wusste Cayden nicht einmal so genau. Aber vielleicht, weil er Emma nichts mehr verbergen wollte, jetzt, da die Katze aus dem Sack war. Sozusagen.

Bis auf sein Alter vielleicht.

 

„Nicht, dass du aus der Falle rausgekommen bist.“

Das hatte nur etwas mit Alter und Stärke zu tun. Und Emma wollte gar nicht darüber nachdenken, wie gut die Falle gewesen war. Cayden musste ... Ihr schlich eine Gänsehaut über den Körper.

„Dass du nichts gegen Knoblauch hast.“

Oh Mann ... hatte sie gerade wirklich fast gelächelt?

„Und dass du Kruzifixe ansehen kannst, Sonne verträgst und ...“

Nun war das Lächeln restlos verschwunden. Weggewischt und verbannt. Denn es gab einen Grund, aus dem Hexen Vampire über Jahrhunderte hinweg gejagt hatten. Teilweise unerbittlich und mit grausamen Methoden. Emma wollte nicht daran denken. Aber ja, es gab etwas, das ihr Buch auch über Vampire wusste.

„Dass du Blut zum Leben brauchst. Blut von Menschen, das ihr nicht durch tierisches Blut ersetzen könnt. Und auch durch nichts anderes.“

Ihr war aufgefallen, dass sie vom 'du' zum weniger persönlichen Pronomen übergegangen war. Aber es war doch auch so, dass Emma ... Cayden hatte noch nicht einmal versucht, sie zu beißen. Niemals.

 

Cayden sah Emma lange an, nachdem sie geendet hatte. Dann blickte er zu dem ohnmächtigen Vampir hinüber und schließlich auf seine eigenen Hände.

Seine Schultern sanken deutlich ein Stück herab.

Es war vorbei. Was Emma wissen musste, wusste sie bereits. Er wusste nur nicht in welchem Ausmaß, aber zumindest eines konnte er nun tun, um seine ganze Lage etwas gerade zu biegen.

Er sah sie wieder an und ließ während er sprach auch keinen Moment von ihren Augen ab.

„Ich weiß nicht, was genau dein Buch über Blut und uns sagt. Zumindest was das Ausmaß angeht. Aber es stimmt. Ich … brauche Blut zum Überleben. Das von Menschen. Alles andere hätte nicht die gewünschte Wirkung. Ebensowenig wie Blutkonserven. Totes oder abgefülltes Blut nützt uns nichts.“

Cayden holte tief Luft.

Es hätte sich eigentlich erleichternd anfühlen sollen, doch stattdessen waren die Worte wie Steine in seinem Mund. Er brachte sie kaum von seiner Zunge.

„Darum ging es im Vertrag mit Vanessa. Sie gab mir ab und zu von ihrem Blut und dafür bekam sie einige Tropfen von meinem. Natürlich auch einen Haufen Geld, doch hauptsächlich ging es um das, was durch meine Adern fließt.“

Er schluckte schwer und hätte ruhig etwas von dem Wasser vertragen, das Emma ihm vorhin noch gebracht hatte. Doch stattdessen sprach er weiter.

„Es hält sie jung und fit. Unser Blut wirkt im Körper eines Menschen wie ein wahres Wundermittel. Verständlich, wenn man bedenkt, wie wir uns ernähren müssen. Ansonsten wäre es zu auffällig anhand der Bisswunden.“

 

„Warte! Warte!“

Emma hob beide Handflächen und hielt sie offen vor Cayden hin, während sie leicht verzweifelt den Kopf schüttelte. Er hatte was? Und Vanessa hatte dafür was bekommen? Und sie hatte bitte was getan?

„Nochmal von vorn. Vanessa hat dich freiwillig ihr Blut trinken lassen? Für Geld?!“

Diese Frau wurde Emma niemals verstehen. Wer tat denn sowas?

„Und ... für dein Blut?“

Das stand eindeutig nicht in Emmas Buch. Der Paragraph konnte ihr auf jeden Fall nicht entgangen sein, wäre er vorhanden gewesen.

„Was bringt das denn? Wenn du ihr Blut trinkst und sie deins ... Wer hat denn dann was davon? Schwächt man sich da nicht gegenseitig?“

Emma zog die Stirn in Falten.

„Von wie viel Blut reden wir hier denn. Mein ... Buch zählt nur Beispiele auf, bei denen Vampire nicht besonders gut wegkommen.“

Jetzt wirkte ihr Blick fast entschuldigend.

„Ist ein altes Buch.“

 

Cayden schnaubte.

Gut, er war nicht in der Position empört zu sein, aber er war es. Zumindest von Emmas Vorfahren. Nicht von ihr selbst. Sie fragte wenigstens nach den wichtigsten Details. Andere Hexen hätten nicht lange gefackelt.

„Das dachte ich mir bereits“, murmelte er mehr zu sich selbst, als zu ihr, allerdings sprach er lauter weiter: „Ich meine, dass Hexen uns für Monster halten. Dabei bin ich mir sicher, dass es ziemlich ausgewogen ist, was die Gräueltaten in der Geschichte zwischen uns angeht. Aber zu deinen Fragen.“

Da Emma nicht mehr den Eindruck machte, sie würde ihn bei der kleinsten hastigen Bewegung erdolchen, griff Cayden hinter sich und zupfte sich ein Stück Plastik aus dem Rücken, das ihn schon die ganze Zeit gestochen hatte. Derweil erzählte er.

„Was das Geld angeht, war Vanessa lange nicht so scharf darauf wie auf mein Blut. Darum war sie auch so wütend auf mich, als ich ihr sagte, ich wolle den Vertrag beenden, bedeutete das doch das Ende ihrer Jugend.“

Er schnippte das blutige Teil Richtung Mülleimer.

„Weißt du, dass sie in Wahrheit 36 Jahre alt ist? Aber sie sieht nicht älter als 24 oder 25 aus. Das ist es, was mein Blut bewirkt. Es stärkt Menschen und hilft bei der Zellregeneration. Je älter der Vampir, umso bess-“

Cayden räusperte sich.

„Ich meine, ich denke, dass ihr dieser Umstand, das Leben gerettet hat, als man sie überfiel. Sonst wäre sie vielleicht an den schwerwiegenden Folgen gestorben. Und dafür bedurfte es nur ein oder zweimal im Monat einen kleinen Schluck meines Blutes. Im Tausch dafür bekam ich von ihr einmal wöchentlich die Dosis, die ich zum Überleben brauche.“

Sein Blick veränderte sich nun, von sachlich auf sanft.

„Wir sind nicht die Monster, für die deine Vorfahren uns halten, Em. Zumindest nicht alle. Ein gesunder Vampir braucht unter normalen Lebensbedingungen vielleicht einen halben und bei größeren Anstrengungen einen ganzen Liter Blut pro Monat. Dabei macht es fast keinen Unterschied, ob wir ein paar Schlückchen in der Woche zu uns nehmen, oder die Menge auf einmal trinken. Aber auf keinen Fall töten wir Menschen dabei. Zumindest habe ich das noch nie getan und sollten wir doch einmal mehr brauchen, nimmt ein intelligenter Vampir die benötigte Menge nicht von einer einzigen Person.“
 

„Hmm ...“

Emma schwieg eine Weile, nachdem Cayden geendet hatte. Ihr Blick wanderte über den Fußboden, hielt bei dem Loch im Boden an, das ihr Dolch hinterlassen hatte, und fing sich dann am Mülleimer.

„Es tut mir leid, dass ich dich verletzt habe. Das wollte ich wirklich nicht.“

Eigentlich bereute sie immer noch die ganze Aktion mit der Falle. Und das, obwohl Emma auch irgendwie froh war, nun Caydens Geheimnis zu kennen.

Das hieß leider noch lange nicht, dass sie auch wusste, wie sie damit umgehen sollte. Aber irgendwie ... half es bei ihrem anderen Problem.

„Ein halber Liter also. Das kann einen vielleicht ein bisschen schwächen, aber naja ... gutes Essen und eine ordentliche Mütze Schlaf und man kommt drüber weg.“

Das war die gleiche Menge wie beim Blutspenden.

„Aber das könnte kein Grund sein, oder?“

Wieder verfiel Emma ins Grübeln und streckte eines ihrer Beine aus, das drohte einzuschlafen.

„Nein, das ergibt genauso wenig Sinn, wie alles andere. Selbst wenn Vanessa so richtig sauer war, dass du ihr dein Blut nimmst ...“

Sie sah ihn forschend an. Immerhin war er zehn Jahre mit ihr verheiratet gewesen. Er sollte es wissen, wenn Vanessa so eine dumme Aktion zuzutrauen war.

„Sie würde sich doch deswegen nicht so verprügeln lassen. Damit du ... zu ihr zurückkommst?“

Ein kleines Stöhnen von dem fremden Vampir, den Emma schon fast vergessen hatte, ließ ihre Hand in Richtung Dolch zucken. Die Runen am Griff leuchteten auf, als Emmas Finger sie berührten und der Vampir zuckte einmal unter dem neuen Energiestoß zusammen, bevor er wieder vollkommen stillliegen blieb.

 

„Ist nur ein Kratzer.“

Cayden winkte ab. Das war wirklich nicht schlimm. Spätestens Morgen würde man kaum noch etwas davon sehen.

Er vergaß es bereits in der nächsten Minute wieder.

„Das mit dem Essen und Schlaf stimmt. Vanessa hatte aber erst recht keine Probleme damit, weil wir sozusagen in einer Symbiose lebten. Sie gab mir und ich gab ihr. Wir schwächten uns nicht gegenseitig, sondern stärkten uns. Ich gestehe, es läuft nicht immer so ab zwischen unseren beiden Arten. Aber das ist jedem seine eigene Entscheidung.“

Als Emma ihr Bein etwas ausstreckte, entspannte auch Cayden sich etwas. Nicht ganz, aber immerhin.

„Es ergibt auch so keinen Sinn. Egal was sie täte, ich würde nie zu ihr zurückgehen. Aber es gibt eine Sache, die sie dazu hätte –“

Cayden biss die Zähne zusammen und kniff die Augen zu, während sich all seine Muskeln anspannten, als Emma ihm erneut eine Ladung verpasste. Sehr viel schwächer als die erste, aber keinesfalls angenehm.

Als er wieder aufsah, hatte sie erneut seine Fänge hervor gelockt. Trotzdem sagte er nichts dazu. Sogar ihm war es lieber, wenn der andere Vampir noch eine Weile schlief, also sprach er weiter, als wäre nichts gewesen.

„Vanessa könnte geglaubt haben, dass ich ihr Leben rette oder so etwas in der Art, wenn sie beinahe drauf geht und ich dafür beschuldigt werde. Denn es gibt eines, was sie immer schon noch mehr wollte als mein Blut ...“

Cayden sah Emma bedeutungsschwer an.

„Ein Vampir werden. Jugend und Schönheit für immer. Sie hat nur eines nie verstanden. Wir werden so geboren und nicht durch irgendeinen Fluch, Zauber oder sonst irgendetwas erschaffen. Und sogar diese Theorie hinkt ganz schön. Ich hätte sie nicht retten können, während ich zugleich hinter Gitter sitze.“

 

Emma nickte. So viel hatten ihre Vorgängerinnen auch schon verstanden, denn in ihrem Buch wurde auch mit dem Mythos des 'Vampirwerdens' aufgeräumt. Er wurde in die gleiche Ecke gestellt, wie die Knoblauchringe und die Holzpfähle. Ein Mensch blieb ein Mensch und ein Vampir blieb ebenfalls, was er war. Und das war auch gut so. Zumindest in Emmas Augen.

„Keine mystische Transformation und kein tödlicher Kuss, der sie unsterblich macht ...“

Arme Vanessa. Wenn man ihren naiven Geist bedachte und das, was sie sich dafür hatte antun lassen, konnte sie einem wirklich leidtun.

„Fragt sich aber, wen sie dazu überreden konnte, sie so zuzurichten. Ihre Liebhaber werden nicht alle so dumm gewesen sein, zu vergessen, dass sie dafür wirklich und vor allem lebenslang im Knast landen könnten. Oder glaubst du, sie hatte auch andere ... wie dich?“

Damit die Beziehung zwischen Cayden und Vanessa anzuerkennen, tat weh. Zwar hatte Emma gerade mit ganz anderen Dämonen zu kämpfen, die sie immer noch nicht ganz begriff, aber sich damit auseinanderzusetzen, dass die beiden bis vor ein paar Wochen noch ein richtiges Paar gewesen waren ... Sich ein Bett geteilt hatten und ...

Emma vertrieb die Gedanken und Bilder, die ihr einen schalen Geschmack im Mund verunsichern wollten.

 

„Ich weiß es wirklich nicht, Em. Sollte sie einen Vampir als Liebhaber gehabt haben oder sogar immer noch haben, dann war sie ziemlich gut darin, es vor mir zu verbergen. Und so grausam es vielleicht auch klingt, langsam glaube ich, sie verdient es nicht anders. Anfangs hielt ich sie noch für entschlossen und willensstark. Inzwischen habe ich jedoch das Gefühl, ihre Besessenheit nach Schönheit und Jugend gleicht Wahnsinn. So oder so. Zumindest kann ich sagen, dass ich es nicht gewesen bin und im Moment reicht mir das. Es gibt Wichtigeres.“

Dabei sah er sie auf eine Art an, wie Cayden keinen anderen Menschen oder Vampir ansehen würde. Dieser Blick gehörte nur Emma.

„Es tut mir leid, dass ich es dir nicht schon früher gesagt habe. Ich weiß, ich hätte es tun sollen, damit es nicht so herausgekommen wäre. Aber ich habe unweigerlich die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen es nicht verstehen. Sie fürchten uns instinktiv oder bringen uns mit diesen Lügenmärchen gleich, die zuhauf über Vampire erzählt werden. Selbst du hast geglaubt, wir wären blutrünstige Monster. Aber das sind wir nicht, Em. Wir sind reale Personen, die wie Menschen fühlen und denken. Nur eben mit kleinen Unterschieden.“

 

Emma seufzte so schwer, dass es sie fast durchschüttelte. Sie fühlte sich durch all das, was sie erfahren hatte, zwar im weitesten Sinne besser, aber es hatte sie auch viel an Kraft gekostet. Wenn sie ihre Beine betrachtete, wusste sie gar nicht so recht, ob sie würde aufstehen können, ohne sich eine Blöße zu geben. Zumindest nicht noch mehr, als sie es bisher ohnehin getan hatte. Und so, wie es aussah, neigte sich dieses Gespräch dem Ende zu. Was allerdings eine Frage offen ließ, die Emma wiederum großes Kopfzerbrechen und einen schnelleren Puls bescherte.

Wie würde es weitergehen? Nach diesem Gespräch ... nachdem sie nun wusste, dass Cayden ... ein Vampir war?

„Ehrlich gesagt, kann ich gerade überhaupt nicht einschätzen, ob es besser gewesen wäre, du hättest es mir gesagt.“

Sie sah ihn ernst an.

„Zumindest wäre es ohne Verletzungen über die Bühne gegangen, aber das ändern nichts an ...“

Sie brach ab, weil sie nicht genau wusste, wie sie weitermachen sollte. Weder im Gespräch noch bei ... dem Rest, der eigentlich zu besprechen war.

 

„Du meinst: Aber das ändert nichts daran, dass ich ein Vampir bin, deine Vorfahren eigentlich zu meinem größten natürlichen Feind gehören und du nicht weißt, ob du damit klarkommst, dass ich Fangzähne habe und ab und zu an menschlichen Hälsen nippe?“

Cayden seufzte und wandte sich schließlich von Emma ab, um sich den anderen Vampir näher anzusehen.

„Ich weiß genau, was du meinst, Em“, sagte er leise, während Frustration ihn erfasste.

Wenn er vor dieser ganzen Sache schon geglaubt hatte, er hätte sich von Emma distanziert, dann war es nun tausendfach schlimmer.

Vielleicht konnte man über eine Tat hinwegsehen, wenn man sie nicht begangen hatte, aber bei einem genetischen Erbe dürfte es nicht so leicht sein.

Er verstand es wirklich, auf die eine oder andere Weise, dennoch machte es ihm jedes Mal aufs Neue zu schaffen und dieses Mal mehr denn je. Zumindest mehr, als er sich auch nur im Ansatz anmerken ließ.

„Weißt du, genau aus diesem Grund, wollte ich es dir nicht sagen.“

Seine Stimme wurde noch leiser. Noch ruhiger. Fast trügerisch gelassen, während er dem anderen Vampir den Mund zu klappte.

Es reichte schon, dass er hier im Büro auf dem Boden lag und mit seiner Anwesenheit glänzte. Er musste sich dabei nicht auch noch von seiner übelsten Seite zeigen.

„Weil Menschen dazu neigen, Dinge zu fürchten, die sie nicht verstehen. Weil sie glauben, anders ist gleichbedeutend mit gefährlich oder was auch immer. Aber weißt du was, Em?“

Cayden setzte sich wieder auf und drehte sich zu Emma herum, um ihr tief in die Augen zu blicken. „Eigentlich könnten wir das Gleiche von deiner Rasse behaupten. Eigentlich sollte ich mich von dir fernhalten, weil euer Leben so kurz ist … Weil du so zerbrechlich bist und vermutlich auch, weil du für mich durchaus auch eine Gefahr sein kannst. Aber das alles ist nicht groß genug, nicht stark genug, nicht beängstigend genug für mich. Ich liebe dich. Dich – so wie du bist. Selbst in dem Wissen, dass ich dich irgendwann sterben sehen werde. Vom Alter gebeugt. Krank. Schwach. Unendlich zerbrechlich.“

Cayden biss sich leicht auf die Unterlippe. Eine Angewohnheit, die er normalerweise nie zeigte. Außer er wollte seine Unterlippe davon abhalten, zu zittern.

„Für mich spielt es keine Rolle, ob du nun ein Mensch, ein Vampir oder eine Hexe bist. Es ist, was es ist. Meine Gefühle werden sich dadurch nicht ändern.“

 

Jedes seiner Worte traf sie wie eine verbale Ohrfeige.

Innerlich zuckte Emma zusammen, auch wenn man das nur am hektischen Zittern ihrer Wimpern nach außen hin erkennen konnte. Es tat weh, dass er auf ihrem Erbe herumhackte. Und dass er ihr nicht zutraute, weiter zu sehen, als die Hexen, die im Mittelalter oder noch früher gelebt hatten.

Aber das Schlimmste war, dass er recht hatte.

Emma wusste nicht, ob sie damit klarkam, dass er Blut trank. Das konnte sie jetzt einfach nicht so aus dem Stegreif heraussagen. Von Vanessa sollte er jedenfalls nicht mehr trinken. Aber von wem ...

Ihre Augen wurden groß, als Cayden so abrupt einen Schwenk in eine andere Richtung machte.

Was?

Zuerst stellte er es so dar, als wäre sie mit ihrer fehlenden Weitsicht selbst schuld daran, dass er ihr nichts erzählt hatte. Dass die Menschen ja sowieso absolut nichts anderes als ihr Selbst akzeptierten – womit er nicht ganz unrecht hatte – und dann ... dann sagte er ihr einfach, dass er sie liebte? Trotzdem?

Emma klappte die Kinnlade herunter und diesmal tat sie nichts gegen das leise Stöhnen, das der ungebetene Besuch von sich gab. Sie hätte sich ... gerade einfach nicht rühren können.

„Du denkst also wirklich, dass ich dich verlassen würde, weil ich nicht von jetzt auf gleich vollkommen akzeptieren kann, dass du dich von menschlichem Blut ernähren musst?“

Umständlich zog Emma ihr Bein wieder ein und arbeitete sich auf die Knie und dann auf die Füße, wobei sie elegant und so unauffällig wie möglich ihren Dolch wieder einsteckte. Dann ging sie die paar Schritte auf Cayden zu, stieg über den inzwischen immer lauter murrenden Vampir und ließ sich vor Cayden in die Hocke sinken.

„Ich mag vielleicht zerbrechlich und nur ein Mensch sein ...“ Sie sah ihm direkt in die Augen und erst dann auf seine Lippen, hinter denen sie nun die Ansätze seiner Fänge erahnen konnte. „Aber ich werde auch die Mutter deines Kindes. Und aus der Verantwortung kommst du wegen ein paar Reißzähnen nicht raus, verstanden?“

 

Sein Herz schlug höher, als Emma ihm plötzlich wieder so nahe kam. Dabei reagierte er gar nicht auf den anderen Vampir, obwohl er instinktiv immer noch auf der Hut vor diesem war. Doch viel mehr fesselten Emmas Worte ihn.

Das … hätte er nicht gedacht und es schmerzte ihn fast selbst, dass er dieses Entgegenkommen nicht einfach annehmen konnte.

„Ich würde mich nie aus der Verantwortung ziehen, Em“, meinte er ernst, aber auch sanft, während er langsam seine Hand hob, um sie zu berühren. Vorsichtig mit seinen Fingerspitzen über ihre Wange zu streicheln und sich ein bisschen weiter zu ihr zu beugen.

„Und es sind nicht unbedingt meine Essgewohnheiten, mit denen du dir schwertun wirst.“

Nun legte er seine ganze Hand an ihre Wange, während er dagegen ankämpfen musste, sie einfach nur in die Arme zu nehmen und die Klappe zu halten. Er machte es sicher nicht besser, in dem er noch mehr preisgab. Aber er schuldete es ihr. Aus ganzem Herzen.

„Ich bin alt, Em“, gestand er schließlich gerade noch so laut, dass man es verstehen konnte.

„Ich weiß, ich sehe nicht so aus. Aber ich habe sehr viel mehr erlebt, als du auch nur erahnen kannst. Ich weiß nicht, ob du mit dem Wissen leben kannst, dass ich schon so viele andere Leben vor dir hatte und das ist noch das Wenigste. Die wirklichen Hürden kommen erst mit den Jahren. Glaub mir … ich weiß es …“

 

Das hatte ... sie nicht erwartet.

Nein, wenn Emma ehrlich war, hatte sie sich sogar auf etwas ganz anderes, als das hier Hoffnungen gemacht. Sie verstand nicht ganz. Und tat das, was Emma eben tat, wenn sie etwas nicht begreifen konnte, indem sie darüber nachdachte.

„Sind dir die Leben in deiner Vergangenheit wichtiger als das Hier und Jetzt, und das, was für uns beide vielleicht noch kommt?“

Es war verdammt schwierig, das zu fragen, wenn sie ihm so nahe war. Die Distanz zwischen ihnen – war sie auch hauptsächlich räumlicher Natur gewesen – hatte der Unterhaltung gut getan. Aber jetzt ... Emma war bereit gewesen, auf ihn zuzugehen. Über ihren und noch einige andere Schatten zu springen und es zumindest zu versuchen. Weil Cayden ihr gesagt hatte, dass er sie liebte. Obwohl sie eigentlich Feinde sein könnten. Oder nach alter Tradition sein müssten.

Was wollte er ihr denn damit klarmachen, dass er ihr sagte, es würden noch wirkliche Probleme auf sie zukommen. Wenn sie alt wurde und er ... nicht.

„Heißt das, ich muss mich jetzt darauf einlassen, dass du dich irgendwann unweigerlich in eine andere verliebst und mich verlässt? Oder, dass du gehst, wenn der Altersunterschied zu sehr auffällt?“

Ihr wurde unangenehm heiß und Emma wünschte sich wirklich, das würde ihr nicht so viel Angst machen. Nicht schon jetzt, wo es noch nicht so weit war. Und eigentlich ... konnte ihr das im schlimmsten Fall mit jedem menschlichen Mann auch passieren.

 

Leicht überrascht sah er sie an, ehe seine Lippen sich zu einem winzig kleinen, sanften Lächeln verzogen.

Wieder gab der Vampir Laute von sich, die er besser für sich hätte behalten sollen, weshalb Cayden Emma schließlich auch die andere Hand auf ihre Seite legte und sie weiter von dem Vampir wegzog.

Dann sah er sie erneut an.

„Nein, Em. Nein, nein und nochmals nein. Das soll es nicht bedeuten.“

Er rückte näher an sie heran. Süchtig nach ihrer Wärme und ihrer Berührung ignorierte er die Gefahr, damit vielleicht schon zu weit zu gehen.

„Mir ist es egal, wie du aussiehst oder einmal aussehen wirst. Ich werde bei dir bleiben und keines meiner vergangenen Leben kann hier und jetzt wichtiger sein. Aber du musst wissen, dass ich dir nichts mehr verheimlichen will. Wenn du mir also eine Frage über meine Vergangenheit stellst, dann weiß ich nicht, ob dir die Antwort darauf auch gefallen wird. Wenn du älter wirst, kannst du es dann ertragen, wenn ich es nicht werde? Ich weiß, diese Fragen sind momentan nicht greifbar. Aber ich kenne sie. Ich habe sie gelebt. Und auch wenn es sich jetzt für dich anhören mag, als wolle ich unsere Verbindung vergraulen, so will ich doch, dass du bei mir bleibst. Gerade deshalb sollst du wissen, worauf du dich einlässt. Damit du dich auf das ganze Cayden-Jedi-Vampir-Sandmann-Paket einlässt und nicht erst später drauf kommst, dass es doch keine allzu gute Idee gewesen ist. Denn das … könnte ich nicht ertragen.“

 

Sein kleines Lächeln tat gut. Emma konnte nicht genau sagen, warum gerade dieses Lächeln, denn im Laufe der Zeit, seit ihrem unglücklichen, magischen Zusammenstoß, hatte Cayden sich immer mehr entspannt und sich ihr geöffnet. Aber jetzt ... war es anders.

Sie glaubte ihm.

Emma glaubte, dass er die Möglichkeit, dass sie selbst sich irgendwann umentscheiden könnte, als schlimmer empfand. Selbst die Tatsache, dass sie welken würde, alt werden und ihn irgendwann aus Gründen, die sie beide nicht verhindern konnten, verlassen würde ... schien leichter zu akzeptieren zu sein.

„Nein, es ist absolut nicht greifbar“, gab sie zu.

Wie hätte es das auch sein können? Emma konnte sich mit ihrem eigenen Tod kaum auseinandersetzen. Immer, wenn sie es tat, wurde ihr Angst und Bange. Sich jetzt vorzustellen, dass Cayden hingegen niemals sterben würde, niemals altern ... war gerade einfach nicht drin.

„Cayden, mir erscheint das Leben, das ich vor mir habe, noch so unendlich lang ...“, begann sie leise und versuchte dabei, ihn anzusehen. Allerdings flatterte ihr Blick immer wieder zur Seite, fing sich wieder und konnte sich trotzdem nicht seinen grünen Augen stellen, die sie so unglaublich intensiv ansahen.

„Ich habe noch so viel vor mir, es gibt so viel Spannendes zu erleben, so viel Neues und so viel Schönes. Nimm doch nur das Baby ... unser Baby.“

Zum ersten Mal legte Emma Caydens Hand bewusst auf die Stelle, unter der das gemeinsame Kind heranwuchs. Sofort schien sie bloß noch mehr Wärme zu durchströmen.

„Diese ganzen Dinge ... kann ich mir noch nicht vorstellen. Aber glaub mir ... wenn ich mir sie vorstellen müsste, fällt es mir leicht, dich jedes Mal an meiner Seite zu sehen.“

Ganz vorsichtig, als könnte die Bewegung ihre kleine Welt zerbrechen, lehnte Emma sich nach vorne. So weit, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten.

„Ich ... liebe dich doch.“

Emma hauchte nur einen winzigen Kuss auf diese Lippen, die ihr jetzt wieder fremd vorkamen. Aber keinesfalls im negativen Sinne, sondern nur noch aufregender und anziehender als zuvor.

Ihr Herz hämmerte in ihren Ohren.

Sie liebte ihn ...

 

„D-du liebst mich?“, wagte er kaum zu fragen und nicht nur allein der Umstand, dass er jemand war, der so gut wie nie stotterte, machte deutlich, wie überrascht er über dieses Geständnis war.

Seine Augen wurden größer. Sein Herz schlug schneller und er bekam den berüchtigten Tunnelblick, an dessen Ende er nur Emmas Augen sehen konnte.

Ja, sie hatte es wirklich gesagt. Er hatte sich nicht verhört. Die zarte Berührung ihrer Lippen, und ihrer Hand, die immer noch auf seiner lag, während er die Wärme ihres Bauches spüren konnte, waren Beweis genug dafür.

Cayden ließ alle Vorsicht fallen.

Er zog Emma aus der Hocke direkt auf seinen Schoß und schlang die Arme um sie.

Zuerst umarmte er sie nur intensiv und hielt Emma, als würde man sie ihm sonst wegnehmen, während er ebenfalls leise an ihr Ohr flüsterte, dass er sie auch liebte.

Doch das reichte noch lange nicht, um seine aufgestaute Sehnsucht nach ihr zu stillen, die er in den letzten Tagen über sich hatte ergehen lassen müssen.

So nahe war sie teilweise gewesen und doch so unmöglich, sie zu berühren.

Es hatte ihn gewaltig gequält.

Cayden war egal, dass sie zusammen neben einem halb bewusstlosen Vampir am Boden direkt in seinem Büro saßen und gerade eine weitere Krise in ihrer Beziehung hinter sich gebracht hatten. Vielleicht war es gerade dadurch umso intensiver, als er schließlich seine Lippen auf Emmas Mund legte und sie sanft, aber leidenschaftlich küsste.

Es war so lange her.

Oh Gott.

So lange her!

 

Bevor sie noch das kleine Wörtchen 'ja' über die Lippen bringen konnte, wurde sie von Cayden geschnappt, auf seinen Schoß gezogen und fand sich in einer ausgewachsenen Klammerumarmung wieder. Emmas Herz schmolz wie Eis in der Sonne und diesmal fing sie vor Erleichterung an leicht zu zittern.

Im nächsten Moment streichelte Cayden mit einem Kuss seine Liebe auf Emmas Lippen und sie schloss die Augen, um sich einfach fallenzulassen. Zumindest so lange, wie es ihnen beiden erlaubt war.

Denn es dauerte nicht lange, bis der Vampir sich passend zu seinem Stöhnen auch zu bewegen begann. Sein rechter Arm zuckte und er ballte die Hand zur Faust, was sicher nichts Gutes bedeuten konnte.

„Wir sollten ihn hier raus schaffen“, meinte Emma aufgeräumt.

So schwer es war, löste sie sich doch von Cayden, stand auf und sah auf den dreckigen Vampir hinab, dessen Augen unter seinen Lidern hin und her zuckten.

 

Es war ihnen nicht sehr viel Zeit vergönnt, was die Wut auf den anderen Vampir nur noch schürte. Dennoch stand Cayden ebenfalls auf, als Emma es tat.

Sie hatten keine andere Wahl.

„Hol den Sicherheitsdienst. Solange er noch benommen genug ist, kann er nicht widersprechen.“ Und dass sie dem Kerl die ganze Unordnung in seinem Büro in die Schuhe schieben würden, war klar. Vertuschung war geradezu eine angeborene Gabe eines Vampirs.

Während Emma mit dem Telefon beschäftigt war, zog Cayden sich rasch ein neues, nicht am Rücken zerrissenes Hemd an und stopfte das andere in die hinterste Ecke seines Schrankes. Danach ging er zu dem am Boden liegenden Vampir und zog ihn hoch.

Inzwischen hatte dieser die Augen geöffnet, und solange er die Klappe nicht zu weit aufriss, würde man auch dessen Fänge nicht sehen. Ansonsten blieb immer noch die Ausrede einer hirnrissigen Zahnverschönerung.

Mit einem geübten Griff bog er dem anderen Vampir so den Arm nach hinten, dass dieser sich nicht wehren konnte, es sei denn, er riskierte freiwillig eine ausgerenkte Schulter.

Wie immer war der Sicherheitsdienst ganz schön auf Zack, denn kaum hatte Cayden den Vampir richtig zu fassen bekommen, kamen sie auch schon zur Tür hereingestürmt.

Cayden kannte die Männer schon lange und erklärte ihnen in kurzem geschäftsmäßigen Tonfall, dass das der benommene Kerl zu randalieren begonnen hatte, ehe seine Assistentin – er schenkte Emma ein zufriedenes Lächeln – den Kerl mit einem Selbstverteidigungsgriff auf die Matte geschickt hatte.

Sie sollten ihn vor die Tür setzen und dafür sorgen, dass er auch draußen blieb. In Zukunft würde der Typ Hausverbot bekommen.

Nicht, dass das Tasken davon abhalten würde, Cayden auf die Nerven zu gehen, aber immerhin eine kleine Befriedigung für seine Zufriedenheit.

„Dafür hättest du offiziell eine Gehaltserhöhung verdient“, meinte Cayden schließlich, als die Tür hinter der kleinen Gruppe wieder zugefallen war.

Zeit für die Mittagspause. Er lächelte ein kleines Bisschen.

 

Emma stand während der Erklärung für den Sicherheitsdienst wortlos neben dem Schreibtisch, nickte ab und zu und musste nicht einmal versuchen, gehetzt auszusehen. Der ganze Wirbel der Ereignisse stand ihr wohl deutlich ins Gesicht geschrieben, denn die Sicherheitsmänner schenkten ihr jeweils ein aufmunterndes Lächeln und versprachen den Kerl so vor die Tür zu setzen, dass dieser nie wieder das Bedürfnis verspürte, wieder hereinzukommen.

„Dafür hättest du offiziell eine Gehaltserhöhung verdient“, hörte sie Cayden sagen und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihm zu. Er hatte sich rasch umgezogen und nichts von dem Effekt der Falle war ihm jetzt mehr anzumerken. Etwas, das Emma zwar beruhigte, andererseits aber seine Worte von vorhin nur noch bestätigte.

Emma war gut, was Runen anging. Die Falle war stark und präzise gewesen. Taskens 'Angestellten' hatte sie zu Emmas Zufriedenheit umgehauen. Aber Cayden ... hatte die Bannsäule einfach zerrissen. Wie alt er wohl wirklich sein mochte?

„Anstatt der Gehaltserhöhung hätte ich lieber ein Abendessen.“

Sie ging auf ihn zu und nahm seine Hand.

„Pizza und zum Nachtisch Schokoeis. Und viel Zeit, um uns zu unterhalten.“

Emma wollte nicht unbedingt gleich in Caydens Vergangenheit bohren. Dafür war es noch viel zu früh und viel zu unbegreiflich. Aber es interessierte sie, warum Tasken einen Vampir zu Cayden schickte. Noch dazu einen von dieser üblen Sorte. Und ... wie sie das nun eigentlich alles hinbekommen wollten. Immerhin wollte Emma trotz aller Horrorvorstellungen, die sie sich so machen konnte, wissen, wie Cayden sich sein Blut besorgen wollte. Jetzt, da Vanessa nicht mehr zur Verfügung stand.

 

Caydens Lächeln vertiefte sich bei Emmas Wunsch und er ergriff auch ihre andere Hand.

„Es wird mir eine Freude sein, das für dich zu arrangieren.“

Dabei verschwendete er keine Sekunde an seine Arbeit. Wie unwichtig sie doch einem erschien, wenn man etwas so Wichtiges, vor sich stehen hatte. Zudem sollte sich vielleicht ohnehin die Gerüchteküche erst einmal etwas beruhigen, ehe er wirklich wieder Fortschritte mit seinen verbleibenden Kunden machen konnte und alles andere lief von selbst, wenn man gute Mitarbeiter hatte, und das hatte er.

48. Kapitel

Ein simples Abendessen, mit einer noch simpleren Pizza hatte Cayden natürlich nicht im Sinne gehabt. Schokoeis war vorrätig im Kühlschrank, also musste er sich nur um die Hauptspeise kümmern, und dafür hatte er ebenfalls alle Zutaten und Gerätschaften in seiner Küche.

Da Kochen zu zweit mehr Spaß machte und zugleich Emmas und seine Gedanken mit etwas Banalem wie Gemüseschneiden und Teigkneten ablenkte, spannte auch er sie fleißig ein und genoss es zusehends, auf diese Art mit Emma Zeit verbringen zu können.

Bisher waren solche Momente viel zu selten und kostbar gewesen, und er würde sie auch immer zu schätzen wissen. Aber er wollte definitiv noch mehr davon. Da Emma nun die Wahrheit wusste, erst recht.

„Ich finde, wir können uns gratulieren. Das Ergebnis kann sich sehen lassen“, stellte Cayden schließlich fest, als sie die dampfende Pizza mit verschiedensten Belagecken vor sich auf dem Couchtisch stehen hatten.

Cayden hatte inzwischen wieder Feuer im Kamin gemacht, und da er selbst Pizza grundsätzlich mit den Händen aß, war es ihm lieber, als an der Frühstückstheke zu essen.

 

Da Cayden sich um die heiße Pizza kümmerte, trug Emma die Getränke hinter ihm her und stellte sie auf dem Couchtisch ab, bevor sie sich auf das Sofa fallenließ und ihr gemeinsames Werk zufrieden betrachtete.

„Oh lecker. Mir läuft schon seit einer halben Stunde das Wasser im Mund zusammen.“

Mit einem gierigen Blick schnappte sie sich einen Teller, besann sich dann aber doch ihrer Kinderstube und fragte Cayden, welches Stück er gerne hätte. Erst als sie beide das Gewünschte auf dem Teller hatten, zog Emma ein Bein auf die Couch und biss herzhaft in das Stück Pizza.

Allerdings bloß, um sofort den Mund wieder weit aufzusperren und mit leichten Tränen in den Augen zu hecheln.

„Heiß!“

Das passierte eben, wenn man so ungeduldig war. Aber beim nächsten Bissen wurde eben gepustet und dann konnte richtig mit Genuss gegessen werden. Dabei sah Emma immer wieder mit einem breiten Lächeln zu Cayden und konnte gar nicht glauben, wie gut es sich anfühlte, hier neben ihm zu sitzen. Ohne irgendwelche Geheimnisse zwischen ihnen und mit den Tatsachen, die nun von beiden Seiten offen auf dem Tisch lagen.

Erst nach einer Weile, als Emma ihren gröbsten Hunger gestillt hatte und sich eine Olive von einem unberührten Stück Pizza stibitzte, sah sie sich Caydens Teller an.

„Darf ich dich was fragen?“

Es war sofort klar, dass es um das Thema gehen würde, das er ihr so vehement vorenthalten hatte. Wäre es etwas anderes, hätte Emma gar nicht um die Erlaubnis gebeten, ihn etwas fragen zu dürfen.

 

Mit aller Mühe musste sich Cayden ein Grinsen verkneifen, als er Emma dabei beobachtete, wie sie voller Genuss in ihr erstes Pizzastück biss und daraufhin sofort seinen Erwartungen zufolge, reagierte.

Natürlich war das Stück noch zu heiß gewesen.

Er selbst ging es langsam an, obwohl er Hunger hatte. Da er aber nie eine so große Menge verdrücken könnte, wie man es seinem Geschlecht zutraute, aß er langsam und genussvoll, damit keiner von ihnen beiden dem anderen zusehen musste, während man selbst schon längst satt war. Zudem war die Pizza wirklich köstlich, was auch auf alle Fälle an der angenehmen Gesellschaft lag. Mit Emma aß er tatsächlich am liebsten.

„Darf ich dich was fragen?“, meinte sie schließlich in diesem Tonfall, bei dem sich alle seine Härchen auf den Armen aufstellen wollten. Trotzdem ließ er sich nichts anmerken, sondern legte stattdessen langsam den Pizzarand auf seinen Teller zurück. Er liebte den Pizzarand, aber das hier war wichtiger.

„Natürlich. Vorausgesetzt du willst die Antwort darauf wirklich wissen.“

Cayden hatte sie in diese Richtung schon einmal gewarnt und war auch fest entschlossen ihr dennoch alles zu sagen, was sie von ihm wissen wollte. Es war ein Risiko. Für sie beide. Aber er ging es gerne ein.

„Also, was möchtest du wissen?“ Er lächelte ihr aufmunternd zu.

 

Das Lächeln, das sie ihm schenkte, geriet etwas schief. Allerdings nur, weil Emma sich wirklich ziemlich sicher war, dass sie die Antwort wissen wollte. Und weil ihr klar war, dass sie nicht gleich mit extrem schwierigen Fragen beginnen wollte.

„Isst du gern?“

Sie deutete auf seinen leeren Teller und nahm sich dann doch noch ein kleines Stück Pizza. Es roch einfach zu köstlich, um sich von einem vollen Magen aufhalten zu lassen.

„Bringt es dir denn etwas, wenn du normale Nahrung zu dir nimmst? Oder ist das nur ein gesellschaftliches Entgegenkommen zur Tarnung oder sowas?“

 

Bei Emmas Frage hob sich eine seiner Augenbrauen vor Verblüffung, da es eine recht banale Frage war. Dann musste er grinsen, während er einmal nickte.

„Ja. Ja, ich esse gerne. Sogar sehr gerne. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was ich täte, wenn ich nicht diese ganzen Geschmäcker genießen könnte.“

Er meinte es ernst. Schließlich hatte er auch schon Zeiten erlebt, wo er kaum etwas zu Essen gehabt hatte, und wenn, dann nichts, was auch nur annähernd an dieses Essen vor ihnen herangekommen wäre. Gewürze waren wirklich etwas Großartiges und dass man sie nun so einfach in jedem Supermarkt kaufen konnte.

„Aber zugegeben, so gerne ich esse, bekomme ich doch nicht so viel hinunter wie ein Mensch. Höchstens die Portion eines Kindes. Und sollte es wirklich einmal hart auf hart kommen, könnte ich Tage, wenn nicht sogar Wochen ganz darauf verzichten. Obwohl es natürlich kein Zustand ist, den man anstreben möchte. Glaub mir. Ich brauche Essen ebenso wie du. Nur nicht in solchen Mengen und mit solcher Dringlichkeit.“

 

„Okay ...“

Das erklärte, wie er so wenig essen konnte und trotzdem nie so ausgesehen hatte, als würde ihn das irgendwie beeinträchtigen. Emma dachte an die paar Gelegenheiten, bei denen sie zusammen gegessen hatten. Caydens Portion war immer kleiner gewesen als ihre eigene. Auch, wenn das nicht so stark aufgefallen war, weil er sehr langsam aß.

„Du bist also der Traum einer jeden Frau, die ein paar Pfunde verlieren will“, meinte sie mit einem Grinsen.

„Wenn man immer versucht, nicht mehr zu essen als du, wird man unweigerlich schlank.“ Oder fiel vom Fleisch, wenn man es genau nahm.

„Ist das dann mit dem Schlafen genauso? Oder war es wirklich jedes Mal die Arbeit, die dich so spät ins Bett und so früh wieder heraus gescheucht hat?“

 

„Solange du nicht zu diesen Frauen gehörst, okay. Ich mag zufälligerweise deine sinnlichen Kurven. Also halte dich bloß nicht an meinen Essensplan. Davon wird ein Mensch nur krank.“

Cayden schenkte ihr ein warmes, ehrliches Lächeln, ehe er wieder den Pizzarand zur Hand nahm und ein bisschen daran knabberte.

Bei ihrer nächsten Frage musste er kurz überlegen, weil er schon lange nicht mehr rein nach seinem Schlafbedürfnis geschlafen hatte.

„Ich denke, ich brauche ungefähr genauso viel Schlaf wie Menschen, aber es macht mir nicht so viel aus, wenn es nicht so ist. Höchstens, dass ich ein bisschen reizbar werde.“

 

„Vielen Dank. Da schmeckt die Pizza doch gleich noch besser.“

Ein kleiner Kuss auf seine Lippen und Emma ließ ihn über ihre zweite Frage nachdenken, die er zwar beantwortete, aber Emma dafür etwas ungläubig zurückließ.

„Reizbar? Du?“ Sie hob ehrlich skeptisch eine Augenbraue und legte sogar den Kopf etwas schief, um ihn eingehend zu betrachten.

„Seit ich dich kenne und von Anfang an hätte ich dich immer für die Ruhe selbst erklärt. Immer ausgeglichen, höflich und bedacht. Naja, einmal von Spendengalas abgesehen, wo du den Leuten am liebsten ins Gesicht gesagt hättest, was sie für oberflächliche Geldsäcke sind.“ Bei dem Gedanken daran musste sie leise lachen und schüttelte den Kopf.

„Aber das heißt ja nur, dass du diese Emotionen sehr gut verbergen kannst. Nicht, dass sie nicht vorhanden sind.“

Als sie sich noch eine Olive von ihrem Pizzastück pflückte und sie genüsslich kaute, fiel ihr die nächste Frage ein. Da sie sich damit allerdings in ein Gebiet vorwagen würde, das wesentlich komplizierter sein würde als die Themen bisher, zögerte Emma und überlegte sich genau, was sie sagen wollte.

„Du hast gesagt, dass du gut ohne Essen auskommst. Und mit wenig Schlaf. Aber ... ohne Blut geht es nicht, richtig?“

Sie sah ihn offen an und fügte sofort hinzu, bevor er antworten konnte oder das Gefühl hatte, sich verteidigen zu müssen. „Das war keine wirkliche Frage. Wenn ihr das könntet, wäre einiges in der Geschichte anders verlaufen und vieles wäre einfacher. Das sollte auch bestimmt kein Vorwurf sein. Aber ... Ich meine ... Wie ... machen wir das?“

 

„Zugegeben, ich brauchte sehr lange, um das mit meiner Maske zu üben. Aber natürlich habe ich Gefühle. Ziemlich viele sogar, wenn man in einer Gesellschaft wie deiner ist.“

Wieder ein Lächeln, das aber mehr von ihrem Kuss herrührte. Es wärmte ihm das Herz.

„Leider musste ich im Laufe der Zeit lernen, manche Gefühle gar nicht erst zu zeigen, weil sie einem nicht helfen, sondern viel mehr verraten. Schwäche zum Beispiel. Das ist wie bei einem Pokerspiel. Es kann davon abhängen, ob man gewinnt oder verliert. In Zeiten wie diesen auch sehr praktisch bei Geschäftsabschlüssen.“

Cayden studierte Emmas Gesichtszüge, während sie nachdenklich wurde. Sofort spannte sich etwas in seinem Inneren an, doch er ließ sich nichts anmerken, sondern aß seinen Pizzarand fertig und stellte dann den Teller weg, um sein Trinkglas zwischen die Finger zu nehmen. Allein, um sich irgendwo festhalten zu können.

Natürlich war das nächste Thema sehr viel heikler. Er hatte es geahnt, und obwohl es ihm etwas … unangenehm war, mit Emma darüber zu sprechen, da sie so vorbelastet war, was die Geschichte der Vampire anging, war das doch auch die Chance, sie richtig aufzuklären. Weshalb Cayden seine Worte auch weise wählte.

„Nein, wir können nicht darauf verzichten. Wenn wir es tun, macht es uns krank. Du weißt, was ich meine. Du hast es schon einmal erlebt. Ich hatte damals keine Grippe oder so etwas in der Art, sondern wahnsinnigen Durst. Und wenn wir nicht trinken, beginnt unser Körper sich langsam selbst aufzuzehren. Kein angenehmer Vorgang. Weshalb sich ein Vampir meistens davor absichert, nicht zu lange auf dem trockenen zu sitzen. Außerdem … werden wir dann gefährlich.“ Das musste er sagen. Alles andere wäre eine Lüge. Weshalb er Emma auch offen anblickte. Er hatte nichts mehr zu verbergen.

„Aber selbst wenn wir total ausgehungert sind, ist die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass wir einen Menschen aussaugen. Schließlich kann unser Magen schon nicht das normale Volumen einer erwachsenen Menschenportion an Nahrung aufnehmen. Stell dir vor, wie viel Liter wir auf einmal trinken müssten, um einen Menschen wirklich zu töten, wenn er gesund und kräftig ist.“ Was anderes wäre es, wenn man es auf Tage hinaus zog, aber das wäre dann reine Quälerei und kein Überlebenstrieb mehr.

„Und was uns beide angeht … mach dir keine Sorgen. Ich würde dich nie zu etwas zwingen, oder dich einfach anfallen. Lieber beiße ich in irgendeinen ungewaschenen Hals in der Gosse und vergelte es mit Geld. Es wäre nicht das erste Mal.“

 

Emmas Augenbrauen zogen sich zusammen und eine kleine Falte entstand über ihrer Nasenwurzel, als sie Cayden zuhörte. Sie verstand, was er sagte und konnte ihm gut folgen. Was allerdings zur Folge hatte, dass sie sich über den zeitlichen Ablauf der letzten Woche ihre Gedanken machte.

Ja, sie hatte gesehen, dass es ihm schlecht ging. Er war krank gewesen, was – wie er sagte – auf seinen Blutdurst zurückzuführen war. Dann war der Donnerstag gekommen. Er hatte sich mit Vanessa getroffen und war danach zu Emma gekommen. Zu diesem Zeitpunkt ... war er wieder vollkommen in Ordnung gewesen ...

Die kleine Falte wurde tiefer, und Emmas Mund kräuselte sich, als sie Cayden ansah. Ihre Stimme war ernst und sie versuchte, so wenig Emotion wie möglich hineinzulegen.

„An diesem Donnerstag, als du zu Vanessa gefahren bist. Wolltest du da zu ihr, um ... ihr Blut zu bekommen? Oder um dich von ihr zu trennen?“

Eigentlich machte es im Endeffekt keinen Unterschied, aber ... Was, wenn sie ihm das Blut verweigert hatte? War er ... so verzweifelt gewesen? So wütend?

Man hatte Bissspuren an ihr gefunden ...

 

Caydens Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Auch sein Herz schlug nicht weniger schnell als jetzt, oder fing zu rasen an. Nein, nichts wies daraufhin, dass er sich irgendetwas zu Schulden hatte kommen lassen, was Emma anging, weshalb er auch keine Probleme hatte, ihr ruhig und offen zu antworten.

„Ich bin zu ihr gefahren, um die Abmachung in unserem Vertrag einzufordern. Wie wir es schon oft getan haben. Aber zu dem Zeitpunkt war mir schon oft durch den Kopf gegangen, dass ich nicht mehr bei ihr bleiben will. Nicht einmal wegen ihres Blutes.“

Er nippte kurz überlegend an seinem Glas, wollte er doch nichts Falsches sagen.

„Ich will keine andere Frau neben dir“, begann er schließlich. „Selbst wenn Vanessa schon sehr lange nicht mehr das für mich gewesen war, was man … eine Ehefrau nennt und ich nicht vorhatte, daran etwas zu ändern, war sie trotzdem immer irgendwie im Weg. Allein wegen dieses Rings, der dir keine Ruhe ließ.“

Er sah sie wissend an. Ihm wäre es umgekehrt nicht anders ergangen.

„Darum war schon längst beschlossen, dass ich sie verlassen will, doch vorerst wollte ich keine Gefahr mehr für irgendjemanden darstellen. Also hatte ich vor, erst von ihr zu trinken und sie dann zu verlassen. Nur … hat sie sich nicht ganz an unsere Abmachungen gehalten. Zum einen hat sie mich mehr als zwei Wochen lang warten lassen und zum anderen, hatte sie vor unserem Treffen etwas getrunken. Nicht viel, aber es reicht vollkommen.

Alkohol pur getrunken macht uns kaum etwas aus. Nicht einmal in großen Mengen. Aber wenn es sich im menschlichen Blut befindet und wir davon trinken … wird das eine lustige Party.“

Sein Tonfall war vollkommen nüchtern. Nichts daran war scherzhaft gemeint.

„Also ja, ich habe sie gebissen, aber kaum, dass ich den Alkohol in ihrem Blut schmeckte, habe ich wieder von ihr abgelassen. Wie schwierig das für mich war, kannst du dir nicht vorstellen, aber es gibt Dinge und Regeln, an die halte ich mich, wenn es mir möglich ist.

Danach war der Streit. Dann bin ich gegangen, um wo anders meinen Durst zu stillen.“

 

Emma ließ sich mit einem unterdrückten Seufzen in die Kissen des Sofas fallen und betrachtete die Brösel auf dem Teller, den sie immer noch in der Hand hielt.

„Zum Glück hat sie das nicht der Polizei gesagt.“

Wobei Emma das wiederum wunderte. Vanessa hätte doch etwas gegen Cayden in der Hand. Sie könnte ihm drohen, ihn an die Öffentlichkeit zu verraten. Damit sie noch mehr Geld von ihm bekam. Oder regelmäßig sein Blut.

„Ich verstehe sie einfach nicht ...“

Eigentlich hatte Emma auch gar nicht den Anspruch, Caydens Exfrau irgendwie zu verstehen oder ihre Beweggründe nachvollziehen, aber es stieß ihr sauer auf, dass Vanessa überhaupt den Spielraum besaß, Cayden noch irgendwie in der Hand zu haben. Trotz allem hielt Emma diese Frau nicht für dumm. Selbst wenn sie es gern getan hätte. Das hätte alles sehr viel einfacher gemacht. So aber drehten sich Emmas Gedanken um die andere Frau, das, was an diesem Donnerstag passiert war ... und schließlich kam sie wieder auf die Frage zurück, die sie Cayden eigentlich ursprünglich gestellt hatte.

Diesmal konnte sie ihn nicht direkt ansehen, sondern richtete ihren Blick auf seine schlanken Finger. „Dann ... ist es schon wieder über eine halbe Woche her.“

Eigentlich schon sehr viel näher an einer Woche, als an einer halben.

Jetzt wagte Emma doch, in seine Augen zu sehen. Es war ja nicht so ... dass sie Angst vor ihm hätte. Aber wenn er ... Das würde bestimmt wehtun.

 

„Sie wäre verrückt, wenn sie es der Polizei gesagt hätte“, merkte Cayden nebenbei an, während er verschwieg, dass Vanessa sehr wohl wusste, zu was er fähig war, sollte sie ihn auf diese Art verraten. Und selbst wenn nicht er sie früher oder später zum Schweigen brachte, täten es andere seiner Art. Sie lebten schließlich nicht umsonst so lange unerkannt unter den Menschen. Für eine Offenbarung war es noch viel zu früh, und vielleicht würde es sogar nie dazu kommen. Keiner von ihnen wollte das riskieren.

„Aber wenn es dich beruhigt: Ich verstehe sie ebenfalls nicht.“ Er lächelte freudlos. Mit dieser Frau hatte er sich wirklich ziemlichen Ärger eingehandelt.

Während Emma ihren Gedanken nachhing, ging er den seinen nach. Das war das Angenehme an ihrer Art und in ihrer Nähe zu sein. Schweigen zwischen ihnen war nie unangenehm, sofern keine dicke Luft herrschte.

„Dann … ist es schon wieder über eine halbe Woche her.“

Emmas Feststellung holte ihn wieder aus seinen eigenen Gedanken, und er sah vom Feuer hoch direkt in ihr Gesicht. Da sie nicht weitersprach, blieb es an ihm, das Thema fortzuführen. Allerdings wusste er nicht genau, wie.

„Ja, das ist es“, bestätigte er schließlich und musterte Emmas Augen gründlich.

„Em, was versuchst du mir zu sagen? Ist das eine reine Feststellung, oder … denkst du darüber nach, es einmal … zu probieren?“

Dass er die Frage kaum stellen wollte, hörte man wohl nur zu deutlich an seinem Zögern. Aber zugleich breitete sich auch ein unglaubliches Kribbeln in seinem Bauch aus, und zu seiner Schande kamen seine Fänge zum Vorschein allein wegen dieses Gedankens.

Er schloss den Mund, ehe sie etwas davon sehen konnte.

 

Emma lachte. Allerdings war es mehr ein Zeichen ihrer Anspannung, als das Gegenteil.

„Herrje, das ist ja wie vor dem ersten Mal Sex.“

Ja, das war es wirklich. Wenn sie darüber nachdachte, hatte es sich wirklich genauso angefühlt. Sie hatte Angst, ihr Herz flatterte, weil sie genau wusste, dass es wehtun würde. Dass der Mann, den sie liebte, sie verletzen würde. Wenn auch nicht schwerwiegend. Und trotzdem ... war Emma klar, dass sie es versuchen wollte.

Es war viel zu spannend, viel zu ... außergewöhnlich, um es nicht auszuprobieren. Und wenn sie sich zurückerinnerte, wie schlecht es Cayden gegangen war, als er kein Blut bekommen hatte ... Wie ausgezehrt er gewirkt hatte, wie fiebrig ...

Emma nickte. „Ja, ich ... denke schon.“

Sie sah ihn offen an, wusste aber nicht, was sie als nächstes tun sollte. Ihm ... ihr Handgelenk hinhalten?

 

Caydens Fänge begannen zu pochen, als Emma ihm mehr oder weniger ihre Zustimmung gab, während er es selbst nicht mal wirklich glauben konnte.

Ihr Vergleich mit dem ersten Mal war gar nicht übel. Eigentlich wurde er langsam tatsächlich so nervös, als wäre es sein erstes Mal. Vor allem, weil es da noch etwas gab, das er zuvor tun musste.

Cayden war klar, dass er es nicht tun sollte, aber sein Pflichtgefühl … zwang ihn förmlich dazu und auch sein schlechtes Gewissen.

„Okay, Em. Aber … vorher solltest du noch etwas wissen … Nur gibt es keine schonende Methode, um es dir beizubringen.“ Er versuchte ihrem Blick standzuhalten, was enorm viel Überwindung kostete. Dann ließ er die Bombe platzen.

„Ich … habe schon einmal von dir getrunken. In dieser verrückten Nacht in Tokio …“

 

Zuerst sah sie ihn weiter nur so an, als würde sie auf etwas warten. Die Augenbrauen ein wenig fragend angehoben, die Finger um den Teller in ihrem Schoß gelegt, blinzelte Emma zweimal etwas verwirrt ... bevor ihr die Kinnlade herunter fiel. Zwar nur im übertragenen Sinn, denn ihre Lippen blieben geschlossen, aber ihre Augen rundeten sich, und sie starrte Cayden an, als hätte er ...

„Wie bitte?“

Sie zwinkerte noch ein paar Mal, konnte aber nicht verhindern, dass einzelne Bilder vor ihrem inneren Auge aufblitzten. Szenenausschnitte aus jener Nacht. Wie sie in sein Zimmer getorkelt waren ... Wie Cayden sie auf den Tisch gelegt hatte... Wie ...

Emma sog fast erschrocken die Luft ein und sah eine neue Bilderfolge vor sich.

Sich selbst am nächsten Morgen vor dem Spiegel. Die Male an ihrem Hals und an der Innenseite ihres Oberschenkels. Cayden am Frühstückstisch ...

„...“ Sie hatte den Mund geöffnet, um etwas zu sagen, das an Bedeutung etwa 'Sag mal, hast du noch alle Tassen im Schrank?' entsprach, brachte aber kein Wort heraus.

Nach einer Weile klappte Emma ihren Mund wieder zu und ordnete ihre Hirn-zu-Mund-Verbindung.

„Scheiße.“ Mit Schwung stellte sie den Teller auf den Couchtisch und sank dann wieder in die Kissen, bevor sie Cayden ehrlich und mit einem seltsamen Ausdruck in Gesicht ansah.

„Ehrlich. Wenn du mich an dem Abend gefragt hättest, hätte ich vermutlich zu mehr als nur ein bisschen Blut trinken 'ja' gesagt.“

 

Cayden blieb vollkommen reglos sitzen, während er die Botschaft in Emma richtig ankommen ließ.

Er wollte gar nicht darüber nachdenken, wie sie reagieren könnte. Ob das jetzt ein gewaltiger Fehler gewesen war, oder zumindest keine kluge Entscheidung. Er harrte aus. Schließlich wollte er sich nicht in Emmas Gedanken einmischen.

Als sie dann den Teller etwas ruppig abstellte und sich wieder in die Kissen sinken ließ, hielt er voller Spannung den Atem an.

Ja, das, was er getan hatte, war scheiße. Da stimmte er ihr voll und ganz zu.

„Ehrlich. Wenn du mich an dem Abend gefragt hättest, hätte ich vermutlich zu mehr als nur ein bisschen Blut trinken 'ja' gesagt.“

Einen Moment sah er Emma verblüfft an. Dann musste er unwillkürlich leise lachen. Wie immer traf sie den Nagel genau auf den Kopf.

„Und wenn du es von mir damals verlangt hättest, hätte ich mir die Beine enthaart und auf dem Tisch in einem Baströckchen Hula getanzt. Em, es tut mir wirklich leid, dass ich dich damals ungefragt gebissen habe. Aber ich hatte mich selbst keine Sekunde mehr unter Kontrolle. Ich denke … wir beide nicht.“

 

„Mhm ... Interessante Vorstellung.“ Vor allem, wenn er sich vorher nichts weiter unter das Baströckchen angezogen hätte.

Emma grinste und kicherte albern, bevor sie sich wieder fing und sich ein Stück weiter zu Cayden hinüber setzte. Ihre Knie berührten sich, und Emma legte ihre Hand so auf Caydens Oberschenkel, dass er seine Finger mit ihren verschlingen konnte.

„Lass uns das mit dem Biss einfach vergessen. Wir waren beide nicht wirklich wir selbst.“

Die japanische Luft musste die Cocktails wirklich zu wahren Höllendrinks gemacht haben. Denn Emma konnte sich noch nicht einmal daran erinnern, dass Caydens Biss außerordentlich wehgetan hatte.

„Für einen Kuss verzeihe ich dir vollkommen.“

 

Cayden war erleichtert, dass es Emma am Ende doch nicht so eng sah. Bei Gott, er war wirklich verdammt betrunken gewesen, und nach dem ersten Schluck an der Innenseite ihres Oberschenkels, war es dann endgültig um ihn geschehen gewesen.

Sehr deutlich erinnerte er sich noch an diese Nacht, doch dieser Abend hier war trotz allem besser. Vertrauter und wärmer in einem Sinne, der nichts rein Körperliches meinte.

Als Emma näher kam und ihre Hand auf seinen Oberschenkel legte, nahm er sie sofort, um seine Finger mit ihr zu verschlingen, und da sie ihm schon einen so leichten Ausweg aus seiner Schuld anbot, würde er natürlich nicht nein sagen.

Cayden beugte sich zu Emma hinüber, strich langsam mit seinen Lippen über ihren Mund, ehe er diesen verlangend in Beschlag nahm. Durch das intensive Gefühl und das immer noch vorhandene, sogar kräftiger gewordene Kribbeln in seinem Bauch, pochten seine Fänge umso intensiver, und das spürte man auch in seinem Kuss. Er war nicht unschuldig, sondern fordernd. Wenn auch mit der Option ihn ablehnen zu können.

Schließlich löste er sich langsam von ihr und sah sie mit glühenden Augen an.

„Verziehen?“, fragte er etwas heiser.

 

Diesmal ... glaube Emma sie zu spüren. Caydens Kuss war so fest und intensiv, dass Emma ihre freie Hand auf seine Seite legen musste, um nicht rückwärts auf die Couch zu fallen. Sie hielt sich an ihm fest und hatte wirklich ganz kurz das Gefühl, seine Fangzähne hinter Caydens Lippen zu spüren. Nein, sie erahnte sie nur. Weil sie annahm, dass sie vorhanden waren. Gesehen hatte sie die Reißzähne nicht wirklich. Aber ... naja, jetzt machte sie sich eben doch mehr Gedanken darüber als zu dem Zeitpunkt, als sie noch gar nichts davon wusste.

Als Emma allerdings den Blick in Caydens Augen sah, dieses Glimmen, das ihr den Atem raubte und ihre Wangen heiß werden ließ, war alles Nachdenken wie weggewischt.

Sie lächelte und nickte nur sanft zur Zustimmung, während sich ihre Hand aber immer noch an seiner Seite festhielt und Emma die Aufregung spürte, die ihr Herz hatte schon vorhin flattern lassen. Würde er oder ... würde er nicht?

 

Sie hatte ihm also verziehen. Gott sei Dank. Vor Erleichterung hätte er fast geseufzt, doch stattdessen rückte er näher an Emma heran und küsste sie erneut.

Er merkte sofort den Unterschied.

Da er nicht mehr aufpassen musste, dass sie hinter sein Geheimnis kam, weil sie es nun wusste, konnte er sich nun auch beim Küssen tief fallenlassen.

Seine Arme umschlangen Emma, während er den Kuss intensiver gestaltete. Sich ihr auf eine Weise öffnete, wie er es bisher noch nie getan hatte. Natürlich immer noch mit Vorsicht, aber er würde es ihr schon mitteilen, wenn sie zu nahe daran war, sich wehzutun.

 

Diesmal warf er sie wirklich fast um, als Cayden sich mit Leidenschaft in den nächsten Kuss stürzte. Was wohl hieß, dass ihr ’Erstes Mal' für eine Weile vertagt wurde und erst einmal Knutschen auf dem Programm stand. Etwas, das Emma sofort mehr Sicherheit gab. Immerhin war das etwas, mit dem sie sich auskannte. Und das sie in vollen Zügen genoss, wenn sie es mit Cayden tun konnte.

Vorsichtig und sich der vermeintlichen Gefahr bewusst, sog Emma an seiner Oberlippe, küsste sich über seinen warmen, weichen Mund und rieb ihre Nasenspitze an seiner. Ihre Wimpern streiften über seine Haut, als sie sich so nahe kamen und ein kleiner heißer Schauer lief Emmas Rücken hinunter.

Es war so ... unwirklich. Aber auch gleichzeitig so wunderbar, dass Emma das akzeptieren konnte. Sie küsste einen Vampir.

Grinsend kicherte sie kurz in den Kuss, bevor sie ihre Arme um Cayden schlang und sich so an ihn kuschelte, dass kein Blatt Papier mehr zwischen ihre Körper gepasst hätte. Sie hatte ... ihn so vermisst!

 

Oh Gott. Er wollte sie nie wieder loslasse, stattdessen stundenlang weiter so in den Armen halten. Sie küssen, von ihr geküsst werden und die Zeit vollkommen vergessen.

Seine Hände streichelten so viel, wie er von ihrem Körper ertasten konnte, und mit einem Genuss, der nur langem Entzug folgen konnte.

„Ich liebe dich“, seufzte er an ihre Lippen, ehe er sie erneut tief in Beschlag nahm.

Er knabberte an ihr, leckte sanft über ihre Unterlippe, sog und küsste sie. Rang zwischendurch nach Atem und rieb dabei seine Wange an ihrer.

Nach und nach fanden Caydens Finger einen Weg unter Emmas Oberteil, um auch etwas von ihrer warmen Haut erhaschen zu können. Er liebte es, sie auf diese Weise zu necken, sie zu liebkosen und ihre weichen Rundungen zu erforschen.

Es war schon so lange her, dass er sie auf diese Weise hatte fühlen können und es erschien ihm noch länger, weil er gar nicht darauf gehofft hatte, dass sie ihn so bald wieder so nahe an sich heranließ. Eigentlich hätte er gedacht, er würde sehr viel länger alleine bleiben müssen.

 

Emmas Herz schlug kräftig und warm in ihrer Brust. Glücksgefühle tanzten in ihrem Körper und sie hatte das Gefühl, dass es schon ewig her war, seit sie sich so wohl gefühlt hatte. Es tat so gut, sich in Caydens Arme sicher zu fühlen, geborgen und ... auch so, dass sie auf unanständige Gedanken kam, als sie seine Hände unter ihrem Oberteil spürte.

Schließlich, nachdem sie sowieso schon seit der ersten Berührung ihrer Lippen das Bedürfnis gehabt hatte, ließ Emma sich wirklich nach hinten auf das Sofa fallen und zog Cayden sanft mit sich, sodass er halb auf ihr zu liegen kam.

„Ich glaube, dein Sofa war ganz einsam ohne uns ...“, scherzte sie leise, bevor sie ihre Hände in Caydens Nacken legte und ihn wieder zu einem intensiven Kuss an sich heranzog. Ihre Finger vergruben sich in seinem Haar, und Emma war sich sicher, dass das strahlende Lächeln nicht wieder aus ihrem Gesicht verschwinden würde, solange Cayden bei ihr war. Nie wieder ...

 

„Mein Sofa … Meine Küche … Mein Bett …“

Er lachte leise in den Kuss, ehe er mit seiner Nasenspitze sanft die von Emma anstupste.

„Oh, und wie einsam mein Bett war“, schnurrte er weiter.

Cayden hatte sich sofort bereitwillig mit auf das Sofa ziehenlassen und war nun richtig selig, dass er halb zwischen ihren Beinen lag, halb auf seinen Ellenbogen abgestützt, während seine Finger sich ungeniert unter ihrem Oberteil ausließen.

Er hatte es so wahnsinnig vermisst, sie zu streicheln. Sie zu schmecken und zu riechen. Aber für seinen Geschmack hatte sie momentan viel zu viel an. Schwer, da richtig auf Erkundungstour zu gehen. Trotzdem gab er sich redliche Mühe, dieses Defizit auszugleichen, in dem er sie immer wieder so lange küsste, bis ihm selbst vor Sauerstoffentzug ganz schwindlig wurde.

Sein Hunger nach dem Geschmack von Emmas Haut trieb ihn schließlich weiter.

Mit Küssen arbeitete er sich ihr Kinn hinab, bedeckte jeden Quadratzentimeter ihrer Haut mit seinen Lippen, leckte über die Sehnen an ihrem Hals und sog sachte und neckisch an ihr, während er von unten herauf anfing, langsam einen Knopf nach dem anderen, von ihrer Bluse zu öffnen, um mehr Platz für weitere Streicheleinheiten zu schaffen.

 

Mit tief ausholenden Atemzügen schnappte Emma nach Luft, als Cayden von ihren Lippen abließ und stattdessen anfing, sich einen Weg in Richtung ihres Ausschnitts zu küssen.

Es war bestimmt nicht so, dass sie etwas dagegen gehabt hätte. Ganz im Gegenteil fühlte sie, wie sich bereits ihre Brustwarzen allein bei der Vorstellung, sie könnten von ihm berührt werden, heftig gegen die Spitze von Emmas BH drückten. Cayden durfte sie so lange und so ausgiebig küssen, wie er wollte. Auch gern an anderen Körperstellen als ihrem Mund. Aber Emma hatte in diesem Moment trotzdem einen oder zwei Gründe, seine Hand unter ihrer Bluse zu stoppen und auch auf seine Wange eine ihrer Hände zu legen und ihn damit zu bitten, zu ihr aufzusehen.

„Sollen wir vielleicht kurz unter die Dusche springen und uns dann ... um dein armes, einsames Bett kümmern?“

In ihrem Lächeln lag ein zweideutiges Augenzwinkern und Emma küsste Cayden nun von sich aus leidenschaftlich, bevor sie ihn noch einmal fragend ansah.

 

Cayden brauchte einen Moment, bis er Emmas Worte richtig begriff. Dann fing er zu lächeln an, und zwar auf sehr verschmitzte Art und Weise. „Aber wirklich nur kurz. Sonst weiß ich nicht, ob wir es bis in das arme, einsame Bett schaffen.“

Er küsste Emmas Lippen noch einmal bewusst intensiv, ehe er sich langsam von ihr löste.

„Und ich darf dir den Rücken waschen“, war noch eine Forderung an sie. Nun, eigentlich wohl eher eine Bitte.

49. Kapitel

Geschmeidig wie eine Katze kam er schließlich auf die Füße, streckte Emma seine Hand hin und half ihr ebenfalls auf.

Seine Schritte waren ruhig, keineswegs hektisch, als er sie den Flur entlang ins Schlafzimmer und dann direkt ins Bad führte. Dabei hätte er die Strecke auch rennend hinter sich bringen können. Denn die Vorstellung, mit Emma unter der Dusche zu stehen, war einmal etwas sehr … Neues für sie beide.

Im Bad selbst küsste er sie erneut, nahm aber wieder seine Beschäftigung auf, ihr die Bluse zu öffnen. Dieses Mal nicht so verstohlen wie vorhin, sondern mehr sachlich und doch voll liebevoller Bewegungen. Er musste nur ein gesundes Mittelmaß finden, um sie nicht noch mehr dabei zu berühren, als er es auch so schon musste.

Emma brachte ihn doch tatsächlich zum Schaudern und spätestens, wenn sie beide nackt waren, würde ihr die Wirkung davon nicht entgehen.

 

„Ja, in Ordnung“, lachte Emma auf diese Auflage hin. Da hätte er wirklich Schlimmeres einfordern können. Die Vorstellung, sich mehr als nur den Rücken von Cayden einseifen zu lassen, gefiel Emma nämlich außerordentlich gut.

Im Bad angekommen schafften sie beide es nicht einmal, zuerst die Dusche anzustellen. Wobei es wahrscheinlich so war, dass man bei Cayden nicht erst eine Weile nackt und schlotternd vor der Kabine warten musste, bis das Wasser heiß aus der Leitung kam.

Da Cayden schon sehr aufmerksam damit beschäftigt war, ihr die Bluse auszuziehen, brauchte Emma sich zumindest wegen des Schlotterns wohl keine Sorgen zu machen. Er würde sie schon warmhalten, wenn es sein musste. Vermutlich sogar so warm, dass sie die Dusche unter Umständen gar nicht mehr brauchten.

Auch Emmas Finger begannen sich schließlich nützlich zu machen, als ihr aufging, dass sie bald halb nackt hier stehen würde, während Cayden noch vollkommen in seinen Klamotten steckte. Das konnte so nicht sein.

Sie zog ihm das Hemd aus der Hose, öffnete seinen Gürtel und ging beim Rest etwas praktischer, als wirklich geduldig vor. So öffnete sie ihm zum Beispiel nur die beiden oberen Hemdknöpfe und zog ihm das Kleidungsstück dann einfach über den Kopf. Ohne viel Aufhebens und unkompliziert. Genauso zeremonienlos öffnete sie seine Hose und schob sie von Caydens Hüften.

 

Er versuchte nicht daran zu denken, was alles zwischen ihnen vorging, während sie sich gegenseitig auszogen. Cayden dachte nicht daran, wie er immer mehr von Emmas nackter Haut freilegte, als er endlich ihre Bluse offen und sie ihr von den Armen gestreift hatte, so dicht und nahe, dass er die Wärme ihrer Haut förmlich auf seiner zu spüren glaubte, obwohl sie sich nicht berührten.

Er dachte nicht daran, wie nahe ihre Finger einem pochenden Körperteil von ihm waren, als sie ihm die Hose öffnete und vor allem dachte er ganz und gar nicht darüber nach, wie sie ihm diese von den Hüften zog, während er das letzte Häkchen ihres BHs öffnete und er sich dabei aus seinen letzten Kleiderstücken wand.

Er seufzte beinahe, als kühle Luft seine Erregung traf, versuchte jedoch das Gefühl zu ignorieren, sondern warf Emmas BH zu dem Kleiderhaufen auf dem Boden, ehe er ihre Hose aufknöpfte und sie hinunterzog, während er dabei in die Hocke ging.

Betont nüchtern zog er sie ihr erst von einem Bein, wartete bis sie den Stand gewechselt hatte, und dann vom anderen.

Cayden schenkte Emma einen bewundernden Blick nach oben, als er ihre Strümpfe sah, was ihn jedoch nicht davon abhielt, sie ihr ebenso schnell wie alles andere auszuziehen.

Danach richtete er sich wieder ganz auf, lehnte sich kurz zur Seite, um die Dusche anzumachen, ohne Emmas Taille loszulassen und küsste sie schließlich erneut, während er ihr auch noch den Slip hinunter zog.

 

Wortlos und so neutral, dass Emma darüber staunen musste, zog Cayden sie vollkommen aus. Wäre nicht dieses unübersehbare, körperliche Anzeichen, hätte man meinen können, es ließe ihn absolut kalt, Emma so vor sich zu sehen, nachdem er sie entblättert hatte.

Aber ihm schien es wie ihr zu gehen, auch wenn sie es körperlich besser verbergen konnte. Trotzdem standen Emmas Brustwarzen erwartungsvoll und hochempfindlich zur Schau und ihr lief eine Gänsehaut über den Körper, die alles andere als die kühle Luft im Badezimmer als Ursache hatte.

„Na dann ...“, brachte sie gerade so zwischen zwei Küssen hervor und nahm Caydens Hand, bevor sie nach etwas anderem greifen, und sich damit mehr als daneben benehmen konnte.

Bei diesem anzüglichen Gedanken schmunzelte Emma in sich hinein und trat vor ihrem Begleiter mutig unter den Wasserstrahl.

 

Unangebracht konzentriert schloss Cayden schließlich die Kabinentür hinter ihnen beiden, ehe er sich langsam zu Emma und dem warmen Wasserstrahl herumdrehte.

Die Kabine war äußerst geräumig und hätte durchaus zugelassen noch eine weitere Person zu beherbergen, ohne dass sie sich auch nur gegenseitig berührt hätten. Trotzdem war Cayden ganz froh, dass er mit Emma diese vertraute Zweisamkeit teilte. Dann gab es zumindest nichts, auf das er eifersüchtig sein musste.

Ganz der Gentleman, der er durchaus sein konnte, überließ er Emma zuerst den Platz unter dem großen Duschkopf, der mehr einem ganzen Regenschauer glich, als einer simplen Brause, weshalb sogar er von seinem trockeneren Platz aus, feine Wassertröpfchen überall auf der Haut abbekam.

„Ladies first“, fügte er noch unnötigerweise hinzu, während er nach einem der Duschgels griff.

Es gab drei Sorten. Eines für Männer, eines für Frauen – schließlich war Emma schon öfter hier gewesen – und ein neutrales, das sowohl er als auch sie benutzen konnten, ohne gleich an Geschlechtsverwirrung zu leiden.

Cayden entschied sich für das individuelle Duschgel und öffnete die Kappe, um sich etwas davon auf die Handfläche zu geben.

„Dreh dich um, ich würde gerne meiner Forderung nachkommen“, schnurrte er mit einem verwegenen Lächeln, das zeigte, wie viel Spaß es ihm schon jetzt mit ihr unter der Dusche machte. Der Anblick von Emma war schließlich nicht ohne. Ganz und gar nicht.

 

Emma war zugegeben ziemlich hin und her gerissen zwischen ignorieren und doch hinsehen. Ein warmes Schmunzeln saß in ihrem linken Mundwinkel und nach einer Weile war die Neugier eben doch größer als der Anstand und Emma warf einen kurzen, aber sehr intensiven Blick auf Caydens Freund, den sie aber nie als 'klein' bezeichnet hätte. Jetzt erst recht nicht.

Die Röte stieg ihr in die Wangen und Emma war froh, dass Cayden mit der Auswahl des Duschgels beschäftigt war und ihre Indiskretion nicht bemerkt hatte. Oder zumindest nicht direkt darauf einging.

Bereitwillig drehte Emma sich um, nahm ihre Haare zu einem dicken Zopf zusammen und legte sie über ihre Schulter nach vorn, sodass Cayden an ihren Rücken herankam. Auch wenn sie insgeheim immer noch hoffte, dass es nicht nur beim Einschäumen ihrer Rückseite bleiben würde.

Der Duft des Duschgels breitete sich in der Kabine aus und Emma erlaubte sich, ungefragt die Wassertemperatur etwas hoch zu drehen und für Cayden Platz unter dem Strahl zu machen. „Darf ich dich dann auch einschäumen?“

 

Er trat dicht an sie heran, als Emma ihm unter dem Duschstrahl Platz machte, weshalb es nicht schwer war, ihr ein „Natürlich“ ins Ohr zu raunen, während Cayden seine seifigen Hände auf ihre Schultern legte und damit begann, sie einzuschäumen.

Zwar hatte er vorhin noch gemeint, es sollte schnell gehen, weil sie sonst vielleicht gar nicht bis zum Bett kamen. Doch sofort schmolz seine Entschlossenheit dahin, als seine Hände so unglaublich leicht über Emmas warme Haut glitten.

Zuerst kreisend über ihre Schultern, dann mit etwas festerem Fingerdruck über ihre Schulterblätter und die Nackenpartie, wo er jede kleine Verspannung aus ihr hinaus massierte, bis sie sich ihre Muskeln weich und nachgiebig anfühlten.

Danach ließ er seine Hände breit gefächert tiefer ihren Rücken hinab wandern und ging dabei sowohl mit Präzession wie auch unendlicher Geduld vor.

Dass es ihn noch mehr erregte, jede einzelne ihrer Kurven nachzuzeichnen und das nicht nur mit den Händen, sondern auch mit den Augen, verstand sich von selbst.

Er genoss jeden einzelnen Augenblick davon, sodass er selbst dann nicht aufhören konnte, als ihr Rücken mehr als gründlich eingeseift war.

Also wanderten seine Hände wieder nach oben, glitten ihre Arme hinunter, während er noch ein Stückchen näher kam, sodass ein gewisser Teil von ihm sich unaufgefordert an ihre Kehrseite drängte und er die Zähne aufeinanderbiss.

Auch sein Brustkorb begann ihren Rücken zu berühren, als Cayden sich weiter nach vorne beugte, um Emmas Hals auf der freien Seite zu küssen und zu necken, während seine Hände sich über ihre Seiten nach vorne stahlen und kleine Kreise über Emmas Bauch hinauf zu ihren Brüsten zogen.

An ihr vorbei holte er sich eine weitere Ladung Duschgel ab, verschäumte alles zu seiner Zufriedenheit auf seinen Händen und strich damit von Emmas Hüftknochen ihren Bauch entlang zu ihren Brüsten hoch, um diese ebenfalls äußerst gründlich zu säubern.

 

Emma holte tief Luft und ließ sie mit einem genießenden Seufzer wieder über ihre Lippen nach draußen. Ihr Kopf fiel ganz automatisch ein Stück nach vorn, als Caydens Hände anfingen, ihre Nackenpartie zu massieren. Hin und wieder zuckte Emma sogar zusammen, wenn er einen Knoten genau erwischte und ihn mit Geduld zu lösen begann. Was danach kam, gefiel ihr allerdings mindestens genauso gut.

„Das könntest du stundenlang machen ...“, schnurrte sie leise und schloss die Augen, während sie in Caydens Streicheleinheiten schwelgte und sich unter dem heißen Wasser immer weiter entspannte. So sehr, dass ihre Augen auch nicht aufflatterten, als Cayden an sie herantrat.

Vorsichtig legte Emma ihren Kopf an seine Schulter und blinzelte nur einmal kurz, um zu sehen, ob sie auch wirklich seinen Hals traf, wenn sie sich kurz streckte, um ihn über ihre eigene Schulter hinweg zu küssen.

Seine warmen Hände streichelten ihren Bauch. Selbst wenn der Duschgelschaum nicht gewesen wäre, hätte Emma diese Berührungen geliebt. Jetzt hatten sie allerdings zusätzlich etwas ... Neues und Aufreizendes an sich. Was nicht zuletzt von der Tatsache unterstützt wurde, die sich da unübersehbar gegen Emmas unteren Rücken drückte.

Als Caydens 'Einschäumen' ihre Brüste erreichte, hielt Emma unwillkürlich die Luft an. Sie spürte, wie sich seine Finger um ihre Rundungen legten, sogar das Bedürfnis sie ein bisschen zu kneten war für Emma spürbar. Was sie wieder dazu brachte, zu atmen und blinzelnd mit einem neckenden Blick zu Cayden aufzusehen.

„Du bist ziemlich gründlich ...“

 

Zu spüren, wie Emma unter seinen Händen sich entspannte, versetzte auch Cayden in einen Zustand unbeschreiblichen Wohlgefühls.

Mit der Zeit begann er sich von hinten in einem trägen Rhythmus gegen sie zu schmiegen. Nicht, um sich noch mehr zu erregen – wobei das natürlich durchaus ein nicht zu übersehender Nebeneffekt war – sondern, weil er es genoss, wie sich ihre beiden Körper aneinander rieben.

„Du bist ziemlich gründlich …“

Er lächelte auf sie herab und versuchte in dieser Position an Emmas Lippen heranzukommen, wozu er letztendlich ihre Unterstützung brauchte. Während sich ihre Münder zärtlich berührten, schlang Cayden seine Arme beschützend und besitzergreifend um ihren Körper, um sie noch näher an sich heranzuziehen und gemeinsam diesem Rhythmus zu folgen.

Es war fast wie ein Tanz nur sehr viel subtiler.

„Natürlich bin ich das. Es geht ja schließlich um dich“, hauchte er ihr leise zu und küsste Emmas Schulter.

„Und ja. Das könnte ich stundenlang machen.“

Er rieb genüsslich wie ein verschmuster Kater seine Wange an ihrer und seufzte zufrieden.

„Bis das heiße Wasser verbraucht ist.“

Was noch ziemlich lange nicht der Fall sein würde.

 

„Oder bis unsere Finger und Zehen ganz schrumpelig sind.“

Emma lachte leise und fragte sich, was wohl zuerst kommen würde. Oder welche andere Alternative es noch geben könnte. Allerdings schien ihr Hirn langsam und in wohlige Watte gehüllt, abzuwinken und die Entscheidungen jemand anderem zu überlassen, der gerade eher zum Tun aufgelegt war. Es flatterte wie wild in Emmas Bauch und sie spürte Caydens Atem kühl an ihrer Schulter. Genauso intensiv wie seine Hände, die immer noch warm über ihren Körper streichelten.

„Aber eigentlich ...“ Sie nahm eine seiner Hände von ihrem Bauch und küsste seine Handfläche. Es schmeckte nach Seife und roch nach Milch und Honig.

„... ist das ein bisschen unfair.“

Ihre Haut glitt widerstandslos über seine, als Emma sich um ihre eigene Achse drehte und nun ihre Bäuche sich berührten.

„Dich hat ... noch niemand eingeschäumt.“

Sie küsste einen tätowierten Kringel auf seiner Brust und schmiegte sich dann in seine Arme.

 

Er lachte leise und schloss für einen Moment vollkommener Zufriedenheit die Augen, während er Emma einfach nur festhielt.

Nie wieder. Nein, nie wieder wollte er sie gehen lassen.

„Solange du dieser niemand oder besser gesagt jemand bist, könnte ich eine Ausnahme machen.“

Cayden küsste Emmas Stirn, ehe er ihr eine kleine Schaumflocke auf die Nasenspitze setzte, deren Anblick ihn zum Schmunzeln brachte.

„Darf ich dir dafür dann auch die Haare waschen?“ Nass waren sie ohnehin schon. „Du weißt ja, wie gerne ich an dir … herumfingere.“

 

„Du Lustmolch.“

Er zuckte unter ihrem Knuff in die Seite nur ein wenig zusammen. Emma lachte und revidierte damit den ernsten Vorwurf, der gar nicht böse gemeint gewesen war. Aber es schien ihn trotzdem irgendwie überrascht zu haben. Der Scherz genauso wie das Knuffen. Hatten sie sich denn schon so lange nicht mehr unter vier Augen gesehen? Emma zählte die Tage und entschied schon bei 'zwei', dass es zu lange gewesen war. Erst recht, wenn man alle Umstände bedachte.

Zusammen unter der Dusche hatten sie auf jeden Fall bis jetzt noch nie gestanden. Und es war auch eine Ewigkeit her, dass jemand Emma die Haare gewaschen hatte. Da war sie ... noch ein Kind gewesen.

„Okay. Wenn du möchtest.“

Vorsichtig, als könnte der Verlust des Körperkontakts sie sofort zu Fall bringen, trat Emma einen halben Schritt zurück. Sie schob sich ihre Haare auf den Rücken und griff dann nach der Duschgel-Flasche, um Cayden damit einen Smiley auf die Brust zu malen.

„Sehr hübsch“, stellte sie ohne nähere Definition fest, bevor sie die Augen des Smiley mit kreisenden Bewegungen ihrer Hände in Schaum verwandelte, den sie dann großzügig auf Cayden verteilte.

 

Ja, Cayden war einen Moment überrascht. Aber nicht nur wegen Emma, sondern auch wegen sich selbst. Herum gespielt hatte er schon lange nicht mehr auf diese Art, denn eigentlich passte es nicht zu seinem kühlen und beherrschten Bürohengstoutfit. Trotzdem fühlte es sich unglaublich gut und befreiend an.

Es brachte einen vergrabenen Teil in ihm zum Klingen und ließ ihn noch breiter lächeln, ehe Cayden etwas skeptisch an sich und dem Smiley auf seinem Torso herabsah. Erst als Emma damit begann, ihn gründlich einzuseifen, blickte er wieder hoch. Frech stahl er ihr einen Kuss von den Lippen, ehe sie überhaupt reagieren konnte, und schnappte sich dabei das Haarshampoo.

Er gab sich eine großzügige Menge davon auf die Hand, da er es gerne schaumig mochte, und ließ Emma dann wieder genügend Bewegungsfreiheit, sodass sie ihn gründlich einseifen konnte, was er wahnsinnig genoss. Wann hatte ihn schließlich das letzte Mal jemand eingeseift?

Während Emma mit seiner Vorderseite beschäftigt war, griff er hinter sie und begann das Shampoo auf ihrem Haar zu verteilen. Auch hierbei ging er mit außerordentlicher Geduld vor, was nicht zuletzt auch sehr praktisch war, da er so aufpassen konnte, dass ihr kein Schaum übers Gesicht und in die Augen lief.

 

Emma schmunzelte nach dem kleinen Kuss glücklich in sich hinein und verteilte das Duschgel sehr gewissenhaft und nach einem ausgeklügelten Muster auf Caydens Haut. Als Erstes fuhr sie die schnörkeligen Linien seines Tattoos nach, erforschte dessen Schwünge und konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Bild nicht als Ganzes in seine Haut gestochen, sondern nach und nach angestückelt worden war. Vielleicht, weil das Tattoo zu groß war, um es in einer Sitzung anzubringen?

Ihre Fingerkuppen zeichneten ein Stück der schwarzen Linien nach, die aussahen, wie der Wedel eines Farns oder ein großes Blatt. Allerdings durchbrochen von vielen kleinen Äderchen, die wiederum in runde Schnörkel ausliefen. Komisch, dass dieses detaillierte Bild trotzdem absolut nicht unmännlich wirkte.

Emma beschloss, dass das an dem Mann lag, der es trug.

„Wie lange hat es gedauert, das Tattoo machen zu lassen?“, wollte sie schließlich doch wissen, nachdem sie nun auch Caydens Oberarme eingeseift und sich auf den Weg in Richtung seines Bauchs gemacht hatte.

„Vielleicht sehe ich das falsch, aber es sieht an manchen Stellen so aus, als wäre es ... ich weiß nicht ... angesetzt worden. Nicht in einem Stück entstanden. Aber man sieht es nur, wenn man ganz, ganz genau hinsieht.“

Emma lehnte sich vor, setzte einen äußerst prüfenden Blick auf, berührte mit ihren Wimpern schon fast Caydens Haut ... und drückte ihm einen weiteren Kuss auf die Brust. Danach hatte sie ein Schaumflöckchen mehr auf ihrer Nasenspitze.

 

Cayden ließ sich in aller Ruhe von Emma beobachten. Genauso wie ihre Hände, genoss er auch ihren Blick auf sich und wie sie mit ihren Fingerspitzen die einzelnen mattschwarzen Linien nachzeichnete.

„Die Tattoos haben Jahre gedauert“, erzählte Cayden ihr schließlich und küsste die kleine Schaumflocke von ihrer Nase.

„Das ist allerdings eine lange Geschichte. Bis ich damit fertig wäre, wären wir bestimmt schon ganz schrumpelig.“ Er lächelte entschuldigend. „Ich erzähl sie dir ein andermal, okay?“

Vielleicht zu einem Zeitpunkt, wo sie nicht gerade nahe dran waren, übereinander herzufallen und definitiv mehr anhatten. Schließlich war das nicht nur irgendeine Geschichte von einer jugendlichen Laune, in der er dachte, es wäre cool, sich mal so nebenbei den ganzen Oberkörper tätowieren zu lassen. Nein, bei ihm war definitiv mehr dran, als das Auge sah.

Als Cayden Emmas Haare schließlich genug eingeseift, ihre Kopfhaut gründlich massiert und alles richtig gut verteilt hatte, zog er sie langsam wieder unter den Wasserstrahl.

„Augen zu“, befahl er ihr leise, wobei er trotzdem darauf achtete, dass ihr nicht allzu viel von dem Schaum und dem Wasser übers Gesicht lief, während er ihre Haare gründlich ausspülte. Danach trat er zu ihr unter den Strahl, umarmte sie erneut und suchte mit seinen Lippen nach ihrem Mund. Genug geredet. Zumindest was vergangene Zeiten anging. Gerade jetzt lebte er voll und ganz für diesen einen Augenblick.

 

Emma schloss die Augen. Sie spürte deutlich, wie ihr das Wasser über Kopf und Körper lief, wie sich der Schaum aus ihren Haaren einen Weg nach unten bahnte und wie Cayden zu ihr trat. Er war so präsent, wie er es auch gewesen wäre, hätte sie ihm mit offenen Augen entgegen gesehen und Emma überlief ein Schauer.

Zuerst war sie der Meinung, dass es nur an seiner Nähe und ihren Gefühlen zu ihm lag. Aber dann ... mischte sich etwas anderes unter diese Stimmung, als seine Lippen die ihren berührten und Emma seine Hände in ihren Haaren und auf ihren Schulter spürte. Sie dachte an seine Küsse, seine Hände, schmiegte sich an seine Brust und war doch voller gemischter Gefühle, die um die Vorherrschaft kämpften.

Emma hätte sich dafür ohrfeigen können, dass sich ihre Augenbrauen zusammenzogen und ihre Arme sich um Caydens Taille legten, während sie den Kuss unterbrach und ihre Stirn an seine Schulter legte.

Kleine Tropfen sprangen von ihren Wimpern und Nebelschwaden vom heißen Wasser waberten durch die Duschkabine, in der es gerade seltsam still geworden war. Emmas Daumen streichelten über Caydens Rücken, doch ihre innere Unruhe ließ sich dadurch nicht herunter kämpfen.

Sie hatte an seine Lippen gedacht. An seinen Mund.

Ihr eigener Hals wurde ganz trocken, als sich die Worte auf ihrer Zunge formen wollten und Emma schloss wieder die Augen, um kurz inne zu halten und darüber nachzudenken, ob sie das wirklich sagen wollte, was sich in ihrem Kopf gerade sehr lauthals nach vorne drängte.

„Willst du ...“ Ihre Lippen berührten seine Haut, was ihre Worte noch mehr dämpfte, als das ständige Rauschen des Wassers. „Wollen wir ...“

Ihre Hand hatte seinen Rücken verlassen, war ohne Emmas Zutun seinen Arm hinauf und zu seinem Kinn gewandert. Jetzt sah Emma hoch. Ihr Blick liebkoste seine Lippen und ihre Fingerspitzen fuhren sanft darüber, während sie an das dachte, was hinter diesen schönen Lippen lag.

Sie wagte es nicht, Cayden in die Augen zu sehen. Stattdessen sprach sie mit seinem Mund. „Wollen wir ... es versuchen?“

 

Caydens Gefühlswelt wurde sehr nachdrücklich ernüchtert, als Emma mit ihren Fingerspitzen hauchzart seinen Mund berührte. Er wusste, was sie meinte, auch wenn sie es nicht direkt ausgesprochen hatte. Doch ihr vorsichtiges Zögern und im Grunde ihre ganze Körperhaltung verrieten es ihm.

Die lockere und zugleich leicht aufgeheizte Stimmung von gerade eben war dahin. Statt ihr trat nun wieder dieses nervöse Gefühl wie bei einem ersten Mal in den Vordergrund. Natürlich war es für Cayden nicht das erste Mal, dass er von einem Menschen trank, aber für Emma wäre es das erste Mal mit ihm und das machte auch ihn nervös.

„Wenn du dich bereit dafür fühlst, gerne. Aber nicht hier.“ Cayden nahm Emmas Hand, küsste ihre Fingerspitzen und sah sie dann beruhigend an.

„Legen wir uns erst einmal trocken. Danach sehen wir weiter.“ Er drehte das Wasser ab und ließ den Dampf aus der Duschkabine entweichen, als er die Tür öffnete. Sofort erschauderte er etwas von dem Temperaturunterschied, trotzdem hüllte er Emma zuerst in ein großes Badetuch ein, ehe er nach einem eigenen griff.

„Hast du vielleicht noch irgendwelche Fragen dazu?“ Cayden konnte nicht verhindern, dass es auch leicht sachlich klang, während er sich abtrocknete. Aber er selbst hatte am Ende doch nicht damit gerechnet, dass Emma es so schnell versuchen wollte, und musste sich daher auch erst darauf einstellen. Darüber zu reden half meistens, also tat er es und zum Glück war sein Durst noch nicht dringlich genug, um jetzt hetzen zu müssen. Sie hatten Zeit und die würde er Emma geben. Selbst wenn sie am Ende einen Rückzieher machte. Er würde es verstehen.

 

Ihre Überraschung war groß, als sie diesen Plauderton und das „gerne“ hörte. Im ersten Moment wusste Emma gar nicht, was sie jetzt sagen oder tun sollte. Sie hatte von Cayden einfach eine andere Reaktion erwartet. Eigentlich wusste sie gar nicht, was sie erwartet hatte. Aber bestimmt nicht, dass er locker darauf einging.

Andererseits ... was hätte er denn sonst tun sollen?

Emma widerstand dem Drang, ihre Blöße schon mit den Händen zu bedecken, bevor sie sich von Cayden in ein Handtuch hüllen ließ. Sie musste sehr darauf achten, ihre Gedanken nicht weit weg schweifen zu lassen, sondern auf die Worte zu achten, die aus seinem Mund kamen und an sie gerichtet waren.

Trotzdem brauchte sie eine Sekunde, um darauf zu reagieren. „Ich ...“ Na, das war ja ein toller Anfang. Aber es reichte immerhin, dass Emma über sich selbst lachen konnte und das die Spannung etwas aus ihrem Körper und ihrer Haltung nahm.

„Nein, danke“, brachte sie schließlich heraus. „Fragen habe ich keine. Zumindest noch nicht.“

Herr im Himmel, das war ja wirklich wie beim ersten Mal Sex. Eigentlich schwirrten ihr wirklich ein paar Fragen im Kopf herum, aber Emma war sich nicht sicher, ob sie es wagen würde, diese zu stellen. Weder jetzt noch später.

Sie war sich im Klaren darüber, dass es wehtun würde, wenn Cayden sie biss. Immerhin verletzte er sie dabei. Aber darauf hatte sie sich beim ersten Mal Sex auch eingelassen. Allerdings war sie beim ersten Mal Sex sicher gewesen, dass der Junge, in den sie damals verliebt gewesen war, sie damit nicht umbringen konnte.

Da war sie sich jetzt eher beim Gegenteil sicher. Und um ganz ehrlich zu sein, hätte Emma sich über jeden gewundert, den das nicht nervös gemacht hätte.

Deshalb zitterte ihre Hand auch ein bisschen, als sie Caydens nahm und ihm scheu ins Gesicht sah. „Vielleicht hätte ich vorher einen Ratgeber dazu lesen sollen?“

 

Cayden musste nicht erst in Emmas Augen sehen, um ihre Angst darin erkennen zu können und genau das machte ihn noch nervöser und ließ sein Herz schneller schlagen. Dabei war das alles völlig unbegründet. Er hatte schon Millionen Mal jemanden gebissen, um zu trinken. Für ihn war es die natürlichste Sache der Welt und er kannte die Risiken. Daher hatte er keine Angst, dass er Emma irgendwie damit schaden könnte, aber vielleicht war sie am Ende zu empfindlich, um es noch einmal zu probieren, sollten das erste Mal etwas schief gehen. Und das setzte ihn dann doch ganz schön unter Druck. Aber davon wollte er sich nicht zermürben lassen, also lächelte er Emma beruhigend an, ehe er sie ins Schlafzimmer führte. Sie konnten das zumindest in einer gemütlicheren Position besprechen, anstatt dabei einfach im Bad herumzustehen.

„Wir müssen das nicht tun, wenn du glaubst, noch nicht bereit dafür zu sein. Das ist wirklich kein Problem für mich, Emma.“ Cayden setzte sich nur mit einem Handtuch bekleidet bequem aufs Bett und zog Emma neben sich auf die Matratze.

„Allerdings befürchte ich, dass es darüber noch keinen Ratgeber gibt und dein Ahnenbuch scheint mir etwas voreingenommen zu sein, was Vampire angeht. Könnten wir das also hiervon ausschließen?“ Cayden grinste leicht, um die Stimmung etwas zu lockern, was vielleicht nicht besonders gut wirkte, denn die äußerst angenehme Dusche mit Emma und dieses Gesprächsthema hatten seine Fänge hervor gelockt. Rasch schloss er wieder die Lippen darüber.

 

Ohne Angst oder etwas in dieser Art setzte sich Emma zu Cayden aufs Bett und schmunzelte in sich hinein.

„Ja, du hast recht. Aber ich bin ganz froh, dass das Buch sich in einigen Dingen geirrt hat.“

Wenn sie sich die Bilder vom angeblichen Nosferatu vor Augen führte, stellten sich ihr die Nackenhaare auf. Und das nicht im positiven Sinne. Da hatte sie bei Cayden wirklich das Gegenteil der Beschreibungen erwischt. Sowohl vom Aussehen als auch vom Charakter.

Mit Augen voller Gefühle sah sie ihn an. „Weißt du, bei dieser ... Sache gibt es vermutlich keine wirklich gute Stelle, um zwischendrin aufzuhören. Ich stelle mir das gerade unpassenderweise wie die Blutabnahme beim Arzt vor. Da kann ich auch nicht bei der halben Füllung sagen: 'Danke, aber mehr gibt’s nicht.'“

Ein blöder Vergleich, wie sie im nächsten Moment selbst fand. Aber ihre Nervosität stieg gerade immer weiter und ihr Herz fing an unangenehm zu klopfen, wenn sie auch nur daran dachte, dass sie das Wort Blut gerade wirklich ausgesprochen hatte.

Emma wickelte sich ein bisschen fester in ihr Handtuch und legte dann eine Hand auf Caydens Seite.

„Wie ...“ Sie fuchtelte hilflos mit der freien Hand in der Luft herum. „Wie machen wir das?“

 

„Em, du solltest eines wissen: Du kannst wirklich jederzeit abbrechen. Sag einfach stopp und ich höre sofort auf, das verspreche ich dir. Schließlich bin ich kein gefühlloses Kunststoffröhrchen.“ Wieder musste Cayden lächeln, allerdings hielt es sich in Grenzen, wenn er daran dachte, dass er zwar jederzeit aufhören konnte, aber er dabei auch aufpassen musste, dass Emma sich ihm nicht plötzlich entriss. Denn das würde gerade zu dem unschönen Szenario führen, das ihr weitere Versuche schwer machen würde. Aber im Augenblick sollte er nicht länger daran denken. Es lag schließlich in seinem Sinne, sie beide etwas zu entspannen und das ging nicht, wenn er an aufgerissene Venen und große Blutflecken auf seiner Bettdecke dachte.

„Wieso lassen wir es nicht einfach langsam angehen und auf uns zukommen?“ Cayden hatte sich nach vorne gelehnt, um Emma einen ausgedehnten Kuss auf die Lippen zu hauchen und ihre Wange zu streicheln. Er wollte nicht, dass sie sich in seiner Nähe irgendwie bedroht fühlte. Zudem zog er die Überdecke ein gutes Stück herunter und schlug die Decke zur Seite, damit er ohne das Handtuch darunter schlüpfen und es sich bequemer machen konnte.

Cayden strich das Kissen neben sich glatt und streckte seine Hand nach Emma aus, während er sie voller Liebe betrachtete. „Komm zu mir, nyonya.“

 

Gerade hatte sie noch vollkommen ruhig dagesessen, ihm dabei zugesehen, wie er es sich unter der Decke gemütlich machte, doch jetzt furchte sich Emmas Stirn mit einem fragenden Ausdruck.

Lächelnd kam sie zu ihm übers Bett gekrochen, ließ das Handtuch über den Rand des Bettes auf den Boden fallen und schlüpfte zu Cayden unter die Decke.

„Was hast du gesagt?“ Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn nur nicht richtig verstanden hatte oder ob es ein Wort gewesen war, das sie nicht kannte. Beides wäre möglich, denn Cayden war nun einmal nicht ursprünglich englischsprachig. Auch wenn man das vergessen konnte, weil er nicht einmal den Hauch eines Akzents hatte.

 

Cayden schlang sofort die Arme um Emma und zog sie an sich, als sie zu ihm unter die Decke gekrochen kam. Er machte es sich zunächst mit ihr im Arm bequem und strich ihr durch das feuchte Haar, während er sie eingehend betrachtete.

„Ich sagte: Nyonya. Das bedeutet Geliebte oder Gefährtin.“ Und das war sie für ihn auch. Er hatte dieses Kosewort schon seit Jahrhunderten nicht mehr benutzt. Was ihn selbst nicht wunderte. Emma war nicht wie es seine anderen Frauen gewesen waren. Sie war ihm so nahe, wie keine vor ihr, und er bezweifelte, dass es je eine nach ihr geben würde, die das noch einmal schaffen könnte. Er bezweifelte sogar, dass er je wieder lieben könnte, sollte er Emma auf die eine oder andere Art verlieren.

„Ich liebe dich, Emma“, gestand er ihr leise flüsternd. Er konnte es einfach nicht oft genug aussprechen. „Und selbst, wenn du dich gegen das Trinken entscheidest, ist es mir gleich. Ich liebe dich trotzdem und werde dich auch immer lieben. Es gibt für mich andere Möglichkeiten und Wege, um gesund zu bleiben.“ Allerdings würde es für ihn so viel mehr bedeuten, wenn er diese Erfahrung mit Emma teilen konnte. Doch das verschwieg er ihr lieber. Wollte er sie doch nicht unter Druck setzen.

 

„Du Charmeur.“ Emma hörte sich selbst ein wenig mädchenhaft kichern, fasste sich dann aber wieder und gab Cayden einen sanften Kuss auf die Lippen. „Ich liebe dich auch.“

Und selbst wenn sie wegen seiner ziemlich romantischen, fast kitschigen Worte innerlich ein wenig zusammengezuckt war, so spürte sie doch, wie viel sie ihr bedeuteten. Wie viel Cayden ihr bedeutete und dass er hier mit ihr zusammen war.

Mit diesem wohligen Gefühl im Bauch kuschelte sie sich in seine Arme, streichelte seine Haut und war eine Weile einfach still, um Caydens Wärme zu genießen.

„Es gehört nun einmal zu dir“, sagte Emma dann sehr leise. Doch sie gewann an Zuversicht, als sie Cayden in die Augen blickte und wieder an die Gerüchte und Übertreibungen in ihrem Hexenbuch dachte.

„Wir sind beide, was wir sind. Dass wir uns gefunden haben, sollte bestimmt auch so sein. Außerdem ...“ Jetzt grinste sie ihn ein bisschen schief an. „Du glaubst doch nicht, dass ich nicht vor Neugier ganz hibbelig bin.“

Und das stimmte. Zwar machte ihr die Sache etwas Angst, aber Emma wusste, dass sie Cayden sowieso früher oder später von sich trinken lassen würde. Und da sie sich dessen so sicher war, hatte das Ganze einen Hauch von Gefahr und Leidenschaftlichkeit zugleich. Sie wollte und wollte es auch wieder nicht ausprobieren.

 

„Glaub mir, was das angeht, bin ich ebenso hibbelig wie du.“ Cayden blickte an die Decke, während sein Daumen träge immer wieder über Emmas nackter Schulter streichelte. Seine eigene Nervosität ließ langsam nach. Immerhin lagen sie im Bett, der Tag war anstrengend gewesen, wie es sonst nicht der Fall war, schließlich hatte er sich aus Emmas Falle befreit und das kostete nun einmal Kraft. Außerdem war ihm das hier so vertraut, obwohl er Emma eine ganze Weile nicht mehr auf diese Art hatte halten können. Zuerst die Tage in der Untersuchungshaft, dann die Zeit bei Adam.

In letzter Zeit konnte er sich wirklich nicht über Langeweile beklagen und dann war da ja auch immer noch Emma. Allein die Vorstellung daran, wie ihr Blut wohl schmecken würde, ließ ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen.

Damals in Tokio hatte er von ihr gekostet, ohne es richtig würdigen zu können. Zudem war er in einem seltsamen Rauschzustand gewesen und das hieß, dass er sich zwar an die Ereignisse bis ins letzte Detail erinnern konnte, aber doch nicht so richtig an die Gefühle, die damals in ihm getobt hatten.

„Ich verspreche dir, dieses Mal würde es nicht so wehtun, wie in Tokio und du wüsstest, was vor sich geht.“ Cayden bedauerte es immer noch nicht, ihr die Wahrheit gesagt zu haben. Alles andere wäre ihm wie eine Lüge vorgekommen und er wollte Emma nicht mehr anlügen.

 

„Oh, keine Sorge ...“ Sie kuschelte sich noch mehr an ihn und schloss genüsslich die Augen. „Ich kann mich nicht daran erinnern, ob es damals wehgetan hat oder nicht.“

Lediglich an die blauen Flecken und den Druckschmerz konnte sie sich erinnern. Und daran, wie blass sie gewesen war. Wie müde sie sich gefühlt hatte ...

Emma merkte, wie sie sich wieder anspannte. Ihre Augen hatten sich reflexartig geöffnet, und auch wenn sie nur aus dem Fenster starrte, waren ihre Gedanken im Hier und Jetzt und kreisten darum, was als Nächstes passieren konnte.

„Ich habe ...“ Ihre Stimme wurde kurz rau, aber Emma räusperte sich nur kurz, bevor sie weitersprach. Sie wollte nicht, dass Cayden das Gefühl bekam, sie wolle doch noch einen Rückzieher machen. Oder sie bekäme Angst. Denn das war immer noch nicht der Fall.

„Ich glaube, ich habe doch eine Frage – in Tokio ...“ Sie überlegte, wie sie ihre Bedenken so gut wie möglich verpacken konnte. Sie wollte Cayden kein schlechtes Gewissen machen. Immerhin hatte er auch damals nicht so viel von ihr getrunken, dass ihr Schlimmeres hätte passieren können.

„Ich habe mich am nächsten Tag sehr müde gefühlt. Außerdem ... sah ich nicht gerade aus wie der blühende Frühling.“ Emma hoffte, dass er wusste, was sie damit sagen wollte. „Ist es ... ich meine, wird es immer so sein?“

 

Cayden richtete sich etwas auf, um Emma direkt in die Augen sehen zu können. Die Reue stand ihm sehr deutlich ins Gesicht geschrieben, denn sein Verhalten in Tokio konnte er sich immer noch nicht wirklich verzeihen. Er wusste aber auch immer noch nicht, was ihn damals so sehr aus der Fassung gebracht hatte. Normalerweise reagierte er nicht so auf Alkohol und dennoch hatte er ... Das war jetzt nicht mehr wichtig.

„Nein, Emma. Normalerweise läuft es nicht so ab. Damals in Tokio hatte ich mich nicht mehr im Griff und habe daher viel mehr von dir getrunken als nötig gewesen wäre. Eigentlich ist es so, wenn ich regelmäßig eine geringe Menge trinke, dann kann ich mich problemlos nur von einem Menschen ernähren, ohne ihm irgendwie zu schaden. Wenn ich allerdings eine längere Durststrecke hinter mir habe, so wie es bei Vanessa immer wieder der Fall war, muss ich mehr auf einmal trinken. Für sie war das nicht weiter schlimm, da sie sich dank meines Blutes danach schnell erholt hat. Ich würde dennoch regelmäßiges Trinken vorziehen.“

 

Als sie Vanessas Namen hörte, wollte sich Kälte in ihren Adern ausbreiten und Eifersucht in ihr Herz stechen. Aber sie unterdrückte die Gefühle, weil Cayden ja nicht positiv von seiner Frau gesprochen hatte. Dass er immer noch mit Vanessa verheiratet war, darüber konnte sich Emma noch ein andermal den Kopf zerbrechen oder sich davon runterziehen lassen. Aber nicht jetzt.

„Hör auf, dich dafür zu entschuldigen. Jetzt lässt es sich sowieso nicht mehr ändern. Aber ... dass ich nicht immer aussehen werde, wie frisch nach einer Grippe ist doch gut zu hören.“

Sie lächelte. Schüchtern und unsicher, was sie als Nächstes tun oder sagen sollte. Sie redeten darüber, lagen zusammen im Bett. Ganz nah und so mit dem Thema beschäftigt, dass Emma fast vergessen hätte, dass dem Reden vielleicht auch Taten folgen würden. Jetzt? Später?

Sie war nicht diejenige, die darüber entscheiden würde. Sie hatte bei der Sache nicht den aktiven Part. Aber ... sollte sie sagen, dass sie jetzt anfangen konnten? Herrgott hörte sich das doof an.

 

„Soweit werde ich es nicht mehr kommen lassen. Ich will keinem von euch beiden schaden.“ Und das war sein voller Ernst.

Cayden küsste sanft Emmas Lippen, während seine Hand über ihren Bauch strich. Nicht so, als wolle er jetzt mehr von ihr, als nur zu trinken, nein. Er wollte seinem Kind nahe sein, so unfassbar es auch immer noch für ihn war, dort unter seiner Hand neues Leben zu wissen, ohne es spüren zu können.

„Dem Baby wird übrigens dabei nichts passieren. Ich … weiß das mit Sicherheit.“ Eigentlich hatte er sagen wollen, dass er es aus eigener Erfahrung wusste, aber es war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um Emma von seiner ersten Frau zu erzählen.

„Wo wäre es dir denn lieber? Am Hals oder in der Armbeuge?“, wollte Cayden so ruhig und gelassen wissen, um noch deutlicher zu machen, dass Emma immer noch nein sagen konnte. Im Moment sprachen sie schließlich nur darüber. Mehr taten sie nicht, und wenn sie es nicht wollte, würde auch nicht mehr passieren.

 

Emma wusste gar nicht, was ihr mehr zusetzte: Dass Cayden von ihrem gemeinsamen Kind sprach oder dass er ihr versicherte, dem Baby würde nichts passieren, wenn er Blut von ihr nahm.

Schon allein die Vorstellung, dass er seine Reißzähne dazu benutzen würde, ihre Adern zu öffnen und Blut daraus zu trinken, wurde für Emma mit jeder verstreichenden Minute unheimlicher. Aber als sie auch nur eine Sekunde an das Baby dachte, schlug ihr das Herz mit einem Mal bis zum Hals.

Zuerst versuchte sie, das Gefühl zu ignorieren und sich nur darauf zu konzentrieren, was Cayden ihr versicherte. Aber nach einer Weile wurde das so schwierig, dass sie sich an Cayden kuschelte, ihr Gesicht an seiner Halsbeuge vergrub und erst einmal tief durchatmete.

„Ich finde es gruselig“, gab sie leise zu und ihre Stimme zeugte davon, wie peinlich es ihr war, das zu sagen. Immerhin war Cayden nicht grausam. Und Emma war bewusst wer und was er war. Genauso, wie sie glaubte – nein, wie sie wusste – dass er ein echter Vampir war. Ihre eigene Abstammung half ihr dabei und doch brauchte es eine ganze Weile, bis sie wirklich über ihren Schatten springen und sich einer Antwort stellen konnte.

„Versuchen wir es klassisch“, sagte sie leise, aber verständlich.

Wenn er ihr in die Armbeuge biss, würde Emma sich vermutlich wie beim Arzt fühlen und wieder doch nicht. Das würde das Ganze nur noch merkwürdiger für sie machen. Und vielleicht auch abstoßend. Das war etwas, das sie auf keinen Fall wollte.

Vorsichtig, als könnte sie Cayden oder sich selbst mit einer unbedachten Bewegung verletzen, schob sie ihre noch immer feuchten Haare zur Seite. Emma spürte, dass auch an ihrem Hals noch einzelne Tropfen Wasser hingen und sie versuchte sich vorzustellen, wie es für Cayden aussehen mochte. Aus reinem Instinkt zog sie ihren Arm, der bis jetzt um Caydens Mitte gelegen hatte, vor ihren Körper, sodass er zwischen ihnen lag, und hielt sich ein wenig an Caydens Brust fest.

„Verzeih mir die Nervosität, aber ... mir wäre es lieber, wenn wir nicht länger davon reden, sondern ...“ Kurz sah sie zu ihm auf, versicherte sich, dass es wirklich er war, und kuschelte sich dann wieder in ihre Position zurück. „Ich vertraue dir. Lass es uns einfach versuchen.“

 

Da Emma mit allem recht hatte, sowohl was das Hinauszögern wie auch seine eigene Nervosität vor der Situation anging, nickte Cayden nur langsam und ersparte sich weitere Worte, die sie und auch ihn beruhigen sollten. Schließlich musste er sich ins Gedächtnis rufen, dass ihr Herz so sehr vor dem Ungewissen raste und nicht etwa deshalb, weil sie Angst vor ihm hatte. Zumindest in diesem Punkt war er sich sicher und das war im Moment alles an Beruhigung, was er selbst benötigte.

Behutsam bettete er Emma von seiner Schulter in das weiche Kissen und zog sie enger in seine Arme. Er beugte sich nur so weit über sie, wie es nötig sein würde, da er ihr nicht das Gefühl des Gefangenseins vermitteln wollte. Nun hatte er einen guten Blick auf ihren bloßgelegten Hals, an dem noch vereinzelte Wassertropfen hingen.

Cayden schloss die Augen, um seiner anderen Seite nicht noch mehr Gründe zu geben, ihn zu drängen. Es war nicht so, dass er kurz vorm Verdursten stand, aber er hatte Emma schon seit viel zu langer Zeit nicht mehr für sich alleine gehabt. Und so nahe wie jetzt waren sie sich ebenfalls schon eine ganze Weile nicht mehr gekommen. Die gemeinsame Dusche war lediglich ein Vorgeschmack gewesen. Er hatte sie wirklich wie wahnsinnig vermisst.

Obwohl es nicht dazugehörte, konnte Cayden es sich nicht nehmen lassen, Emmas nackte Schulter zu küssen und mit seinen Lippen darüber zu streichen. Er wanderte langsam in Richtung ihrer Halsbeuge und leckte dabei jede einzelne Wasserperle von ihrer Haut. Seine Hände streichelten sie besänftigend und hoffentlich auch ein bisschen zu ihrer Beruhigung. Doch ihr Puls schlug immer noch so wild, dass er es hätte sehen können, wenn er nur die Augen geöffnet hätte. Aber er wusste es auch so, mit seinen anderen Sinnen und zu gleich war Cayden sich bewusst, dass auch sein Herz wie wild in seiner Brust raste.

So nervös war er schon seit Ewigkeiten nicht mehr bei einem Blutmahl gewesen. Eine Tatsache mehr, die bestätigte, wie viel ihm Emma bedeutete.

Caydens ganzer Körper schien sich elektrisch aufzuladen, während seine Lippen über ihr Schlüsselbein langsam hoch zu ihrem Hals wanderten und als sein Mund nun direkt über dem heftigen Pochen ihrer Vene lag, überkam ihn eine knisternde Gänsehaut.

Seine Fänge schienen sich noch weiter zu verlängern, als wollten sie die winzige Distanz überbrücken, die sein Mund ihnen verwehrte und sie pochten so heftig wie sein Herzschlag. Wasser lief ihm im Mund zusammen, und obwohl seine Atemzüge flach und zittrig waren, nahm er Emma doch mit all seinen Sinnen war, die ihn noch mehr reizten.

Man mochte es vielleicht nicht glauben, aber am Ende kostete es Cayden enorm viel Überwindung, um seine Lippen auf ihre Haut zu legen. Denn das war der Punkt, an dem es für ihn kein Zurück mehr gab.

Obwohl er Emma nicht einsperren wollte, zog er sie doch noch einmal enger an sich heran. Nicht unbedingt, um sie festzuhalten, sondern um an ihr Halt zu suchen, denn den brauchte er, als er langsam damit begann, mit seiner Zungenspitze über ihre köstliche Haut zu lecken.

Cayden biss nicht sofort zu. Das wäre ihm falsch erschienen, wollte er es doch für Emma so angenehm wie möglich machen. Also liebkoste er sie zunächst sanft, bevor er vorsichtig mit einem Fangzahn ihre Haut anritzte. Nicht viel und schon gar nicht tief, doch ausreichend, um den Wirkstoff seines Speichels besser einmassieren zu können. Es würde für sie einfacher sein, wenn sie nicht einmal das volle Schmerzgefühl seines Bisses verspürte, solange sein Speichel sich noch nicht voll entfalten konnte.

Soweit Cayden wusste, tat sein Biss nur einige Sekunden lang weh, bevor der Schmerz zu verblassen begann, aber er wollte Emma nicht einmal das antun. Dafür konnte er sich noch zu lebhaft an ihre Reaktion in Tokio erinnern und wie gnadenlos er dort mit ihr umgegangen war. Also übte er sich in Geduld. Er konnte schließlich auch anders.

Seine sanften Küsse wechselten sich mit sanftem Saugen an ihrem Hals ab, um Emma und auch sich selbst noch etwas weiter zu beruhigen. Doch schließlich war es so weit.

Cayden nahm nur einen kurzen Atemzug der Vorwarnung, ehe er seinen Mund weiter öffnete und ohne noch weiter zu zögern, sauber seine Fänge in Emmas Hals versenkte.

 

Ihre Nervosität schien ins Unermessliche zu wachsen, als seine Lippen über ihre Schulter und weiter hinauf streichelten. Bilder aus schlechten Filmen und Büchern mit miesen Covers schossen ihr durch den Kopf. Emma versuchte, sie zur Seite zu schieben, doch es half nur wenig.

Sie war unendlich froh, dass sie in Caydens Armen liegen und sich an ihm festhalten konnte. Andererseits war es ihr schon fast peinlich, dass sich ihre Finger ab und zu vielleicht etwas zu fest an ihn krallten. Und das taten sie auch, als sie schließlich den kurzen Schmerz spürte, der sich so lange hinter Küssen und Streicheleinheiten versteckt gehalten hatte.

Emma verkrampfte sich kurz, kniff die Augen zusammen und war erstaunt über sich selbst, dass sie ihren Fluchtreflex so gut unter Kontrolle hatte. Es war ... so anders.

Am Hals eines Geliebten zu knabbern, ein Ohrläppchen mit den Zähnen zu necken oder etwas Ähnliches ... das war Emma bekannt. Aber das hier ... Es fühlte sich irgendwie falsch an. Schon allein, weil es zu Anfang wehtat. Doch selbst, als der Schmerz ziemlich schnell nachließ, wollte der logisch denkende Teil von Emmas Gehirn ihr mit der Holzhammermethode beibringen, dass es nicht vernünftig war, sich beißen und das Blut aus den Adern saugen zu lassen.

Sie würde sich schwach fühlen, es würde ihr vielleicht schaden ... Es würde ... dem Baby ...

Wie von selbst drückten Emmas Hände gegen Caydens Brust, wollten ihn wegschieben, um Emma und das Baby zu schützen.

 

Cayden konnte es nicht genießen. Obwohl der Geschmack von Emmas Blut im Vergleich zu dem von Vanessa wie ein gut gereifter Rotwein zu einem Billigwein im Tetra Pak dastand, spürte er ihre Abwehr schon beim ersten Schluck und das hatte vor allem Vorrang.

Seine erste Reaktion wäre gewesen, von ihr abzulassen, um ihr ihren Freiraum wieder zu geben, nach dem sie forderte, doch sein Verstand und Instinkt sagten ihm, dass er das nicht so schnell konnte. Seine Fänge hatten ihre Vene geöffnet. Wenn er jetzt einfach von ihr ablassen würde, gäbe das eine ziemliche Sauerei und das würde ihr mehr Angst machen, als alles andere. Also gab er ihren Wünschen nicht sofort nach, sondern hielt sie im Gegenteil enger bei sich, damit sie sich nicht einfach von ihm losreißen konnte. Es dauerte entnervend lange, die kleinen Wunden zu versorgen und darauf zu warten, bis sie sich schlossen. Natürlich handelte es sich hierbei nur um ein paar Augenblicke, aber es war wie eine gefühlte Ewigkeit, bis Cayden Emma endlich loslassen und ein Stück von ihr abrücken konnte.

Sein Herz donnert ihm bis zum Hals, während er sich aufsetzte und einfach ein paar Mal tief durchatmete. Er schmeckte Emma immer noch auf seiner Zunge, was seine Fänge noch wilder pochen ließ. Aber er würde dem nicht nachgeben und bei Emmas Reaktion war er sich nicht einmal sicher, ob er dem bei ihr überhaupt jemals wieder nachgeben durfte. Es wäre vielleicht tatsächlich am Einfachsten, sich eine anonyme Quelle auf der Straße zu suchen, sollte sein Durst zu groß werden. Auch wenn ihm das widerstrebte.

 

Kaum dass er sich von ihr löste und sich aufsetzte, lastete der Abstand wie Blei auf Emmas Körper. Sie rollte sich ein wenig zusammen und spürte an ihrem Hals nach, ob es in irgendeiner Weise schmerzte.

Kurz schloss sie die Augen, um sie dann wieder zu öffnen und eine Hand auf Caydens Arm zu legen. „Es tut mir leid“, flüsterte sie leise und mit leicht belegter Stimme. „Es ...“

Es hatte doch gar nicht so sehr wehgetan. Aber es hatte sie erschreckt. Die Nervosität hatte sich schließlich in Emma überschlagen und sie hatte ... absolut falsch reagiert.

Als ihr Blick über die Kissen wanderte, konnte sie nicht einen Tropfen Blut entdecken. Es war so, als wäre das gerade eben überhaupt nicht passiert.

Emma wagte es nicht, die Finger an die Stelle zu legen, wo Cayden sie gebissen hatte. Sie ... wusste gar nicht so genau, was sie jetzt tun sollte.

 

„Ist schon gut, Em.“ Caydens Stimme klang ebenso leise, wie die von Emma und er brauchte noch einen Moment, in dem er seine Fänge zurückdrängte, da sie heute ohnehin nicht mehr gebraucht wurden, ehe er sich wieder zurück ins Kissen sinken ließ.

Für eine Hexe hatte sie das immerhin sehr gut gemacht. Andere hätten ihm dafür bestimmt schon einen Holzpflock ins Herz gerammt. Er konnte also dankbarer denn je sein, Emma gefunden zu haben.

„Mach dir keinen Kopf deswegen. Ich weiß, dass das nicht leicht für dich war.“ Cayden streichelte ihr zärtlich über die Wange, ehe er sie wieder eng an sich heranzog und dabei immer noch nicht das flatternde Gefühl der Angst in sich los wurde, gleich wieder von ihr weggedrängt zu werden. Das war dumm und das wusste er auch. Aber es war nun einmal auch für ihn nicht leicht, abgewiesen zu werden. Mochten die Gründe noch so nachvollziehbar sein.

„Wir müssen das nicht wieder tun.“ Seine Stimme war nur noch ein leises Flüstern. „Hauptsache du bist bei mir.“ Das war ihm wichtiger als alles andere. Emma war ihm wichtiger, als er selbst. Er würde schon einen Weg finden, um mit dieser Situation zurechtzukommen.

 

Nicht leicht für sie?

Emma konnte sich nicht einmal ansatzweise ausmalen, wie es für Cayden sein musste, zuerst die Erlaubnis zu bekommen und dann einfach zurückgedrängt zu werden. Noch dazu von jemandem, der ihm ... viel bedeutete.

Mit einem tiefen Seufzen kuschelte sie sich an ihn und sprach an seine Haut. „Ich sage dir, daran ist nur meine Hexenfamilie schuld. Und Twilight.“ Sie grinste in sich hinein und schlang ihre Arme fest um Caydens Körper. Noch einmal entschuldigte sie sich ernsthaft.

„Cayden, es tut mir wirklich leid. Es ... fühlt sich einfach seltsam an. Und ich habe an das Baby gedacht, und ...“ Emma brach ab und sah ihm in die Augen. Darin suchte sie nach Enttäuschung oder irgendeinem Gefühl, das sie zuordnen und irgendwie zu ihrer Verteidigung nutzen konnte. Es ... tat ihr einfach nur leid. Und wenn sie so darüber nachdachte ...

„Vielleicht ist es beim nächsten Mal schon einfacher. Aber ... bitte sei noch ein bisschen geduldig mit mir.“

 

„Du musst es mir wirklich nicht erklären.“ Er strich ihr sanft über den Rücken und sog den Duft ihres noch feuchten Haares ein. Cayden erwiderte nichts darauf, dass es ein nächstes Mal geben könnte. Er wollte sich jetzt keine Hoffnungen machen und Emma und sich damit unnötig unter Druck setzen. Wenn es ein nächstes Mal gab, dann würde es eben eines geben und wenn nicht, dann nicht. Zum Glück gab es Alternativen. Außerdem war es ihr gutes Recht, an das Baby zu denken, obwohl er ihr bereits versichert hatte, dass ihm nichts geschehen würde. Solche Instinkte konnte man nun einmal nicht einfach abstellen und das verlangte er auch gar nicht von ihr.

„Du kannst all meine Geduld haben, Em. Solange du sie auch mit mir hast.“ Cayden lächelte leicht, ehe seine Lippen auf der Suche nach Emmas Mund, über ihren Nasenrücken wanderten. Es gab schließlich auch noch andere angenehmere Dinge, die man damit anstellen konnte und nach der kleinen Abweisung von eben, wäre ein Kuss genau die richtige Medizin, um das unangenehme Gefühl in seinem Bauch zu lindern.

 

Sie nickte. „Natürlich.“

Es war ja nicht so, dass sie es nicht freiwillig getan hatte. Aber so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatte, war es eben doch nicht gewesen. Sie vertraute Cayden und ihr war auch vom Kopf her klar, dass er sie nicht gefährden würde. Aber als er sie gebissen hatte, war zu viel in ihr hochgekommen. Angst und Zweifel. Beides wollte sie im Bezug auf ihn nicht haben. Aber sie ... hatte es in diesem Moment leider auch nicht ändern können.

Emma holte tief Luft und drängte ihre schlechten Gefühle beiseite. Sie musste doch nur den Duft von Caydens Haut einatmen, sich in seine Kissen und seine Umarmung kuscheln. Dann ... fühlte sich schon alles viel besser an. Sehr viel besser.

Ihre Lippen fanden seine, drückten sich leicht auf seinen Mund und das nächste Seufzen war ganz anders als verzweifelt.

50. Kapitel

Der Entschluss, die Firma nicht untergehen zu lassen, stand dem Entschluss, weniger zu arbeiten und mehr Zeit für Emma zu haben, deutlich im Weg. Sie beide hatten nach dieser ersten gemeinsamen Nacht, seit er aus der Untersuchungshaft entlassen worden war, keine Gelegenheit dazu gehabt, auch nur für ein paar Minuten im Bett liegen zu bleiben und noch etwas zu kuscheln. Obwohl er Emma nicht hetzte, war Cayden doch sofort aufgestanden, kurz unter die Dusche gestiegen und hatte sich rasch angezogen. Das Frühstück hatte er einfach ausgelassen, und obwohl er immer noch ein eher mulmiges Gefühl im Bauch hatte, wenn er den Gang zu seinem Büro entlang schritt, so zögerte er doch keinen Moment, um sich erneut ins Chaos zu werfen und dagegen anzukämpfen, kaum dass die Bürotür hinter ihm geschlossen war.

Dennoch musste er sich ein paar Augenblicke zugestehen, in denen er einfach nur dastand und seinen neuen Bürosessel ansah. Der alte war inzwischen weggeräumt und durch ein neues Gegenstück ersetzt worden. Auf dem Fußboden, dort wo Emma ihren Dolch hineingebohrt hatte, war ebenfalls nichts mehr zu sehen. Dafür sorgte ein moderner, zu seiner Einrichtung passender Teppich.

Irgendwie fiel es Cayden schwer, zu realisieren, dass Emma erst gestern hinter sein Geheimnis gekommen war. Sie … Noch nie hatte so schnell jemand damit umgehen können. Kein einziger Mensch, dem er sich anvertraut hatte, war so locker damit umgegangen, nachdem die erste Überraschung vorüber war. Andererseits … genau genommen war Emma eine Hexe. Also war sie mit übernatürlichen Dingen aufgewachsen. Wie hätte sie den Tatsachen daher nicht so schnell glauben können, wo sie doch von Geburt an mehr Weitblick besessen haben musste als andere Menschen?

Cayden musste sich in seinen noch eher unangepassten Sessel setzen, als er nur zu deutlich von den Eindrücken überflutet wurde, die am gestrigen Tag noch stattgefunden hatten.

Die Vertrautheit zwischen ihr und ihm war sofort wieder da gewesen, nachdem die große Distanz zwischen ihnen einmal überwunden worden war. Zumindest erging es ihm so und Emma hätte sich bestimmt nicht von ihm beißen lassen, wenn es ihr anders ergangen wäre.

So im Nachhinein betrachtet war es einfach unfassbar, dass sie ihm das erlaubt hatte. Schließlich waren sie genau genommen Feinde, auch wenn er nicht das kleinste negative Gefühl für Emma empfand, nur weil sie eine Hexe war. Für ihn war diese ganze Feindschaft zwischen ihren Arten ohnehin meist unverständlich gewesen. Er mochte zwar noch nicht auf der Welt gewesen sein, als diese Feindschaft begonnen hatte, aber er hatte im Laufe der Jahrhunderte durchaus mitbekommen, dass es keine biologische, sondern eine äußerst 'menschliche' Feindschaft war, die da schon so lange tobte. Irgendjemand von ihnen bekriegte sich immer und schürte somit weiter den Hass. Zumindest war das seine Ansicht der Dinge, weshalb er Emma von Anfang an nicht hätte hassen können, nur weil sie eine Hexe war. Sie war nun einmal, was sie war und mit ihm verhielt es sich nicht anders. Dennoch fragte sich Cayden unweigerlich, ob sie ihm irgendwann noch einmal gestatten würde, von ihr zu trinken.

Das Klingeln des Telefons hielt ihn zum Glück davon ab, sich noch einmal alle Einzelheiten dieses viel zu kurzen Augenblicks ins Gedächtnis zu rufen. Es hätte ihn ohnehin nur auf die eine oder andere Art gequält.

„Cayden Calmaro, was kann –“ Cayden rieb sich kurz unterhalb der Brillengläser über die Augen und lehnte sich dann mit einem lautlosen Seufzen zurück, während er dem Anrufer wortlos zuhörte, der – sollte er ihn nicht noch irgendwie überreden können – vermutlich ebenfalls zu einem Springer wurde.

Verdammt! Er hatte schon zu viele Kunden verloren.

 

Es war ein merkwürdiges Gefühl. Als Emma die Augen aufgeschlagen und Cayden neben sich gesehen hatte, war Freude über sie hinweg geschwappt. Aber als er dann so abgeklärt aufgestanden war, geduscht und sich angezogen hatte, war es ihr ein wenig anders geworden. Sie hatte sich kurz so gefühlt, als wäre sie fehl am Platz und sollte sich schnell in ihre Klamotten werfen und verschwinden.

Als sie allerdings ihre Zähne geputzt und sich angezogen hatte, kam Emma wieder zu Verstand. Sie fuhr zwar nach Hause, aber nur, um ebenfalls kurz zu duschen, in frische Kleider zu wechseln und dann ins Büro weiter zu fahren.

Als sie dort ankam, lief bereits die Telefonleitung heiß und vor ihrem Empfangstisch standen sogar zwei Leute, die Cayden persönlich sehen wollten, um über ihre Gelder in der Firma zu sprechen. Stella schien alles so weit im Griff zu haben, dass Emma nicht einfach ihre Jacke fallen ließ, sondern ihre Sachen in der Garderobe unterbrachte, bevor sie ihrer Kollegin helfend zur Seite sprang und die etwas schwierigeren Kunden übernahm, damit Stella ein bisschen Stress abbauen konnte. Dass Emma dafür so manche schlechte Laune abbekam, machte ihr wenig aus. Was sie wurmte, war der Grund für die Gewitterwolke über der Firma und die Aussicht, dass nur wenige Sterne am Horizont standen. Sie hatte wirklich keine Ahnung, wie man das alles wieder ins richtige Licht rücken und wieder geradebiegen konnte.

 

Im Laufe des verdammt langen Vormittags, überkam Cayden nicht nur einmal der Drang, mit der Stirn gegen die Glasscheibe in seinem Rücken zu donnern, bis sie zerbrach, sondern gleich mehrmals, während er die Anrufe und auch persönlichen Gespräche von Angesicht zu Angesicht immer wieder auf Geschäftsniveau zurückzubringen versuchte. Es waren mühselige Gespräche, die alle nur um ein Thema zu kreisen versuchten – seiner Verhaftung und was nun wirklich an der Sache dran sei.

Da das nicht viel mit dem Geschäft, aber sehr wohl mit dem Vertrauen seiner Kunden in ihn zu tun hatte, konnte er das Thema nicht vollkommen abblocken, aber es brachte ihn innerlich immer mehr und mehr auf und kostete ihn zudem immense Kraft, um seine ruhige Fassade aufrechtzuerhalten, anstatt einfach seine Meinung zu dem ganzen in den Raum zu brüllen, damit es endlich alle kapierten.

So war er auch nach seinem letzten Gespräch immer noch höflich und zuvorkommend, als er Antony Dawn – einen der ihm erhalten gebliebenen Bandmanager – aus seinem Büro führte und sich mit einem kräftigen Händeschütteln verabschiedete.

„Und danke für Ihr Vertrauen“, schickte er dem Kerl noch hinterher, obwohl er beinahe an den Worten erstickte. Schließlich hatte Cayden jahrelang bewiesen, dass man ihm vertrauen konnte und es war verletzend, dass er sich nun den Mund fusselig reden musste, um diesen Status wieder herzustellen.

Cayden ging wieder in sein Büro, doch ehe er die Türe ganz hinter sich schließen konnte, drehte er sich noch einmal zu Emma um, die er gerade noch so im Blick hatte, und wartete kurz, bis ihre Blicke sich begegneten. Wie viel Kraft er aus einem einzigen Blick von ihr zog, könnte er ihr nie erklären, aber er sandte ihr wortlos mit den Lippen ein „Ich liebe dich“, ehe er die Tür wieder hinter sich schloss und zu seinem Telefon hinüber ging, wo bereits wieder ein Anrufer zu ihm durchgestellt worden war.

Die Hoffnung auf positive Nachrichten hatte er schon längst aufgegeben.

 
 

***

 

Kurz vor seiner Mittagspause hatte er ein paar Minuten lang Luft, weshalb Cayden schließlich nach langem Überlegen Emma zu sich herein bat, um mit ihr über das zu sprechen, was ihm in den letzten Stunden immer wieder durch den Kopf gegangen war und sich auch nicht so einfach verdrängen ließ. Es ging um sein Image, also auch um PR und das brachte ihn unweigerlich auf den Grund dieses angerichteten Schadens – Vanessa.

Nun da alle Karten offen auf dem Tisch lagen, sah er keinen Grund mehr, Emma aus diesem Thema herauszulassen. Ganz im Gegenteil. Er wäre dankbar, wenn er mit dieser Bürde nicht alleine dastehen würde.

 

Vor Emma wiederholte sich leider immer wieder das gleiche Schauspiel: Sie gingen wütend hinein und kamen nur weniger wütend wieder heraus. Die schlechte Stimmung und die sich anbahnende Verzweiflung waren jedes Mal zu spüren, wenn sie in Caydens Büro ging, den Gästen Kaffee anbot und sich dann wieder leise zurückzog. Die Männer schienen sie kaum zu bemerken, redeten sich weiter in Rage und prügelten verbal auf Cayden ein, dass Emma am liebsten eingeschritten wäre. Aber die Firma war seine Verantwortung. Sein Baby. Emma war klar, wie gut sich Cayden auskannte und wie genau er das Maß des Schadens bestimmt erfasst hatte, das es zu reparieren gab.

Bloß wenn sie sich eine Auszeit zum Durchatmen in der Kaffeeküche nahm, sich zwei Atemzüge gönnte, wurde ihr ganz eng ums Herz. Ja, es war Caydens Firma und er wusste, was er zu tun hatte. Emma vertraute darauf. Und dennoch hätte sie am liebsten jeden erdenklichen Zauber um sich geschleudert, um ihm auch nur ein wenig helfen zu können.

Das schien auch Stella irgendwie zu spüren, denn als Emma wieder an ihren Schreibtisch ging und sich steif auf ihrem Stuhl niederließ, schenkte ihre Kollegin ihr ein aufmunterndes, aber schiefes Lächeln. Emma wusste, was das bedeuten sollte. Aber sie zweifelte trotzdem daran: Es würde nicht so einfach wieder alles gut werden.

Als schließlich eine Nachricht von Cayden auf ihrem Bildschirm landete, dass er sie sprechen wollte, hüpfte ihr Herz schmerzhaft in Emmas Brust. Sie wusste auch noch nicht, was sie sagen sollte, als sie an die Bürotür klopfte und schließlich vorsichtig in das riesige Büro und vor seinen Schreibtisch trat.

 

Als Emma die Tür hinter sich geschlossen hatte, stand Cayden wortlos von seinem neuen Bürosessel auf, ging um den Schreibtisch herum und zog sie einfach in die Arme, um sie festzuhalten. Er drückte seine Nase in ihr Haar, selbst auf die Gefahr hin, dass Emma ihre Frisur danach wieder etwas richten musste. Aber im Augenblick war ihm das herzlich egal. Denn sobald er ihren vertrauten Duft tief in seine Lungen gesogen hatte, fiel ein Teil seiner bisherigen Anspannung von ihm ab und zu gleich war es ihm nun absolut unmöglich, seine Fänge länger im Zaum zu halten.

Die Wut hatten sie schon mehrmals herauslocken wollen, doch letztendlich war es Emmas Duft, der seinen Widerstand brach. Aber das war egal. Vor ihr musste er sich zum Glück nicht länger verstecken, so neu und ungewohnt dieses Gefühl für ihn auch noch war.

Erst nachdem Cayden ihr auch einen flüchtigen Kuss von den Lippen gestohlen hatte, ließ er etwas von ihr ab, damit er ihr in die Augen sehen konnte.

„Ich muss mit dir reden. Aber erst will ich wissen, wie es dort draußen aussieht. Kommst du zurecht?“ Die Sorge stand ihm in fetten Buchstaben auf die Stirn geschrieben.

 

Bei Stella und ihr sah es wahrscheinlich nicht besser oder schlechter aus, als bei ihm hier drinnen. Aber Emma wollte Cayden nicht noch zusätzlich Sorgen bereiten, deshalb lächelte sie und meinte nur: „Etwas chaotischer als sonst, aber man ist ja als persönliche Assistentin Einiges gewohnt.“ Um ihm zu bedeuten, dass sie das nicht böse meinte, streichelte sie ihm sanft über den Arm und lächelte wieder. Diesmal etwas wärmer.

„Bei dir alles in Ordnung? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie ... anstrengend das alles ist.“ Das konnte sie wirklich nicht. Was bei ihr im Vorzimmer ankam, waren nur die Ausläufer dessen, was sich hier drinnen abspielen musste. Hinter verschlossenen Türen machten die wütenden und vor allem verunsicherten Kunden, die ihr Geld in Caydens Firma gesteckt hatten, sicher noch mehr Wirbel. Nicht ganz zu Unrecht, wenn man bedachte, wie die ganze Sache mit Caydens ... Frau nach außen hin wirken musste.

Emma schüttelte sich leicht, als sie an Vanessa dachte. Aus einer neutraleren Position heraus hätte wahrscheinlich auch Emma eine ziemlich schlechte Meinung von Cayden. Immerhin war er nicht der erste wohlhabende Mann, der angeblich seine Frau verprügelte. Schon gruselig, wenn man es so betrachtete.

 

„Es gibt Schlimmeres.“ Zwar fühlte es sich in den Momenten, wo es besonders hart war, nicht so an, aber eigentlich stimmte es. Er musste sich nur immer mal wieder daran erinnern.

Cayden bot Emma den Platz vor seinem Schreibtisch an und lehnte sich selbst gegen die Kante. Er fischte noch nach der Mineralwasserflasche und dem Glas, ehe er es bis zum Rand füllte und ebenso schnell wieder leerte. Endlich kam er einmal dazu, etwas zu trinken, aber seinen Durst löschte es natürlich nicht wirklich.

Er hatte gestern zwar einen Schluck von Emmas Blut getrunken, aber das war mehr ein Aperitif als eine Mahlzeit gewesen und nach dem ganzen Stress in letzter Zeit war dessen positive Wirkung schon längst verbraucht. Aber daran konnte und wollte er im Augenblick nicht denken.

„Ich weiß, dass die PR-Abteilung sich gerade die Köpfe zerbricht und vermutlich alles an Können aufbietet, das sie aufbringen kann, aber nach den wenigen Stunden heute, bin ich mir sicher, dass das nicht reichen wird“, begann er schließlich zu erzählen, was ihm keine Ruhe mehr ließ.

„Nicht die Firma steht schlecht da, sondern ich und daran ist leider nicht zu rütteln.“ Er seufzte schwer und starrte auf den letzten Schluck Wasser am Boden seines Glases. „Ich will es zwar nicht, aber je mehr ich darüber nachdenke, umso unweigerlicher komme ich zu dem Schluss, dass ich Vanessa im Krankenhaus besuchen muss.“

Ganz ruhig stellte er das Glas zur Seite, stieß sich vom Schreibtisch ab und ging um ihn herum, um mit verschränkten Armen aus dem Fenster zu sehen. Das alles fiel ihm verdammt schwer zu sagen. „Laut ihr und den Medien bin ich zwar von den Vorwürfen freigesprochen worden, was den Überfall auf sie angeht, aber sie hat noch immer nicht berichtigt, dass es zwischen uns tatsächlich nie häusliche Gewalt gegeben hat und genau diese Tatsache wird auch weiterhin gründlich von der Presse ausgeweidet. Zudem verhalte ich mich nicht wie ein sorgender Ehemann, den keine Schuld trifft.“

Cayden blickte auf seine Hand herab, dort wo so lange der goldene Ring seinen Platz gehabt hatte und ihn nun nicht mehr fesseln konnte. Aber seine Entscheidung hatte Folgen. Nun mehr den je.

„Die Medien werden sich wie ausgehungerte Wölfe darauf stürzen, sobald sie von der geplanten Scheidung erfahren.“ Was ihn in ein noch schlechteres Licht rückte, aber das konnte er ertragen. Schließlich ging es dabei auch um Emma und ihre gemeinsame Zukunft. Sie sollte nur wissen, worauf auch sie sich da einließ.

 

Wenn es ihr vorhin schon gegen den Strich gegangen war, an Vanessa zu denken, stellten sich Emma jetzt sämtliche Nackenhärchen auf und ein fester Ball formte sich in ihrer Magengegend, als sie daran dachte, Cayden könnte diese Frau wiedersehen. Und das sogar freiwillig.

Gut, wenn sie ehrlich war, ergab es Sinn, dass er Vanessa besuchte. Würde er es nicht tun, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass alles vollkommen aus dem Ruder lief und er im Endeffekt nichts mehr dagegen tun konnte. Trotzdem fühlte es sich schrecklich an. Emma konnte sich gar nicht vorstellen, ihn gehen zu lassen. In die Gegenwart dieser Frau zurück, die so viel Schuld an seiner derzeitigen Situation trug.

„Ich bin nicht begeistert davon“, sagte sie allerdings nur schlicht, um nicht mit ihrer wirklichen, vollständigen Meinung herauszuplatzen und wie ein eifersüchtiges Mädchen auszusehen. Er trug den Ring nicht mehr. Emma hatte eigentlich gedacht, das war schon sehr viel verlangt gewesen. Aber jetzt wurde ihr klar, dass sie noch sehr viel mehr wollte. Vanessa sollte aus Caydens Leben verschwinden.

 

„Ich bin ganz deiner Meinung“, stimmte er ihr zu. Etwas anderes hatte Cayden nicht erwartet. Aber ob nun er oder sie es wollten oder nicht wollten, er musste es tun. Vanessa war einer seiner wunden Punkte und noch dazu lag es in ihrer Hand, dort direkt den Finger draufzulegen und noch fester zu bohren, als sie es ohnehin schon getan hatte. Wenn er das mit ihr nicht bald regelte, würde er die Firma nur noch retten können, in dem er sie entweder verkaufte, oder die Mehrheit seiner Stimmrechte an einen der anderen Vorstände abtrat. Allerdings gab es dort niemandem, den er diesen Posten zutraute, weshalb er auch schon vorher nicht in Betracht gezogen hatte, die Leitung der Firma einem dieser Männer zu überlassen.

Aber so oder so würde er sich Unterstützung suchen müssen, denn Cayden hatte nicht vor, sich noch länger von der Arbeit auffressen zu lassen und keine Zeit mehr für Emma und ihr Kind zu haben. Was das anging, hatte er nicht vor, irgendetwas an seinen Plänen zu ändern. Hier ging es lediglich darum, Arbeitsplätze von guten Mitarbeitern zu sichern, die ihm all die Jahre über treu zur Seite gestanden hatten. Er würde sie auf keinen Fall in Stich lassen, obwohl er das einfach so könnte, wenn er wollte. An Geld mangelte es ihm schließlich nicht.

„Es ist dennoch unvermeidlich.“ Cayden drehte sich um und ließ sich wieder in seinen Stuhl sinken. Er betrachtete nachdenklich Emmas Gesicht und wünschte sich, er könnte ihr irgendetwas geben, damit sie nicht auch noch von dem Gift, das Vanessa selbst jetzt noch so gut versprühte, angegriffen wurde.

„Heute Nachmittag steht noch ein Vorstandstreffen an, aber danach könnte ich es hinter mich bringen. Ich muss einfach herausfinden, was sie will.“ Wieder ein Seufzen. „Sie weiß einfach zu viel.“

 

Heute Nachmittag schon? Beinahe wären ihr die Worte herausgerutscht und an ihrem Gesicht musste Cayden wohl erkannt haben, dass sie seine Aussage nicht nur überraschte, sondern sogar traf. Zumindest sah er so aus, als würde er mitbekommen, wie schwer das Gewicht in ihrem Magen wurde. Emma würde es nicht verhindern können. Cayden musste mit Vanessa sprechen und das alles irgendwie gerade rücken.

Den Blick auf ihre Knie gewandt, wagte Emma nicht zu mutmaßen, wie dieses Zurechtrücken aussehen könnte. Sie konnte sich nur allzu gut an Vanessas Auftreten und deren Arroganz erinnern. Emma konnte sich nicht einmal vorstellen, dass diese Frau Cayden einfach aufgeben würde, wenn sie noch irgendeine andere Möglichkeit sah.

Ihre Finger verhakten sich in ihrem Schoß so fest miteinander, dass die Knöchel weiß hervor traten. Aber mit einem tiefen Atemzug beruhigte sich Emma wieder. Sie konnte nichts dagegen tun. Sie würde dem Ganzen seinen freien Lauf lassen müssen. Das war Caydens Sache und sie würde ... ihm vertrauen.

 

Oh ja, er sah es genau. So lange hatte er Emma dort draußen vor seiner Tür sitzen sehen. So lange hatte er sie beobachten und studieren können, da er schon länger, als sein Herz es zugeben wollte, Interesse an ihr bekundet hatte. Zunächst war es Neugierde und Vorsicht gewesen, weil er gewusst hatte, was sie war. Aber das hatte sich geändert. Nicht jedoch die Fähigkeit, selbst die subtilste Veränderung an ihr aufzunehmen. Ob er sie deuten konnte oder nicht, spielte dabei keine Rolle. Cayden bekam es mit und konnte sich damit auseinandersetzen, wenn es die Zeit zuließ. Im Augenblick war das allerdings nicht nötig.

„Em …“ Er lehnte sich weiter vor und suchte ihren Blick. „Einmal davon abgesehen, wie schwer mir die Frau zusetzt, würde ich doch gerne wissen, was du darüber denkst. Was macht dir Sorgen?“ Denn das tat es. Er sah es ihr an, wie wenig sie von seinem Vorhaben hielt, auch wenn er es deshalb trotzdem nicht einfach so fallenlassen konnte.

 

Sie sah auf, hob dabei allerdings nicht den Kopf. Unter ihren Haaren hervor blinzelte Emma, überrascht von der Frage, die so sehr ins Schwarze getroffen hatte. Sie wollte ihm nicht sagen, was sie darüber dachte. Denn ihre Gefühle diesbezüglich waren ihr zu peinlich. Da kochte sie lieber vor sich hin und schluckte ihre Eifersucht hinunter, bis sie davon platzte.

Nach einer Weile, die sich Caydens Blick nur starr ertragen hatte, schüttelte ein Seufzen Emma einmal vollkommen durch.

„Du kannst dir denken, was ich davon halte. Und um ganz ehrlich zu sein, habe ich keine Lust, es auszusprechen. Ich kenne ... deine Frau nur von der schlechten Seite, die sie mir gegenüber und auch im Bezug auf dich gezeigt hat. Dass du zu ihr gehst und sie ...“ Wieder ein Seufzen. Diesmal allerdings eher genervt, als betroffen. „Ich weiß noch nicht, wie ich damit umgehen soll.“

Eine weite Geste umfasste alles, was zu diesem ganzen, verworrenen Gebilde gehörte. Vanessa, Cayden, deren Ehe, Emma, das Baby und diese ganze Täuschungsaktion, um Cayden und seine Firma in den Ruin zu treiben. „Ich weiß nicht, welche Gefühle nur zu mir und welche zu uns gehören. Es ist ... verdammt schwierig. Und doch sehe ich ein, dass du mit ihr sprechen musst.“ Es machte sie nur vollkommen fertig, dass er sie dabei auch noch persönlich besuchen würde.

 

Cayden dachte eine Weile über Emmas Worte nach, während sein Blick auf dem blinkenden Licht des Telefons lag, da offenbar jemand in der Leitung war. Egal. Er ignorierte es einfach und konzentrierte sich lieber wieder auf Emma.

Was genau sie meinte, verstand er trotzdem nicht. Ihm war zwar klar, dass Emma Vanessa kein Bisschen mochte und er das nur allzu sehr nachvollziehen konnte, aber darüber hinaus … Nein, er kam nicht drauf, was sie sonst noch wurmte. Vielleicht dass Vanessa durchaus in der Lage war, alles noch schlimmer zu machen und da das natürlich am Ende auch Emma betraf, war die Sorge verständlich. Aber wenn Cayden eines mit Sicherheit wusste, dann das, dass er niemals zulassen würde, dass Vanessa oder jemand anderes Emma oder dem Baby schaden konnte. Beide waren nun sein Herz und sein Leben. Es gab nichts, was er nicht für sie tun würde, sollte es die Situation erfordern.

Bevor allerdings etwas von den finsteren Gedanken auch in seinem Gesicht zu lesen war, sah Cayden wieder hoch und schenkte Emma ein warmes Lächeln. „Kann ich nach dem Treffen zu dir kommen?“

Wie dringend nötig danach wohl Emmas Nähe für ihn sein würde, verschwieg er lieber, aber auch so wäre es ihm ein Bedürfnis, auch diese Nacht wieder bei ihr zu sein. Die Frage war nur, ob Emma das gerade wegen all der Ereignisse in letzter Zeit ebenfalls so sah.

 

Sie musste lachen. In der nächsten Sekunde war es ihr peinlich und Farbe schoss in ihre Wangen. Aber sie konnte einfach nicht anders. Die Frage war so überraschend und unzusammenhängend aus Caydens Mund gekommen, dass Emma im ersten Moment nicht gewusst hatte, ob er sie ernst meinte. Aber das tat er. Es war so offensichtlich, erleichternd und befreiend, dass ihr Körper einfach ohne nachzufragen darauf reagiert hatte. Mit herzlichem Lachen.

Immer noch ein wenig peinlich berührt, drückte Emma ihre Fingerspitzen gegen ihre Lippen, sah kurz weg und dann wieder Cayden an, bevor sie zwischen den Fingern hervor murmelte: „Sehr gerne.“

Er konnte sich bestimmt gar nicht vorstellen, wie merkwürdig sich die Frage für Emma angefühlt hatte. Zumindest sah Cayden so aus, als wäre die Frage das Natürlichste der Welt.

 

Obwohl Cayden sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte, da Emmas Lachen einfach ansteckend war, war doch auch seine Augenbraue fragend in die Höhe gewandert. Allerdings war er klug genug, nicht nachzufragen, sondern es einfach hinzunehmen und sich darüber zu freuen, dass sie auf diese Art reagiert hatte, als auf eine ganz und gar andere Art, die vielleicht nicht besonders positiv ausgefallen wäre.

Da das geklärt wäre, gab es eigentlich nur noch eines zu tun und dafür erhob sich Cayden wieder aus seinem Sessel, umrundete seinen Schreibtisch und hockte sich so vor Emma hin, dass er leicht zu ihr aufsehen musste. Er gab keine Erklärungen dazu ab, sondern berührte mit einer Hand ihren Nacken, während er die Augen schloss und sich mit der anderen die Brille von der Nase zog.

Seine Hand schob ihm Emma etwas weiter entgegen, beim Rest musste er sich auf seinen Tastsinn und ihre Teilnahme verlassen, da er nichts sehen konnte. Aber es war unnötig. Ihre Lippen würde er wohl immer wieder selbst in der finstersten Nacht finden und dieses Mal beließ er es nicht bei einem flüchtigen Kuss. Schließlich hatte er schon seit einigen Minuten Mittagspause, also alle Zeit der Welt, um die Frau ausgiebig zu küssen, die er über alles liebte.

 

Emma fand es im ersten Moment befremdlich, dass er die Brille abnahm, sie sich an seine Hemdtasche steckte und sich dann mit geschlossenen Augen zu ihr lehnte. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis Emma sich daran gewöhnte, dass Cayden ... anders war, als jeder andere, den sie bis jetzt in ihrem Leben kennengelernt hatte. Und mit einem weiteren Schmunzeln stellte sie fest, dass das nicht bei seinen Augen aufhörte.

Weiter lächelnd versank sie in dem Kuss, den er ihr schenkte und versuchte die Gedanken an alle Vanessas der Welt und vor allem an eine bestimmte aus ihrem Kopf zu verdrängen. Diese Frau hatte zwischen Cayden und Emma nichts zu suchen. Weder in Gedanken noch in der Realität.

Die Arme um Caydens Körper geschlungen, kuschelte sie sich an ihn, drückte bald ihre Nase an seinen Hals und schmiegte sich an seine Halsbeuge, um für einen Moment die Augen zu schließen. Es wäre so schön, das alles vergessen und einfach vor sich hinleben zu können. Sich auf das Baby freuen, sich Gedanken darüber machen, wie das Kinderzimmer irgendwann aussehen würde ...

Hätte Emma nicht so viel Angst vor dieser Zukunft, sie hätte sich bestimmt gefreut. Aber noch schien so vieles andere wichtiger zu sein, dass sie sich selbst gar keine Zeit dafür ließ. Wahrscheinlich war es besser so.

„Hast du ein paar Minuten Zeit, um etwas zu essen?“, wollte sie leise wissen, bevor sie Cayden auf sein Ohrläppchen küsste.

 

Obwohl Cayden froh war, dass er einfach nicht genug von Emma bekommen konnte, so war sich sein rasendes Herz dadurch erst recht bewusst, wie schnell er sie hätte verlieren können und immer noch verlieren konnte. An Gerüchte, an den Unterschied ihrer Rassen und vielleicht, wenn das Leben es gut mit ihm meinte, würde letztendlich nur noch das Alter zwischen ihnen stehen. Aber so oder so, er war glücklich darüber, sie jetzt bei sich zu haben und festhalten zu können, weshalb es ihm auch umso schwerer fiel, sie wieder loszulassen. Zum Glück musste er das noch nicht.

Caydens Hände streichelten über Emmas Rücken, während er einfach ihre Nähe genoss und immer wieder ihren herrlichen Duft in sich einsog. Er rührte sich noch nicht einmal, als sie ihn an seinen leeren Magen erinnerte, der bestimmt schon während des Vormittags mehrmals vor sich hin gerumpelt hatte, aber ignoriert worden war.

Er seufzte tief und wohlig. „Nur wenn du mir Gesellschaft leistest.“

 

„Natürlich.“ Nichts würde sie lieber tun. Emma drückte Cayden noch einmal, bevor sie sich von ihm losmachte und ihm dann lächelnd ins Gesicht sah.

„Etwas ... Nachhaltigeres als Salat mit Putenbruststreifen?“ Bevor er fragend doch noch die Augen öffnen konnte, nahm Emma die Brille aus seiner Tasche und setzte sie ihm vorsichtig auf.

„Ich hab Lust auf Curry. Hinter dem Bucket Fountain ist ein guter Inder. Wie sieht’s aus?“ Sie lächelte noch herzlicher, jetzt da er sie wieder sehen konnte, und schob seine Brille noch ein bisschen zurecht. Allerdings mehr als Ausrede, ihm danach noch kurz über die Wange streicheln zu können, als es wegen der Brille wirklich nötig gewesen wäre.

 

„Mhmm Curry … Da kommen gute Erinnerungen auf.“ Cayden lächelte Emma nun wieder mit herzlichem Blick an und strich ihre Haare zurecht, die er ein bisschen in Unordnung gebracht hatte. Er fand die kleinen Gesten von ihr unheimlich schön, vor allem weil er sich dadurch wohler in ihrer Nähe fühlte, was seine andere Seite betraf. Er tat es zwar immer noch instinktiv, aber wenn das so weiter ging, würde er sich bald überhaupt nicht mehr vor Emma verstecken. Ein wirklich erstrebenswertes Ziel, wenn man ihre Hingabe bedachte.

„Lass uns gehen.“ Solange sie noch Zeit für sich alleine hatten, sollten sie das ausnützen.

51. Kapitel

Wer bei der Vorstandssitzung dabei gewesen war, den dürfte es nicht wundern, warum sich währenddessen langsam aber sicher Kopfschmerzen bei Cayden einnisteten, die sich auch danach hartnäckig weigerten, wieder zu verschwinden. Aber allein der Gedanke an den bevorstehenden Besuch bei Vanessa gab den Schmerzen noch zusätzlich Nahrung.

Cayden hatte extra im Krankenhaus angerufen, um sich vorher anzukündigen. Er war zwar offiziell von allen Anklagepunkten frei gesprochen worden, aber er wollte nicht riskieren, von irgendjemandem aufgehalten zu werden, wenn er sich schon zu diesem Schritt entschloss.

Das Krankenhaus hatte ihm bestätigt, dass Vanessa ihn der Lage war, ihn zu empfangen und auch zugestimmt hatte, das zu tun. Cayden hätte es doch stark gewundert, wenn sie ihn nicht hätte sehen wollen. Um ehrlich zu sein, hatte er sogar darauf gehofft, dass sie ihn abweisen würde, damit er diesen Schritt nicht machen musste, aber natürlich war ihm das nicht vergönnt.

Zwanzig Minuten und eine Menge unangenehmer Blicke später rieb Cayden sich gründlich das vorgeschriebene Desinfektionsmittel in die Hände ein und konnte dabei kaum verhindern, dass der stechende Geruch seine sensiblen Geruchsrezeptoren total überforderte. Der Schmerz, der daraufhin in seinem Kopf explodierte war beachtlich, aber selbst wenn er hier auf der Quelle von Schmerzmitteln saß, ging er ungerührt durch die Zugangsschleuse in Vanessas Zimmer, um das Treffen nicht noch weiter hinauszuzögern.

Ein paar Schritte vor ihrem Bett blieb er stehen, und zum ersten Mal in Vanessas Leben wollte sich so etwas wie Mitleid für sie in ihm ausbreiten. Cayden erkannte sie nicht mehr. Unter all den Schläuchen und Drähten schaute ein blonder Haarschopf hervor, doch das, was einst ein makelloses Gesicht gewesen war, schien nun zu einer einzigen violett-blauen Masse zugeschwollen zu sein. Selbst ihn, der schon so viel Grausamkeiten gesehen hatte, wie man sie nicht einmal im Fernsehen erleben konnte, schockierte dieser Anblick.

Langsam kam er näher, musterte all die blinkenden und piependen Apparate, ehe sein Blick wieder auf die mehr als zerbrechlich wirkende Frau in dem großen Krankenhausbett fiel. In diesem Augenblick war es ihm unmöglich, zu glauben, sie hätte auch nur irgendetwas mit dieser Sache zu tun, außer unfreiwillig die Rolle des Opfers einzunehmen.

„Wer hat das getan?“ Seine Stimme war kühl, beinahe kalt vor Wut. Selbst Vanessa wünschte er so etwas nicht an den Hals.

Schwach blitzte es unter dem geschwollenen Augenlid hervor, das im Vergleich zum anderen noch richtig gut aussah. Sie war also wach. Ganz wie er vermutet hatte.

„Cayden?“ Ihre Stimme war nur ein Flüstern, aber kein Problem für sein vampirisches Gehör. Er kam noch näher.

„Wer war es, Vanessa?“, fragte er noch einmal fester nach. Schon allein dafür könnte er dem Täter die Kehle und sämtliche Gliedmaßen herausreißen. Wer keine Skrupel hatte, eine schwache Frau so zu zurichten, der verdiente Nichts anderes.

„Weiß … nicht …“ Sie versuchte sich zu bewegen, zuckte dann allerdings vor Schmerz zusammen und atmete schwerer als ohnehin schon.

„Tut weh … Bitte … hilf …“ Das eine Auge, das er gerade noch so sehen konnte, war getrübt vor Schmerz, aber sie sah ihn damit so intensiv an, dass sich seine Nackenhärchen sträuben wollten. Sein Entschluss wurde durch eine ganze Lawine an Mitleid hinfort gerissen, weshalb er nicht weiter nachhakte, sondern sogar flüchtig die kühle Hand streifte, die so weiß war, dass sogar das Laken darunter einen Grauschleier aufzuweisen schien.

„Ich hole eine Schwester, die dir noch mehr Schmerzmittel geben kann.“

Cayden wollte sich gerade umdrehen, als plötzlich eine Hand nach seiner packte und ihn festhielt. Schwach zwar, aber ziemlich eindeutig. Verblüfft drehte er sich wieder um, sah zuerst die schmalen Finger an, die sein Handgelenk kaum umfassen konnten und dann in Vanessas Gesicht. Sie schüttelte so schwach den Kopf, dass er es sich auch nur einbilden konnte, aber ihre aufgeplatzte Lippe formte etwas, das er nicht missverstand.

„B-blut … Bitte … Dein ...“ Weiter kam sie nicht, da sie offenbar von einer weiteren Schmerzwelle überrollt wurde und ihre Finger schlaff von ihm abfielen. Ihr Atem ging nun regelrecht keuchend.

„Nein, Ness.“ Er schüttelte entschieden den Kopf. Sie war am Leben und würde es auch bleiben. Dafür hatte sein Blut bereits gesorgt, denn ansonsten konnte er sich kaum vorstellen, dass jemand solche Verletzungen überlebte.

Sie begann zu weinen. Zunächst unauffällig, aber schon bald war die Tränenspur auf ihrer Wange nicht mehr zu übersehen.

Der zweite Schock. Cayden hatte Vanessa in den ganzen zehn Jahren nicht ein einziges Mal ernsthaft weinen gesehen. Ebenso wenig hatte sie ihn so eindringlich angefleht, wie sie es jetzt mit ihrem stummen Blick tat.

Cayden wollte gehen. Eine Schwester rufen, die ihr die Schmerzen etwas lindern konnte, sodass er das nicht länger mit ansehen musste. Doch anstatt sich weiter vom Bett zu entfernen und den beengenden Raum zu verlassen, trat er ungewollt noch näher, sodass seine Beine an den Rand des Betts stießen.

„Bitte …“

Ihr Blick schnürte ihm die Kehle zu.

„Bitte … Cay-den …“

Sein Widerstand brach. Er konnte das nicht länger mitansehen. So sehr er diese Frau auch verachtete, war ihr Schmerz doch real und Cayden war alles andere als herzlos. Ganz im Gegenteil. Im Augenblick verfluchte er dieses Ding sogar, weil es ihn schwach machte.

Ruckartig riss er seine Hand hoch und hob sie an seine Lippen.

„Wenn es dir wieder besser geht, reden wir. Verstanden? Du wirst mir alles sagen, was du weißt und danach lassen wir uns scheiden.“

Cayden rührte sich so lange nicht, bis sie schwach nickte, danach biss er sich tief in den Daumen und legte ihn schnell an Vanessas Lippen, ehe auch nur ein Tropfen seines Blutes fallen konnte.

Sie war beinahe zu schwach, um den Mund richtig zu öffnen, aber er sah, wie sie mühsam einen Tropfen nach dem anderen schluckte und ihr Körper sich schließlich zu entspannen begann. Das war der Zeitpunkt, an dem Cayden seinen Daumen zwischen seine anderen Finger steckte, eine Faust bildete und damit den Raum verließ.

Für heute hatte er wirklich genug erlebt und die zweite vorgeschriebene Ladung Desinfektionsmittel in der offenen Wunde gab ihm den Rest.

 
 

***

 

Emma hatte sich entschieden, ihre Sorgen mit auf die Straße zu nehmen. Nach dem Curry mit Cayden war sie in die Firma zurückgefahren, hatte erledigt, was erledigt werden musste und sich dann pünktlich zum Feierabend in die Menschenmengen am Pier gestürzt. Allerdings half der Anblick von glücklich lächelnden, Händchen haltenden Pärchen nicht gerade dabei, sie aufzumuntern. Immer wieder wanderten ihre Gedanken zu Cayden ins Krankenhaus. Zu Vanessa, die bestimmt versuchen würde, ihn zu manipulieren, so wie sie es immer getan hatte. Und wie sie es so viele Jahre erfolgreich geschafft hatte.

Emma wurde es richtig flau im Magen, als sie an die Art dachte, mit der Vanessa ins Büro gestöckelt gekommen war, um ihren Ehemann zu besuchen. Natürlich war es für sie selbstverständlich gewesen, aber Emma würde so ein Verhalten auch dann nicht an den Tag legen, wenn sie vielleicht jedes Recht dazu hatte.

Tief in Gedanken ließ sich Emma auf einem der vielen Betonklötze nieder, die zum Verweilen auf dem Pier aufgestellt worden waren. Wellen platschten leise und Emmas Blick ging auf das Meer hinaus.

Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Seit sie Cayden kannte – nein, seit sie sich in ihn verliebt hatte – geschah ihr das so oft, dass sie ziemlich schnell wütend auf sich selbst wurde. Wie hatte ihr das alles eigentlich passieren können? Wo war sie da hineingeraten? Und ... wie würde sie wieder herauskommen?

Es gab wie immer mehrere Möglichkeiten. Grundsätzlich ging es darum, ob Cayden sich endgültig für sie oder für Vanessa entschied. Um positiv zu bleiben, dachte Emma nur bei der ersten Möglichkeit weiter. Wenn sie also mit Cayden zusammenbleiben konnte ... durfte ... würde? Was würde dann aus ihnen beiden werden? Behielt er seine Firma? Verlor er sie? Würde er eine Arbeit finden? Würde Emma einen Job finden, wenn sie nicht mehr für Cayden arbeiten konnte? Wie lange konnte sie denn arbeiten, wenn sie doch ...

Ihr Blick riss sich vom Meer los und flog zu ihrem Bauch, auf den Emma unwillentlich eine Hand gelegt hatte. Ein Schwall von Panik schwappte über sie hinweg. Was ... wenn sie nicht gut für das Baby sorgen konnten? Ihr Herz schien zusammengepresst und ausgewrungen zu werden, wenn sie sich das auch nur vorstellte. Sie und Cayden in ihrem Zimmer in der WG ... dann das Baby.

Emma lachte, um bloß bei der Vorstellung nicht heulen zu müssen. Was reimte sie sich hier nur zusammen?

 
 

***

 

Caydens Gedanken wollten sich überschlagen und das ohnehin schon schmerzhafte Stechen in seinen Schläfen verstärken. Aber nicht nur deshalb zwang er sie nieder, so gut er konnte, um sich später damit zu beschäftigen. Er hätte sich sonst auch keinen Moment lang auf den Abendverkehr konzentrieren können.

Als er wieder einmal an einer roten Ampel halten musste, fiel sein Blick auf seinen rechten Daumen und die frische Wunde, die dort in wütendem Rot auf sich aufmerksam machte. Zwar war der Biss bereits geschlossen, aber sein eigenes Blut konnte seinen Körper nicht so schnell heilen wie den eines Menschen. Zudem taten das scharfe Desinfektionsmittel und sein Durst ihr Übriges, um den Heilungsfortschritt zu verlangsamen.

Warum hatte er das getan? Vanessa hätte auch ohne weiteres Blut überlebt. Da war er sich sicher. Sie hätte ...

Wütendes Hupen riss ihn wieder aus den Gedanken und ließ ihn das Gaspedal so schnell hinunterdrücken, dass der Wagen mit einem deutlichen Quietschen einen Satz nach vorne machte. Für die restliche Strecke hielt er seine Gedanken zurück, um wenigstens dem Verkehrschaos entfliehen zu können, wenn er dem in seinem Kopf schon nicht entkommen konnte.

Cayden hatte keine Ahnung, ob Emma schon zu Hause war, dennoch parkte er in der Nähe und ging das kleine Stück bergauf zu ihrem Haus. Hier war es ruhig und auch die frische Luft tat seinem Kopf ganz gut.

Obwohl ihm seine Sinne sagten, dass das Haus momentan leer war, läutete er dennoch an und war nicht weiter überrascht, dass niemand aufmachte, also zückte er sein Handy und setzte sich auf die Treppe vor dem Haus. Doch als er Emma eine Nachricht schreiben wollte, schwebte sein angeschlagener Daumen nur ziellos über den Tasten, bis der Bildschirm wieder erlosch und er das Handy schließlich unbenutzt zurück in seine Hosentasche steckte.

Cayden stützte seine Arme auf den Knien ab und ließ den Kopf hängen, um seine Schuhspitzen zu betrachten und doch nicht wirklich wahrzunehmen. Seine Gedanken machten sich einfach selbstständig und dieses Mal hielt er sich nicht mehr zurück. Er durchlebte noch einmal das Gefühlsbad, das ihn da in diesem kleinen Raum voller piepender Geräte überkommen war.

Er wusste nicht, ob er einen Fehler begangen hatte.

 

Irgendwann war sie wohl aufgestanden, hatte sich in Richtung Innenstadt aufgemacht und sich dann in den Bus nach Hause gesetzt. Emma stieg eine Station früher aus, holte im Laden noch eine Tafel Schokolade und ging dann langsam den Berg hinauf bis zum Tor, wo sie innehielt.

Ihre Hand lag auf dem Knauf, doch Emma bewegte sich nicht. Sie sah zur Treppe hinauf, wo Cayden saß und ... Nun ja, Emma konnte nicht genau sagen, was er dort machte.

Er sah müde aus. Und ... irgendwie fehl am Platz. Vor ihrem Haus, mit den bunten Blumentöpfen, den abblätternden Fensterrahmen und dem, was dahinter lag, schien Cayden in seinem eindeutig teuren Designeranzug einfach nicht hinzugehören. Er wirkte wie jemand, der sich nicht nur in der Stadt, sondern in einer sehr viel größeren Dimension verlaufen hatte.

Das Tor quietschte, als Emma hindurchtrat, zur Treppe ging und sich neben Cayden sinken ließ. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn berühren durfte, oder ob das in dieser Situation genau das Falsche war. Und wieder einmal wurde ihr bewusst, wie wenig sie sich doch kannten.

 

Cayden blickte hoch, als er Emma am Tor bemerkte. Eigentlich hätte er sie schon viel früher wahrnehmen müssen, aber er war so tief in Gedanken versunken gewesen, dass er sie nicht hatte kommen hören. Ganz zu schweigen von ihrer Witterung, obwohl der Wind günstig stand.

Da sie nichts sagte, sondern sich einfach nur zu ihm setzte, konnte auch er sich zu keinem Wort durchringen. Er vertraute seiner Stimme ohnehin nicht. Im Moment war er weit davon entfernt, auch nur annähernd als gelassen durchzugehen. Allerdings wollte er Emma auch nicht mit seinem Verhalten beunruhigen, weshalb er sich bereits wieder sammelte, als er einen Arm um sie legte und sie an seine Brust zog.

Cayden drückte seine Nase in ihr Haar und atmete tief und langsam ihren beruhigenden Duft ein, der ihm besser als alles andere half, die vorhin erlebten Eindrücke wieder etwas zur Seite zu schieben und somit mehr Abstand davon zu gewinnen. Leider verstärkte es auch seinen Durst, aber damit konnte er umgehen.

Nachdem er sich wieder so weit im Griff hatte, dass er auch seiner Stimme traute, löste er sich leicht von Emma und sah ihr ins Gesicht. „Wir sollten hineingehen, ehe du dir auf dem kalten Boden noch etwas einfängst.“ Außerdem sehnte er sich nach dem behaglichen Gefühl ihrer kleinen chaotischen Behausung, bei der nicht alle Möbel und Gegenstände penibel aufeinander abgestimmt waren. Etwas Normalität würde ihm sicherlich nicht schaden und vielleicht ließen dann auch seine Kopfschmerzen etwas von ihm ab.

 

„Keine Sorge ...“ Der Satz verlief im Sande, da Emma nicht wusste, wie sie ihn beenden sollte. Cayden hörte sich so müde an, wie er aussah und irgendwie wollte sie ihn wirklich nur ins Haus bringen und ihn aufs Sofa setzen.

Was sie mehr oder weniger auch tat, sobald sie drinnen waren und Emma einigermaßen sicherstellen konnte, dass Cayden sich setzte. Sofort ging sie zum Wasserkocher, setzte Wasser auf und holte zwei Tassen aus dem Schrank.

„Tee?“

Eigentlich war es eine rhetorische Frage. Sie würde auf jeden Fall Tee machen.

„Milch und Zucker?“

 

„Ja, bitte.“ Cayden ließ sich so tief in die Polsterung der Couch sinken, dass man sich fragen musste, ob er dort ohne Hilfe wieder herauskam. Aber im Augenblick hatte er ohnehin nicht vor, aufzustehen. Stattdessen sah er sich in dem gemütlichen Wohnzimmer um und musste sogar leicht lächeln, als er die gelbe Blume auf dem Gehäuse des Fernsehers sah. Wer kam schon wirklich auf die Idee, seinen Fernseher so zu schmücken? Auf jeden Fall war es erheiternd und schon allein dafür zahlte sich der Versuch aus.

Allerdings wurde Cayden nur allzu schnell wieder ernst, als er seine Brille abnahm, seine Ellenbogen auf den Knien abstützte und das Gesicht in seinen Händen vergrub. Er massierte sich mit seinen Daumen die Schläfen, aber gegen das heftige Stechen darunter konnte er kaum etwas damit ausrichten. Also setzte er sich wieder die Brille auf und kam nun doch wieder auf die Beine, um sich etwas von dem Schmerz und seinen anderen Gedanken abzulenken, während er sich im Wohnzimmer die Bilder ansah, die vereinzelt an ausgewählten Orten platziert worden waren.

Es war wirklich eine fröhliche kleine WG und man sah den Leuten auf den Fotos an, dass sie gut miteinander auskamen, aber am Faszinierendsten blieb für ihn wohl immer noch Emma.

 

Da Caydens Antwort für die erste, wie auch für die zweite Frage hätte gelten können, machte Emma Tee und stellte dann Milch und Zucker mit zwei Löffeln auf ein Tablett und trug es hinüber ins Wohnzimmer, wo sie das Ganze auf dem Couchtisch abstellte und dann Cayden etwas hilflos ansah.

Sie wusste nicht, was sie sagen oder fragen sollte. Ihr kamen nur blödsinnige Einstiegsmöglichkeiten in ein Gespräch in den Sinn und alle enthielten sie in der ein oder anderen Weise Vanessas Namen. Emma wollte nicht über sie sprechen und doch wusste sie, dass es sich nicht vermeiden lassen würde. So feige es vielleicht auch war, aber wenn sie sich schon damit konfrontieren lassen musste, wollte sie, dass Cayden mit dem Thema anfing. Immerhin war er auch derjenige, der etwas zu berichten hatte. Was und in welcher Form ... das würde Emma dann noch sehen.

 

Als Emma mit dem Tee kam und das Tablett auf dem Couchtisch abstellte, setzte auch Cayden sich wieder hin, schenkte ihnen beiden ein und nahm dann eine Tasse an sich. Einen Moment starrte er gedankenverloren in seinen Tee, ehe er sich wieder einen Ruck gab und auch noch etwas Milch und Zucker hinzufügte.

Das gleichmäßige Rühren in seiner Tasse ließ ihn allerdings nur allzu schnell wieder weit weg driften, bis sogar seine Hand zum Stillstand kam. In Gedanken betrat er wieder das Krankenzimmer. Sah Vanessa vor sich, oder das, was man von ihr übrig gelassen hatte. Da waren wieder die vielen Schläuche und Geräte. Auch einen Katheter hatte man ihr gesetzt, da sie in diesem Zustand unmöglich das Bett hätte verlassen können. Cayden wollte gar nicht wissen, wie es unter dem weißen Laken aussah.

Sein Verstand sagte ihm, dass er richtig gehandelt hatte, in dem er ihr etwas von seinem Blut gegeben hatte, damit sie wieder schneller auf die Beine kam. Es würde nicht zu schnell gehen, sodass die Ärzte an ein medizinisches Wunder glauben könnten, aber es würde alles zumindest etwas beschleunigen.

Warum also fühlte es sich dann so falsch an, was er getan hatte?

Natürlich könnte es daran liegen, dass er Vanessa einfach nicht mochte, was früher jedoch einmal anders gewesen war. Aber im Laufe der Jahre war sie immer unerträglicher und arroganter geworden. Es wurde ihm immer mehr ein Rätsel, wie er sie überhaupt hatte heiraten können. Er hatte schon so viel bessere Frauen gehabt, nur mit dieser hatte er wirklich daneben gegriffen. Aber einmal von seiner fehlenden Sympathie abgesehen – gab es denn noch einen Grund, um es zu bereuen, ihr geholfen zu haben?

Cayden könnte sogar mehrere aufzählen, die ihm zu dem Zeitpunkt gar nicht in den Sinn gekommen waren. Zum einen war er inzwischen schon wieder sehr durstig, weshalb es immer ein Risiko war, sich auch nur im Geringsten selbst zu schwächen. Selbst wenn es nur ein paar Tropfen gewesen waren. Dann war da auch noch die unleugbare Tatsache, dass er sich schon wieder mit Vanessa eingelassen hatte, obwohl er eigentlich einen Schlussstrich hatte ziehen wollen. Allerdings änderte das nichts an seinem Entschluss, sich so bald wie möglich scheiden zu lassen und dahingehend wäre es sogar besser, wenn sie schneller wieder auf die Beine kam, um so einem Verfahren beiwohnen zu können.

Es war Caydens nächster Gedanke, der die Sache endgültig auf den Punkt brachte und ihn schließlich hochsehen ließ. Direkt in Emmas Augen.

Er hatte sie hintergangen. Natürlich stimmte das rein objektiv betrachtet nicht unbedingt, aber in dem er Vanessa einen Teil von sich gegeben hatte, fühlte es sich so an, als hätte er Emma auf irgendeine groteske Art und Weise betrogen.

Vorsichtig hob Cayden die Tasse an seine Lippen und trank einen kleinen Schluck des heißen Tees. Er war sich nicht sicher, wie Emma auf diese Offenbarung reagieren würde, oder wie er es ihr am Besten erklären könnte.

 

Emma nippte an ihrem Tee und wurde immer unsicherer, je länger das Schweigen sich ausdehnte. Es schien bereits bis in jeden Winkel des Raumes zu reichen und so erschrak Emma geradezu, als Cayden schließlich auf und in ihre Augen sah.

Fragend blickte sie zurück, wagte aber immer noch nicht recht den Mund aufzumachen. Das Schweigen schien zu stark zu sein.

Nach einer Weile, die sie beide weiterhin still ihren Tee getrunken hatten, ließ Emma sich endlich auf einen Sessel sinken und stellte die halbvolle Tasse auf der Armlehne ab.

„Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber bei meinen derzeitigen Kräften im Gedankenlesen werden wir hier noch Jahre sitzen. Ich komme nicht weiter.“

 

Cayden verstand den Wink, nahm aber dennoch zwei weitere Schlucke von dem Tee, ehe er die Tasse auf dem Tisch abstellte und sich auf seinen Knien abstützte, während er seinen rechten Daumen betrachtete.

„Es ist schlimmer, als ich es mir vorgestellt habe“, begann er ruhig, ja geradezu tonlos zu sprechen. „Ich hätte sie nicht wiedererkannt, wenn man mir nicht ihr Zimmer gezeigt hätte.“ Dass es um Vanessa ging, wusste Emma bestimmt auch so. Unnötig, ihren Namen zu erwähnen.

„Wer auch immer das getan hat, war äußerst fähig oder hatte tatsächlich vor, sie zu töten. Vielleicht wäre es dem Angreifer sogar gelungen, wenn sie nicht noch etwas von meinem Blut in sich gehabt hätte.“ Was ihn wieder auf das Thema brachte, das so sehr an ihm nagte.

Cayden hatte das Gefühl, sein Kopf würde nur noch schwerer werden, weshalb es ihm enorme Kraft kostete, ihn zu heben, um Emma ansehen zu können.

„Ich … habe ihr vorhin noch etwas davon gegeben“, offenbarte er schließlich, während er unbewusst mit seinen Fingern die bereits heilende Wunde nachzeichnete.

„Damit sie wieder schneller auf die Beine kommt.“ Er ließ den Kopf wieder sinken. Er war einfach so verdammt schwer.

 

Oh ... Der Ausruf formte sich tonlos auf Emmas Lippen, denn sie brachte bei der Schilderung kein Wort heraus. Ihre Finger krallten sich um die Teetasse und Emma schluckte hart, bevor sie auch nur daran denken konnte zu antworten.

„Wieso ...“ Ihre Stimme kratzte und Emma vertraute ihren Stimmbändern überhaupt nicht. Deshalb legte sie eine Pause ein, bevor sie es noch einmal vorsichtig versuchte.

„Wieso nur?“ Warum sollte jemand ihr das antun?

Emma konnte sich nicht vorstellen, was für Gründe es dafür geben könnte. Und es musste mehr dahinter stecken, als Cayden durch den Dreck zu ziehen. Das hätte der Angreifer vermutlich sehr viel einfacher haben können.

Wobei sich Emma noch eine andere Frage aufdrängte. Wenn sie Vanessa so zugerichtet hatten ... Warum ... Warum hatten sie die unbekannten Schläger am Leben gelassen?

Doch bevor sich Emma mit dieser Frage wirklich auseinandersetzen konnte, setzte Cayden noch einen drauf und eröffnete ihr, dass er Vanessa noch einmal etwas von seinem Blut gegeben hatte.

Jetzt wollte Emma die Kinnlade herunter klappen, aber ihr Herz machte lediglich einen heftigen Sprung, bevor es anfing zu rasen und sich ihr gesamter Körper, einschließlich ihres Gesichts verspannte.

Er hatte ... ihr Blut gegeben? Aber ...

 

Vermutlich wäre es besser gewesen, den Mund zu halten. Aber Cayden konnte seine Worte einfach nicht auf sich beruhen lassen. Er verspürte das Verlangen, sich zu rechtfertigen. Dabei hatte er Vanessa schon unzählige Male sein Blut gegeben, ohne auch nur einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Doch immerhin war nun Emma die Frau an seiner Seite, und wenn er schon jemandem etwas so Kostbares von sich geben musste, dann sollte sie es sein. Auch wenn er stark bezweifelte, dass sie auch je nur einen Tropfen von ihm annehmen würde. Schließlich war sie eine Hexe und manche Dinge konnte man nicht einfach so von sich abschütteln. Immerhin musste sie sich wohl überhaupt erst noch an den Gedanken gewöhnen, was es bedeutete, mit einem Vampir zusammen zu sein.

„Du hättest sie sehen sollen“, erklärte er daher sein Handeln. „Sie konnte kaum sprechen. Ihr Gesicht war eine einzige Schwellung und ich habe schon oft genug in meinem Leben echten Schmerz gesehen, um zu erkennen, wenn mir jemand etwas vorspielt und das hat sie nicht.“

Da es draußen inzwischen dunkel geworden war, nahm Cayden seine Brille endgültig ab und legte sie zusammengeklappt neben seiner Tasse auf den Tisch, ehe er sich mit Daumen und Zeigefinger, die Nasenwurzel massierte.

Er atmete einmal tief ein und wieder aus, bevor er sich gerade hinsetzte und seine Müdigkeit und die Kopfschmerzen in den hintersten Winkel seiner Empfindungen verdrängte. Er konnte sich auch noch später darum kümmern.

„Außerdem wird sie auf diese Weise schneller in der Lage sein, mir wichtige Antworten zu liefern. Vielleicht fällt ihr ja doch noch etwas zu dem Überfall ein.“

 

Warum sollte sie es dann dir erzählen?, fragte Emma etwas boshaft und war im nächsten Moment froh, dass sie es selbst auch nur in ihrem Kopf gehört hatte. Sie senkte ihren Blick teilweise aus Scham und weil sie Caydens Anblick nicht sehr viel länger ertragen würde.

Dachte er denn wirklich, es würde so einfach werden? Vanessa würde wieder gesund, eröffnete ihm, was passiert war, er rächte seine Frau und dann würde sie von ihm, seinem Vermögen und allem anderen ablassen?

Am liebsten hätte Emma bitter gelacht. Aber auch das verkniff sie sich. Stattdessen sah sie wieder hoch und wartete, was Cayden sich noch zusammengereimt hatte.

Ihr Herz schlug immer noch hart und unangenehm in ihrer Brust und Emma konnte sich nicht vorstellen, wie das je wieder aufhören sollte. Die Situation war vollkommen verfahren.

 

Cayden schwieg, während er Emma betrachtete. Er wartete auf irgendeine Erwiderung ihrerseits, doch es kam nichts und er war auch nicht gewillt, noch mehr zu dem Thema zu sagen. Natürlich fühlte er sich nicht erleichtert, weil er es ihr gesagt hatte. Aber wenigstens war er ehrlich zu ihr gewesen, da er nicht vorhatte, noch mehr Geheimnisse vor ihr zu hüten. Damit war endgültig Schluss.

„Wann kommen deine Mitbewohner nach Hause?“, wechselte er schließlich das Thema, nachdem das Schweigen immer bedrückender geworden war und er es nicht länger aushielt. Denn im Augenblick schien die sonst so behagliche Umgebung ihm ganz und gar nicht zu behagen. Er wusste noch nicht einmal, ob Emma ihn hier haben wollte, oder ob er besser gehen sollte. Er hatte ohnehin seine Zahnbürste vergessen, auch wenn ihm eine Nacht vernachlässigte Zahnhygiene gerade herzlich egal war.

 

Automatisch sah Emma auf die Uhr über der Tür. „Demnächst.“

Was natürlich viel heißen konnte. „Ich weiß es nicht genau. Eigentlich müssten sie schon hier sein, aber vielleicht sind sie ausgegangen oder zum Essen.“

Das wäre Emma in diesem Moment eigentlich ganz recht gewesen. Sie wollte jetzt nicht, dass jemand hereinkam. Und sie wollte nicht mit Cayden in ihr Zimmer gehen. Dieser neutrale Raum – auch wenn er in ihrem Haus war – kam ihr gerade recht gelegen.

„Wie lange wird es dauern?“

Da Cayden zunächst nicht reagierte, präzisierte sie ihre Frage. „Ich meine, wie schnell wird es Vanessa ... besser gehen?“ Mit deinem Blut hatte sie nicht auch noch in den Satz einbauen wollen. Aber es interessierte Emma durchaus, wie weit die Heilung durch ein wenig Blut fortschreiten konnte.

 

Cayden war eigentlich ganz froh, immer noch alleine mit Emma zu sein. So musste er sich wenigstens nicht verstellen, auch wenn er ihr seine Verfassung ohnehin nicht wirklich zeigte. Aber im Gegensatz zu ihren Mitbewohnern wusste sie, mit was sie es hier auf ihrer Couch zu tun hatte und das war immerhin etwas. Trotzdem musste er einen Moment lang überlegen, als sie ihm diese Frage stellte. Schließlich schüttelte er den Kopf.

„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich jemandem auf diese Weise geholfen habe und ihre Genesung wird zudem auch noch von moderner Medizin unterstützt. Vielleicht eine Woche, bis sie aus der Intensivstation entlassen werden kann. Womöglich eine zweite, bis sie in der Lage ist, das Bett zu verlassen. Für schnellere Ergebnisse war es jedoch bei weitem nicht genug Blut und ich hatte auch nicht vor, aus ihr ein medizinisches Wunder zu machen.“ Oder sich selbst halb ausbluten zu lassen.

 

Emma nickte langsam. „Musst du nochmal hingehen?“

Eigentlich eine dumme Frage, für die sich Emma im nächsten Moment schon fast schämte. Natürlich würde er wieder hingehen. Einerseits, um seine Fragen beantwortet zu bekommen und andererseits, um seiner Frau zu helfen. Wenn es Vanessa wirklich so schlecht ging, würde Cayden vermutlich noch einmal das Gleiche tun, das er heute getan hatte – ihr über den Berg helfen.

Emma fühlte sich so, als hätte sie gegenüber seiner Vorgehensweise bereits resigniert. Natürlich störte es sie, aber so lange war sie mit Cayden auch noch nicht ... zusammen, als dass es sie so schwer hätte verletzen können. Obwohl es total hirnrissig war, dachte Emma darüber nach, dass sie jetzt noch mit wenig Peinlichkeit davon kam, wenn er sich wieder von ihr trennte.

 

„Ich werde noch einmal mit ihr reden, wenn es ihr besser geht. Aber bis dahin gibt es noch andere Dinge zu erledigen.“ Wie zum Beispiel die Firma retten. Eine Scheidung vorbereiten. Etwas gegen seinen Durst unternehmen.

Eigentlich wusste Cayden gar nicht so recht, womit er anfangen sollte, seine Liste abzuarbeiten. Besser wäre es sicher, sich zuerst zu stärken und dann in den Kampf gegen die Presseleute zu ziehen, aber das würde auch bedeuten, dass er sich eine neue Blutquelle suchen musste und da Emmas Reaktion von gestern Abend eigentlich ziemlich eindeutig gewesen war, würde er sich vorerst an jemanden anderen wenden müssen. Er hatte ohnehin nicht vorgehabt, ihr diese Bürde aufzulasten, nachdem sie erst so frisch von seiner wahren Natur erfahren hatte.

Warum nur hatte Helen bei diesem Brand sterben müssen? Nicht nur war sie eine der wenigen Menschen in seinem Leben gewesen, denen er bedingungslos vertraute, sondern zudem hatte er auch stets bedenkenlos von ihr trinken dürfen, ohne darum kämpfen zu müssen.

Allein an sie zu denken, ließ sein Herz bluten und er musste blinzeln, bis er das Verlustgefühl wieder von sich schieben und stattdessen den inzwischen lauwarmen Tee in seine Hände nehmen konnte.

Er klammerte sich daran, als könne das Getränk ihn von dieser drückenden Stimmung im Raum abschirmen, aber Tatsache war nun einmal, dass da etwas in der Luft lag, das sich immer weiter zwischen Emma und ihn schob. Er konnte nur nicht genau benennen, was es war.

 

Emma nickte wieder und spielte gedankenverloren am Henkel ihrer Teetasse herum. „Es gibt noch viel zu tun.“

Allerdings war ihr nicht so ganz klar, was Caydens Pläne waren. „Mit was willst du anfangen?“

Sie selbst hatte nicht genug Ahnung von den Strukturen der Firma, um einen Startpunkt zu finden. Natürlich kannte Emma die wichtigen Leute, sie wusste, wer Partner, wer Geldgeber und wer einfach nur gut für die Publicity war. Aber wie die Firma zu retten war ... dazu fiel ihr gerade so absolut nichts ein.

„Was willst du ... den ganzen Mitarbeitern sagen?“

 

Cayden seufzte. Eigentlich wollte er sich jetzt gar nicht mit alledem befassen. Dafür war der heutige Tag eindeutig schon zu intensiv gewesen. Aber da Emma auch eine der Mitarbeiterinnen der Firma war und somit ebenfalls um ihren Job bangen musste, beantwortete er ihre Fragen. „Ich werde mich erst einmal um Schadensbegrenzung bemühen. Die nächsten Schritte hängen dann davon ab, in wieweit mir das gelingt. Vielleicht werde ich bald eine Mitarbeiterbesprechung einberufen, um die Leute zu beruhigen. Ich habe nicht vor, auch nur eine einzige Person wegen dieser Misere zu entlassen. Selbst wenn ich dafür in die eigene Tasche greifen muss.“

Damit war es Cayden bitterernst. Zudem hatte er ohnehin genügend Rücklagen, um dieses unausgesprochene Versprechen auch wirklich einhalten zu können. Wenn er wollte, könnte er seine Firma mehrmals kaufen und wäre immer noch reich. Das war nun wirklich nicht das Problem.

„Du musst also keine Angst um deinen Job haben, Em“, fügte er sanft hinzu und schenkte ihr endlich einmal ein kleines Lächeln. Was sie persönlich betraf, musste sie im Grunde vor gar nichts mehr Angst haben. Cayden würde für sie da sein und alles für sie tun, wenn sie ihn nur ließ.

 

Ihr Job?

Emma musste ebenfalls lächeln. Darum hatte sie sich keine Sorgen gemacht. Bisher war sie immer auf die Füße gefallen und um ehrlich zu sein, hatte sie nicht einmal daran gedacht, dass Cayden sie entlassen könnte.

„Das glaube ich dir. Wenn Stella geht, wer soll dir die Horden am Telefon und im Vorzimmer fernhalten, wenn nicht ich?“ Ihr Lächeln wurde sogar breiter, bevor es langsam verschwand und wieder einer sorgenvollen Miene Platz machte.

„Um meinen Job geht es mir nicht. Aber wenn man bedenkt, was dir nachgesagt wird, könnte es sein, dass nicht alle bei dir beschäftigt bleiben wollen. Du solltest ... vielleicht mit ihnen reden.“

Andererseits: Was konnte er schon groß sagen? Und würden sie ihm glauben? Ach, es war wirklich zum Haareraufen und auch davon wurde nichts besser.

„Ich brauche noch mehr Tee. Du auch?“ Emma war schon halb aufgestanden.

 

„Das halte ich für keine gute Idee.“ Cayden trank den Rest seines Tees in einem Zug leer und ging dann genauer auf seine Worte ein. Denn er hatte nicht Emmas Vorschlag mit dem Tee gemeint.

„Ich werde mich auf keinen Fall persönlich vor meinen Mitarbeitern rechtfertigen. Dann könnte ich gleich zugeben, dass ich es gewesen bin. Wenn ich eines gelernt habe, dann dass es umso auffälliger wird, je mehr man eine Tat abstreitet. Besser ist es, sich im Stillen darum zu kümmern.“

Cayden stand ebenfalls auf und nahm die Teekanne an sich, bevor Emma es tun konnte. Dieses Mal würde er ihr dabei helfen.

„Außerdem, wer gehen will, soll gehen. Ich werde sicher niemanden aufhalten, der die unwahren Gerüchte nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann.“

 

„Ach tatsächlich?“ Emma hatte noch nie darüber nachgedacht, weil es bis jetzt noch nie notwendig gewesen war. Aber Cayden konnte durchaus recht damit haben, dass er sich als Chef noch zwielichtiger machte, wenn er die Geschichte abstritt. Andererseits mochte Emma es nicht, sich vor Mitmenschen zu verstecken, wenn man nichts Böses getan hatte.

„Oh ...“ Sie grummelte laut vor sich hin und stellte ihre leere Tasse etwas zu schwungvoll auf der Arbeitsplatte der Küchenzeile ab.

„Es ist zum Verrückt werden!“ Mit einem wütenden Funkeln in den Augen sah sie Cayden an. Aber natürlich war ihr negatives Gefühl nicht auf ihn gerichtet.

„Wie ich es auch drehe und wende, es will mir nicht in den Kopf. Wer sollte denn etwas davon haben, dir das alles einzubrocken?“

 

„Wenn ich das wüsste, hätte ich mich schon längst um denjenigen gekümmert“, erklärte Cayden leise aber durchaus düster. Denn so wie ihm die Sache bereits jetzt an die Substanz ging, könnte er gerade nicht versprechen, alles über rein rechtliche Wege zu klären. Doch wollte er Emma auch nicht damit beunruhigen, weshalb er den Wasserkocher wieder neu füllte, aufstellte und sich zu ihr herumdrehte.

Er wagte immer noch nicht, sie zu berühren, im Augenblick reichte es ihm schon, dass sie so nahe war. „Ich will jetzt nicht einfach das Thema wechseln, aber um ehrlich zu sein, wäre es mir lieber, wenn wir es im Augenblick ganz auf sich beruhen lassen. Ich habe mich schon den ganzen Tag damit herumschlagen müssen, im Augenblick habe ich wirklich genug davon. Stattdessen beichte ich dir lieber, dass ich meine Zahnbürste vergessen habe.“

Auch dieses Mal lächelte er ein bisschen und es wurde zunehmend leichter. Gott sei Dank.

 

„Tja.“ Emma verschränkte die Arme vor der Brust und sah Cayden direkt an. „Dann haben wir jetzt wohl ein Problem.“

Etwa zwei Sekunden ließ sie ihn zappeln, bevor sie ihm ein fast schon schönes Lächeln schenkte. „Ich habe keine zweite Zahnbürste und meine darfst du leider auch nicht benutzen. Da bin ich etwas eigen.“

Lächelnd blickte sie kurz weg, bevor sie wieder Cayden ansah. „Der kleine Laden unten am Berg hat bis 22h auf ...“

Es klang wie ein leichter Vorschlag, aber eigentlich schlug Emma es weniger vor, als es zu verlangen. „Ich mache auch Tee, bis du wieder zurück bist.“

 

„Ha, da sind wir schon zwei.“ Nun musste er wirklich lächeln. „Ich bin nicht in vielen Dingen geizig …“, begann er zu erklären. „… aber wenn es um meine Zahnbürste geht, kenne ich kein Pardon.“

Cayden trat näher und es juckte ihn in den Fingerspitzen die vorwitzige Strähne aus ihrem Gesicht zu streichen, die es immer wieder hinter ihrem Ohr hervorlockte. Trotzdem hielt er sich noch zurück, solange er nicht wusste, ob er es wagen durfte oder nicht. Immerhin hatte er immer noch das Gefühl, eine gewisse Vorsicht walten lassen zu müssen.

„Wenn ich gleich in den Laden gehe, habe ich vorher noch zwei Fragen an dich.“ Nein. Er konnte es sich einfach nicht verkneifen, also hob er die Hand, um hauchzart die kleine Strähne über Emmas Wange zurück hinter ihr Ohr zu klemmen.

„Die erste wäre: Kann ich dir etwas mitbringen und die zweite und sehr viel wichtigere Frage lautet: Kann ich deine Worte so auslegen, dass ich dann heute Nacht hierbleiben darf, oder muss ich es mir auf eurer Türmatte bequem machen?“

 

Eine Woge der Erleichterung schoss über Emma hinweg, als Cayden ihr sanft übers Gesicht strich und dann noch diese Fragen stellte. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie die Zähne zusammengebissen und sich total verspannt hatte. Aber jetzt ... ging es ihr ein wenig besser. Zwar stand die Geschichte mit Vanessa, deren Lügengebäuden und allem anderen noch im Raum zwischen ihnen, aber das änderte nichts daran, dass Emma leichthin antworten konnte.

„Nein, danke. Ich war vorhin schon im Laden und brauche nichts.“

Sie lächelte ihn diesmal warm an und stellte sich Cayden zusammengerollt auf der Veranda vor. „Und ebenfalls nein, du musst nicht draußen, auf dem Boden oder zu Hause bei dir schlafen.“

 

„Danke, Em.“ Er trat näher an sie heran, streichelte ihr dieses Mal tatsächlich über die Wange und wagte es sogar, sich vorzubeugen, um ihr einen zarten Kuss auf die Lippen zu hauchen.

„Du glaubst gar nicht, wie viel mir das bedeutet.“ Es war nur ein Flüstern, aber kam von ganzem Herzen.

„Ich brauche auch nicht lange“, meinte er jedoch keinen Moment später wieder in normaler Tonlage und machte sich fertig, um sich schnell eine Zahnbürste zu besorgen. Das war ja wohl wirklich der kleinste Hinderungsgrund, um bei Emma übernachten zu können und das würde er sicherlich nicht einfach so stehenlassen.

52. Kapitel

Seine Finger zitterten leicht, als er die Aspirintablette aus der kleinen Verpackung pulte und in das vorbereitete Glas Wasser gleiten ließ. Den Rest warf er zusammen mit der leeren Schachtel in den Mülleimer.

Während er darauf wartete, dass sich die Brausetablette vollkommen im Wasser auflöste, bestätigte er noch einen Termin in seinem Blackberry und unterzeichnete irgendwelche Papiere, deren Inhalt bereits wieder irgendwo in seinem Kopf unter all den anderen wichtigen Dingen vergraben war, die ihn derzeit beschäftigten.

Nicht, dass Aspirin ihm auch nur irgendwie gegen die stechenden Kopfschmerzen helfen würde. Selbst stärkere Mittel würden daran scheitern, aber man konnte ja immer noch auf so eine Art Placebo-Effekt hoffen und zudem schmeckte es auch noch gut. Selbst wenn es den verzehrenden Durst in seinem Inneren, kein bisschen verringern konnte.

Kaum dass er das Glas in einem Zug geleert hatte, packte Cayden auch schon die Dokumente zusammen, schob sie in eine Mappe und stand auf. Er warf sich schnell sein Jackett über, nicht allerdings ohne zu bemerken, dass sein Hemd unter seinen Achseln langsam feucht wurde.

Später. Er würde sich später darum kümmern, jetzt allerdings musste er dringend zu einem wichtigen Meeting, das keinen Aufschub duldete, wenn er die Firma nicht endgültig gegen die Wand fahren wollte.

Beinahe hätte er seinen Blackberry auf dem Schreibtisch vergessen, als er mit der Mappe und seinem Aktenkoffer schon fast bei der Tür hinaus war. Schnell sammelte er das kleine elektronische Ding ein und verstaute es in der Innentasche seines Jacketts, ehe er vor Emmas Schreibtisch trat und ihr die Mappe mit den unterschriebenen Papieren hinlegte, damit sie diese weiterleiten konnte.

Dabei stand er wieder einmal genau auf ihren Schutzmechanismus, was ihn kurz erstarren ließ, während seine Fangzähne sich nur zu deutlich aus seinem Oberkiefer schoben. Im Augenblick hatte er nicht einmal mehr den Nerv, sie vor ihr zu verbergen.

„Die müssen heute noch dringend raus und bitte verschieb meinen Drei-Uhr-Termin auf nächste Woche. Außerdem brauch ich noch bis heute Abend den vorläufigen Quartalsbericht von Bea.“

Cayden warf einen flüchtigen Blick auf seine Uhr und trat dabei automatisch einen Schritt zurück von dem Schutzfeld, das Emmas Schreibtisch umgab. Er war schon viel zu spät dran.

„Es wird heute wieder spät werden, also mach nicht allzu lange.“ Damit war er auch schon wieder im Gehen begriffen. Von sich selbst alles zu fordern, war ihm nichts Neues, aber Emma in ihrem Zustand wollte er da nicht mit reinziehen. Stella brauchte er dahingehend gar nichts mehr erzählen. Sie durfte schon am frühen Nachmittag gehen.

 

Emma hatte gar nicht antworten können, so schnell war Cayden aus dem Büro und schließlich auch aus dem Stockwerk verschwunden. Was nichts daran änderte, dass sie sich allmählich wirklich Sorgen um ihn machte. Nicht nur, weil die Firma am seidenen Faden hing, sondern weil Cayden wirklich fast schon jenseits von gestresst wirkte. Emma war klar, dass er vor wichtigen Leuten sehr gut schauspielern konnte. Niemand würde ihm anmerken, dass neben den Problemen der Firma auch etwas anderes nicht stimmte. Aber Emma war inzwischen eingeweihter als so manch anderer und genau das schürte das schlechte Gefühl in ihrem Inneren.

Bei jedem anderen hätte sie gesagt, er hatte sich eine Grippe eingefangen. Oder vielleicht eine Migräne. Es konnte auch an Schlafentzug oder zu wenig Essen oder zu viel Alkohol liegen. Aber bei Cayden ... war es wohl das Fehlen von etwas Komplizierterem, als einem guten Schweinebraten nach Rezept seiner Großmutter.

Emma seufzte.

Er brauchte, was sie ihm bisher versagt hatte. Und was sie immer wieder zum zusätzlichen Nachdenken brachte. Cayden war ein Vampir. Cayden brauchte, was diese Wesen eben brauchten. Er brauchte Blut.

Eine Gänsehaut lief über Emmas Arme und sie konnte gerade noch verhindern, dass sie sich schütteln musste. Ja, sie wusste es und ja, sie hatte versprochen, es zu akzeptieren. Aber der Gedanke, ihr eigenes Blut zu geben, war doch ... ungewohnt. Natürlich würde sie es tun. Die Alternativen standen außer Frage. Aber wie sollte sie es Cayden denn sagen?

Cayden, wenn du nachher kurz Zeit hast, komm doch in die Kaffeeküche und saug an meinem Hals. Dann geht’s dir sicher gleich besser.

Sie rollte über ihre dummen Gedanken die Augen und brachte lieber die Akten auf den Weg, die sie verschicken musste. Trotzdem ... Wie sollte sie denn nur vorgehen?

 
 

***

 

Es war schon dunkel, als er das Bürogebäude erreichte.

Paul hatte offenbar die Nachtschicht erwischt und wünschte ihm einen schönen Abend, als Cayden am Empfang vorbeiging.

„Ihnen auch“, erwiderte Cayden höflich aber kühl, ehe er in den Fahrstuhl stieg und zu seiner gewohnten Etage hochfuhr. Das Schlüsselloch, mit dem er in sein Apartment gelangen würde, lockte ihn in diesem Augenblick so stark, dass er sich dazu zwingen musste, wegzusehen. Allerdings nicht auf die verspiegelte Kabinenwand, in der er sich selbst hätte ansehen müssen. Seine Schuhspitzen mussten für den Augenblick genügen.

Wie er es nicht anders erwartet hatte, waren die kleinen Büroabteilungen, an denen er kurze Zeit später vorbeikam, allesamt leer. Sogar die Hauptlichter waren schon aus, nur noch das Ganglicht erhellte ihm den Weg, obwohl das nicht nötig gewesen wäre, nachdem er sich endlich die viel zu schwere Brille von der Nase zog.

Aus was für einem Material bestanden heutzutage denn Brillengestelle? Massiver Stahl? Cayden hatte das Gefühl, der Bügel hätte ihm eine Furche in den Nasenrücken gegraben, dabei wusste er doch, dass er sich das nur einbildete.

Endlich erreichte er sein Büro, machte sich aber nicht die Mühe das Licht einzuschalten. Seine Nachtsicht war zwar nicht mehr perfekt, immerhin litt sie ebenso wie alles andere unter seinem Entzug, aber es genügte.

Cayden ließ den Aktenkoffer vorsichtig neben der Tür stehen, zog sich das Jackett aus und hängte es sorgfältig auf einem Kleiderbügel in seinen Schrank. Danach lockerte er seinen Krawattenknoten etwas und öffnete die ersten beiden Hemdknöpfe am Kragen. Die Ärmel ein Stück hochgekrempelt, schaltete er nun doch die Tischlampe an seinem Schreibtisch ein und hätte gut daran getan, es sein zu lassen. Es fühlte sich an, als würde man ihm ein Jagdmesser direkt zwischen die Augenbrauen rammen, während seine Augenlider sich regelrecht zusammenkrampften, um seine empfindlichen Augen zu schützen.

Was auch immer alles seit heute Morgen in ihm vor sich hin gegoren hatte – die ganz und gar nicht mehr übliche Büroarbeit, seine durchgearbeitete Mittagspause, das haarsträubende Meeting danach, sein ständiger Drang, jedem der ihm blöd kam, die Kehle durchzubeißen, um daraus zu trinken – das alles war der Zunder, der jetzt von diesem kleinen Funken – einer einfachen kleinen Stehlampe – in Brand gesteckt wurde.

Cayden explodierte.

Mit einem wütenden Schrei fegte er nicht nur die Lampe vom Tisch, sondern auch noch alles andere, das ihm in die Hände kam. Da das aber noch nicht genügte, donnerte er auch noch beide Fäuste auf das massive Holz, dessen Ächzen in dem immer noch andauernden Schrei unterging.

Erst als ihm die Luft ausging, verstummte Cayden, ehe seine Kiefer so fest aufeinander mahlten, dass es den Schmerz in seinem Kopf noch weiter in ungeahnte Höhen trieb.

Etwas tropfte auf seine lederne Schreibunterlage und für einen flüchtigen Moment glaubte Cayden, es könnten durchaus Zornestränen sein, doch seine Wangen waren trocken. Er wischte sich langsam mit den Fingerspitzen über die Nase. Obwohl er in der Dunkelheit nicht mehr viel erkennen konnte, sah er doch, wie sich die Flüssigkeit deutlich von der hellen Farbe seiner Finger abhob.

Es wurde langsam gefährlich.

Cayden sah die Anzeichen. Er hatte sie schon den ganzen Tag über wahrgenommen, aber es war noch nie so schnell gegangen. Was vermutlich damit zusammenhing, dass er auch noch nie so viel Stress bei einer Durststrecke gehabt hatte. Sehr viel länger würde er nicht mehr warten können.

Allerdings war er heute schon zu erledigt, um überhaupt nur daran zu denken, noch einmal das Gebäude zu verlassen und obwohl Paul im Augenblick sehr verlockend und alleine dort unten in der Eingangshalle saß, hatte Cayden doch nicht vor, sich auf ihn zu stürzen. Stattdessen verließ er das Büro, um zu seinem Apartment hochzufahren, was er eigentlich von Anfang an hätte tun sollen. Er musste sich ausruhen, auch wenn er das kaum konnte, bei all den Problemen, die ihn inzwischen auffraßen. Aber heute war er ohnehin zu nichts mehr zu gebrauchen, von daher war eine heiße Dusche und ein weiches Bett, alles, was er sich noch vornehmen konnte.

Cayden würde die Unordnung in seinem Büro erst morgen wegmachen. Heute war das einfach nicht mehr drin.

 

Wie geht’s dir? Ich wollte dir nur eine gute Nacht wünschen ... Schlaf gut. x Emma

Emma schickte die SMS ab, und sobald das Displaylicht ihres Handys erlosch, war es dunkel im Zimmer. Erst nach einer Weile schälten sich die Umrisse der Möbel und anderen Gegenstände wieder aus den Schatten und Emma wandte den Blick zum Fenster, wo sie durch den Spalt zwischen den Vorhängen nach draußen sehen konnte. Sie fühlte sich unsicher. Aber das war nicht das erste und würde nicht das letzte Mal sein. Sie würde trotzdem einschlafen und Morgen aufstehen und zur Arbeit gehen müssen.

 
 

***

 

Am nächsten Morgen kam sie nur schwer aus dem Bett und auch der Weg zum Büro schien ihr ungewöhnlich lang zu sein. Stella wartete allerdings noch nicht, sodass Emma das Vorzimmer für sich allein hatte. Die Tür zu Caydens Büro war geschlossen und auch von ihm war nirgendwo etwas zu sehen.

Emma beschloss, erst einmal alles herzurichten, so wie sie es jeden Morgen tat. Computer starten, Kaffee aufsetzen und dann die Akten durchgehen. Termine für den heutigen Tag und ... schon klingelte das Telefon. Mit einem Seufzen setzte sie ein Lächeln auf und nahm den ersten Anruf für heute entgegen. Leider stellte sich nach wenigen Sätzen heraus, dass er nicht positiver war, als der letzte Anruf des Vortages.

 

Cayden hatte tatsächlich mit seinem Wecker am Ohr geschlafen, damit er ihn nicht überhören konnte. Aber die Gefahr bestand ohnehin nicht, obwohl er sich wie erschlagen fühlte. Dennoch reagierte sein Gehör viel zu empfindlich auf den Lärm und jagte ihn schneller aus dem Bett, als er wirklich wach werden konnte.

Mehr taumelnd denn gehend landete er im Bad, um sich für die Arbeit fertigzumachen. Duschen. Rasieren. Sich die Haare kämmen und dabei bekam er mehr als nur einmal die Gelegenheit, seiner Lage in die Augen zu sehen, ob er nun wollte oder nicht.

Caydens Pupillen waren geweitet, weshalb er noch lichtempfindlicher war als normalerweise. Aber zu dem ohnehin schon merkwürdigen Ausdruck seiner Augen kam auch noch hinzu, dass er aus allen Poren schwitzte, seine Haut glühte und wen das noch nicht genug ablenkte, dem dürften dann seine riesigen Fänge den Rest geben. Noch dazu weigerten sie sich hartnäckig, zu verschwinden.

Da er gegen dieses Problem ohnehin nicht ankommen würde, zwängte Cayden sich lieber in einen seiner Anzüge, obwohl der ihn heute besonders schlimm einzuengen schien, aber wenigstens sah man unter dem Jackett nicht, wie intensiv er schwitzte. Auch übler Geruch würde kein Problem darstellen. Selbst wenn er kein Deo benutzt hätte, würde er mehr als nur angenehm riechen. Es war beinahe komisch, dass der Geruch von sich zersetzenden Vampirzellen in den Nasen und Gehirnen der Menschen nur positive Empfindungen hervorrief, wo es doch eigentlich das absolute Gegenteil sein sollte.

Aber Cayden versuchte nicht länger darüber nachzudenken, als er den Fahrstuhl betrat. Er würde sich bald darum kümmern und das war inzwischen notwendiger, als alles andere. Ein Grund, weshalb er an den ganzen kleinen Bürobereichen vorbeilief, ohne irgendjemanden zu grüßen, obwohl ihn durchaus einige seiner Mitarbeiter ansprachen. Außerdem spürte er immer noch viel zu deutlich seine Fänge und im Augenblick war sich Cayden nicht sicher, wie gut er sie vor anderen verstecken konnte. Sein Geduldsfaden war ohnehin schon viel zu überdehnt. Lediglich bei Emma nahm er sich die Zeit heraus, um ihr einen guten Morgen zu wünschen. Aber er kam nicht näher an ihren Schreibtisch heran, da er mit ihrem Schutzmechanismus heute überhaupt nicht klarkommen würde. Stattdessen blieb er, wo er war.

„Könntest du kurz mit in mein Büro kommen?“

Zwar schien das Telefon wieder einmal heiß zu laufen, aber dafür hatten sie ja diese nervige Melodie, welche die Anrufer hinhielt, bis jemand für sie Zeit hatte. Wenigstens das konnte ihn heute Morgen ein bisschen besänftigen.

Doch gerade als Cayden die Tür zu seinem Büro einen Spalt breit geöffnet hatte, fiel ihm sofort wieder ins Auge, was gestern Abend hier drin noch stattgefunden hatte.

„Warte!“ Cayden stoppte Emma, bevor sie überhaupt aufstehen konnte.

„Gib mir noch 15 Minuten. Dann kannst du kommen.“

Und damit verschwand er schnell in seinem Büro, um zumindest den herumliegenden Papierkram grob auf einen Stapel zu schlichten und auch den Rest seiner Schreibtischausstattung wieder aufzusammeln, bevor Emma das Chaos sehen konnte. Die kleine Lampe war allerdings völlig hinüber. Einmal davon abgesehen, dass die Glühbirne in unzählige Scherben zersprungen war, hatte auch der Metallschirm eine gewaltige Delle abbekommen.

Die meiste Zeit der Viertelstunde verbrachte er also damit, die winzigen Splitter vom Teppich aufzuheben und in den Müll zu werfen und in der restlichen Zeit, versuchte er die Akten wieder so zu schlichten, dass sie zusammenpassten. Aber das würde noch länger dauern.

 

„Was ist denn hier passiert?“ Mit weit aufgerissenen Augen stand Emma in der Tür, fing sich aber schnell wieder und schloss sie hinter sich, damit niemand das gleiche sehen konnte wie sie.

Cayden stand über den Schreibtisch gebeugt, zerknickte Blätter und noch zerknicktere Aktenmappen in der Hand und sah so aus, als hätte Emma ihn gerade in flagranti bei der Steuerhinterziehung erwischt.

Doch das war noch nicht alles, was sie zu ihrer Frage veranlasst hatte. Zu Emmas Sorge trugen glitzernde Glasscherben im Papierkorb, ein scheinbar unter einen Zug geratener Lampenschirm und vor allem Cayden selbst bei. Er sah so aus, als stünde er – wenn nicht gerade vor einem Nervenzusammenbruch – vor dem körperlichen Kollaps. Er schwitzte und seine Brille war ihm auf der glänzend nassen Nase so weit nach vorn gerutscht, dass er sie zu verlieren drohte, während er seine Augen zu einem nur noch schmalen Schlitz zusammenkniff.

Emma machte ein paar vorsichtige Schritte in den Raum hinein und konnte kaum verhindern, zu fragen, ob jemand Cayden überfallen hatte. Aber das schien ihr dann doch sehr unwahrscheinlich.

„Bist du krank?“ Diese Frage schien fast genauso abwegig, aber in Emmas Welt machte sie gerade mehr Sinn als alle anderen. Kurz kam ihr der Gedanke, ob Vampire sich überhaupt eine Grippe einfangen konnten, aber diese Idee verflog ziemlich schnell wieder.

„Kann ich dir etwas bringen? Tee? Oder soll ich zur Apotheke laufen?“ Emma hätte gern alles getan, damit es ihm besser ging. Aber noch lieber hätte sie gewusst, was hier eigentlich los war.

 

Nein, ich bin nicht krank. Ich sterbe.

Gott, er war doch sonst nicht so melodramatisch! Cayden hörte auf, den Papierkram schlichten zu wollen. Stattdessen ließ er sich schwer in seinen neuen Bürosessel fallen. Schon jetzt überkam ihn der Drang, den Knoten seiner Krawatte etwas zu lockern, um besser Luft zu bekommen. Aber das würde ohnehin nichts bringen, also ließ er es bleiben.

Kurz massierte er seine Schläfen, bis ihm wieder einfiel, dass Emma ihn ja etwas gefragt hatte, also schob er seine Brille wieder zurecht, um sie besser ansehen zu können.

„Das Meeting gestern ist schlecht verlaufen.“ Mehr sagte er nicht zu der Unordnung hier. Er gab es auch jetzt nicht gerne zu, dass auch er einmal die Fassung verlieren konnte. Stattdessen nahm er ein Taschentuch zur Hand, befeuchtete es etwas mit seiner Zunge und versuchte die dunklen Flecken auf seiner Lederunterlage wegzuwischen. Vergebens.

„Ich kann nicht krank werden.“ Zumindest war er es noch nie im Leben gewesen. Aber gänzlich ausschließen sollte er es vielleicht auch nicht, wenn man die neumodischen und immer aggressiveren Krankheiten der Menschheit bedachte, würde es ihn nicht wundern, wenn auch einmal die Vampire etwas abbekamen. Aber das war im Augenblick nicht irrelevant. Er sollte sich besser konzentrieren und bei der Sache bleiben. Außerdem hatte er Emma auch genau deswegen in sein Büro geholt.

„Ich brauche Blut, Em“, gestand er schließlich leise. „Mein Körper verbraucht sich bereits selbst. Sehr viel länger lässt sich das nicht mehr hinauszögern, ohne dass ich zu schwach werde, um …“ – zu jagen. Könnte man sagen. Aber er sprach es nicht aus. Stattdessen schüttelte er nur unwillig den Kopf. „Egal. Ich wollte dich bitten, ob du meine Termine bis zum Mittagessen absagen oder verschieben kannst. Ich weiß zwar nicht genau ...“ Cayden klopfte sein Jackett ab, fand aber weder sein Handy noch seinen Blackberry, weshalb er aufstand, um in dem anderen Jackett nachzusehen, dass er gestern in den Schrank gehängt hatte.

„... ob darunter auch wirklich wichtige dabei sind. Also ich meine, von der Sorte: Entweder nehme ich den Termin wahr, oder ich kann die Firma gleich eigenhändig einreißen.“ Wenn das nicht schon geschehen ist. Das gestrige Meeting hatte ihn nicht umsonst so aus der Fassung gebracht.

In der Innentasche seines Jacketts fand er tatsächlich sein Handy und auch den Blackberry. Das Handy war aus, weshalb er es auf dem Weg zurück zu seinem Schreibtischsessel wieder einschaltete und zur Seite legte, während es alle paar Sekunden vibrierte und somit sämtliche Anrufe und SMS in seiner Abwesenheit herunterratterte.

Der Blackberry selbst spuckte so viele Termine aus, dass er jeden einzelnen und die dazu gemachten Notizen gründlich durchgehen musste, um sie nach Prioritäten zu schlichten. Leider war sein Verstand heute nicht mehr der Schnellste und immer wieder musste er sich die Hände an seiner Hose abwischen, um die kleine Tastatur nicht unter Wasser zu setzen.

 

Nachdem es so aussah, als würde Cayden nur noch sein Handy und den Blackberry wahrnehmen, rührte Emma sich nicht von der Stelle. Seine Eröffnung hatte sie so getroffen, dass sie ohnehin nicht wusste, ob ihre Beine sie tragen würden.

Sein Körper brauchte sich selbst auf? Auch wenn Emma diesen Satz nicht vollkommen verstehen konnte, weil ihr das Hintergrundwissen fehlte, war das Endergebnis so klar, dass ihre Augen sich vor Schreck wieder weiteten. Er würde bald zu schwach sein, um sich selbst Nahrung zu besorgen?

Wut brodelte in Emma hoch und sie ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. Wann hatte er ihr das bitte sagen wollen?

Sie war selbst davon überrascht, dass sie jetzt neben seinem Schreibtisch stand. Ihr Körper schien sich ganz von selbst in Bewegung gesetzt zu haben, doch jetzt war es auch Emmas Verstand, der den Arm ausstreckte, direkt zwischen Caydens Gesicht und dessen Hände, die immer noch suchend über die Tastatur wanderten.

Entschlossen und immer noch ein bisschen wütend sah sie auf Cayden hinunter. Sie würde nicht weichen und sie würde auch nicht mit sich reden lassen. Sie hatte Blut, er brauchte welches. Das hier hatte nichts mit Romantik zu tun. Und so, wie Cayden aussah, war es genauso dramatisch, wie man es sich im schlechten Film vorstellte. Er sollte bloß nicht den Helden oder den sanften Beschützer raushängen lassen.

Ihr Blick und auch ihre immer noch geballte Faust, die die Sehnen an ihrem Handgelenk hervor treten ließ, sagten alles, was sie sich dachte. Emma hoffte nur, dass Cayden es auch verstehen würde.

 

Er verstand nur zu gut.

Der Blackberry fiel zu Boden, wo er unbeachtet liegen blieb. Gerade eben noch war Caydens Kopf voller Gedanken mit Terminen, möglichen Jagdgründen am Pier und den immer stärker werdenden Schmerzen in seinem ganzen Körper beschäftigt gewesen. Doch als da plötzlich Emmas Arm so nahe vor seinen Augen aufgetaucht war, dass er jedes noch so kleine Härchen und die Maserung ihrer Haut sehen konnte, hatte sich seine Welt auf diese wenigen Sinneseindrücke reduziert. Alles, was sich außerhalb davon befand, lag im Dunkeln. Einzig allein der Duft ihrer Haut, das subtile Pochen an ihrem Handgelenk und sein bestialischer Hunger zählten in diesem Augenblick.

Cayden wusste, dass er wenigstens über eine Alternative nachdenken sollte. Oder sich wenigstens Gedanken darüber machen sollte, was Emma schon bald für ein Bild von ihm haben könnte. Verdammt, er sollte zumindest darüber nachdenken, dass es ihr das letzte Mal so schwergefallen war. Aber die Wahrheit war nun einmal, dass er an gar nichts mehr dachte.

Sobald Emma ihm so unerträglich nahegekommen war, hatte sein Verstand ausgesetzt und seine durch und durch vampirischen Instinkte waren reibungslos angesprungen, als hätten sie genau auf eine Gelegenheit wie diese gewartet. Sie waren der Grund, wieso er nicht vor Emma zurückwich, um ihre Sorgen und Ängste zu respektieren, die sie ihm erst vor ein paar Tagen mittgeteilt hatte. Stattdessen griff er nach ihrem Arm und zog sie noch näher an sich heran. Die hellblauen Adern an ihrem Handgelenk waren zwar mehr als verlockend, aber sie waren nicht Ziel seines Verlangens. Viel mehr schlang er seine Finger der einen Hand darum, während die der anderen ihren Oberarm festhielten, um sie an jeglicher Flucht zu hindern. Dieses Mal nicht unbedingt aus dem edlen Gedanken heraus, sie nicht unnötig zu verletzen, sondern viel mehr war es die animalische Seite in ihm, die sie nicht gehen assen wollte, bevor er seinen Durst restlos gestillt hatte.

Cayden hielt sich keine unnötige Sekunde länger zurück. Er konnte einfach nicht. Jeder seiner Überlebensinstinkte verbot es ihm. Also trieb er seine wild pochenden Fänge durch die zarte Haut ihrer Armbeuge, die keinerlei Widerstand gegen ihn aufbringen konnte, während seine Hände automatisch noch fester zupackten, als Emma zusammenzuckte.

Heißes Blut strömte in seinen Mund, rollte wie das pure Leben, das es war, über seine Zunge und wurde hastig hinuntergeschluckt. Es linderte den Schmerz in seiner vollkommen ausgedörrten Kehle. Blieb aber dennoch nur wie ein Tropfen auf heißem Stein, so dass Cayden sich enorm zusammenreißen musste, nicht an der Wunde zu saugen, um noch schneller noch größere Mengen an Blut zu erhalten. Das hätte die Schmerzen für Emma nur verschlimmert und das wollte er selbst in diesem Zustand nicht. Denn endlich trat die erhoffte Linderung ein.

Zunächst verschwand das höllische Brennen aus seinem Blutkreislauf. Danach sank seine Körpertemperatur wieder auf den normalen Level herab und er konnte nur zu deutlich spüren, wie seine Kräfte wiederkehrten, weshalb er auch den Griff um Emmas Arm etwas lockerte.

Doch was ihn wirklich unendlich erleichterte und ihm ein gedämpftes Stöhnen entlockte, war das nachlassende Stechen in seinem Kopf und die damit einhergehende Sensibilisierung seiner Sinne.

Er konnte es schmecken – Emmas Blut – das so köstlich belebend und lindernd zugleich war, dass es ihm beinahe Tränen in die Augen trieb. Sie war wütend, ja, aber auch noch so viel mehr als das.

 

Emma zuckte zusammen, als der Schmerz sie traf. Es fühlte sich nicht an, als würde sie gebissen, es war im ersten Moment ein bisschen so, als hätte sie sich verbrannt. Zuerst war da ein paar Sekunden gar nichts und dann tat es weh. Reflexartig wollte Emma den Arm wegziehen, aber Caydens Hände legten sich wie Schraubstöcke um ihren Arm, sodass sie nach Luft schnappte.

Sie biss die Zähne fest aufeinander und presste die Augenlider zusammen, bevor sie die Augen wieder öffnete und den Blick aus den großen Fenstern richtete. Von Cayden abgewandt versuchte sie nicht hinzusehen. Wie beim Arzt, wenn er ihr Blut abnahm. Wenn man nicht hinsah, konnte einem auch nicht komisch davon werden.

Warum ging dann ihr Atem flach und sie begann sich unwohl zu fühlen?

Es fing als leichtes Kribbeln in den Zehen an. Das gleiche Zeichen, das ihr Körper normalerweise bei zu viel Alkohol benutzte. Ein unverkennbares „Jetzt ist es dann genug“. Nur lag es diesmal nicht in ihrer Hand.

Fast hätte Emma an ihrem Arm gezogen, doch allein das zu schnelle Drehen ihres Kopfes verursachte ihr Schwindel. Auf einmal schien sich ihr Magen entgegengesetzt zum Rest ihres Körpers zu bewegen und die Magensäure wollte in ihr hochsteigen.

Mit tiefen Atemzügen versuchte sie das Gefühl der Übelkeit hinunter zu kämpfen. Es würde gleich vorbei sein. Bestimmt würde es gleich zu Ende sein. Er konnte doch nicht so viel nehmen, dass ...

Ihre Augen schossen hin und her, suchten einen festen Punkt, um sich festzuhalten, aber Emma konnte nichts finden. Die Übelkeit stieg immer weiter und sie merkte, wie sie blass im Gesicht wurde.

Mit einem erschrockenen Gesichtsausdruck taumelte sie gegen die Ecke von Caydens Schreibtisch und hielt sich daran fest. Sie wollte nur ... in die Knie gehen, damit das Gefühl aufhörte. Doch Cayden hielt sie immer noch im Klammergriff.

Was ... wenn er nicht losließ?

53. Kapitel

Als Emma gegen den Schreibtisch taumelte, riss ihn das Geräusch aus seinem Blutrausch. Erst jetzt zuckte Caydens Blick ihren Arm entlang nach oben, direkt in das verzerrte Gesicht der Frau, die er über alles liebte. Beinahe hätte der Schock ihres Anblicks ihn zurückschrecken lassen, aber er hatte immer noch die Spitzen seiner Fänge in ihrem Fleisch und damit ging eine Menge Verantwortung einher. Also schlang er instinktiv einen Arm um ihre Taille und zog sie zu sich heran, damit sie sich mehr schlecht als recht auf seinen Schoß fallen lassen musste, bevor sie ihm am Ende noch umkippte. Danach begann er gründlich ihre Wunde zu versorgen, obwohl er weder genug hatte, noch so leicht von diesem köstlichen Geschmack ablassen konnte. Aber Emma war nicht Vanessa und darum machte er sich ernsthaft Gedanken darüber, dass er sie bereits ernsthaft in Bedrängnis gebracht haben könnte, was ihre körperlichen Kräfte anging. Zudem kam auch noch hinzu, dass Emma noch nie Blut von ihm angenommen hatte und deshalb schwerer damit fertig wurde.

Einer der triftigsten Gründe, warum er heute Morgen beschlossen hatte, rauszugehen, um sich jemand anderen zu suchen, der seinen Durst stillen konnte. Sein Bedarf war schon zu hoch gewesen, um Emma nicht deutlich zu schwächen.

Erst als er sichergegangen war, dass die Wunde in ihrer Armbeuge sich geschlossen hatte, ließ er ihren Arm los und konzentrierte sich nun stattdessen auf ihr Gesicht.

Fast hätte er geflucht, als er die Blässe ihrer Wangen sah und dass sie Mühe hatte, ihren Kopf gerade zu halten.

„Em, sie mich an. Du musst tief durchatmen“, forderte er sie auf, während er in Gedanken bereits alle Möglichkeiten durchging, um es ihr wieder besser gehen zulassen. Aber einmal von seinem Blut abgesehen, erschienen ihm die anderen Hausmittelchen ziemlich dürftig.

 

„Ich ...“ Das Durchatmen machte es nur noch schlimmer. Ihr wurde so schlecht, dass Emma geradeaus durch Cayden hindurch starrte und sich mit den Fingern in das Erste verkrallte, was sie zu fassen bekam.

„Darf ich ... mich hinlegen?“ Sitzen war schon besser als Stehen, aber Emmas Körper schien nach noch mehr zu verlangen. Ihr Herz klopfte und sie hörte das Blut in ihren Ohren rauschen.

„Bitte. Mir ist übel.“ Halb schob sie ihn weg, halb zog sie sich von seinem Schoß. Der Papierkorb wurde immer verlockender, aber da es sich um ein Drahtgeflecht handelte, würde das auch nicht reichen. Hilfesuchend sah Emma sich um, schrumpfte in sich zusammen und umschlang kauernd ihre Knie. Sie wollte sich bloß nicht vor Cayden übergeben müssen. Bitte, bitte nicht.

 

„Warte, ich bin gleich wieder da.“ Cayden ließ Emmas Schultern los, die er berührt hatte, nachdem sie sich von ihm losgemacht hatte. Auf keinen Fall würde er zulassen, dass sie umfiel und sich irgendwie dabei verletzte. Aber da sie saß, konnte schon einmal nicht mehr so viel passieren, weshalb er einen kurzen Sprint in das kleine Bad riskieren konnte. Schnell schnappte er sich ein kleines Handtuch, befeuchtete es und griff nach dem Plastikkübel unter dem Waschbecken, ehe er auch schon wieder bei Emma war und sich neben sie hinkniete.

Den Kübel stellte er zur Seite, sodass sie ihn zwar nicht wirklich sehen, aber er schnell genug danach greifen konnte, falls sie sich tatsächlich übergeben musste. Danach half er ihr, sich vorsichtig für einen Moment hinzulegen. Mit seinem Aktenkoffer lagerte er ihre Beine hoch, während sein zusammengerolltes Jackett als Kopfstütze herhielt. Vorsichtig betupfte er ihr mit dem feuchten Handtuch das Gesicht, während er sich in Gedanken selbst zusammenstauchte.

„Besser?“, wollte er leise wissen, obwohl er kaum eine merkliche Besserung feststellen konnte. Außerdem war die Frage an sich ziemlich unsinnig, da Emma gerade eine nicht zu unterschätzende Menge Blut verloren hatte. Blut, dass jetzt seinen eigenen Kreislauf wieder ordentlich anheizte, um sämtliche entstandenen Schäden zu reparieren.

Wenn er doch nur wüsste, was er für sie tun könnte! Aber ihr einfach den blutenden Daumen hinhalten ging auch nicht. Da könnte er ihr gleich den Kübel unter die Nase halten.

Gott, warum hatte er das nur zugelassen!

 

„Hm?“ Emmas Magen schien sich um die eigene Achse zu drehen und das in nicht gerade langsamer Geschwindigkeit. Sie war so froh, liegen zu können und fühlte sich so angestrengt, dass sie die Augen schloss und am liebsten eingeschlafen wäre. Bloß wollte Cayden wahrscheinlich eine Antwort auf seine Frage.

„Ja, es geht schon. Ich ... will nur noch ein bisschen liegenbleiben.“

Der Teppich kam ihr unglaublich flauschig und einladend vor und Emmas Augen schlossen sich wieder, während sie die Hand auf ihren immer noch rebellischen Magen legte. Das kühle Wasser in ihrem Gesicht war ihr egal, sie wollte sich bloß nicht bewegen.

 

Cayden fühlte Emmas Puls, ohne dabei zu offensichtlich vorzugehen. Er wollte sie schließlich nicht noch weiter beunruhigen, auch wenn er es selbst war. Ihr Puls flatterte schnell und hektisch.

Für einen Moment hielt er inne, um intensiv zu überlegen, was er machen sollte. Er konnte sie unmöglich in diesem Zustand lassen, auch wenn ihr das selbst vielleicht gar nicht so bewusst war. Immerhin lag sie hier auf seinem neuen Teppich und nicht in einem weichen Bett, das sie seiner Meinung nach auch noch stundenlang nicht hätte verlassen müssen. Aber sie waren hier einfach nicht sicher genug.

Schnell kam er zu einem Entschluss, der Emma garantiert nicht gefallen würde, aber er hatte auch nicht vor, ihn ihr gleich auf die Nase zu binden.

„Ich bin gleich wieder da“, versicherte er ihr, während er das Handtuch zur Seite legte und aufstand. Beim Vorbeigehen sperrte er seine Bürotür endgültig ab und schnappte sich das angebrochene Päckchen mit Aspirin von seinem Schreibtisch. Damit und mit einem leeren Glas ging er wieder ins Bad und lehnte die Tür so an, dass Emma ihn im Notfall nicht sehen konnte, falls sie sich doch dazu entschloss, die Augen wieder für längere Zeit aufzumachen.

Cayden füllte die Hälfte des Glases mit Wasser, warf danach noch eine halbe Aspirintablette hinein und wartete erst einmal ab, bis sich alles aufgelöst hatte. Danach wusch er sich gründlich die Hände und biss sich schließlich in den Zeigefinger, den er anschließend tief in das sprudelnde Getränk hielt. Er rührte die bis dahin klare Flüssigkeit um, bis sie einen zarten Hauch von Rosa aufwies und drückte danach so lange auf die Wunde in seinem Finger, bis sie zu bluten aufhörte. Erst dann kam er mit dem Glas zurück zu Emma.

Vorsichtig stellte er es neben ihr ab und berührte mit seiner anderen Hand zart ihre Wange.

„Emma? Hör mir genau zu, du musst das hier trinken. Es wird dir danach gleich besser gehen. Versprochen.“ Sehr viel besser, schließlich war er ein sehr alter Vampir, aber das würde sie ohnehin selbst herausfinden und bis dahin wollte er sie, so gut es ging, nicht anschwindeln müssen.

„Zuerst auch nur einen Schluck, bis dir nicht mehr so schlecht ist.“

 

Ohne groß darüber nachzudenken, setzte Emma sich ein wenig auf und trank einen Schluck von dem Wasser, das Cayden ihr hinhielt. Es schmeckte ein wenig nach sprudeliger Zitrone, was sie aufmerksam werden ließ, aber Cayden nahm ihr das Glas sofort wieder ab und Emma störte sich nicht weiter daran.

„Aspirin?“, wollte sie leise wissen und kniff sich in die Nasenwurzel, um ihre müden Augen vielleicht ein wenig aufzuwecken. Sie war wirklich platt und wollte sich schon wieder hinlegen, wäre das nicht sogar noch anstrengender gewesen, als einfach sitzenzubleiben.

Emma seufzte und hielt sich immer noch den Magen, der aber langsam entschied, sich doch nicht gewaltsam entleeren zu wollen. Das Wasser tat ganz gut und Emma streckte die Hand aus, damit Cayden ihr noch einen Schluck davon gab.

 

„Ja.“ Unter anderem.

Cayden gab ihr das Glas, während er mit seiner anderen Hand ihren Rücken berührte und sie sanft in kleinen Kreisen streichelte. Aber eigentlich wollte er sich selbst beruhigen und auch sichergehen, dass sie ihm nicht noch einmal umkippte, obwohl er das nicht erwartete. Immerhin trank Emma das Glas leer.

Cayden nahm es ihr wieder ab und stellte es zur Seite. Danach berührte er sie sanft am Kinn, damit sie ihn ansah.

„Geht’s dir jetzt wieder besser?“, wollte er wissen. Alles andere musste noch warten, denn er würde auf jeden Fall über diesen Vorfall mit ihr reden müssen. Immerhin hatte sie sich einem Risiko ausgesetzt, das sie wohl nur schwer selbst einschätzen konnte und das wollte er auf keinen Fall nochmal geschehen lassen. Auch wenn er ihr dankbar war. Denn es ging ihm selbst wieder ausgesprochen gut.

 

Es war das erste Mal, seit ihr Magen die Führung übernommen hatte, dass sie Cayden ins Gesicht sah. Sorge spiegelte sich darin und sofort sah Emma wieder weg, bevor ihr noch unwohler werden konnte. Obwohl ... so unwohl fühlte sie sich eigentlich gar nicht mehr. Ihr Magen schien sich wieder beruhigt zu haben und auch die Müdigkeit hatte sich einigermaßen verzogen. Sie zitterte auch nicht mehr. Ein Hoch auf die moderne Pharmaindustrie!

„Mir geht’s schon viel besser.“ Etwas entspannter, weil sie nicht mehr befürchtete, sich jeden Moment ihr Frühstück wieder durch den Kopf gehen lassen zu müssen, lehnte sich Emma mit dem Rücken gegen ein Bein des Schreibtischs.

Wow, was hatte sie da nur angestellt?

Diesmal war ihr Blick eher schüchtern, als sie in Caydens Richtung sah und sich in der nächsten Sekunde wünschte, sie hätte es gar nicht erst getan. Himmel, das war vielleicht peinlich!

 

„Gut.“ Das erleichterte ihn noch um ein gutes Stück. Aber seine Nerven flatterten immer noch aufgeregt. Allein der Gedanke, was alles hätte passieren können …

Cayden stand auf und begann damit die Sachen wegzuräumen. Ihm wurde selbst schlecht bei dem Gedanken, was passieren hätte können, wenn er noch ausgehungerter gewesen wäre und er sein Leben nicht jederzeit für das von Emma und das des Babys geben würde.

Als er wieder aus dem kleinen Bad zurück war, setzte er sich vor Emma in den Schneidersitz und sah sie ernst an. Weiteren Aufschub konnte er sich nicht leisten. Dafür bedeutete sie ihm einfach zu viel.

„Em. Ich bin dir wirklich überaus dankbar, was du für mich getan hast. Das kannst du mir glauben. Aber bitte mach das nie, nie wieder bei einem ausgehungerten Vampir! Auch nicht bei diesem.“ Er berührte seine Brust, um seine Worte noch zu bekräftigen.

„Das Risiko ist dabei einfach zu hoch. Das Letzte, was ich wollen würde, wäre dir zu schaden.“

 

Emma versuchte Cayden konzentriert anzusehen, um ihm zu zeigen, dass sie ihm zuhörte und auch verstand, was er ihr sagen wollte. Ihr Herz schlug dabei immer schneller und sie hatte das Gefühl, seine Sorge und vor allem die Art, wie er mit ihr sprach, würden sich auf sie übertragen. Ihre Finger fingen an zu zittern und Emma hatte das Gefühl, sie würde gleich wieder einen Schwächeanfall erleiden.

„Ich wollte nur ...“ Herrgott, sie hörte sich an, wie ein eingeschüchtertes, kleines Kind!

Um den Eindruck nicht auch noch zu untermalen, stand Emma mit so viel Würde, wie sie zusammenkratzen konnte, auf. Zwar hielt sie sich vorsichtshalber noch am Schreibtisch fest, aber ihre Miene war gesetzt und sie wirkte bestimmt, als sie noch einmal anfing.

„Ist gut.“ Dann sollte er aber das nächste Mal vorher Bescheid geben, anstatt so lange zu warten, dass es nötig wurde, so leichtsinnig zu sein, wie Emma es gerade gewesen war.

 

Emma erklärte sich ihm zwar nicht, aber er verstand auch so, was sie ihm nicht gesagt hatte. Sie wollte ihm nur helfen und er hätte an ihrer Stelle auch nicht anders gehandelt. Daher gab er sich für diesen Zwischenfall auch selbst die Schuld und nicht ihr. Sie hatte es nicht wissen können, wie intensiv es wirken konnte, wenn man einem ausgehungerten Vampir eine ungeschützte Quelle direkt vor die Nase hielt.

Cayden kam ebenfalls wieder auf die Beine und studierte für einen Moment Emmas Gesicht, ehe er selbst den Blick abwandte. „Es tut mir leid, dass es überhaupt so weit kommen musste. Ich hätte mich schon viel früher darum kümmern sollen, aber um ehrlich zu sein, hab ich es einfach übersehen. Normalerweise geht es nicht so schnell. Ich vermute stark, dass es an dem ganzen Stress liegt.“

Cayden rieb sich den Nacken und seufzte einmal tief. „Das Meeting gestern war eine Katastrophe. Uns sind weitere Kunden abgesprungen. Wertvolle Kunden, die wir uns nicht leisten konnten, zu verlieren. Ehrlich gesagt, weiß ich momentan nicht mehr, wie es weitergehen soll …“

 

Emma ließ den Kopf hängen.

Natürlich. Der Stress. Die Firma, das Geld, ... Vanessa. Was sonst?

Emma verstand, dass das zu seinem Zustand beigetragen hatte. Aber wenn er so einen Hunger hatte, dass er schon krank davon wurde, dann sollte er etwas tun.

Sie warf Cayden einen Seitenblick zu. Was hätte er denn getan?

Ihr war schon klar, dass er sich wahrscheinlich anderweitig Blut besorgt hätte. Aber wie lange hätte Cayden das denn noch aufgeschoben? Wie schlecht musste es ihm gehen, bevor er etwas unternahm? Und würde es immer so sein, wenn er einmal im Stress war?

Es war keine gute Erfahrung gewesen und hatte nichts Angenehmes an sich. Zumindest nicht so, wie Emma es erlebt hatte. Wenn es in Zukunft immer so laufen sollte, war sie nicht sicher, ob sie sich darauf einlassen wollte.

„Ich weiß es auch nicht. Aber lass uns einfach weiterarbeiten. Irgendwohin kommen wir damit. Es ist ... leider nur noch nicht sicher, wohin.“

Damit drehte sie sich zur Tür und wollte an ihren Schreibtisch zurück. Außerdem noch etwas trinken und vielleicht etwas zu essen bestellen. Ihr Magen schien sich wieder so gut zu fühlen, dass er großen Hunger entwickelte.

 

Cayden wusste nichts weiter darauf zu sagen. Emma hatte zwar recht und sie sollten weiter arbeiten, aber sie begriff offensichtlich nicht die Ausmaße, die diese Katastrophe inzwischen angenommen hatte. Wie hätte sie das auch können? Nur ihm alleine waren als Firmenoberhaupt alle Berichte, Statistiken und Zahlen zugänglich und auch er alleine, musste sich damit herumschlagen. Weshalb Cayden langsam um den Schreibtisch herum ging und sich wieder in seinen Sessel fallenließ.

Bevor Emma allerdings wirklich gehen konnte, hielt er sie noch einmal zurück.

„Danke, Em. Es bedeutet mir sehr viel, dass du das für mich getan hast.“ Auch wenn er vermutete, dass es das letzte Mal gewesen sein würde.

Das hier war eine durch und durch schlechte Erfahrung gewesen, und wenn sie wüsste, dass sie im Gegensatz auch noch von seinem Blut getrunken hatte, würde das alles die Sache sicherlich noch verschärfen. Dabei wollte er doch, dass das alles bald vorbei war. Dass er sich mit Emma aus dem anstrengenden Business zurückziehen und die Zeit mit ihr genießen konnte. Es gab noch so viele Dinge, die sie voneinander nicht wussten und die er mit ihr zusammen nur allzu gerne ausgiebig ergründet hätte. Doch momentan musste er erst einmal dafür sorgen, dass die Firma wieder auf sicheren Beinen stand.

 

Emma brachte ein Lächeln zustande, sagte aber nichts weiter, bevor sie das Büro verließ. Im Vorzimmer angekommen, atmete sie einmal schwer und tief durch. Dann ging sie in die Teeküche und machte sich einen Kräutertee, um anschließend weiter zu arbeiten. Immer mehr wurde deutlich, dass ihnen die Firma unter den Finger in viele kleine Scherben zerfiel. Aber Emma wollte nicht aufgeben. Im Moment war der Job das Einzige, bei dem sie genau wusste, was sie zu tun hatte. Die regelmäßigen Abläufe verschafften ihr Sicherheit, auch wenn ihr durchaus klar war, dass sie gegen eine Sintflut ankämpfte. Mit einem durchlöcherten Eimer.

 

Cayden starrte immer noch die Tür an, obwohl Emma schon vor einer ganzen Weile dahinter verschwunden war. Es hätte genug Arbeit auf ihn gewartet, aber im Augenblick hatte er das deprimierende Gefühl, ohnehin nichts erreichen zu können, egal was er tat. Also hielt er in Gedanken noch an dem gerade geschehenen Ereignis fest.

Auch dieses Mal war es ihm nicht wirklich vergönnt gewesen, diese Art der Nahrungsaufnahme zu genießen. Obwohl er das gerade bei Emma nur zu gerne einmal tun wollte. Sie hatte so gut geschmeckt! So anders als Vanessa und auch anders als Helen. Ob es nun an ihrem Hexenblut oder an Emma selbst lag, wusste Cayden nicht. Aber er war sich auch so sicher, dass er sich nur noch schwerlich mit weniger begnügen könnte und das würde er nach dem heutigen Fiasko wohl oder übel müssen.

Cayden verspürte zwar nicht mehr den Drang, auf irgendetwas einzuschlagen, aber seine Bewegungen waren dennoch ruppig, als er das Papierchaos vor sich zu schlichten versuchte, um endlich wieder mit den Gedanken zur Sache zu kommen. Alles andere musste einfach warten. Aber er sollte sich nicht zu lange damit Zeit lassen. Er wollte sich nicht noch weiter von Emma entfernen …

Das Handy klingelte und Cayden nahm ab, ohne vorher zu schauen, wer ihn da anrief, da er noch vollauf mit dem Sortieren von Statistiken beschäftigt war.

„Cayden Calmaro.“

„Hey, Cayden. Hier ist Brad.“

Seine Finger hielten in der Bewegung inne und er nahm das Handy richtig in die Hand, während er sich gerade aufsetzte.

„Bradley? Wie geht’s dir?“ Die Überraschung war seiner Stimme deutlich anzuhören, woraufhin Brad kurz lachte.

„Besser als dir im Augenblick nehme ich an. Soll ich dir vielleicht meinen Psychologen borgen? Der Typ vollbringt wahre Wunder.“

Offensichtlich, wenn Brad inzwischen auch wieder lachen konnte. Vor ein paar Wochen wäre das noch unmöglich erschienen. Schließlich hatte sein Freund sich die größte Mühe gegeben, sich ins Nirvana zu saufen.

„Keine Zeit“, antwortete er ehrlich und erntete erneut ein Lachen, auch wenn es nicht mehr besonders fröhlich klang.

„Kann ich mir vorstellen. Ich hab gelesen, was man über dich schreibt. Darum dachte ich mir, ich frag einfach mal an, ob du etwas Unterstützung gebrauchen kannst. Es dürften ja ein paar Plätze frei geworden sein. Von Hendricks und Lucas weiß ich sogar sicher, dass sie übergelaufen sind. Dämliche Penner.“

Brads Entrüstung entlockte nun auch Cayden ein Schmunzeln und er lehnte sich bequem in seinem Sessel zurück. Es tat gut, die Stimme seines Freundes zu hören, hatte er doch angenommen, dass das vielleicht nie wieder geschehen würde. Wie schön, dass er sich offenbar wieder gefangen hatte.

„Natürlich habe ich einen Platz für dich. Der wäre auch frei gewesen, wenn niemand abgesprungen wäre. Ich bin froh, dass es dir wieder besser geht.“

Das war er wirklich.

„Spitze. Wann kann ich dann vorbei kommen, um den Papierkram zu erledigen?“

Cayden sah sich kurz das Chaos auf seinem Schreibtisch an, das sowieso nicht so schnell besser werden würde.

„Im Augenblick hätte ich Zeit. Ansonsten lass dir einen Termin von meiner Assistentin geben und sag ihr, sie soll dich auf meinen Wunsch hin irgendwo dazwischen quetschen. Ich will mich persönlich darum kümmern.“

„Welch Ehre. Dann sehen wir uns bald. Und Cayden?“

„Ja?“

„Lass dich von der Sache nicht runterziehen. Das ist es nicht wert.“

Ja, das war Cayden durchaus klar.

 
 

***

 

Von Bradleys überraschende Rückkehr ins Reich der Lebenden ermutigt, stellte sich Cayden einige Zeit später auch dem nächsten Besuch bei Vanessa. Sie war inzwischen wie erwartet aus der Intensivstation entlassen worden und sah auch schon merklich besser aus, als er ihr Ein-Bett-Zimmer betrat.

Inzwischen konnte sie aufrecht sitzen und ihre beiden Augen waren offen. Dafür zeichneten sich unter dem Make-up immer noch alle möglichen bunten Farben auf ihrer Haut ab, aber schon jetzt waren die ersten Anzeichen des Models wieder zu erkennen. Ihre Haare waren frisch gewaschen und zu einer modischen, wenn auch einfachen Frisur frisiert, die sie sich mit Garantie nicht hatte selbst machen können. Was aber besonders ins Auge stach, war nicht Vanessa selbst sondern die Tatsache, dass auf jeder noch so kleinen freien Abstellfläche Blumensträuße, Gestecke und sogar ein Ikebana-Arrangemet standen.

Er sah es fast als Genugtuung an, dass keines davon von ihm stammte. Er hatte ihr noch nicht einmal eine Gute-Besserungs-Karte zukommen lassen. Wobei, wenn man es recht bedachte, war sein Geschenk an sie sogar sehr viel mehr wert gewesen, als das ganze Unkraut zusammen. Seine Laune fiel bei diesem Gedanken noch weiter ab.

„Wir müssen reden.“

Kein „Hallo“ oder „Wie schön, dass es dir schon wieder besser geht.“. Stattdessen stützte er sich mit beiden Händen am Fußende des Bettes ab und sah ihr ernst ins Gesicht.

„Ich will jetzt genau wissen, wer das getan hat.“

 
 

***

 

Emma war mehr als überrascht über den Anruf und den Terminwunsch, aber sie fand trotzdem irgendwo eine kleine Lücke, um ihn unterzubringen.

Allmählich ließen die Terminwünsche nämlich wieder nach. Der erste Sturm schien sich gelegt und die feigsten Ratten das sinkende Schiff verlassen zu haben.

Das erste Mal, seit diese furchtbare Sache passiert war, sah Emma sich aufmerksam auf der Etage um. Immerhin in einem Stockwerk, in dem die wichtigen Leute arbeiteten. Nicht nur räumlich sehr nah am Firmenchef, sondern auch von der Wichtigkeit ihrer Aufgabe ziemlich weit oben. Einige der kleinen Büroabteile hatten sich geleert. Aber es erleichterte Emma, auch gruppierte Schreibtische zu sehen, an denen jemand saß. Und eigentlich ... gar nicht so wenige davon. Mit einem Lächeln, das vielleicht einen Anflug von zufrieden wirkte, setzte sie sich wieder an ihre Arbeit. Vielleicht war doch noch nicht alles zu spät.

 

Sobald Cayden gegangen war, schloss auch Emma ihre Aufgaben ab, machte sich Notizen für den nächsten Tag und beendete dann die Arbeit und fuhr mit dem Aufzug nach unten in die Lobby. Hier war es leer und draußen herrschte ein Wetter, das nicht unbedingt als einladend zu bezeichnen war. Regen und grauer Himmel.

Cayden würde wahrscheinlich nicht so bald von sich hören lassen, und wenn sie auf ihren Körper hörte, war eigentlich ziemlich bald Abendessen angesagt. Also zückte Emma ihr Handy und rief Kathy an.

 

„Nein, der Typ war ganz süß, aber ehrlich: Wer solche Schuhe trägt, mit dem gehe ich doch nicht nach Hause! Wenn ich mir den Zustand seiner Küche ausmale, wird mir ganz schlecht.“

Wie um das zu unterstreichen, schnappte sich Kathy eine Gamba aus ihrer Tortilla und steckte sie sich in den Mund, um genussvoll darauf herumzukauen.

Emma lachte und widmete sich ihrem Burrito. Das Essen war wirklich gut und es war auch schön, wieder einmal draußen zu sein und mit Kathy einen netten Abend zu verbringen. Sie quatschten über alles Mögliche, lachten und hatten Spaß. Irgendwie kam es Emma so vor, als sei das letzte Mal schon ewig her.

 

„Ich hätte gern noch einen Mangosaft.“

Lächeln drehte sich die Kellnerin um und verschwand an der kleinen Theke, wo sie Kathys und Emmas Bestellungen abgab.

„Oh Mann, wenn ich mir das so anschaue ...“

Sie drehte die Karte bestimmt schon zum dritten Mal in den Händen und immer wieder lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Dabei hatte sie gerade schon gegessen. Und wenn Emma ehrlich war, hatte sie auch mehr Appetit als wirklichen Hunger.

„Ich hätte total Lust auf das Knoblauchbrot. Wollen wir teilen?“

Kathy brach in Gelächter aus. Was Emma zwar im ersten Moment stutzen ließ, aber ihr nicht die Laune verdarb.

„Was denn?“

„Liebes, wenn das mit den Fressattacken jetzt schon losgeht, kann das ja nur heiter werden.“

Sie zwinkerte Emma zu und umarmte sie zum zigsten Mal innig und herzlich. Emma kamen fast die Tränen, so dankbar war sie dafür, so eine Freundin zu haben. Nicht jeder hätte auf diese merkwürdig plötzliche Schwangerschaft und das ganze Drumherum so lässig und vor allem freudig reagiert, wie Kathy es tat. Aber Kathy war eben – wie manche mehr oder weniger nett formulierten – speziell.

„Und klar teilen wir uns das Knoblauchbrot. Ich dachte schon, du fragst nie.“

Schon winkte sie die Kellnerin noch einmal heran und Emma konnte das breite Lächeln gar nicht mehr aus ihrem Gesicht kriegen.

 
 

***

 

„Glaubst du ernsthaft, ich würde dir diese Geschichte abkaufen?“

Cayden konnte seine Wut nur dank Emmas Blut in sich im Zaum halten. Wäre er immer noch am Verdursten, hätte Vanessa ihn schon längst zum Tier werden lassen. Aber wenn man einmal ehrlich war, setzte sie auch alles darauf an.

„Warum glaubst du mir nicht, Cayden? Ich habe genau das der Polizei gesagt und deshalb wurdest du aus der U-Haft entlassen. Ich hätte eigentlich angenommen, dass du mir ein bisschen dankbarer entgegen kommst.“

Caydens Schultern versteiften sich und er drehte sich langsam vom Fenster weg, um Vanessa in die Augen sehen zu können, die ihn fast schon beleidigt und verletzt ansah. Ersteres glaubte er aufs Wort, das mit dem Verletztsein allerdings nicht.

„Wir beide wissen ganz genau, dass ich dich niemals geschlagen habe. Daher wundert es mich doch sehr, dass unsere Haushälterin und dein Visagist vom Gegenteil überzeugt sind. Sag mir: Wie viel hast du ihnen für diese Lüge gezahlt?“

Nun fuhr Vanessa empört hoch. „ICH soll sie bestochen haben? Warum sollte ich das tun?“

„Um meinen Ruf zu ruinieren. Um dich an mir zu rächen. Vielleicht willst du mich damit aber auch einfach nur erpressen.“ Cayden verschränkte die Arme vor der Brust, um seine Worte zu untermauern. Er stand zu seinen Worten und eher gefror die Hölle zu, als dass er sich von dieser Frau erpressen lassen würde.

„Wenn du dir ohnehin schon deine Meinung gebildet hast, wieso bist du dann noch hier und willst die Wahrheit wissen? Ich werde dich wohl kaum vom Gegenteil überzeugen können, auch wenn ich es nicht war!“

Vanessa drehte ihm den Rücken zu und zog ihre Decke bis über die Schultern. Zugegeben, sie spielte das unwissende Opfer verdammt gut. Aber die Erklärung, Cayden hätte an jenem besagten Abend die Tür offen gelassen und den Tätern somit uneingeschränkten Zutritt zum Haus verschafft, wo sie Vanessa hatten überfallen können, war einfach lächerlich. Zum einen, weil er sich sicher war, die Tür hinter sich zugezogen zu haben, was ein Eindringen von außen ohne Schlüssel schwer machte. Zum anderen fehlte dann immer noch das Motiv. Schließlich war nichts gestohlen worden und einfach nur ins Haus einzudringen, um Vanessa zu verprügeln, war für irgendwelche Einbrecher einfach nicht glaubhaft. Da hätte schon jemand diese Leute auf die Sache ansetzen müssen und Cayden war das ganz bestimmt nicht gewesen.

„Hast du irgendwelche Feinde, die es auf dich abgesehen haben könnten?“, wollte er schließlich wissen, weil das für ihn noch die letzte mögliche Option war, die ihm einfiel.

„Natürlich nicht!“ Vanessa setzte sich wieder ruckartig auf, ehe sie schmerzvoll zusammenzuckte.

Cayden sagte nichts dazu.

„Und was ist mit dir? Vielleicht hat es ja jemand auf mich abgesehen, weil er eigentlich hinter dir her ist. Du bist ein Vampir, verdammt noch mal. Würde mich nicht wundern, wenn du dir im Laufe deines Lebens Feinde gemacht hast, die es jetzt an MIR auslassen!“

„Könntest du bitte noch ein bisschen lauter schreien? Ich glaube, die Schwestern am Flur haben es noch nicht gehört!“, zischte Cayden sie an, ehe er ruhiger fortfuhr.

„Ich habe sämtliche Rechnungen beglichen. Es gibt niemanden, der irgendwie nach Rache sinnen könnte und ...“

Er hielt inne, als ihm plötzlich etwas in den Sinn kam. Vielleicht hatte er sich keine Feinde gemacht, in dem er etwas angestellt hatte. Aber was wäre, wenn …

„Ja?“, bohrte Vanessa nach, sodass er den Gedanken für einen Moment fallenließ.

„Nicht so wichtig.“ Cayden winkte ab. „Reden wir lieber darüber, wie du der Presse erklärst, dass ich dich niemals angerührt habe. Mein Ruf ist ruiniert, aber ich bestehe darauf, dass du die Tatsachen richtigstellst.“

„Natürlich“, bestätigte sie ungewöhnlich sanft, sodass sie Caydens Blick auf sich zog. „Alles, was du willst.“

Es stellten sich ihm sämtliche Nackenhaare zu Berge, als er in diese blauen, kalten Augen sah, die immer irgendwie berechnend zu sein schienen. Er wusste, dass Vanessa falsch spielte und ihn im Laufe des Gesprächs schon mehrmals angelogen hatte, aber es gab keine Mittel, um ihr das Gegenteil zu entlocken. Foltern hatte nie seine Zustimmung gefunden; außerdem war es illegal.

„Ich will die Scheidung, und zwar möglichst bald.“ Damit schnappte er sich sein Jackett vom Besucherstuhl und ging. Für heute hatte er genug Lügen gehört.

 

Der lange Spaziergang zurück zu seiner Wohnung hatte Cayden gut getan.

Anfangs war er noch total in dem Gespräch zwischen Vanessa und ihm verstrickt gewesen, aber nach und nach, tat die kühle Abendluft ihre Arbeit und brachte ihn auf andere Gedanken. Weg von Vanessa, den Gerüchten und seinem angeschlagenen Ruf. Weg von seiner Arbeit, dem Gefühl der hilflosen Ohnmacht und dem Stress. Dafür sehr viel näher hin zu Emma. Die Frau, die er über alles liebte, von der er in letzter Zeit allerdings nur dann etwas zu sehen bekam, wenn er vor sein Büro ging oder sie so nett war und ihn mit Koffein versorgte. Eigentlich waren sie doch zusammen, aber davon merkte man kaum etwas. Cayden wusste nicht einmal mehr genau, wann er sie das letzte Mal richtig geküsst hatte …

Er blieb mitten auf dem verlassenen Bürgersteig stehen. Regen prasselte auf ihn nieder, wurde aber kaum von ihm wahrgenommen. Cayden war … bestürzt …

Es war nicht nur das Ausbleiben von Küssen, obwohl er Emma zu jeder Stunde hätte küssen können. Sondern auch die immer größer werdende Distanz zwischen ihnen, obwohl keiner von ihnen beiden es bisher ausgesprochen hatte. Aber wenn er es spürte, dann musste auch Emma es fühlen können, und wenn sie es fühlen konnte, dann machte er etwas verdammt falsch!

Sie hatte bisher akzeptiert, was er war. Sie hatte sich auf das Wagnis eingelassen, es mit ihm zu versuchen und heute hatte sie ihm etwas gegeben, das man mit Geld nie aufwiegen konnte. Doch was tat er? Cayden vergrub sich in seiner Arbeit. Horchte weder auf die Zeichen seines Körpers noch auf die Warnungen seines Instinkts. Statt bei Emma zu sein, wonach es ihm eigentlich verlangte, gab er sich mit Vanessa ab und lief dann mutterseelenallein in der Gegend herum.

Er würde sie verlieren, wenn er so weitermachte!

Cayden atmete erschaudernd tief ein und wieder aus, während er sich die völlig angeschlagene Brille von der Nase zog und einsteckte.

Die Firma zu verlieren, war eine Sache. Aber Emma und das Baby zu verlieren eine ganz andere. Es würde ihn umbringen und das konnte er nicht zulassen.

Er würde es nicht zulassen …

54. Kapitel

Eddy blickte das mehrstöckige Gebäude hoch und war nicht gerade wenig beeindruckt. Das war also der Geschäftssitz des Mannes, der derzeit ganz schön viele Runden in der Presse machte. Da war ihm sein eigener Job schon fast lieber, obwohl er nicht sehr gut bezahlt wurde. Aber wenigstens wurde er dabei nicht durch den Dreck gezogen oder von Paparazzi verfolgt.

Mit geübtem Schwung schlug er die Tür zu seinem Lieferwagen zu und bemühte sich das große Blumenarrangement mit den intensiv duftenden Orchideen nicht fallenzulassen, während er auf seinem Planer nachschaute, in welches Stockwerk er musste.

Gott sei Dank, gibt es hier einen Aufzug.

Fünf Minuten später marschierte er zielstrebig über den Teppich, der bestimmt jede Putzfrau in den Wahnsinn trieb, während diverse Mitarbeiter ihm nachblickten. Manchmal nicht ganz ohne Neid, wie er immer wieder zufrieden feststellen konnte. Er liebte das!

Vor den Schreibtischen der beiden Assistentinnen des Big Boss blieb er schließlich stehen und warf noch einmal einen Blick auf seinen Planer.

„Miss Emma Barnes?“, fragte er zur Sicherheit noch einmal nach, auch wenn auf ihrem Schreibtisch ein Schildchen mit ihrem Namen darauf stand. Aber es könnte ja auch die Aushilfe sein. War alles schon einmal vorgekommen und in Frauen sollten man besser nicht erst Hoffnung wecken, wenn man sie ihnen wieder nehmen musste, weil die Geschenke doch an eine andere gingen.

„Ich hab hier eine Lieferung für Sie. Sie müssen also nur noch hier unterschreiben.“

Er stellte den Strauß auf eine freie Fläche des Schreibtisches ab und hielt der brünetten Assistentin, der der Stress schon deutlich ins Gesicht geschrieben stand, den Auftrag hin, damit sie unterzeichnen konnte.

 

„Wie bitte? ... Nein, ich habe Sie ... Nein, Moment!“

Emma notierte sich die paar Daten, die sie über die schlechte Leitung verstehen konnte, auf einem Zettel, der bald zu klein dafür wurde. Verdammt.

„Moment, nicht so schnell, ich ... Können Sie das nochmal ...“

Ihre Brauen hüpften bei dem Ausbruch des Mannes am anderen Ende der Leitung in die Höhe.

„Die Verbindung ist schlecht!“

Aus den Augenwinkeln sah Emma Stella zusammenzucken. Schnell beeilte sie sich, entschuldigend mit der Hand zu wedeln und auf den Hörer in ihrer anderen zu deuten.

Ich verstehe kein Wort!, formte sie lautlos mit den Lippen und rollte verzweifelt mit den Augen.

„Well-ing-ton! ... Ja. ... Ja! ... Neu-see-land!“

Oh Gott, das konnte eigentlich nur ein schlechter Scherz sein. Der Typ verstand sie so wenig, wie Emma ihn und das lag nicht nur an der Leitung, sondern auch an dem gruseligen Akzent. Aber sie bekam schließlich doch die nötigen Fakten und Daten zusammen und hatte am Ende fünf beschriebene, kleine Zettel vor sich liegen.

„Oh Mann.“ Sie seufzte laut auf. „Das war vielleicht ...“

Als sie zu Stella hinüber sah, war Emma zuerst irritiert. Dann schlug diese Stimmung in Sekundenschnelle in Neugier um.

„Was ist denn?“, wollte sie laut flüsternd wissen, aber da bog auch schon ein Blumenbote um die Ecke und blieb mitten im Vorzimmer stehen.

Oh. Hatte Cayden doch noch einen Fan? Oder bekam Stella Blumen von ihrem Mann? Das war ja süß, dass er ihr Blumen ...

„Miss Emma Barnes?“

„Was?“ Sie sah ihn offensichtlich total verständnislos an, denn der Bote schenkte ihr ein sehr freundliches Lächeln, bevor er sie den Empfang des riesigen Arrangements quittieren ließ. Aber auch nachdem der Mann wieder gegangen war, saß Emma vollkommen perplex hinter dem Strauß und starrte ihn ungläubig an. Wer sollte ihr denn Blumen schicken? Und warum?

Vielleicht war er nicht für sie. Ja, das würde es sein. Wahrscheinlich sollte sie ihn nur an Cayden weitergeben. Erleichtert, weil sie damit eher umgehen konnte, stand Emma auf, zupfte die Karte vom Papier, mit dem der Strauß umwickelt war, und klappte sie auf.

Liebste Emma!

Es ist schon zu lange her, dass wir uns einmal außerhalb der Geschäftszeiten gesehen haben, darum möchte ich dich heute einladen, mit mir pünktlich in den Feierabend zu gehen.

Falls du noch nichts vorhast, würde ich mich freuen, für dich zu kochen und mit dir einen schönen Abend zu verbringen.

Ich vermisse dich aufrichtig und hoffe auf ein baldiges Wiedersehen mit dir alleine.

In ewiger Liebe

Cayden

Im nächsten Moment wäre ihr das Kärtchen um ein Haar aus der Hand gefallen. Sie lief knallrot an.

Er war ... also doch für sie.

 

Schon als der Bote die Blumen bei Emma gelassen hatte, platzte Stella fast vor Neugierde. Emma hatte noch nie etwas in ihrem Beisein bekommen. Ehrlich gesagt würde es sie sogar wundern, wenn ihre Kollegin überhaupt die Zeit fand, um jemanden zu finden, der ihr solche Blumen schicken konnte. Noch dazu war das kein billiger Strauß von der Ecke. Dafür blätterte man ganz schön was hin. Vielleicht auch ein Grund, weshalb sie von ihrem Mann so selten etwas in dieser Richtung bekam …

Als Emma auch noch knallrot anlief, konnte kein noch so schweres Baby sie auf ihrem Stuhl halten. Sofort stand Stella auf, hielt sich zur Sicherheit den Bauch, als sie ihren Schreibtisch umrundete, und blieb vor Emmas Tisch stehen.

„Ich bin ehrlich beeindruckt. Ich dachte eigentlich, du wärst single.“ Sie lächelte breit. „Kennt ihr euch schon lange?“

 

Vermutlich war das fast unmöglich, aber Emma spürte trotzdem genau, wie sie noch roter im Gesicht wurde und am liebsten hätte sie sich mitsamt Blumenstrauß unter den Schreibtisch geflüchtet und von dort einen Tunnel nach draußen gegraben.

Das war aber die weniger realistische Option, daher drückte sie mit zitternden Händen die kleine Karte an sich und blickte überall hin, bloß nicht in Stellas Gesicht, als sie antwortete: „Nein. Nein, noch nicht lange. Und ich hätte auch nicht gedacht, dass er ... mir Blumen hierher schickt.“

Selbst wenn er sie ihr nach Hause geschickt hätte, wäre sie aus allen Wolken gefallen. Aber hier hätte sich Emma am liebsten deshalb unsichtbar gemacht.

 

„Wieso nicht? Immerhin verbringst du inzwischen deine meiste Zeit hier.“ Stella zwinkerte Emma zu, ehe sie vorsichtig mit den Fingerspitzen über die feinen Blütenblätter strich.

„Darf ich kurz?“ Sie wartete erst gar nicht auf eine Antwort, sondern beugte sich weiter vor und schnupperte einmal an dem Strauß. Ein sehr exotischer Duft und doch sehr umschmeichelnd. Stella war ja eigentlich der Rosen-Typ, aber die hier hatten auch etwas.

„Mhmm … Herrlich. Ich hoffe, dein Verehrer schickt dir jetzt öfter etwas. An den Duft könnte ich mich gewöhnen.“ Wieder ein Lächeln, das von einem leicht genervten Seufzen abgelöst wurde, als das Telefon Stella wieder an ihren Schreibtisch zurückrief. Sie sah dennoch immer wieder lächelnd zu Emma hinüber, denn sie freute sich ehrlich für ihre Kollegin, die in letzter Zeit den meisten Stress abbekam.

 

Erst als Stella an den Blumen roch, schien sich der Strauß wieder in Emmas Gedanken zu schieben. Sie starrte ihn an, hob ihn dann vom Tisch und ging dann damit in die Teeküche, wo sie ihn vorsichtig aus dem Papier packte und den Strauß in einen kleinen, blauen Putzeimer stellte. Sie hatten nichts anderes, was auch nur annähernd groß genug gewesen wäre, um als Vasenersatz zu dienen.

Emma las noch einmal die Karte durch.

Diesmal, wo sie niemand sehen konnte, strahlte sie übers ganze Gesicht. Es war wirklich ... toll, dass er ihr die Blumen geschickt hatte. Und wenn sie den ersten Schock überwand, ihre Hände nicht mehr so zitterten und ihre Gedanken und Gefühle keine Purzelbäume mehr schlugen, würde Emma auch auf die Karte antworten.

 
 

***

 

Vielen Dank für die Blumen. Sie sind wunderschön. Und du hast Glück ... ;) Ich werde mich heute sehr gerne von dir bekochen lassen. Ich freu mich drauf. x Emma

Cayden war fast vor Freude an die Decke gegangen, als Emma ihm ihre Antwort per Memo geschickt hatte. Sie würde also heute Abend bei ihm essen. Das hieß, er hatte sie für mehrere Stunden endlich wieder einmal ganz allein für sich. Das war einfach zu schön, um sich deshalb nicht gleich beschwingter zu fühlen.

 

Zehn Minuten vor Feierabend kam Cayden fertig gepackt aus seinem Büro. Stella war schon längst gegangen und auch die meisten anderen, weshalb er es wagen durfte, direkt an Emma heranzutreten und sich ein Stück über ihren Schreibtisch zu beugen, damit er ihr besser zuflüstern konnte: „Komm in zehn Minuten nach. Ich will … noch etwas vorbereiten.“

Cayden schenkte ihr ein glückliches Lächeln und trat wieder vom Schreibtisch zurück. „PS.: Wir müssen uns etwas mit deinem Kraftfeld einfallen lassen. Außer, du hältst mich gerne von deinem Tisch fern.“

Er schenkte ihr noch einmal ein breites Lächeln, ehe er sich rasch auf den Weg in sein Apartment machte. Seinen Aktenkoffer legte er einfach auf seinen Schreibtisch. Den würde er heute nicht mehr anschauen, und wenn alles gut lief, dann auch nicht morgen. Aber darauf konnte Cayden sich noch nicht festlegen. Stattdessen nutzte er seine Vampirgeschwindigkeit, um seine ganze Wohnung mit Kerzen zu erhellen, damit er das Licht ganz ausgeschaltet lassen konnte. Nicht einmal in der Küche brauchte er die volle Beleuchtung. Gerade zu dieser Stunde sah er perfekt.

Rasch zog er sich auch noch etwas anderes an, allerdings immer noch eine feine Hose und dazu ein edles Hemd. Kein Grund, dieses Abendessen in Schlabbersachen zu verbringen, obwohl er genau das am liebsten bei Emma hatte. Wenn sie beide es sich gemütlich machten, um sich einen Film anzusehen.

Kurz vor Ablauf der Frist, stand er schon wieder vor dem Fahrstuhl, um Emma in Empfang zu nehmen. Er hatte auch extra Kerzen im Gästebadezimmer aufgestellt, falls sie sich nach der Arbeit noch etwas frisch machen wollte.

 

Nervös trommelte sie mit den Fingern auf ihrer Handtasche herum, die sie fast schützend vor sich hielt. Der Aufzug bewegte sich mehr oder weniger lautlos und Emma kam es vor, als flögen die Zahlen nur so vorbei, die ihren Fortschritt in Richtung Penthouse anzeigten.

In der kleinen Extratasche, die vorn an der Handtasche angebracht war, klimperten sehr leise ein paar Metallplättchen, die Emma noch sorgfältig aus dem Vorzimmer entfernt hatte, bevor sie gegangen war. Das Schutzdreieck hatte sie vollkommen vergessen, aber jetzt ... würde es Cayden bestimmt nicht mehr davon abhalten, an ihren Schreibtisch zu kommen.

Emma lächelte und schon öffnete sich auch die Tür des Fahrstuhls und gab den Blick auf Caydens Flur frei, wo er bereits auf sie wartete.

In dem Moment fiel es ihr siedend heiß ein. Emmas Mund formte sich zu einem entsetzten 'Oh' und am liebsten hätte sie sofort wieder auf den Knopf für die Chefetage gedrückt. Aber ihr gesunder Menschenverstand kam ihr doch zuvor und sie wurde lediglich schon wieder rot.

Mit gesenktem Kopf trat sie aus dem Lift in Caydens Apartment.

„Ich hab den Blumenstrauß unten stehenlassen.“

Es war ihr wirklich peinlich.

 

„Das ist doch kein Weltuntergang. Schließlich wollte ich mit dir zu Abend essen. Nicht mit den Blumen“, lautete Caydens Begrüßung, nachdem Emma schon so schön damit angefangen hatte. Er nahm ihr die Jacke ab und hängte sie ordentlich auf einen Kleiderbügel in seiner Garderobe auf, ehe er Emmas Hand nahm und sie den Flur entlang, Richtung Wohnzimmer führte.

„Ich habe mir noch nicht überlegt, was es zu essen gibt, da ich dich fragen wollte, worauf du Lust hättest. Ich kann dir so gut wie alles zaubern, solange es nicht etwas total Ausgefallenes ist, für das man absonderliche Zutaten braucht.“

Er bedeutete ihr, sich auf einen der Barhocker zu setzen. Danach umrundete er die Theke, schnappte sich seine weiße Schürze und hängte sie sich um.

„Also Madam. Wonach gelüstet es Euch?“

 

Nach was es ihr gelüstete?

Hmm ... wie wäre es mit einem Begrüßungskuss? Emma war irritiert und nervös zugleich. Cayden hatte sie zu sich nach Hause eingeladen, ihr die wunderschönen Blumen geschickt und jetzt traute er sich nicht, ihr ein Küsschen zu geben? Oder wollte er nicht?

Emma setzte ein Lächeln auf und schalt sich selbst: Sie sollte erst einmal abwarten. Immerhin war es in letzter Zeit schwierig gewesen und hätte Cayden sie mit Küssen und vielleicht sogar mehr an der Tür empfangen, hätte der Abend wahrscheinlich eine falsche Note bekommen.

„Ehrlich gesagt habe ich auch noch nicht darüber nachgedacht.“ Sie grinste ihn an. „Aber die Schürze steht dir.“

Emma stützte die Ellenbogen auf die Küchentheke, legte ihr Kinn in die Handflächen und überlegte. Auf was hatte sie denn Lust? Pasta? Reis?

„Eigentlich hätte ich Lust auf viel Gemüse. Und vielleicht ... Kumaras aus dem Ofen?“

Das war jetzt vermutlich nicht besonders hilfreich. Aber über die Süßkartoffeln würde sie sich freuen.

 

Noch während Emma sprach, überschlug Cayden in Gedanken alle möglichen Varianten, die ihm zu Emmas Essenswünschen einfielen, ehe er zu lächeln begann.

„Ich denke, ich weiß da genau das Richtige. Aber vorher noch etwas zu trinken?“

Cayden hätte unter anderen Umständen ein Glas Wein angeboten, aber da Emma schwanger war, fiel das weg. Was nicht hieß, dass er nicht auch noch andere leckere Getränke im Haus hatte, die auch dem Baby bekommen würden.

Nachdem er Emma zumindest damit versorgt hatte, machte Cayden sich ans Kochen. Zuerst legte er sich die Zutaten bereit, wusch sie und begann dann damit, die Kumaras zu schälen und in passende Streifen zu schneiden. Dank Emmas Entdeckung brauchte er sich hierbei nicht mehr zu zügeln, sondern konnte es in einem für ihn angenehmen Tempo erledigen.

„Hast du morgen eigentlich schon etwas vor, oder willst du mit mir etwas unternehmen? Ich wäre noch frei.“

Nachdem er die Süßkartoffeln geschält und zerkleinert hatte, tauchte er sie in eine Schüssel mit Olivenöl, um die Stücke ausgiebig damit zu benetzen, ehe er sie auf einem Backblech verteilte, noch etwas würzte und dann in den vorgeheizten Backofen schob. Danach machte er sich an die Gemüsepfanne.

 

Emma hielt sich an ihrem Glas fest und beobachtete fasziniert, wie Cayden in Höchstgeschwindigkeit arbeitete. Es war wirklich kaum zu glauben und unter anderen Umständen hätte Emma es bestimmt der diffusen Beleuchtung oder etwas anderem zugeschrieben. Aber sie konnte wohl kaum leugnen, dass er schneller kochte als jeder Mensch, den sie je dabei gesehen hatte. Und Emma hatte sich eine Zeit lang mit einer speziellen Kochshow die Zeit vertrieben, bei der allerdings mehr das Verhalten des Sternekochs im Mittelpunkt stand. Amüsant, aber wenig lehrreich. Dafür sehr unterhaltend. Jedenfalls war Cayden schneller und akkurater als der beste Showkoch und das beeindruckte Emma so sehr, dass sie zwar kurz auf die Idee kam, ihre Hilfe anzubieten, aber es dann doch lieber sein ließ. Sie hätte nur dumm herumgestanden und nicht wirklich etwas beitragen können. Da unterhielt sie sich lieber.

„Ich würde sehr gern etwas mit dir unternehmen.“ Das war so direkt und begeistert aus ihre herausgesprudelt, dass Emma lieber gleich einen großen Schluck aus ihrem Glas nahm, um nicht schon wieder rot zu werden. Vielleicht sollte sie ihre Begeisterung etwas in Zaum halten.

„Hast du denn schon etwas im Sinn?“, wollte sie daher betont ruhig wissen und hätte am liebsten gleich über sich selbst gelacht.

 

Cayden hielt in seiner Bewegung inne und warf Emma einen Blick zu. Ja, sogar ihren Wangen war anzusehen, dass sein Vorschlag ihr gefiel. Es stand also doch noch nicht so schlimm um sie beide, wie er befürchtet hatte. Aber er wollte auf jeden Fall seine Beziehung zu ihr noch weiter ausbauen und verbessern. Denn inzwischen waren sie wohl über den Versuch hinausgegangen. Sie sollten es einfach zulassen.

Etwas nachdenklich hackte er die Zwiebel weiter in kleinere Stücke, um sie kurz in heißem Olivenöl anzubraten. Das Zischen war zu laut, um ihm eine Antwort zu ermöglichen, aber kurze Zeit darauf, stellte er das Ganze zur Seite, um auch noch das restliche Gemüse klein zu schneiden.

„Ich weiß noch nicht genau. Es sollte auf jeden Fall mit dir zu tun haben.“ Er lachte leise. „In allen anderen Dingen bin ich wohl schon ziemlich eingerostet. Aber das wusstest du ja schon vorher. Irgendwelche Wünsche vielleicht?“ Herrje. Er wusste noch nicht einmal, wie das Wetter morgen wurde.

 

„Es soll mit mir zu tun haben?“ Emma war überrascht. Sie wusste nicht genau, was das heißen sollte. Einfach nur etwas, das sie gern tun wollte? Oder meinte Cayden damit mehr. Jedenfalls überlegte Emma und kam zu dem Schluss, dass sie vielleicht aus Wellington heraus sollten. In der Stadt würde Cayden keine Ruhe finden, und wenn sie zum Beispiel ins Te Papa gingen, würde ihn bestimmt jemand erkennen. Es würde blödes Getuschel geben und dann war der nette Ausflug dahin.

Das ging also schon einmal nicht. Dann ...

„Wir könnten rausfahren. Ein bisschen wandern und uns die Robbenkolonie ansehen. Anschließend an der Küste zurück und im Chocolate-Fish einen Shake trinken?“

Oh ja, darauf hätte sie Lust. Wenn sie allerdings aus dem Fenster sah und den immer noch prasselnden Regen betrachtete, sah es für diesen Plan wohl nicht so gut aus.

„Wenn das Wetter allerdings Morgen genauso ist, wird das wohl nichts. Wir könnten auch ...“ Sie grübelte. „... ach, keine Ahnung. Es soll einfach die Sonne scheinen.“ Und grinste.

 

„Dann hoffen wir mal, dass sie das wirklich tut. Denn dein Vorschlag klingt sehr gut. Ansonsten könnte ich dir noch die Couch-Alternative anbieten. Ich habe immer noch nicht den dritten Teil von Star Wars gesehen und inzwischen habe ich mir sogar die Blu-ray 'Unsere Erde' besorgt.“ Allerdings wusste Cayden nicht, ob Emma sich noch daran erinnerte, dass sie darüber gesprochen hatten. Vor längerer Zeit. Aber den Film hätte er gerne einmal gesehen. Doch ohne Vorwand kam er nicht zum Fernsehen, daher blieben die Filme meist ungesehen liegen. Außerdem hatte er schon längst entdeckt, dass es mit Emma zusammen am Schönsten war.

Während die Gemüsemischung in der Pfanne langsam gar wurde, schnitt Cayden noch ein großes Stück Putenfleisch in mundgerechte Stücke und briet es in einer separaten Pfanne kurz an, ehe er es unter das Gemüse mischte und das ganze mit einem Deckel drauf noch etwas weicher werden ließ. Währenddessen machte er sich an einen Kräuter-Yoghurt-Dip für die Kumara-Frites.

 

„Das klingt auch sehr einladend.“ Das tat es wirklich. Star Wars, Couch ... Emma lächelte wieder und schnupperte, als Cayden das Fleisch zum Gemüse in die Pfanne warf.

„Riecht wirklich lecker. Soll ich schon den Tisch decken?“

Allmählich wollte sie sich endlich auch ein wenig nützlich machen. Es war einfach nicht Emmas Art, sich bedienen zu lassen. Also stieg sie von dem Barhocker, ging zu Cayden hinüber und öffnete die Schublade, in der sie das Besteck vermutete. Beim Geschirr würde er ihr mit der Suche helfen müssen. In seiner Küche gab es so viel Hängeschränke, dass das Essen kalt werden würde, wenn Emma sie alle einzeln nach dem Geschirr durchforsten musste.

 

„Gerne. Danke.“

Während Cayden in der Schüssel mit dem Dip umrührte, zeigte er Emma, wo genau sie das Besteck, die Teller, Gläser und Servietten fand. Danach warf er einen kurzen Blick ins Backrohr. Auch die Kumara-Frites würden bald fertig sein und das Gemüse in der Pfanne hatte auch schon den richtigen Duft.

Den Dip füllte er in eine kleine Glasschüssel, die er auf die gedeckte Theke stellte, ehe er die beiden Teller mit dem Gemüse und den Kumara-Frites anrichtete. Er bestreute das Ganze noch mit Kräutern und servierte es. Danach setzte er sich zu Emma.

„Bon appétit. Ich hoffe, es schmeckt. Ansonsten muss ich mich nächstes Mal noch mehr ins Zeugs legen.“ Aber allein die Aussicht auf ein nächstes Mal ließ ihn freudig lächeln. Es war so schön, Emma wieder einmal für sich allein zu haben, ohne an seine Arbeit denken zu müssen.

„Wenn nachher noch Platz für eine Nachspeise ist, darfst du mir gerne deine Wünsche äußern.“

 

Emma hatte den Tisch so gedeckt, dass sie mit Cayden über Eck saß. So konnte sie nah bei ihm sitzen und ihn trotzdem ansehen, wenn sie miteinander sprachen.

Das Essen sah wirklich so lecker aus, wie es roch. Und nicht erst jetzt grummelte Emmas Magen ungeduldig in Voraussicht auf die Kumaras.

„Vielen Dank für die Einladung. Guten Appetit.“

Also sich noch mehr ins Zeug legen musste Cayden bestimmt nicht. Das Essen war heiß und wirklich köstlich. Obwohl es nicht kompliziert war, machte es wirklich geschmacklich etwas her. Emma mochte es ohnehin lieber, wenn mit natürlichen Dingen gekocht wurde und man nicht aus einer winzigen Portion heraus schmecken sollte, welche exotischen, teuren Zutaten hineingemischt worden waren.

„Es ist wirklich lecker“, lobte sie daher und griff gern zu, obwohl sie wusste, dass sie damit noch schneller fertig sein würde als Cayden. Skeptisch sah sie auf seinen Teller und ihr wurde klar, dass er diese Portion ohnehin nicht essen würde. Schon seltsam. Und ob er ... nicht sowieso ziemlich satt war? Ihr fiel das Erlebnis ein, das vor so kurzer Zeit in seinem Büro stattgefunden hatte und Emmas Gabel verharrte kurz vor ihrem Mund in der Luft.

 

Cayden war auf jeden Fall hungrig, weshalb er sicher einiges von seinem Teller abräumen würde, aber er aß dennoch immer langsam und genüsslich. Die kleine Menge, die in seinem Magen Platz hatte, sollte auch wirklich ausgekostet werden. Außerdem schmeckte das Essen wie erwartet gelungen. Ihn freute es dennoch sehr, dass auch Emma so empfand.

Allerdings beunruhigte ihr skeptischer Blick auf seinen Teller ihn und brachte ihn dazu, ebenfalls darauf zu schauen. Aber er fand nichts Ungewöhnliches, also sah er sie fragend an. Emma schien es nicht zu bemerken. Stattdessen war sie in Gedanken versunken, während ihre Gabel in der Luft vor ihrem Mund schwebte.

„Alles in Ordnung?“, wollte er besorgt wissen. Vielleicht war ihr nicht gut. Morgenübelkeit musste ja nicht unweigerlich morgens stattfinden, auch wenn Emma ihm gesagt hatte, dass es ihr diesbezüglich wieder besser ging.

 

„Hm?“ Sie sah ihn überrascht an und musste lachen, weil er fast ebenso merkwürdig zurückblickte.

„Ja, alles in Ordnung. Ich war gerade nur ganz wo anders.“ Ein paar Stockwerke tiefer, aber das musste sie ihm nicht auf die Nase binden. Zur Not würde sie es darauf schieben, dass sie gerade erst vom Schreibtisch direkt hierher gekommen war. Da konnte man noch ein wenig in Gedanken festhängen.

„Keine Sorge, an deinem Essen liegt es bestimmt nicht. Es schmeckt wirklich gut.“

Zur Bestätigung nahm sie noch einen großen Bissen. „Und beim Dessert überlege ich noch. Irgendwas Kaltes? Was magst du denn?“

 

Na, wenn sie das sagte, würde er ihr das glauben. Cayden lächelte und widmete sich wieder seinem eigenen Essen. Der Dip war ihm recht gut gelungen. Er passte gut zu den Kumaras.

„Hmm … vieles“, war schließlich seine Antwort auf ihre Frage und seine Augen lächelten, als er Emma wieder ansah. Gott, er könnte sie den ganzen Abend über anstarren und würde nicht genug davon bekommen. Aber da ihr das sicher unangenehm wäre, ließ er es bleiben.

„Fruchtsalat oder Yoghurt mit Früchten. Ich könnte auch Mousse au Chocolat machen. Eiscreme hätte ich auch anzubieten, wenn du es richtig kalt möchtest.“ Er grinste und schob sich eine Paprika in den Mund, auf der er dann bedächtig kaute, während er seine Augen wieder zu Emma schweifen ließ. Er konnte es einfach nicht lassen. Er flirtete gerne mit ihr allein durch Blicke.

 

„Mousse au Chocolat, ehrlich?“ Emma kam sich schon wieder ein wenig naiv vor.

„Zur Erklärung: Ich habe einmal versucht, das selbst zu machen und was dabei herauskam, war nicht gerade schön anzusehen und noch weniger gut zu essen.“ Daher ihr überraschter Tonfall und das anschließende Lachen.

„Aber das heißt wohl, dass deine Mousse nur besser werden kann. Und wenn es nicht zu viele Umstände macht, hätte ich das gern. Ich stehe auf Schokolade.“

Sie lächelte Cayden an und betrachtete ihn anschließend eine Weile. Erst jetzt fiel ihr auf, wie lange sie das schon nicht mehr getan hatte. Eigentlich sah sie ihn doch jeden Tag. Aber jemanden wirklich zu betrachten, war etwas ganz anderes.

„Es ist schön, hier zu sein“, meinte sie leise.

 

„Das finde ich auch. Vor allem, da das letzte Mal schon zu lange her ist.“ Cayden legte seine Gabel nieder und ließ sich dazu hinreißen, zart mit seinen Fingerspitzen über Emmas Wange zu streicheln. Die kleinen Funken, die daraufhin direkt in seinen Bauch zu jagen schienen, brachten sein Herz zum Rasen und auch sein Blut begann etwas lauter in seinen Ohren zu rauschen. Dabei war das nur eine winzige Berührung gewesen, aber eben eine, die schon zu lange hinausgeschoben worden war.

„Was das Mousse angeht, kann ich dir versichern, dass es dir schmecken wird. Ich hab es sicher schon hundert Mal gemacht.“ Mindestens. „Allerdings müssen wir es ca. zwei Stunden im Kühlschrank kaltstellen. Was auf alle Fälle dafür sorgen wird, dass inzwischen wieder genug Platz dafür da sein dürfte.“

Cayden ließ von Emmas Wange ab und ergriff erneut seine Gabel. Was den Platz anging, braucht er definitiv schon jetzt mehr davon. Er war eigentlich schon satt, weshalb er nur noch mehr oder weniger in seinem Essen herumstocherte.

 

Diesmal lächelte Emma eher in sich hinein, als sie ruhig und still weiter aß und keine weiteren Gedanken in ihrem Kopf ließ. Cayden hatte recht. So etwas wie das hier war schon viel zu lange her. Sie sollte es einfach genießen, nicht zu viel grübeln und sich darüber freuen, dass sie Zeit allein mit ihm verbringen durfte.

„Dann kannst du mir ja zeigen, wie es geht.“

Dass er das Rezept schon fast hundert Mal ausprobiert hatte, glaubte Emma ihm. Immerhin war er alt genug, um bei der Entstehung dabei gewesen sein zu können. Was Cayden wohl in seinem Leben alles gesehen, wo er wohl überall gewesen war?

Emma warf ihm einen Blick zu und trank einen Schluck, bevor sie ihn fragte: „Gibt es eigentlich noch einen Ort auf dieser Welt, an dem du noch nicht warst? Etwas, das du noch sehen möchtest?“ So reich, wie er war und so viel Lebenszeit, wie hinter ihm lag ... Emma konnte sich gar nicht vorstellen, dass es noch etwas gab, das Cayden nicht gemacht oder gesehen hatte. Selbst die Antarktis oder etwas Ähnliches traute sie ihm ohne Weiteres zu.

 

„Sehr gerne.“ Natürlich würde er das Rezept nicht einfach für sich behalten und so schwierig war es auch nicht, wenn man es einmal konnte.

Auf Emmas Frage hin, legte Cayden das Besteck endgültig weg und griff stattdessen nach seinem Glas mit dem Zitronenwasser, ohne allerdings davon zu trinken. Er überlegte eine Weile, um Emma so wahrheitsgemäß wie möglich antworten zu können.

„Eigentlich gibt es noch viele Orte auf der Welt, an denen ich noch nicht war. Die Welt ist groß. Größer als man bisweilen annehmen mag. Und obwohl ich gerne reise, habe ich das noch nie zu einem Marathon werden lassen. Vor allem, da gewisse Reiseziele es wert sind, sie öfter zu besuchen.“ Cayden lächelte in Erinnerung an schöne Orte aus seiner Vergangenheit, die einmal nichts mit Arbeit zu tun gehabt hatten.

„Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wohin ich einmal einfach so reisen möchte. Normalerweise gestatte ich mir solche Gedanken nicht, während ich mich in einer Zeit der Arbeit befinde. Ich hebe sie mir lieber für danach auf, damit ich etwas habe, worauf ich mich freuen kann“, versuchte er zu erklären, auch wenn er nicht wusste, ob Emma überhaupt etwas damit anfangen konnte. 'Zeit der Arbeit' konnte schließlich vieles bedeuten und in menschlichen Begriffen sogar weit weniger als für ihn selbst.

„Wohin würde es dich denn gerne einmal verschlagen?“

 

„Es gibt also wirklich noch Orte, an denen du noch nicht gewesen bist?“ Ehrlich überrascht offenbarte Emma ihm ihre Gedanken. Dass sie ihn schon im ewigen Eis gesehen hatte und auf den grünen Dächern des Dschungels in Mittelamerika. Sie konnte sich Cayden auch jetzt richtig gut mit einem Tropenhelm und Kargohosen vorstellen, wie er durch den Urwald lief und Abenteuer erlebte. Komisch. Es passte überhaupt nicht zu seinem Stil, den er ihr gegenüber und der Welt da draußen zeigte. Aber das Bild des Abenteurers schien trotzdem wie gemacht für Cayden. Und das sagte Emma ihm auch.

„Zieht es dich denn wirklich nicht da hinaus, wenn du dich in dein Arbeitsleben vertiefst? Disziplin hin oder her, ich würde immer träumen, glaube ich.“

Sie drehte die Gabel in der Hand, während sie über seine Frage nachdachte.

„Wie fast jeder hier möchte ich mal nach Europa. Nach Rom und Paris. Aber Japan war auch ziemlich großartig. Ich hätte gern mehr Zeit mit Sightseeing dort verbracht. Und ich bin immer ganz erpicht darauf, auch ein paar Einheimische kennenzulernen. Was aber gerade in asiatischen Ländern nicht gerade einfach ist.“

 

„Ich hatte in meinem Leben schon genug Abenteuer, Em“, erwiderte Cayden leise und dachte an all die Dinge, die ihn geprägt hatten. Die Schmerzen, das Leid … Viele Verluste … Nicht jedes Abenteuer war gut. Das hatte er schon oft genug erfahren müssen.

„Und es ist verständlich, dass Menschen gerne träumen. Auch für uns sind Träume wichtig, jedoch in einem anderen Ausmaß, da unser Leben so viel länger wehrt als das eure.“ Was ihn wieder darauf brachte, dass er Emma womöglich verlieren würde. Nicht jetzt und auch nicht in nächster Zeit, aber irgendwann ganz bestimmt. Allerdings wollte er im Augenblick nicht daran denken, also verdrängte er die Gedanken und nahm einen Schluck von seinem Wasser.

„Paris ist eine unglaublich schöne Stadt. Sehr romantisch und ich mag auch die vielen alten Gebäude, die man restauriert hat. Das erinnert mich immer an gute alte Zeiten, als noch Kutschen DAS Beförderungsmittel schlechthin gewesen waren.“ Er musste lächeln. Er konnte gar nicht anders. Die Zeit der Gentleman und Damen war ihm bestens in Erinnerung geblieben.

„Ich würde gerne mit dir verreisen, Em. Einfach so. Ohne irgendwelche Pflichten. Das würde mir sehr gefallen.“

 

„So?“ Emma hatte die Gabel aus der Hand gelegt und lehnte sich jetzt in ihrem Stuhl zurück, um Cayden anzulächeln. Sie war satt, ihr war warm und sie zwar zufrieden. Wenn das so weiterging, würde sie bald müde werden vor lauter Behaglichkeit.

„Und wohin würdest du gern mit mir verreisen?“

Es interessierte sie wirklich. Denn Cayden standen ganz andere Möglichkeiten offen als ihr. Wenn Emma über einen kleinen Ausflug nachdachte, wäre sie auf die Bay of Islands oder die Fjordlands gekommen. Im weitesten Falle vielleicht OZ. Aber da endete ihre Phantasie auch schon.

 

Nun musste Cayden doch verschlagen lächeln, während er sich gemütlich auf einer Hand abstützte und Emmas Gesicht betrachtete.

„Rom, Paris, Japan“, zählte er genau die Orte auf, die Emma reizen würden, denn das machte den Reiz für ihn aus. „Und nicht nur für ein paar wenige Tage, sondern für einen angemessenen Zeitraum, in dem wir einmal alles erkunden und besichtigen können, was uns reizt. Wobei ich denke, dass dich die Dinge mehr reizen werden als mich. Aber ich zweifle keine Sekunde daran, dass du mich mit deiner Begeisterung anstecken wirst. Darin bist du nämlich verdammt gut, wie ich mich noch sehr gut erinnere.“

Tokio war wirklich fantastisch gewesen, aber eben weil Emma dabei gewesen war. Alleine hätte es ihn bei weitem nicht so begeistern können.

„Wollen wir uns jetzt an die Mousse au Chocolat machen?“ Immerhin musste es noch kalt gestellt werden und in dieser Zeit konnten sie sich ja weiter unterhalten.

 

Dass sie ihn begeistern konnte, war schön zu hören. Andererseits konnte Emma nur über die Idee lachen, einfach so nach Europa zu fliegen. Es war ein schöner Traum, aber das würde sie sich in den nächsten paar Jahren nicht leisten können. Und sich ohne weiteres von Cayden einladen zu lassen, kam auch nicht in die Tüte. Sie wollte die Orte sehen, die er genannt hatte, aber sie wollte auch selbst dazu beitragen, dort hinzugelangen.

„Gut, ich bin bereit für die Mousse.“

55. Kapitel

Sie stand auf, half Cayden beim Abräumen und stellte das dreckige Geschirr in die Spülmaschine, während Cayden die nötigen Zutaten für den Nachtisch zusammensuchte. Sie unterhielten sich weiter und Emma hatte tatsächlich das Gefühl, etwas zur Mousse beizutragen. Am Ende landeten sie nebeneinander auf den Barhockern in Caydens Küche, während sie darauf warteten, dass die zwei Stunden Kühlzeit verstrichen.

Emma hatte sich einen Tee gemacht und pustete in ihre heiße Tasse.

„Hast du nicht gesagt, du hast dir die DVD zu „Unsere Erde“ besorgt? Wenn du Lust hast, könnten wir sie ansehen, während wir warten.“

Allmählich wurde Emma nämlich ein bisschen müde und hätte gegen etwas Kuscheln auf der Couch nichts einzuwenden gehabt.

 

„Als Blu-ray, ja. Aber können wir gerne machen.“ Cayden nahm seine eigene Tasse mit Tee, rutschte vom Hocker und stellte das dampfende Getränk auf einem Untersetzer auf den Glascouchtisch, ehe er zu dem Bücherregal hinüber ging, wo er etwas Platz für die langsam anwachsende Heimkino-Sammlung gemacht hatte. Wenigstens war er so weit gewesen und hatte die Filmhüllen nicht original verpackt ins Regal gestellt.

Wenige Minuten später saß er neben Emma auf der Couch, den Tee in beiden Händen haltend, während der Film sich allmählich zu entfalten begann. Ihn als Blu-ray zu kaufen war wirklich eine gute Idee gewesen. Gerade auf seinem riesigen Fernseher kam das Bild besonders gut rüber. Allerdings interessierte sich Cayden nur wenig für das Gesehene. Seine Gedanken waren bei Emma, wie eigentlich schon den ganzen Abend über und dass er langsam aber sicher vor Verlangen nach ihr verging.

Für einen innigen Kuss von ihr würde er im Augenblick sogar einen Finger hergeben, zumal dieser ohnehin wieder nachwachsen würde. Aber dieses Opfer würde er bringen, wenn es ihm nur endlich gelingen würde, die Distanz – mochte sie inzwischen auch nur noch sehr gering sein – zwischen ihnen zu überbrücken. Stattdessen hielt er sich an seiner Tasse fest, während seine Gedanken sich nicht fesseln ließen.

 

Emma hatte es sich auf der Couch gemütlich gemacht, bei der man das Gefühl hatte, man sank ein bisschen ein, wenn man sich hinsetzte. Natürlich sah die Garnitur überhaupt nicht bequem, sondern einfach nur stylisch und teuer aus. Aber wenn man den ersten Eindruck überwand, dass man das Möbel bestimmt nur schmutzig machte, wenn man sich mit seinen normalen Klamotten darauf setzte, war sie wirklich gemütlich. Emma und ihre Teetasse hatten sich eine Ecke mit zwei Kissen reserviert und sie staunte über das Bild des Fernsehers, auf dem gerade die Doku begonnen hatte.

Da Emma den Film ohnehin gern mochte, war sie von der tollen Qualität umso begeisterter.

„Das ist wirklich cool. Ich hätte gar nicht gedacht ...“

Emma unterbrach sich, als sie Cayden ansah. Er war nicht wie sie in die Doku vertieft, sondern in Gedanken. Einmal wieder. Und Emma konnte sich leider vorstellen, worum es dabei ging. Was sie ziemlich deprimierte. Andererseits hätte sie sich auch denken können, dass Cayden es für diesen Abend nicht einfach vergessen konnte. Ein leckeres Essen und eine Naturdoku ließen leider die Probleme nicht verschwinden. Schon gar nicht solche, die seine Existenz gefährdeten.

Nun selbst trübsinnig nahm Emma einen Schluck Tee. Ob sie lieber nach Hause gehen sollte? Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken. Aber Cayden schon wieder auf seine Sorgen anzusprechen, wollte sie auch nicht. Sie hatte sich so darauf gefreut, mal wieder einen 'normalen' Abend mit ihm zu verbringen. Aber sie verstand auch, dass das im Moment einfach nicht ging. An seiner Stelle hätte sie vermutlich auch lieber arbeiten, etwas tun und nicht hier herum sitzen wollen. Am liebsten hätte sie schwer geseufzt. Auf einmal machte die Doku gar keinen Spaß mehr.

 

„... dass das Bild so gut rüberkommt?“, warf Cayden viel zu verspätet ein. Wenn seine restlichen Sinne nicht halbwegs anwesend gewesen wären, hätte er noch nicht einmal mitbekommen, dass Emma etwas gesagt hatte. Dafür, dass sich jeder Gedanke nur um sie drehte, schien er sie erstaunlich gut ignorieren zu können. Das hatte er mit diesem Abend definitiv nicht beabsichtigt.

Cayden zwang sich dazu, die Tasse mit dem Tee wieder abzustellen und sich gemütlicher hinzusetzen. Natürlich Emma zugewandt, aber auch noch dabei in der Lage der Dokumentation bequem folgen zu können, falls er es denn wirklich tat. Was er nicht unbedingt vorhatte. Emma zu beobachten, wenn sie nicht hinsah, war so viel besser, als jeder Film den es gab. Wie sie es sich in den Kissen gemütlich gemacht hatte. Wie ihre zarten Hände ihre Tasse festhielten, während sie einen Schluck daraus trank, ohne die Augen von dem Film zu nehmen. Es spiegelten sich auch einige Gefühlsregungen in ihnen wider, die Cayden allerdings nicht wirklich interpretieren konnte und dann, wenn sich ihre Blicke zu treffen drohten, wandte er den seinen langsam wieder dem Film zu. Nicht ohne dabei allerdings leise zu lächeln. Emma war so viel interessanter als der Film!

 

„Ja, genau.“

Mehr sagte sie dazu nun auch nicht. Stattdessen warf sie Cayden einen besorgten Blick zu und schenkte sich Tee nach, bevor sie sich noch tiefer in die Kissen vergrub und versuchte, der Doku zu folgen. Die Szenen über den Luchs, der lautlos über den Schnee laufen konnte, gefielen ihr am besten. Sie bewunderte viele Tiere, die in ihren Eigenheiten dem Menschen um so vieles voraus waren.

Und wieder fiel ihr Blick auf Cayden. Auch er gehörte nicht den Menschen an und konnte so manches besser, als ein Mensch es gekonnt hätte. Ob er sich dadurch wirklich überlegen fühlte?

„Er erinnert mich an dich“, meinte Emma ruhig und deutete mit einem Blick auf den Fernseher. Der Luchs war zwar um Einiges ruhiger, als Cayden Emma immer vorkam, aber er war ebenso elegant.

„Naja, er ist ein bisschen kuscheliger mit dem dicken Fell.“

Sie lächelte breit.

 

Cayden sah sich den Luchs genauer an und versuchte herauszufinden, wieso das Tier Emma an ihn erinnerte. Natürlich hatte auch er die Fähigkeit, sich lautlos zu bewegen, vor allem im Schutze der Nacht. Auch er war ein kundiger Jäger und auf die Bedingungen in seiner Umgebung perfekt angepasst. Einmal von seinen Augen abgesehen, aber sie waren für die Nacht gemacht und dort waren sie perfekt. Gäbe es die speziellen Gläser oder Kontaktlinsen nicht, könnten sich die Vampire auch jetzt noch nicht tagsüber bewegen, ohne deutlich im Nachteil zu sein. Blinde hatten es nicht leicht in dieser Welt. Unter Raubtieren schon gar nicht und im Grunde waren sie das. Auch wenn viele seiner Art das sehr gut verstecken konnten. Emma hingegen schien gänzlich andere Gedanken zu haben und brachte ihn damit zum Lachen.

„Zweifelst du etwa meine Kuschel-Fähigkeiten an?“, wollte er mit gesenkter Stimme wissen, während er ihr tief in die Augen sah. Wenn ja, würde er sofort etwas dagegen unternehmen müssen!

 

Sein Lachen tat so gut, dass Emma sofort mit einem strahlenden Lächeln antwortete. Und ihr fiel einmal wieder auf, dass Cayden sehr viel besser aussah, wenn er nicht so konzentriert und absolut ernst wirkte, wie er es normalerweise im Büroalltag tat. Sie betrachtete ihn mit Wohlwollen und stellte fest, dass sie seinen Blick keineswegs unangenehm fand, auch wenn Caydens Worte sehr wohl mehr als zweideutig aufgefasst werden konnten.

„Das tue ich nicht“, meinte sie daher leichthin. „Aber ich hoffe doch, dass du dem flauschigen Tier da an Fell durchaus keine Konkurrenz machst.“

 

Er grinste immer noch.

„Du weißt doch, dass ich das nicht tue. Seit dem letzte Mal hat sich daran nichts geändert.“ Caydens Lächeln wurde kleiner. Vielleicht hatte sich seit letztem Mal nichts an seiner Körperbehaarung geändert, aber dafür so viele andere Dinge, dass er sich glücklich schätzen könnte, wenn Haare auf dem Rücken seine geringsten Sorgen wären.

Er konnte sich noch erstaunlich gut an das letzte Mal erinnern, als Emma und er sich richtig nahe gewesen waren. Sie waren bei ihr gewesen. Er hatte zum ersten Mal bei ihr übernachtet … Irgendwie war damals die Welt noch ein Stück mehr in Ordnung gewesen als jetzt. Zumindest seine persönliche Welt, aber es gab Dinge, die sich nicht geändert hatten.

Cayden drehte sich vollends zu Emma herum, lehnte die Wange gegen die Rückenlehne der Couch und sah sie für einen Moment schweigend an.

„Ich liebe dich. Das weißt du noch, oder?“ Die Frage klang vielleicht seltsam. Immerhin hatte er ihr erst heute in einer Karte an sie seine ewige Liebe versichert. Aber was waren schon Worte auf einem Papier? Und vielleicht – er hoffte, sich da zu irren – war Emma sich nicht mehr vollkommen im Klaren darüber, dass Cayden sie immer noch so sehr liebte, wie vor den ganzen Ereignissen, die sie auseinander zu treiben drohten. Darum die Frage.

 

Ihr Herz sprang ihr so schnell in den Hals, dass Emma beinahe husten musste. Ihr Puls raste vor Überraschung und sie sah bestimmt für ein paar Sekunden so aus, als hätte sie einen Geist gesehen. Und so schnell beruhigte sie sich auch nicht mehr. Selbst wenn sie nach einer Weile auf Caydens unvermittelte Frage antworten konnte: „Ich ... habe es nicht vergessen.“

Zumindest nicht, dass er es ihr gesagt hatte. Allerdings schockierte es sie immer wieder, diese Worte jetzt schon zu hören. So kurz, nachdem sie überhaupt zusammengekommen waren. Und unter diesen Umständen, bei denen sie beide oft zu vergessen schienen, dass sie es überhaupt waren.

„Es ist nur ... alles recht schwierig im Moment. Mir kommt es langsam so vor, als hätten wir ...“ Sie machte eine Pause. Aber eigentlich ... warum sollte sie es ihm denn nicht sagen? „Es kommt mir so vor, als hätten wir ein paar Phasen unserer Beziehung übersprungen oder ausgelassen.“

Sie saßen hier wie ein Pärchen, das schon ewig zusammen war, vor dem Fernseher. Natürlich war das schön, aber ... Ach, Emma wusste auch nicht, was sie damit eigentlich hatte sagen wollen.

 

Cayden musste erst über diese Worte nachdenken. Der Film war endgültig vergessen.

„Dann … spürst du es also auch“, meinte er nach einer Weile vorsichtig, ohne es näher zu erklären.

Er hob wieder den Blick, den er bisher auf seine Hände gerichtet hatte, und sah Emma an. „Ich kann dich verstehen, Em. Wir haben ein Kind gezeugt, noch ehe wir überhaupt darüber nachgedacht haben, zusammenzukommen. Wir haben bestimmt Unmengen an Verabredungen ausgelassen, als wir nicht sehr lange nach unserem Versuch eine Beziehung einzugehen, erneut intim miteinander geworden sind. Ich bin immer noch verheiratet und hinzu kommt auch noch, dass du auch erst vor Kurzem von meinem wahren Wesen erfahren hast. Das sind alles Dinge, die für eine Beziehung sicherlich nicht besonders förderlich sind. Von den anderen Problemen einmal ganz zu schweigen. Aber das alles ändert nichts an meinen Gefühlen für dich. Das solltest du wissen.“

Er seufzte und nahm schließlich die Fernbedienung zur Hand, um den Film etwas leiser zu drehen. Cayden bezweifelte, dass sich hier überhaupt noch jemand dafür interessierte.

„Was würdest du dir wünschen, Em? Was sollen wir anders oder richtig machen? Ich bin in diesen Dingen leider schon sehr eingerostet.“

 

Was sie anders machen sollten?

„Erst einmal bin ich der Meinung, dass es kein richtig und kein falsch in diesen Dingen gibt.“ Ihre Stimme war leise, aber entschlossen. Denn Emma dachte wirklich, was sie sagte.

„Wir haben es bisher eben so gemacht, wie es sich ergeben hat. Es ist ... anders, als ich mir das vielleicht beim Wort Beziehung vorgestellt hätte. Aber das ändert nichts daran, dass wir zusammen sind. Und dass ich auch möchte, dass das so bleibt.“

Danach hatte er sie wahrscheinlich nicht gefragt und Emma konnte sich auch nicht vorstellen, dass Cayden je daran zweifeln würde. Das käme ihm vermutlich nie in den Sinn. Aber ihr selbst ging es besser, nachdem sie das offen klargestellt hatte.

„Ich finde nur ... Es ist eben schade, dass ...“ Sie wedelte hilflos mit der Hand in der Luft herum und stellte lieber vorsichtshalber ihre Teetasse auf dem Tisch ab, bevor sie noch beim Erklären etwas verschüttete. „Du hast so viel um die Ohren. Ich würde mir wünschen, wir könnten noch einmal von vorn anfangen, wenn sich alles beruhigt hat. Wenn deine Firma in Sicherheit ist, wenn die Scheidung durch und Vanessa Geschichte ist. Wenn ... Ach, ich weiß auch nicht.“

 

„Das wünsche ich mir doch auch, Em. Einen Neuanfang mit dir und dem Baby“, erwiderte er sanft. Der Gedanke gefiel ihm und hatte ihn schon oft während der letzten Zeit im Büro aufrecht gehalten. „Und glaub mir, wenn nicht so viele Mitarbeiter involviert wären, die an der ganzen Sache überhaupt keine Schuld tragen, dann würde ich die Firma eben zu Grunde gehen lassen. Sie ist nicht das, was ich will, sondern du, Emma. Ich würde am liebsten meine Sachen packen und sofort auf der Stelle mit dir zusammen ein neues Leben aufbauen. Aber das geht leider nicht.“

Er seufzte und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. „Gehen wir einfach einmal davon aus, dass wir an unseren momentanen Ausgangspunkt nichts ändern können. Wie soll es dann weiter gehen, bis es endlich so weit ist? Es gibt sicher einiges, das schon vorher geklärt werden sollte.“ Zum Beispiel die Tatsache, dass er Hemmungen hatte, Emma näher zu kommen, weil er einfach nicht wusste, wie sie darauf reagieren könnte. Ablehnung war etwas, mit dem er bei ihr nicht besonders gut zurechtkäme, ohne dass es ihn verletzen würde. Da war er sich sicher.

 

„Du meinst, was wir jetzt und hier tun könnten?“ Was sie sich überhaupt von ihm und ihrer Beziehung wünschte?

„Das ist gar nicht so einfach ...“ Emma musste wirklich überlegen. Denn eigentlich ... fühlte sie sich ganz wohl. Natürlich würde sie gern mehr Zeit mit Cayden verbringen. Mehr mit ihm unternehmen, ihre und seine Freunde treffen. Ein ganz normales Leben führen. Und das sagte sie Cayden auch.

„Es sind eigentlich nur diese Kleinigkeiten. Bisher weiß kaum jemand, dass wir überhaupt zusammen sind. Was aber auch daran liegt, dass ich mir nicht zutraue, auf einmal die Frau zu sein, die eine Affäre mit dir angefangen hat und jetzt dafür verantwortlich ist, dass du dich von Vanessa scheiden lässt.“

Welches Bild das auf Emma warf, war ihr selbst klar. Und es stimmte ja auch. Verdammt nochmal. „Ich komme mir einfach ein wenig schäbig dabei vor und das ... hilft nicht gerade.“

 

„Du hast recht. Mit allem und ich werde nur zu gerne versuchen, jede noch so freie Minute mit dir zu verbringen, sofern du das willst“, bestätigte er aus ganzem Herzen. Allerdings war Cayden bei dem, was er als Nächstes sagen musste, nicht besonders wohl. Zumal er sich in dieser Hinsicht ganz schön hilflos fühlte. Gegen die Macht der freien Rede konnte man nicht ankommen.

„Aber an einem kann ich leider auch mit allem Geld der Welt nichts ändern. Auf dem Papier und in den Augen der Welt bin ich noch verheiratet, und selbst wenn ich geschieden bin, wird es nichts daran ändern, dass es immer Leute geben wird, die darauf herumreiten werden.“

Cayden streckte seinen Arm aus, um Emmas Hand zu ergreifen und etwas näher zu rutschen. „Ich kann dich davor nicht beschützen, Em. Selbst wenn ich es mir noch so sehr wünsche. Ich kann nur zu dir stehen und das werde ich auch. Zu dir und dem Baby. Darauf hast du mein Wort.“

 

Emma lachte leise und drückte Caydens Hand.

„Du brauchst mich nicht zu beschützen. Immerhin ... ist es wahr.“ Sie sah ihm direkt in die Augen und lächelte. Auch wenn ihr das Lächeln nur mit etwas Sarkasmus gelang.

„Ich hab dich ihr weggenommen. Das muss ich vor mir selbst rechtfertigen. Und genau deshalb habe ich solchen Bammel vor jedem anderen, der mir das ankreiden könnte. Ich habe etwas getan, das ich selbst für moralisch verwerflich halte. Aber jetzt ... kann ich nichts mehr daran ändern.“

Wieder drückte sie Caydens Hand und streichelte mit ihrem Daumen über seinen Handrücken. „Aber ich muss zugeben, dass gerade diese Situation mich davon abhält, dich mehr von meinen Freunden vorzustellen. Ich ... muss erst selbst damit klarkommen, was passiert ist. Und erst dann kann ich von dir, uns, dem Baby und der ganzen Sache erzählen, ohne mich von den Reaktionen überrollen zu lassen. Und trotzdem ... fehlt mir genau das. Ich ... würde dich einfach gern in mein Leben integrieren.“

Das hörte sich so merkwürdig an, dass Emma über sich selbst lachen musste. Aber es stimmte trotzdem.

 

Cayden schüttelte langsam den Kopf.

„Nein, Em. Das, was du für moralisch verwerflich hältst, ist die Vorstellung, dass eine Frau die Liebe eines Mannes einer anderen Frau wegnimmt. Oder, wenn schon keine Liebe mehr im Spiel ist, dann vermutlich die Sicherheit der Ehe. Aber – und ich weiß nicht, wie ich es dir genau begreiflich machen kann, damit du es verstehst – das, was Vanessa und ich hatten, war nur eine Ehe auf dem Papier. Wir haben uns nie geliebt. Du hast ihr nicht mein Herz gestohlen. Ich habe ihr nie gehört. Du brauchst dich also nicht vor dir selbst zu rechtfertigen.“

Natürlich waren das nur Worte, und wenn sie es nicht selbst so empfand, dann würde keine Rede der Welt, sie vom Gegenteil überzeugen können. Aber dadurch, dass sie ihm erklärt hatte, dass sie selbst die Person war, deren Reaktion ihr am meisten bedeutete, konnte er damit etwas anfangen. Vor den anderen Leuten konnte er sie vielleicht nicht beschützen. Sollte allerdings auch nur die geringste Chance bestehen, dass er sie vor sich selbst beschützen konnte, würde er es tun.

 

„Aber ...“ Sie sah ihn ehrlich verwirrt an und zog die Brauen zweifelnd zusammen. „Wie meinst du das?“

Ehe auf dem Papier?

„Warum hast du sie denn geheiratet?“ So blöd es war, fiel Emma als Erstes Sex ein. Vanessa war ein Model. Sie war hübsch, hatte die perfekte Figur und ... naja, Cayden war ein Vampir, aber er war eben auch ein Mann. Oder ... war es wegen ihres Blutes gewesen? Aber dafür hatte er sie doch nicht gleich heiraten müssen.

Emma kam ins Grübeln.

„Ich glaube, ich würde nie jemanden heiraten, wenn ich ihn nicht lieben würde“, murmelte sie leise vor sich hin und zog ganz automatisch eines der Kissen vor ihren Bauch und bettete das Kinn darauf.

 

Warum er Vanessa überhaupt geheiratet hatte? – Das war eine gute Frage. Eine, die nicht so leicht beantwortet werden konnte.

„Es … ist in vielerlei Hinsicht leichter … wenn man verheiratet ist.“ Cayden zögerte ungewollt und doch nicht grundlos. Er musste seine Worte mit Bedacht wählen, schließlich begaben sie sich hier auf ein Gebiet, dass ein Mensch nur schwer nachvollziehen konnte.

„In der heutigen Zeit ist es vielleicht nicht mehr so schlimm, wenn man sich mit jemandem häufig alleine trifft, ohne verheiratet zu sein. Was das angeht, sind die gesellschaftlichen Gepflogenheiten sehr locker geworden. Aber … Es war früher anders.“

Cayden zog sich etwas zurück, in dem er wieder die Tasse mit dem inzwischen kalten Tee zur Hand nahm und einen kleinen Schluck daraus trank.

„Und wenn es eine bestimmte Eigenschaft gibt, die speziell auf Vampire zutrifft, dann ist das die Tatsache, dass wir gerne an etwas festhalten, das bisher funktioniert hat und uns Sicherheit gibt, bis wir einen besseren Weg finden, um auf Dauer überleben zu können. Bei mir war es bisher der Umstand, dass ich meine Hauptblutquellen geheiratet habe, um einen sicheren Rahmen zu schaffen, der sowohl mir Schutz bietet, als auch den Frauen, mit denen ich dieses Arrangement getroffen habe.“

Ein weiterer Schluck folgte, denn seine Kehle wollte trocken werden. Doch er hatte sich geschworen, Emma nicht mehr anzulügen und daran würde er sich halten, also erzählte er weiter, obwohl es ihm nicht besonders leicht fiel.

„Früher waren die Frauen für ihr Leben lang geschädigt, wenn sie durch unschickliche Handlungen mit einem Mann in Verruf kamen. Es reichte schon, einen Verdacht aufkommen zu lassen und das wollte ich auf diese Art vermeiden.“

 

Zuerst wurden Emmas Augen rund vor Erstaunen und Ungläubigkeit, dann zog sie sie zweifelnd zu engen Schlitzen zusammen, bis sie ihren Blick schließlich auf ihre Hände senkte, die auf dem Kissen lagen.

Dann hatte sie wohl recht gehabt. Cayden hatte Vanessa geheiratet, weil er an ihr Blut wollte. Und weil eine Ehe für beide Beteiligten Sicherheit bedeutete. Für ihn, nicht entdeckt zu werden und für sie ... naja.

Emma hatte ihren Mund hinter dem Kissen versteckt und lugte Cayden über die Kante hinweg an. Sie sagte nichts, sondern atmete nur langsam aus und ein. Der Geruch von frisch gereinigtem Couchkissen stieg ihr in die Nase.

„Was meinst du denn genau mit 'Hauptblutquelle'?“, hörte sie sich leise fragen. Zugleich war sie über ihre dreiste Neugier überrascht. Aber wenn sie hier schon die Karten auf den Tisch legten, dann wollte Emma mehr wissen.

 

Cayden zuckte bei Emmas Frage leicht zusammen und seine ganze Haltung schien plötzlich an Spannkraft verloren zu haben. Dabei lag es nicht unbedingt daran, dass ihm ihre Frage unangenehm war, obwohl das durchaus den Tatsachen entsprach. Nein, sie hatte ihn wieder an Helen erinnert und der Stich des Verlustes pochte immer noch deutlich in seiner Brust. Ein Grund, warum seine Stimme vielleicht etwas gedämpfter klang.

„Ich meine damit die Person, die mich hauptsächlich am Leben erhält und von der ich regelmäßig trinke, um bei Kräften zu bleiben. Meistens bin ich damit ausgekommen, aber in Zeiten des Krieges, wo ein Mann sein Zuhause verlassen musste, um es zu beschützen, war es nötig, sich auch noch alternative Quellen zu suchen. Oder, wenn das Gesundheitsrisiko für die Frauen zu hoch wurde und ich nicht mehr oft von ihnen trinken durfte, um sie nicht unnötig zu schwächen. Und in Fällen wie denen von Vanessa, wobei sie hier die einzige Ausnahme darstellt.“ Den letzten Satz knurrte er fast.

„Sie hat mich oft bis zu eine oder zwei Wochen auf dem Trockenen sitzen lassen und um ihre Gesundheit nicht zu gefährden, musste ich mir deshalb jemand anderen suchen, bei dem ich gegebenenfalls meinen Durst stillen konnte.“

Nun wurde seine Stimme doch wieder sanfter und eindeutig traurig.

„Ihr Name war Helen. Sie … kam vor ein paar Wochen bei einer Gasexplosion ums Leben.“

Cayden schwieg. Er hatte es also tatsächlich einmal laut ausgesprochen. Aber es fühlte sich nicht leichter an.

 

Emma zuckte zusammen, als sie Cayden so sah. Ihr Herz schlug so hart, dass sie für ein paar Sekunden kaum atmen konnte. Ihre Hände griffen das Kissen fester und am liebsten hätte Emma sich komplett dahinter versteckt.

Sie wollte gar nicht mehr hören. Denn was sie sah, genügte ihr vollkommen. Helen? Von ihr hatte Cayden noch nie gesprochen. Und wie sehr ihr Tod ihm an die Nieren ging, das konnte Emma geradezu mit Händen greifen. War Helen ... diejenige gewesen, der wirklich Caydens Herz gehörte? War sie mehr als seine zweite Blutquelle gewesen?

„Woher kanntet ihr euch? Helen und du?“

Emmas Stimme war nun kaum mehr als ein Flüstern. Solange er ihr etwas erzählte, musste sie weiter fragen. Sie wollte die Wahrheit. Auch wenn das etwas war, das sie ganz sicher nicht hören wollte.

 

Cayden wollte ihr nicht antworten. Er wollte gar nicht mehr über Helen sprechen, denn es brachte alle Erinnerungen an sie wieder hoch. Nur gute Erinnerungen und das konnte er beileibe nicht von jedem Menschen behaupten. Aber vielleicht waren sie deshalb umso schmerzvoller.

Seine Hände hielte die Tasse in seiner Hand fester, damit seine Finger nicht zu deutlich zitterten. Er starrte in die durchsichtige Flüssigkeit, während er sich dazu zwang, einfach weiter zu reden. Es half ohnehin nicht, Vergangenem nachzutrauern. Das hatte es noch nie. Aber es war auch etwas, das man nicht wirklich verhindern konnte.

„Ich habe sie und ihren Mann auf einer Spendengala für Blinde kennengelernt. Das war noch ein paar Jahre vor der Heirat mit Vanessa. Eigentlich mache ich mir selten etwas aus Freunden, denn sofern sie nicht von meiner Art sind, ist es auf Dauer zu schmerzvoll, sie in mein Leben zu lassen. Aber das Paar war mir sofort sympathisch und wir blieben auch danach noch in Kontakt. Als dann Helens Mann unvermittelt starb, stand sie mit ihren Kindern plötzlich alleine da, und da sie blind war, konnte sie unmöglich gut genug, für sie sorgen. Finanziell gesehen. Sie selbst war eine wirklich gute Mutter.“

Cayden musste einmal tief durchatmen, ehe er wieder in der Lage war, weiter zu sprechen, ohne dass seine Stimme irgendwelchen Schwankungen unterlag.

„Ich wollte ihr helfen. Sie unterstützen. Aber stur, wie sie war, wollte sie sich nicht so ohne weiteres helfen lassen. Sie konnte noch nie einfach so Hilfe annehmen. Vermutlich, weil sie durch ihre Blindheit ohnehin schon mehr davon brauchte, als sie wollte. Also offenbarte ich mich ihr und bot ihr den Handel mit ihrem Blut an. Es hat mir zwar oft genutzt und ich verdanke ihr vieles, aber ich tat es hauptsächlich, damit sie am Ende nicht auf der Straße landen musste. Sonst hätte sie nie mein Geld angenommen.“

 

Weder rührte sie sich, noch wagte Emma zu atmen. Sie traute ihren Augen nicht, die unter der Stimmung, die sich nach Caydens Erzählung im Raum ausbreitete, bereits brannten. Helen war also eine Freundin gewesen. Oder vielleicht auch mehr als das. Emma konnte es nicht sagen. Aber ... sie wollte es jetzt auch gar nicht mehr so genau wissen. Klar war, dass Cayden dieser Frau wesentlich mehr hinterher trauerte als der Ehe mit Vanessa. Ob Helen nun eine weitere Affäre gewesen war oder wirklich nur eine Blutgeberin, das konnte Emma nicht sagen. Genauso wenig, ob sie das eine oder das andere störte.

Das Einzige, was sie hierzu wirklich noch gerne gefragt hätte, war: Gibt es noch mehr? Noch mehr Helens oder wie sie auch heißen mochten. Aber andererseits hätte Cayden dann nicht aushungern müssen. Er hätte doch bestimmt nicht so gelitten, wenn er noch andere Blutquellen zur Verfügung hätte, als Helen, Vanessa und ... Emma.

Ihr Blick wanderte auf ihre Hände und dann ihren Arm hinauf. Nein. Es konnte fast niemand anderen geben. Wäre da noch jemand ... wäre es nie zu dieser Szene im Büro gekommen.

 

Cayden war nicht gewillt, noch weiter über Helen zu sprechen. Das Nötigste hatte er gesagt, und da Emma keine weiteren Fragen mehr stellte, stand er schließlich auf und nahm ihre beiden Tassen mit.

„Ich könnte noch einen 'heißen' Tee vertragen“, war alles, was er schließlich sagte, ehe er in der Küche verschwand und Wasser aufstellte, die Tassen kurz spülte und dann darauf wartete, dass das Wasser heiß wurde.

Die ganze Zeit über war er mit den Gedanken dort, wo er sich nie allzu lange aufhalten sollte, aber es war nun einmal nicht leicht, loszulassen.

Als der Wasserkocher beinahe durchdrehte, stellte Cayden ihn schnell ab und lehnte sich dann über die Theke, um mit Emma reden zu können.

„Willst du auch noch einen Tee? Wenn ja, welchen?“

 

Tee? Emma konnte an kaum etwas denken, was sie gerade noch weniger interessierte! Trotzdem riss sie sich aus ihren vielen Gedanken, die sich ohnehin nur im Kreis drehten, und wandte sich Cayden zu.

„Früchte. Hast du noch andere Nebenquellen?“ Das kam vielleicht etwas schroff, aber ... jetzt war es ohnehin heraus.

Das Kissen immer noch wie ein Schild vor sich gedrückt, stand Emma auf und ließ den Kopf hängen. „Es tut mir leid. Ich ... verstehe es einfach nicht.“

 

Cayden wäre fast über seine eigenen Beine gestolpert, aber Emma hatte ihren Wunsch und ihre Frage im gleichen Atemzug genannt und damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet.

„Nein, habe ich nicht. Ansonsten hätte ich es gar nicht erst riskiert, dich mit meinem Blutdurst zu erschrecken. Ich will schließlich nicht, dass du damit schlechte Erfahrungen verbindest, denn so ist es normalerweise nicht.“

Er gab jeweils einen Beutel in die Tassen und goss mit heißem Wasser auf. Erst als er den Wasserkocher wieder abgestellt und die beiden Tassen zur Theke hinüber getragen hatte, sprach er weiter.

„Was verstehst du nicht? Du kannst mich ruhig fragen, ich werde sicherlich keine Erklärung mehr offen lassen. Das hatte ich ohnehin nicht vor.“

 

„Ich weiß aber gar nicht, was ich alles fragen möchte. Worauf ich wirklich Antworten will und was ich lieber gar nicht hören will. Vielleicht ist es besser, manche Sachen gar nicht zu wissen.“

Emma streckte den Arm aus und ließ endlich das Kissen wieder aufs Sofa fallen.

Ihr Blick wanderte durch das Wohnzimmer und dann zu Cayden hinüber, der sorgsam Tee kochte. Sie wusste es wirklich nicht.

 

Cayden warf einen kurzen Blick auf die Uhr, um die Zeit nicht zu übersehen, wie lange der Tee ziehen musste, danach betrachtete er Emma eingehend.

Er gab ihr durchaus Recht. Es gab Dinge, die sie wohl besser nicht hören sollte und wie sie schon sagte, bestimmt auch nicht hören wollte. Aber Cayden konnte nicht einfach ins Blaue raten, was er nun am besten geheim hielt und worüber er offen plaudern konnte.

„Letztendlich musst du das selbst entscheiden, Em. Ich weiß nur, dass ich dich nicht mehr anlügen werde.

 

„Zum Beispiel möchte ich wissen, wie ...“ Zwar kam sie sich vor wie ein kleines Kind, aber ihre Hände ballten sich trotzdem zu Fäusten und Emma straffte sich. „Wie stellst du dir das alles in Zukunft vor?“

Wollte er sich eine Nebenquelle suchen? Wollte er Emma heiraten, sobald die Scheidung durch war? Nur, weil er das schon immer so gemacht hatte?

Emma spürte die Tränen auf ihrem Gesicht, aber wollte sie nicht wahrhaben. Trotzig wischte sie sie weg und starrte Cayden an. Sie wollte ... eine Antwort.

 

Im einen Moment war er verblüfft, im nächsten schockiert. Emma hatte tatsächlich Tränen auf den Wangen und das so unvermittelt, dass Cayden das Gefühl hatte, irgendetwas verpasst zu haben. Er hatte sie auf gar keinen Fall verletzen wollen. Hatte er das denn getan?

„Ich … weiß es nicht“, gab er schließlich ehrlich zu, da er nicht wusste, was er sonst hätte sagen oder tun können. Emma hatte ihn mit ihrer Reaktion total überrumpelt.

„Ich weiß nicht, was mir die Zukunft bringt. Zumindest nicht mehr. Denn ehrlich gesagt, ist das alles neu für mich. Ich …“

Cayden fuhr sich durchs Haar, während er seinen Blick beinahe hilflos durch den Raum gleiten ließ, als könnten ihm die Möbel passende Worte zuflüstern. Was sie natürlich nicht taten. „Ich habe noch nie so intensiv für jemanden empfunden. Natürlich war ich schon verliebt, aber das kann man nicht damit vergleichen.“

 

Sie war so wütend auf sich selbst, dass sie am liebsten geschrien hätte. Unfähig, die Tränen zurückzuhalten und doch zu stur, um sie ganz herauszulassen, stand Emma stumm und zitternd da und starrte Cayden an.

Er wusste es nicht? Das war das Letzte, was Emma erwartet hatte. Cayden war ihre letzte Lösung gewesen. Die letzte Hoffnung auf einen Plan, der alles wieder in ordentliche Bahnen lenkte. Dass er jetzt nicht einmal den Ansatz eines Planes hatte, dass er selbst nicht wusste, was er tun würde, machte sie ganz rasend und unendlich unsicher zugleich. Am liebsten hätte sie auf das Sofakissen eingeschlagen und ihr Gesicht im nächsten Moment darin vergraben, um ungehalten zu schluchzen.

„Verdammte Hormone!“, schimpfte sie leise vor sich hin, wischte sich noch einmal die Wangen trocken und ließ sich dann auf die Lehne des Sofas nieder. Mit einem Mal schien die gesamte Spannung aus ihrem Körper gewichen zu sein.

Cayden liebte sie. Das hatte er gesagt. Aber es gab auch noch Vanessa und die Ehe, die er nicht ohne Weiteres beenden konnte.

Emma zählte die Punkte tatsächlich an den Fingern ab.

Die Firma. Das Baby. Vampire. Die Tatsache, dass er Blut brauchte. Von ihr? Von jemand anderem? Von mehr als ihr? Die Verleumdungen.

Eine Gänsehaut lief über Emmas Rücken.

Erstaunt sah sie zu Cayden hoch und es spiegelte sich so viel Überraschung in ihrem Blick, dass es ihn zu irritieren schien.

Sie hatte etwas vergessen!

Ihre Lippen pressten sich zu einem schmalen Strich aufeinander und die verschiedensten Emotionen huschten über Emmas Gesicht, bevor sie aufstand, zu Cayden hinüberging und ihn umarmte.

Die Umarmung ging fließend in ein Klammern über, mit dem Emma ihr Gesicht an seiner Schulter vergrub und die Augen schloss. Warum hatte sie eigentlich bisher nie gefragt, was sie eigentlich wollte? Warum war es so wichtig, was alles schief lief und wer von allen Seiten an Cayden zerrte. Vielleicht war es ja auch bedeutend, was in ihr vorging. Der Mutter seines Kindes!

Ihr eigener Atem schlug ihr heiß ins Gesicht, aber Emma hatte weder Lust, noch Kraft sich aus ihrer selbst erhaschten Höhle zu befreien. Es fiel ihr nicht leicht, zu formulieren, was sie selbst wollte. Aber ... möglicherweise musste sie das auch noch nicht im Großen und Ganzen wissen. Vielleicht reichte es schon, wenn sie wusste, dass sie genau das hier wollte. In diesem Moment wollte sie hier sein. Und sie wollte Cayden so nah sein. Das reichte doch schon fürs Erste.

 

Emma stürzte ihn in ein Gefühlschaos. Auf ihrem Gesicht zeichneten sich so viele Emotionen ab, das er nicht sagen konnte, was gerade genau in ihrem Kopf vorging. Cayden wusste nur, dass es gerade ratsam war, sie damit in Ruhe zu lassen, bis sie selbst zu einem Ergebnis kam, weshalb er inzwischen die Teebeutel aus den Tassen nahm und sich dann wieder vollkommen auf Emma konzentrierte.

Gerade richtig, wie es schien, denn im nächsten Moment stand sie auf, kam auf ihn zu und warf sich an seine Brust. Sie drückte sich so fest an ihn, dass ihre Kraft schon bewundernswert für eine Frau war, aber den Gedanken ließ er schnell wieder fallen, als er seine Arme um sie schloss und sie ebenfalls festhielt, wenn auch merklich sanfter.

Sie endlich wieder so nahe bei sich zu haben, löste auch ihn ihm eine Reihe an Emotionen aus. Der erste Gedanke war, dass er sich nie wieder von ihr lösen wollte. Der zweite, dass er sie so unglaublich vermisst hatte.

Cayden vergrub sein Gesicht in ihrem weichen Haar, sog tief den Duft ihres Körpers ein und begann sich merklich zu entspannen. Sie konnten noch so schwierige Dinge besprechen und noch so viel Distanz zwischen sich schaffen, Emma würde immer ihre Wirkung auf ihn haben, egal was davor passiert war.

Seine Hände strichen über ihren Rücken, streichelten ihren Nacken und hielten sie stetig an ihm fest. Cayden hatte nicht vor, das allzu schnell wieder herzugeben.

 

Kurz war sie erstaunt über die sanfte Berührung, über das Streicheln der Hände an ihrem Rücken. Aber Emma genoss diese Berührungen auch unendlich und schloss die Augen. Auf einmal fühlte sie sich müde und hätte auf der Stelle einschlafen können.

Emma fühlte, wie Wärme sich umhüllte und wie wenig sie sich wieder von Cayden lösen wollte. Ob sie für immer hier so stehen konnten?

Ihr Verstand sagte ihr, dass die Realität nicht so einfach war. Aber Emma schob diese Wahrheit zur Seite und ignorierte die Realität so lange sie konnte.

 

Wie lange sie einfach nur so dastanden, konnte er nicht sagen. Vielleicht nur wenige Sekunden, vielleicht aber auch viele Stunden. Cayden hatte jegliches Zeitgefühl verloren, während er das alles hier zu sehr genoss. Aber lange konnte er sich nicht daran erfreuen, ehe seine Gedanken sich wieder mit aller Macht melden wollten. Sein Kopf war ohnehin zu voll, weshalb er eine Weile darum kämpfte, ihn leer zu räumen. Vergebens. Außerdem ließ Emmas nachlassende Berührung ihn erahnen, wie lange sie hier schon standen.

„Ich denke, das Mousse au Chocolat kann auch noch bis morgen warten“, flüsterte er ihr leise zu.

„Es wird Zeit, dass ich meinen Job als Jedi-Sandmann wieder aufnehme.“

Cayden streichelte sie noch ein letztes Mal und drückte ihr einen Kuss auf das weiche Haar. „Lass mich dich ins Bett bringen.“

 

Emma schien sich aus einer Art Kokon lösen zu müssen, als Cayden ihre heile Welt mit Bewegung und Stimme erschütterte. Zwar war es nichts Schlimmes, was er sagte, aber sofort schienen kalte Finger nach Emma zu greifen, als sich auch nur abzeichnete, dass sie Cayden loslassen musste.

Ins Bett?

Ihre Augenlider waren schwer und sie sah Cayden nicht wirklich enthusiastisch an, als er ihr das vorschlug. Aber genauso gut wusste Emma, dass es eine gute Idee war, die Mousse Mousse sein zu lassen und sich etwas Ruhe zu gönnen. Sie wollte zwar nicht auf die Uhr sehen und feststellen, dass es gerade einmal zehn geschlagen hatte. Aber es war sicher auch egal, wie spät es war.

Also nickte sie nur und ließ sich von Cayden an die Hand nehmen. Irgendwie schien sie schon so lange nicht mehr hier gewesen zu sein. Es kam ihr alles ein wenig fremd und Emma sich wie ein seltener Gast vor. Etwas, das sie wahrscheinlich auch bald ändern sollten. Oder nicht?

 

Cayden führte sie in sein eigenes Badezimmer, wo er sie alleine ließ, um ihr die Zeit zu geben, sich für das Bett fertigzumachen, während er sich in seinem Schlafzimmer umzog.

Sie hatten sich zwar schon gegenseitig nackt gesehen, aber es war dennoch noch nicht selbstverständlich, dass sie sich voreinander umzogen und schon gar nicht, nachdem schon so viel Zeit seit ihrer letzten intimen Begegnung vergangen war.

Cayden machte auch noch eine Runde durch die Wohnung, um sämtliche Kerzen zu löschen. Lediglich die auf seinem Nachtkästchen ließ er noch brennen, damit Emma den Weg zu seinem Bett fand, während er sich selbst noch schnell die Zähne putzte.

Nicht sehr viel später lagen sie beide im Bett und dieses Mal zögerte Cayden nicht, als er nach Emma suchte und sie nahe an sich heranzog. Seine Arme schlossen sich wieder um sie und erst jetzt wurde ihm deutlich bewusst, wie schmerzlich er ihren fehlenden Duft in seinen Kissen vermisst hatte. Sein Bett war ohne sie groß und leer gewesen. Kein Schlafplatz, den man freiwillig wählen würde, wenn man eine andere Wahl hätte.

Cayden küsste sie zärtlich auf die Stirn.

„Gute Nacht, Em.“

 

Sie war froh.

Froh darüber, dass er nichts von ihr zu erwarten schien. Dass er nichts von ihr verlangte und keine merkwürdige Stille sich zwischen sie legte. Stattdessen kuschelte Emma sich in Caydens Arme und lächelte sanft, als er ihr eine gute Nacht wünschte. So müde, wie sie war, würde sie bestimmt gut schlafen. Oder auch überhaupt nicht.

„Gute Nacht.“

Das wünschte sie ihnen beiden, und dass sie Morgen aufwachen würden, ohne zu sehr über alles grübeln und sich merkwürdig fühlen zu müssen in den Armen des anderen.

„Schlaf gut.“

56. Kapitel

Emma schlief tatsächlich unerwartet gut. Und zwar so lange, bis ihr Handywecker leise und dann immer lauter seine gewohnte Melodie spielte. Tastend griff sie neben das Bett, hinunter auf den Boden, wo das Handy immer lag und fand nichts. Ein müdes Auge zu öffnen, strengte sie schon ziemlich an, aber die Umgebung irritierte sie ziemlich. Um sich am frühen Morgen nicht schon vollkommen zu überfordern, schloss sie das Auge wieder und tastete weiter nach dem scheppernden Telefon.

 

Der unerwartete Lärm riss Cayden aus seinem tiefen, traumlosen Schlaf und das sehr gründlich.

Er brauchte nicht lange, um richtig wach zu sein und Emma dabei zu entdecken, wie sie mit geschlossenen Augen nach einem Handy am Boden fischte, das sie dort gar nicht finden würde. Um die Sache nicht unnötig zu verkomplizieren, richtete Cayden sich auf, beugte sich über Emma und griff nach dem lärmenden Teil, das auf dem Nachtisch lag.

„Hier.“ Seine Stimme war leise und rau, als er ihr das Handy in die Hand drückte und sich dann wieder zurück in sein Kissen fallenließ.

Die Rollläden waren bereits heruntergefahren, und obwohl seine Armbanduhr gerade einmal 6:32 Uhr zeigte, hatte er das Gefühl, schon viel zu lange geschlafen zu haben. Kein Wunder. Wann waren sie denn gestern schon ins Bett gegangen?

Cayden wusste es nicht mehr so genau, aber eigentlich hatte er ohnehin noch keine Lust aufzustehen. Lieber drehte er sich wieder zu Emma herum, die es inzwischen geschafft hatte, den Lärm abzustellen und zog sie wieder an sich, um noch einmal die Augen zu schließen. Vermutlich würde er nicht mehr schlafen können, aber das war ihm im Augenblick herzlich egal. Er liebte ihren Duft und ihre Wärme. Er liebte es, wie sie sich an ihn kuschelte und das vollkommen ohne Vorbehalte. Damit war er im Moment mehr als nur zufrieden.

 

Das Handy war irgendwo im Bett verloren gegangen und Emma döste auch bereits wieder an Cayden geschmiegt, während die Zeit immer weiter lief. Die Jalousien waren heruntergelassen und es war angenehm dunkel im Raum. Außerdem war es unter der Decke warm und kuschelig und Emma verspürte nicht die geringste Lust, sich in die kalte Welt hinaus zu wagen.

Andererseits war da ihr Pflichtbewusstsein. Sie musste aufstehen und zur Arbeit gehen. Hmm ...

„Wie lang ist der Arbeitsweg von hier aus?“, fragte sie träge und in die weichen Kissen nuschelnd, während sie die Augen dafür nicht einmal öffnete.

 

Cayden musste unwillkürlich lachen. Emma musste noch im Halbschlaf sein, wenn sie so etwas fragte.

„Kommt darauf an, ob du im Pyjama gehst, oder dich erst vorher anziehst. Im Pyjama brauchst du ca. vier Minuten. Vorausgesetzt, ich würde dir die Überstunden überhaupt gestatten und das tue ich definitiv nicht.“

Er schmunzelte immer noch, als er zart ihre Wange küsste und sich dann selbst wieder bequemer hinlegte. „Du kannst ruhig noch weiter schlafen. Heute ist Samstag.“ Wenn sie das nicht ohnehin schon tat.

Er selbst war nun endgültig wach und nahm sich die Freiheit heraus, jeden von Emmas Gesichtszügen zu mustern. Es war wie immer faszinierend, sie in ziemlich dunklem Licht zu betrachten, da seine Augen sie dann anders wahrnahmen als bei normalem Licht. Deutlicher, schärfer und mit diesem Hauch von einem übernatürlichen Strahlen. Cayden liebte es wirklich, ein Vampir zu sein, egal was für Entbehrungen es mit sich brachte, für Momente wie diesen, nahm er es immer wieder damit auf.

 

Samstag?

Ein breites Lächeln stahl sich auf Emmas Gesicht. Das hatte sie ja ganz vergessen. Und was gab es Besseres, als vom Wecker geweckt zu werden und ihn dann ignorieren zu dürfen?

„Das ist gut ...“, meinte Emma daher nur noch schläfrig, bevor sie noch einmal in tiefen Schlaf sank.

Sie träumte wirr und unzusammenhängend, aber nicht unbedingt schlecht. Und erst, als ihr Körper ihr endlich das Zeichen gab, dass es schon auf Mittag hin gehen musste, schlug Emma endlich die Augen auf. Ihr Magen knurrte laut und sie blinzelte, um sich zu orientieren.

Wo war sie denn?

Emma erkannte die Umgebung und suchte daraufhin sofort nach demjenigen, der hier diese geschmackvolle, aber fast schon sterile Einrichtung ausgesucht hatte.

 

„Hunger?“, fragte Cayden mit einem Lächeln nach, nachdem Emma nun wirklich wach geworden zu sein schien. In den letzten Stunden hatte sie ab und zu den Eindruck gemacht, aufzuwachen, hatte dann aber doch einfach weitergeschlafen.

Cayden hatte sehr lange bei ihr gelegen und dabei über alles Mögliche nachgedacht, doch ein weiterer Entschluss, trieb ihn dann doch nach einiger Zeit aus dem Bett, um für Emma eine weitere Überraschung vorzubereiten.

Gerade rechtzeitig war er zurückgekommen, um ihr beim Aufwachen zuzusehen und sie dabei noch immer halb in den Armen halten zu können.

„Guten morgen, nyonya.“ Cayden beugte sich über sie und stahl ihr einen vorsichtigen Kuss von den Lippen. Er hatte sie schon lange nicht mehr so genannt.

 

„Guten Morgen.“ Wohl eher Mittag. Aber das war Emma egal. Sie lächelte und nickte nur begeistert, als Cayden sie auf ihren Hunger ansprach. Sie hatte wirklich ein Loch im Bauch.

„Bist du schon lange auf?“

Wahrscheinlich hatte er sich im Morgengrauen aus dem Bett geschlichen und schon Stunden über Akten gebrütet oder wichtige Gespräche geführt. Sofort stieg schlechtes Gewissen in Emma hoch und sie zog sich kurz die Decke über den Kopf und atmete tief durch. Danach erschien sie bis zu den Augen wieder und sah Cayden schuldbewusst an.

„Wie spät ist es denn?“

 

„Früh genug. Mach dir keine Gedanken deswegen, es ist schließlich Wochenende!“, versuchte er Emma zu beruhigen. Was schon seltsam genug war, weil es gerade aus seinem Mund kam, aber es stimmte doch.

Auf Emmas andere Frage gab er ihr zunächst keine Antwort, stattdessen begann er breit zu lächeln. Immerhin hatte er eine andere Methode um ihre Frage zu beantworten.

Cayden setzte sich im Bett auf: „Weißt du was? Du bleibst hier und wartest auf mich. Ich bin gleich wieder da!“

Damit sprang er auch schon aus seinem Bett und verließ in Vampirgeschwindigkeit den Raum. In der Küche hatte er bereits alles vorbereitet, weshalb er keine Minute später sehr viel langsamer mit einem großen Tablett in den Händen erschien, auf dem sich duftende und immer noch warme Pfandkuchen stapelten, dazu Orangensaft, geschnittenes Obst, diverse Soßen und heiße Schokolade mit einem großzügigen Sahnehäubchen oben drauf.

Er lächelte immer noch, als er das Tablett zu Emmas Füßen abstellte und sich ihr gegenüber hinsetzte.

„Voilá. Ich hoffe, das beantwortet deine Frage.“

 

„Schon ja ...“ Emma kicherte verlegen.

„Du bist schon zu lange wach, wenn ich mir das so ansehe.“

Es sah wirklich lecker aus. Und kalorienreich. Emma schnupperte begeistert und konnte mit dem Grinsen gar nicht mehr aufhören. Pancakes zum Frühstück und dann noch ans Bett gebracht. Wie konnte denn ein Wochenende besser beginnen?

„Und? Was warten heute sonst noch für Überraschungen?“

Ihr fielen die überraschenden Wendungen des vergangenen Abends ein und beinahe wäre Emma der Appetit vergangen. Aber sie kämpfte erfolgreich dagegen an und lächelte weiter. Nicht jetzt und nicht sofort. Sie konnten auch später wieder in eine Krise schlittern und darüber reden.

Jetzt wollte sie erst einmal frühstücken.

Emma nahm sich ein kleines Schüsselchen mit geschnittenem Obst und fing begeistert an zu essen. „Sehr lecker. Vielen Dank.“

 

„Keine weiteren Überraschungen würde ich sagen. Nur Möglichkeiten.“ Cayden lächelte immer noch, während er sich zu seinem Nachtkästchen hinüberbeugte und nach seiner Brille angelte. Erst als er sie sich auf die Nase gesetzt hatte, drückte er den Knopf für die Rollläden und ließ das trübe Licht des verregneten Tages herein. Vielleicht hätte er doch besser ein paar Kerzen als Beleuchtung anzünden sollen.

„Wie es scheint, müssen wir uns heute drinnen beschäftigen, aber ich bin mir sicher, uns fällt schon etwas ein.“

Cayden nahm einen Pfannkuchen, tat etwas Schokosoße darauf und rollte ihn dann ein, um ihn auf diese Weise mit den Fingern zu essen.

„Abgesehen von einem kleinen DVD-Angebot hätte ich auch noch ein ausgiebiges Schaumbad zur Entspannung anzubieten. Die Mousse gibt es auf jeden Fall als Nachspeise zum Mittagessen, das du dir natürlich auch aussuchen kannst. Des Weiteren bin ich gerne für Wünsche und Anregungen offen. Und ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich hätte Lust, heute den Tag im Pyjama zu verbringen.“

Nichts davon meinte er zweideutig, sondern ganz und gar ehrlich.

 

Für eine Weile betrachtete Emma sehr interessiert Caydens Schlafanzug oder besser gesagt, seine seidene Pyjamahose und den nackten Oberkörper, aber auch die Art, wie er seinen Pancake aß. Erst dann bestrich sie selbst einen Pfannkuchen mit Schokocreme und legte ein paar Bananenscheiben darauf. Da das Ganze im gerollten Zustand ein wenig zu instabil geworden wäre, nahm Emma den Teller auf den Schoß und benutzte Messer und Gabel. Während sie es sich schmecken ließ, dachte sie über Caydens Ideen nach.

Eigentlich alles Vorschläge, die keine weiteren Wünsche offen ließen. Aber irgendetwas sträubte sich in ihr, einfach für das Wannenbad zu stimmen. Es kam Emma in diesem Moment einfach zu intim vor. Auch wenn das lächerlich war, wenn man bedachte, dass sie im gleichen Bett geschlafen hatten und jetzt hier frühstückten. Aber nackt in der Badewanne war eben doch ... anders, als angezogen im Bett oder auf der Couch oder ... wo auch immer.

Daher antwortete sie eher ausweichend: „Lass uns erstmal frühstücken. Der Rest wird sich dann sicher ergeben.“

 

„Das denke ich auch.“ Er nahm einen Schluck von seiner heißen Schokolade. Ihm war Emmas subtile Reaktion nicht entgangen, weshalb er sich fast schon gezwungen fühlte, ihre Gedanken zu korrigieren, auch wenn er da vielleicht zu viel hineininterpretierte.

„Der Vorschlag mit dem Schaumbad war übrigens für dich alleine gedacht.“ Cayden stellte seine Tasse wieder weg und angelte sich eine Apfelspalte. „Ich habe andere Methoden, um von dem ganzen Stress einmal runter zu kommen.“

Das stimmte. Leider hatte er seine wertvolle Mittagspause in letzter Zeit schändlich vernachlässigt und vermutlich war auch das der Grund, weshalb seine Kraftreserven so schnell nachgelassen hatten. Stress war pures Gift und das nicht nur für Menschen. Er sollte besser wieder damit beginnen, seine Mittagspause nicht für die Arbeit, sondern für seine Entspannungsübungen herzunehmen. So wie er es die letzten Jahre getan hatte.

 

„Ach, tatsächlich?“

Emma hörte sofort interessiert auf, kaute aber weiter an ihrem leckeren Frühstück und sah Cayden auffordernd an. Wenn er schon anfing, ihr so etwas zu eröffnen, musste er auch weiter sprechen.

„Und was machst du?“ Sie wollte nicht an etwas Unanständiges denken, denn so hatte Caydens Hinweis einfach nicht geklungen. Aber interessieren würde es sie schon.

Nachdenklich sah sie Cayden an und überlegte, was „Vampir“ wohl so zur Entspannung tat. Als sie vor ihrem inneren Auge ein Bild von Cayden sah, wie er kopfüber von der Decke baumelte, schob sie sich lieber ein großes Stück Pancake in den grinsenden Mund.

 

Cayden kaute bedächtig den Apfel und überlegte sich dabei, wie er seine Antwort formulieren sollte. Es war nichts Schwieriges dabei, allerdings waren manche Menschen eigen, wenn es um Meditation ging. Zum Glück war Emma kein gewöhnlicher Mensch sondern eine Hexe. Gerade sie müsste etwas damit anfangen können.

Er trank noch einen Schluck von der heißen Schokolade, ehe er ihr endlich eine Antwort gab.

„Ich meditiere. Oder habe es zumindest täglich praktiziert, bevor alles so chaotisch wurde. Meistens in meiner Mittagspause, weshalb ich auch immer verlangt habe, dass mich keiner zu dieser Zeit stört. Denn das hätte die Wirkung dann natürlich zunichtegemacht.“

Er lächelte, während er sich daran erinnerte, wie häufig Stella hartnäckig jede noch so kleine Störung vor seiner Bürotür abgewehrt hatte, da er gerade seine geheiligte Mittagspause genoss.

 

„Meditieren?“ Natürlich wusste Emma, was das war. Aber selbst hatte sie noch niemanden getroffen, der das praktizierte. Geschweige denn hatte sie es selbst je ausprobiert. Irgendwie hatte sie die Ruhe dafür nicht.

„Wie ... Was machst du dann? Ich meine, wie sieht das denn aus?“

Emma war neugierig und interessiert. Sie konnte sich unter Meditation nur vorstellen, dass man im Lotussitz dasaß, seinen Geist öffnete und dann nichts dachte. Was sich schon sehr schwierig anhörte – ihrer Meinung nach nichts, was sie entspannen könnte.

„Und wäre es dann nicht sinnvoller gewesen, du hättest es gerade im Chaos weiter gemacht?“

 

„Natürlich wäre es sinnvoller gewesen“, stimmte er ihr zu. Immerhin war Cayden genau Emmas Meinung. „Aber selbst ich neige dazu, mich ablenken zu lassen und nicht immer das zu tun, was gut für mich wäre. Trotzdem werde ich versuchen, damit wieder anzufangen.“

Er nahm es sich fest vor, während er sich einen zweiten Pfannkuchen zusammenrollte, der mit Erdbeermarmelade bestrichen war.

„Zur Meditation selbst gibt es eigentlich nicht sehr viel zu sagen. Ich mache es im Stehen, da ich im Büro meistens sitzen muss. Viele Menschen hören dabei entspannende Musik, aber so wirklich tief entspannen kann ich mich nur bei einer einzigen Geräuschkulisse.“

Cayden sah Emmas Frage, noch bevor sie sie stellen konnte und musste wieder lächeln.

„Du hast doch sicher schon Dokumentationen gesehen, die im tropischen Regenwald gedreht wurden? Ich habe diverse CDs mit aufgezeichneten Dschungelgeräuschen. Meistens welche, die nachts aufgenommen worden sind. Das ist für mich am Wirkungsvollsten, denn es erinnert mich jedes Mal stark an …“

Das Zögern war nicht gewollt, aber das passende Wort zu finden, war auch nicht leicht. Weshalb Cayden einen Moment lang überlegen musste, bis er zumindest eine gute Übersetzung für das für Emma fremde Wort gefunden hatte.

„… Heimat.“

 

Nun wurde sie so stutzig, dass Emma Essen und Trinken stehen ließ und Cayden neugierig musterte.

Heimat? Das war für viele Menschen ein großes Wort. Etwas, das sehr viel mehr in sich trug, als nur der Ort, an dem man aufgewachsen war und/oder man gerade lebte.

„Dschungel im Sinne von ...“ Sie überlegte. „Mittelamerika? Amazonas?“ Das würde zumindest zu seinem Vergleich mit den Dokus passen. Neuseeland hatte auch einen urtümlichen Regenwald. Dieser klang aber wegen der einzigartigen Vogelwelt ganz anders, als derjenige, den man normalerweise auf diesen CDs fand.

„Erzählst du mir davon?“

Vielleicht wollte er nicht. Das wäre in Ordnung. Aber natürlich hätte es Emma brennend interessiert, warum Cayden den Dschungel mit Heimat verband. Er sah nun einmal absolut nicht wie ein Ureinwohner dieser Gegend aus.

 

„Zentral Amerika, um genau zu sein“, bestätigte er, allerdings wurde Cayden bei seinen nächsten Worten vorsichtiger. Seine Kindheit war sehr sehr lange her, und obwohl er sich noch genau an jedes Detail erinnern konnte, so hatte Emma ihm doch erst vor Kurzem gesagt, dass sie nicht alles wissen wollte. Vielleicht war das auch so eine Sache, wo sie lieber nicht hätte nachfragen sollen, aber er würde sich mit Informationen zurückhalten. Wenn sie weiter nachhakte, dann war es ihre eigene Entscheidung und auch ihre eigene Verantwortung.

„Ich habe dir doch einmal erzählt, dass ich in Belize aufgewachsen bin“, begann er vorsichtig.

„Ich habe dir zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht die volle Wahrheit erzählen können, aber komplett angelogen habe ich dich auch nicht. Die heutige Gegend dort heißt Belize, doch zu der Zeit, als ich dort lebte, war Amerika noch nicht einmal von Kolumbus entdeckt worden, auch wenn dort schon vor ihm Menschen aus Europa gelandet sind. In meinem Fall hat mich das Schiffsunglück dorthin gebracht. Ich habe keine Ahnung, wie wir so weit vom Kurs abkommen konnten. Oder wie genau ich dort gelandet bin. Es ist mir bis heute ein Rätsel, wie ich überhaupt auf dem Schiff gelandet bin. Damals war es alles andere als normal und sicher, ein Kind mit auf so eine Schiffsreise zu nehmen. Die genaueren Umstände werde ich aber auch nicht mehr herausfinden können.“ Was wohl auf Ewig an ihm nagen würde.

„Auf jeden Fall kann ich mich nur noch an den wahnsinnigen Durst erinnern und dass mich die grelle Sonne beinahe hat erblinden lassen. Jedoch nicht wegen meiner heutigen Schwächen.“

Cayden schloss kurz die Augen, um sich besser zu konzentrieren, aber an jene schmerzvollen Tage konnte er sich dankenswerterweise kaum noch erinnern.

„Ich war drei oder vielleicht vier Jahre alt. Zu dem Zeitpunkt unterscheiden wir uns noch kaum von den Menschen, außer, dass wir widerstandsfähiger sind. Vermutlich der einzige Grund, warum ich so lange alleine überlebt habe. An diese Tage kann ich mich allerdings kaum noch erinnern.“

Er schaute wieder auf, Emma in die Augen.

„Das Erste, woran ich mich deutlich erinnern kann, sind die nächtlichen Geräusche eines tropischen Dschungels. Das Prasseln von Feuer und dessen behagliche Wärme. Warme Hände, die mich halten, mir Wasser geben und so das Brennen in meiner Kehle löschen. Da waren viele Menschen um mich herum. Fremdartige Menschen mit dunkler Haut, schwarzen Haaren, halbnackt und mit bedrohlichen Ziernarben und anderem Körperschmuck versehen. Ich verstand sie nicht, aber es hatte keinerlei Worte bedurft, um mir Sicherheit zu schenken.“

Cayden lächelte traurig.

„Der Stamm, der mich bei sich aufgenommen und großgezogen hat, ist schon lange ausgestorben und die Sprache mit ihnen. Ich bin vermutlich die letzte Person auf der Welt, die sie überhaupt noch spricht.“

 

„Das heißt ... du hast deine Eltern bei dem Schiffsunglück verloren?“, fragte Emma vorsichtig nach. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie furchtbar das sein musste. Vor allem, weil er noch so klein gewesen war.

Emma senkte den Kopf und blickt auf ihre Finger, die mit der Decke spielten. Wie Caydens Eltern wohl gewesen waren? Es mussten beides Vampire gewesen sein. Oder etwa nicht?

Gern hätte sie ihn das gefragt, aber irgendwie passte es gerade nicht. Emma wollte so viele Fragen stellen, wusste aber nicht, wo sie anfangen sollte. Am liebsten hätte sie sich Notizen gemacht, um auch keine einzige Frage zu vergessen.

„Und dieser Stamm ... Haben sie dich einfach aufgenommen?“ Wo er doch so anders war als sie.

Und als Kind war er wirklich noch fast ein Mensch gewesen? So sehr, dass seine Augen noch das Sonnenlicht ertrugen und Wasser seinen Durst einfach löschen konnte? Emmas Hand wanderte ohne ihr Wissen auf ihren eigenen Bauch. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, wie es einmal für sie und ihr Kind sein würde. Gerade jetzt waren ihre Gedanken bei Cayden, und zwar ganz allein bei ihm.

 

„Mein Vater ist bei diesem Schiffsunglück gestorben. Zumindest habe ich nie wieder etwas von ihm oder jemand anderem gehört, der auf diesem Schiff war. Meine Mutter war nicht dabei. Ich glaube, sie starb bei meiner Geburt. Zumindest kann ich mich überhaupt nicht an sie erinnern.“ Das Schicksal vieler Vampirinnen, wie er leider wusste. Aber Emma würde das nicht teilen. Er würde niemals zulassen, dass ihr etwas zustieß und wenn er ihr sein ganzes Blut geben müsste.

„Ja, sie haben mich aufgenommen, obwohl sie mich auch einfach dem Dschungel hätten überlassen können. Aber es war ein friedvoller Stamm, dessen höchstes Bestreben dem Schutz der Familie galt und natürlich ihrem Überleben. Sie lebten vollkommen im Einklang mit ihrer Umgebung und die Natur beschenkte sie reich genug, sodass auch für jemanden wie mich Platz bei ihnen war.“

Cayden zupfte sich ein Stück von dem letzten Pfannkuchen, den er noch hinunterbringen konnte, und kaute langsam darauf herum, während er in Erinnerungen schwelgte. Es waren viele gute darunter, weshalb auch immer wieder ein warmes Lächeln seine Mundwinkel reizte.

„Sie sahen mein Erscheinen sogar als ein gutes Omen an, obwohl man eigentlich das Gegenteil hätte erwarten müssen. Ich habe ihnen dieses Vertrauen im Laufe der Zeit oft zurückgegeben, vor allem, nachdem es während meiner Pubertät ziemlich überstrapaziert worden war.“

Das Lächeln verblasste etwas.

„Damals waren sprießende Körperbehaarung an ungewöhnlichen Stellen und unkontrollierbare Ejakulationen im Schlaf mein kleinstes Problem.“

 

„Okaay ...“

Dass Cayden so offen über seine Pubertät sprach, brachte Emma zu einem leicht nervösen Lachen. Sie war es nicht gewohnt, dass ein Mann so direkt und ohne Witze über dieses Thema sprach.

„Dann ... hast du tatsächlich im Dschungel gelebt?“ Er war scheinbar dort aufgewachsen. Es musste ihn doch geprägt haben. Warum ...

Emma beäugte Cayden von oben bis unten, betrachtete sein Gesicht, das ihr oftmals so kantig, doch gerade jetzt so offen und weich vorkam. Sie konnte ihn sich nicht in einem Dschungel vorstellen. Zumindest nicht als Kind. Rothaarig und blass, wie er durchs Unterholz lief, mit selbst gebastelten Speeren nach Eidechsen warf ... Es war schon sehr, sehr seltsam.

 

Nun musste Cayden bei Emmas Blick doch breit lächeln.

„Sieht man das denn nicht?“, wollte er verwundert wissen, obwohl er ganz genau wusste, dass man ihm Anzüge und Krawatten eher zumuten würde, als einen Lendenschurz und eine Schleuder.

Cayden legte den restlichen Pfannkuchen zur Seite und setzte sich gerade auf, sodass die dunklen Zeichnungen auf seinem Oberkörper besser zu erkennen waren. Er streckte Emma auch die Arme entgegen. Zeigte ihr die verschlungenen Muster auf der Außenseite und dann die auf der inneren.

„Du hast mich doch einmal gefragt, was meine Tattoos bedeuten. Nun, sie stellen Erlebnisse, Taten und bestandene Prüfungen dar. Das hier zum Beispiel …“

Cayden zeigte auf ein zunächst wahllos erscheinendes Muster auf der Innenseite seines rechten Unterarms. Sein Zeigefinger fuhr das Bild nach, während er weiter sprach: „Kannst du den Kopf einer Raubkatze erkennen?“

Um Emma den Blick darauf zu erleichtern, verdeckte er mit den anderen Fingern den Rest der Linien, so dass sich für ihn sehr deutlich der stilisierte Kopf eines Raubtiers abzeichnete. „Dieser Jaguar hat eine Gruppe von Jägern angegriffen und einen davon sogar schwer verletzt. Die Jäger hatten das Tier auf der Suche nach Beute unabsichtlich in die Enge getrieben und somit zum Angriff gezwungen. Denn normalerweise greifen sie keine Menschen an, es sei denn, sie haben keine andere Wahl.“

Sein Finger strich zart über den Kopf des Tiers und ihm entkam unwillkürlich ein Seufzen.

„Ich gehörte nicht zu den Jägern, da zu dem Zeitpunkt meine schwindende Toleranz der Sonnenstrahlen auf meiner Netzhaut gegenüber schon so weit fortgeschritten war, dass ich tagsüber kaum noch richtig sehen konnte. Aber für einen jungen Mann in diesem Alter war es geradezu eine Schande, nichts für das Wohl des Dorfes beitragen zu können, abgesehen von Arbeiten, die normalerweise für Frauen vorgesehen waren. Also schlich ich der Jägergruppe nach, so oft ich konnte, um trotzdem von ihnen zu lernen. So wie an diesem einen Tag, als der Jaguar angriff.“

Cayden zog seine Hand wieder zurück und rieb sich stattdessen über die Stelle, als würde sie ihn schmerzen, während er die Bilder seiner Vergangenheit vor seinen Augen hatte.

„Damals wusste ich nicht, wieso ich so verrückt sein konnte und dieses heilige Tier nur mit einem Messer angriff. Ich denke, der Blutgeruch des verletzten Jägers hat meine vampirischen Instinkte vollends erwachen lassen und ich hatte nicht weiter darüber nachgedacht, sondern einfach nur gehandelt. Ich kannte jeden einzelnen dieser Männer. Ich wollte nicht, dass auch nur einer von ihnen starb und so habe ich ein bisschen mit dem Jaguar 'getanzt'.“

Sein Blick kam wieder in die Realität zurück und nahm nun deutlich Emmas Gegenwart wahr.

„Ich war zwar halb blind, aber ganz und gar nicht wehrlos. Spätestens zu diesem Zeitpunkt mussten die Männer meines Dorfes einsehen, dass ich zwar Schwächen hatte, aber auch Stärken, und obwohl ich für sie immer sonderbarer wurde, habe ich meine erste Auszeichnung erhalten und die Erlaubnis, mich in der Jagd zu üben. Auch wenn das später nur noch nachts möglich war.“

 

„Wie bist du damit zurechtgekommen? Dass du nicht wusstest, was mit dir passiert? Warum deine Augen schlechter wurden, was sich in dir veränderte. Niemand konnte dir etwas über dich sagen ... Wie ...“ Emma brach ab und sah sich die Linien auf Caydens Oberkörper an. Es waren viele. Er musste für den Stamm wichtig und wertvoll gewesen sein. Trotzdem war dieser Junge ... dieser weiße Junge, der immer anders aussah, als ihre eigenen Kinder, der immer noch mehr seltsame Eigenschaften herausbildete ... Hatten sie irgendwann Angst vor ihm gehabt? Hatte er ... ihnen Grund dafür gegeben?

 

Das war eine sehr gewichtige Frage und Cayden musste so lange darüber nachdenken, dass er seine heiße Schokolade inzwischen leer getrunken hatte, ehe er endlich zu erzählen begann.

„Es war sehr schwer. Das kann ich nicht leugnen. Aber das mit meinen Augen war noch relativ leicht hinzunehmen, immerhin war beziehungsweise ist meine Sicht in der Nacht absolut perfekt, besonders wenn es stockdunkel ist. Dass meine Verletzungen so ungewöhnlich schnell heilen, war auch noch etwas, über das die Dorfbewohner bewundernd hinwegsehen konnten und immer noch für ein sehr gutes Omen hielten. Mein Blutdurst war jedoch eine ganz andere Sache.“

Cayden rieb sich unbewusst über die Stelle, unter der sich direkt sein Herz befand, dort wo so eine Art Schatten oder Geist dargestellt wurde, wenn man ganz genau hinsah.

„Wie ich schon sagte, hat mich der Blutgeruch des Jägers zum ersten Mal richtig angesprochen, auch wenn ich diesen … Auslöser damals noch nicht richtig interpretieren konnte. Aber er wurde mit der Zeit stärker, vor allem als ich begann, selbst Tiere zu erlegen.“

Cayden ging sicher, dass Emma bereits fertig gegessen hatte, erst dann ging er näher auf dieses heikle Thema ein, wohl wissend, dass es für einen heutigen Menschen relativ unverständlich war, was bestimmte Bräuche und Sitten anging.

„Du hast sicher schon von verschiedenen Naturvölkern gehört, die glauben, bestimmte Teile eines Tieres roh gegessen, würden die Kraft des Tieres auf den Menschen übertragen. Nun, auch mein Stamm hat das geglaubt und so war es eigentlich ganz normal, demjenigen, der das Tier getötet hat, das Herz zu überlassen und natürlich die besten Teile der Beute für sich und seine Familie.“

Er formulierte es so vorsichtig wie möglich und prüfte auch immer wieder nach, ob Emmas Reaktion von ihm verlangte, zu schweigen, aber bisher hatte sie ihm noch keinen Grund dazu geliefert, also sprach er weiter.

„Für die Menschen meines Stammes hatte dieser Glauben eher symbolische Werte. In etwa so ähnlich wie ein Placebo-Effekt. Für mich jedoch nicht. Es hat mich tatsächlich gestärkt, zumindest eine Zeit lang, bis ich aus einem schlaksigen Jungen langsam zu einem ausgewachsenen Mann hätte werden sollen. Doch stattdessen wurde ich schwer krank, was bis dahin noch nie vorgekommen war.“

Cayden erinnerte sich noch zu gut an diese Zeit. Dieser brennende Durst der auch mit noch so viel Wasser nicht gelöscht werden konnte. Die stärker werdenden Krämpfe, das heftige Beben seines schwitzenden Körpers. Zu dem Zeitpunkt hatte er gedacht, er müsste sterben.

„Ich vermute im Nachhinein, dass das Tierblut meinen Durst eine Zeit lang stillen und mich genügend ernähren konnte, während ich noch ein halber Junge war, aber als mein Körper mehr Energie zum Wachsen brauchte, reichte es einfach nicht mehr aus und er begann sich selbst aufzuzehren. Keiner wusste damals, was mit mir los war und ich am Allerwenigsten.“

 

Emma hatte es sich etwas bequemer gemacht, die Decke um sich gezogen und das Frühstück in diesem Moment vollkommen vergessen. So, wie Cayden erzählte, konnte sie sich alles sogar bildlich vorstellen. Sein immer schlimmer werdender Durst, die Ohnmacht seines Stammes, als er krank wurde.

Immerhin hatte Emma einen kleinen Blick auf die Folgen werfen können, wenn er nichts trank. Wenn Cayden nicht das bekam, was er brauchte. Sie konnte sich zu gut vorstellen, wie schlimm es um ihn gestanden und welche Sorgen sich sein Stamm gemacht hatte.

„Wie ... hast du es überlebt?“

Emmas Mund wurde trocken, als sie diese Frage stellte. Sie konnte sich viele Möglichkeiten vorstellen. Vielleicht war er irgendwann so verzweifelt gewesen, dass er jemanden angegriffen hatte? Oder hatte sich jemand unabsichtlich verletzt und Cayden hatte die Chance genutzt? Hatte ihm doch irgendetwas anderes helfen können?

Emma war ganz angespannt.

 

„Mein Leben verdankte ich wohl dem, was einem Medizinmann am Nächsten kommt. Zusammen mit meiner Mutter und dem Stammesoberhaupt hatte er mein Lager bewacht, sich auch mit den anderen Ältesten beraten und doch war er machtlos gegen den bösen Geist, der in mir wütete.“

Eine Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen aus und der kalte Schauer, der ihm über den Rücken lief, war nur noch ein schwacher Abklatsch von dem, was er damals durchgemacht hatte. So nahe war er wegen seines Blutdurstes dem Tode nie mehr gekommen und das war auch gut so.

„Ich lag im Fieberwahn und hatte fürchterliche Schmerzen. Vor allem meine Fänge haben sich angefühlt, als würde man glühende Nägel in meinen Kiefer rammen. Schon vorher war mir die Ungewöhnlichkeit meiner Zähne aufgefallen, und obwohl ich es nicht kontrollieren konnte, wann sie hervortraten, hatte ich es damals doch geschafft, wenigstens diese Absonderlichkeit vor den anderen verborgen zu halten. Aber damit war es vorbei und die Ältesten wurden in ihrer Vermutung bestärkt, ein böser Geist wäre in mich gefahren.“ Was im Grunde genommen eigentlich gar kein schlechter Vergleich war, wenn man es im richtigen Lichte betrachtete.

„Ich musste unzählige Rituale über mich ergehenlassen, die alle nur eines bewirkt hatten – sie reizten meine vampirische Seite bis aufs Blut.“

Die erzählerische Pause war keine Absicht, aber Caydens Erinnerung vermischte sich plötzlich mit dem Vorfall in seinem Büro, als er Emma gebissen hatte, dennoch war es besser, weiterzusprechen. Emma sollte verstehen und auch die Tatsache, dass Vampire zwar gefährlich sein konnten, aber deshalb nicht von Grund auf böse waren, selbst wenn sie das bereits wusste.

„Bei einem dieser Rituale kam mir der Medizinmann zu nahe. Besser gesagt sein Arm und dabei setzte auch noch der klägliche Rest meines menschlichen Verstandes endgültig aus. Ich habe nur noch reagiert, um zu überleben.“ Das war die Wahrheit. Auch wenn er lange gebraucht hatte, um das so zu sehen.

„Ich hätte ihn nicht getötet. Selbst wenn man mich nicht mit Gewalt von ihm weggezogen hätte. Das weiß ich inzwischen, aber damals war es noch etwas anderes. Es gelang ihnen nur deshalb, weil man mich bewusstlos geschlagen hatte. Als ich wieder aufwachte, war ich natürlich gefesselt, aber wenigstens wieder halbwegs bei Kräften und ich musste mit dem Schuldgefühl kämpfen, jemanden aus meinem Stamm in einem Anflug von Wahnsinn angegriffen zu haben. Etwas, das ich mir lange nicht verzeihen konnte.“

Ihm blutete sogar jetzt noch das Herz, wenn er an diese Zeit zurückdachte. Das Vertrauen war mit einer unbedachten Handlung restlos zerstört gewesen. Zumindest bei den meisten Bewohnern des Stammes und das war eine äußerst unangenehme Angelegenheit gewesen.

„Normalerweise wurde ein derartiger Angriff auf ein Stammesmitglied mit dem Tode oder Verbannung bestraft, je nachdem wie schwer die Tat ausfiel. Was auch seinen Nutzen hatte, denn so gab es kaum jemanden, der gegen die Gruppe arbeitete und somit das Überleben des Stammes gefährdet hätte. Bei mir waren sich die Ältesten nicht einig. Zum einen, weil ich ohnehin schon als absolut sonderbar galt und zum anderen, weil ich es nicht bei klarem Verstand getan habe. Also beschloss man, mich zunächst nur für einen gewissen Zeitraum von den anderen zu trennen und mich zu prüfen. Nicht, was meine körperlichen Fähigkeiten anging, sondern die Reinheit meines Geistes, des Herzens und der Seele.“

Ein winziges Lächeln umspielte Caydens Lippen, als er daran dachte und Emmas Blick suchte. „Eines solltest du noch über diesen Stamm wissen: Sie urteilten nie vorschnell, gingen sorgsam mit ihren Worten und Taten um, und alles was auf der Welt existierte, sahen sie als Schöpfung der Erde an. In diesem Sinne war ich zwar sonderbar für sie, aber laut ihrem Glauben war auch ich Teil dieser Welt und somit nicht von Natur aus bösartig. Zumal sie mich großgezogen und gelehrt hatten, wie sie zu leben und ich mir bis dahin nie etwas zu Schulden habe kommen lassen.“

 

Emma nickte nachdenklich.

Während Caydens Erzählung war ihr immer wieder kalt geworden. Sie hatte mit ihrer Vermutung also Recht behalten. Was hätte ein Teenager auch anderes tun sollen? Am Rande seiner Kräfte, krank, fiebrig und verwirrt. Nachdem sie selbst erlebt hatte, was passieren konnte, wenn Cayden ausgehungert war, fiel es ihr nicht schwer, ihm die Geschichte zu glauben.

Was sie allerdings nicht ganz glauben konnte, war die milde Reaktion des Stammes. Hatte der Medizinmann ihn danach wirklich nicht gemieden? Hatte er keine Angst vor dem merkwürdigen Jungen gehabt, der wohl von einem bösen Dämon besessen war?

Wieder nickte Emma und sah Cayden stumm an. Eine Aufforderung, weiter zu erzählen.

 

„Die Trennung sah in etwa so aus, dass ich außerhalb des Dorfes mein Lager aufschlagen musste, was meiner Ziehmutter trotz der Vorkommnisse nicht passte, aber gegen das Wort der Ältesten konnte sie nicht handeln. Mir selbst war es jedoch lieber so. Ich wollte nicht in verängstigte und skeptische Gesichter blicken müssen, die früher nur Zuneigung gezeigt hatten. Außerdem brauchte ich die Zeit des Alleinseins, um gegen meine eigenen Schuldgefühle vorzugehen und auch gegen die Angst vor mir selbst und das, was da in mir wohnte.“

Cayden betrachtete seine Hände, so wie er sie damals stundenlang angestarrt hatte. Hände, die im Laufe seines Lebens immer wieder hatten töten müssen, aber niemals aus den falschen Gründen. Er war ein Krieger und Beschützer. Kein Mörder.

„Unser Oberhaupt war oft bei mir und hat stundenlang mit mir gesprochen. Er hatte viele Fragen. Fragen, auf die ich damals selbst keine Antworten wusste, die ich aber stets offen und ehrlich beantwortet hatte, soweit ich es konnte. Das Reden hat mir damals sehr geholfen. Er hat mir zudem viele Geschichten über die Natur, das Leben und die Existenz allein Seins erzählt. Lehrreiche Geschichten, die schon von Generation zu Generation weitergegeben worden waren.“ Und jetzt nur noch in seinem Kopf existierten.

„Nachts war ich auf der Jagd nach Tieren. Zunächst nur ihres Fleisches willen, um nicht hungern zu müssen, aber mit zunehmendem Durst konnte ich in der Stille des Alleinseins auch den Drang nicht mehr bändigen, noch mehr von dem Blut zu kosten und nicht nur als unvermeidliche Zugabe zu rohem Fleisch, sondern ich begann mich sogar darauf zu spezialisieren. Es war selbst für mich total absonderlich, aber ich merkte zunehmend, dass ich es brauchte, mehr noch als das Fleisch selbst. Was ich also von der Beute nicht für mich allein benötigte, brachte ich zu der Grenze meines Dorfes, damit andere Familien davon profitierten und nichts verschwendet wurde.“

Eine Lebenseinstellung, die es heute nicht mehr zu geben schien, wenn man die verschwenderische Gesellschaft der Menschen betrachtete, die das als Wohlstand ansahen. Aber das war damals auch ein anderes Leben gewesen und Cayden versuchte es auch als solches zu sehen.

„Tagsüber schlief ich oder das Oberhaupt kam mich in meiner kleinen selbstgebauten Hütte besuchen, um zu reden. Ich log den Mann nicht an und verschwieg auch nichts. Nicht einmal meine Beobachtung, was das Blut anging. Es reichte nicht aus, um meinen Durst endgültig zu löschen, egal wie viel ich zu mir nahm, aber es hielt mich halbwegs bei Kräften und auch bei klarem Verstand, was für mich das Wichtigste war.“

Cayden wechselte kurz von einer erzählenden Stimme, zu einer erklärenden: „Falls du dich fragst, warum ich keine Namen erwähne, so muss ich dir sagen, dass ich den Glauben meines Stammes immer noch respektiere. Es ist verboten den Namen eines verstorbenen Menschen auszusprechen, da die Trauer seine Seele sonst an die Verbliebenen bindet und ihr somit die Rückkehr zum Quell allen Lebens verwehrt. Meinen Stammesmitgliedern gegenüber halte ich mich dran, da sie daran glaubten. Unabhängig davon, was ich selbst darüber denke.“

Nach dieser Erklärung setzte Cayden sich etwas bequemer hin und ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen, wo er an einem Ficusbaum hängen blieb und die Form der einzelnen Blätter studierte.

„Aus Tagen wurden Wochen und aus Wochen wurden schließlich Monate, in denen ich zurückgezogen lebte, für mich und zum Teil auch für das Dorf jagte und meine eigenen Grenzen erkundete. Ich war von Natur aus der geborene Jäger und jeder meiner Sinne, all meine Instinkte bestätigten mich darin. Aber wie auch ein Jaguar keine bösen Absichten beim Erlegen einer Beute hat, sondern nur überleben will, begriff auch ich langsam, dass da nichts Böses in mir war beziehungsweise ist. Alles, was mich ausmacht, ist dazu gedacht, in dieser Welt zu überleben und erst recht in der damaligen, wo eine erfolgreiche Jagd über Leben und Tod entscheiden konnte.

Allerdings kam damals irgendwann der Zeitpunkt, an dem ich körperlich so weit gereift war, dass die Abstände zwischen den Blutmahlzeiten immer kürzer werden mussten, um nicht schwächer zu werden. Es war einfach nicht das richtige Blut und zu dem Schluss kamen schließlich auch die Dorfältesten, die mir gegenüber inzwischen sehr viel milder gestimmt waren. Ich durfte zwar immer noch nicht mit den anderen aus dem Dorf in Kontakt treten, aber zumindest ging man nicht mehr davon aus, dass ich einem von ihnen willentlich schaden wollte und sie hatten sehr lange und gründlich über mich beratschlagt.“

Cayden starrte immer noch ein Ficus-Blatt an, während er einmal tief einatmete und die Luft langsam wieder entließ.

„Als ich wieder krank zu werden drohte, mussten sie handeln. Es wurde nach einem Freiwilligen gesucht, der mir etwas von seinem Blut geben wollte, um zu prüfen, ob die Vermutungen wirklich stimmten, oder ich endgültig verbannt werden musste, um niemandem zu schaden. Meine Mutter war die Einzige, die keine Angst davor hatte und jede Gelegenheit nutzen wollte, mich endlich wieder zu sehen.“

Wieder erschien ein Lächeln und Wärme erfüllte seine Brust. Die Liebe seiner Ziehmutter hatte Cayden nie vergessen und würde er auch nicht. Ihr verdankte er eigentlich sein Leben.

„In einem streng bewachten Ritual gab sie etwas von ihrem Blut in eine Schüssel, die mir überreicht wurde. Zu dem Zeitpunkt litt ich bereits an Fieber und den ersten Anzeichen von Krämpfen. Doch schon wenige Minuten nach der Einnahme waren alle Symptome verschwunden und die Vermutung bestätigt. Ab diesem Zeitpunkt durfte mich meine Mutter regelmäßig besuchen, aber sicherheitshalber musste ich noch eine ganze Weile zurückgezogen leben, bis wirklich sichergestellt werden konnte, dass ich keinen Rückfall erlitt. Insgesamt verbrachte ich zwei Jahre in Abgeschiedenheit von meinem Dorf. Erst mit siebzehn kam die Wende.“

57. Kapitel

Beim Zuhören hatte Emma sich an das Kopfteil des Bettes gelehnt. Ihre Gedanken waren mit Cayden durch die Zeit damals gewandert und sie hatte ihn gesunden und erneut leiden sehen. Zwar konnte sie sich oftmals keinen Reim auf die einzelnen Reaktionen und Ereignisse machen. Aber sie ließ ihn erzählen. Es tat ihr gut, ihm zuzuhören. Und sie glaubte ihm auch diese sehr seltsame Geschichte, die mit der Gegenwart so wenig zu tun zu haben schien.

Als er eine längere Pause einlegte, versuchte Emma sich die Situation damals vorzustellen. Ihre Stirn kräuselte sich.

„Sie haben dich wieder akzeptiert, gerade weil du menschliches Blut zum Leben brauchtest?“ Es klang so zweifelnd, wie Emma sich fühlte. Sie hätte an deren Stelle Angst vor ihm gehabt. Ein junger, kräftiger Mann, dessen Kräfte die ihren weit überstiegen, der sich nur noch in der Nacht nach draußen wagte und von menschlichem Blut zehrte. Emma hätte ihn nicht in ihr Heim gelassen. Und sie verstand jetzt auch ein wenig besser, wie es zu der Feindschaft zwischen Vampiren und Hexen hatte kommen können.

Es waren wohl hauptsächlich mangelnde Informationen gewesen. Allerdings ließ sich nicht von der Hand weisen, dass ein normaler Mensch durchaus Grund hatte, Angst vor einem Vampir zu haben.

 

„Nein, Em.“ Cayden schüttelte den Kopf und stand schließlich auf, um sich etwas zu strecken und herumzulaufen.

„Meine Mutter hat akzeptiert, was ich war und zum Leben brauchte. Gerade weil sie selbst auch an das glaubte, was ich dir vorhin schon über Blut und rohe Herzen von Tieren erzählt habe. Auch das Stammesoberhaupt war auf meiner Seite, aber die anderen im Dorf waren zu dem Zeitpunkt froh, dass ich nicht unter ihnen lebte, da sie immer noch Angst vor mir hatten. Das konnte ich akzeptieren und habe ich auch respektiert, bis zu der Nacht, als ein räuberischer Stamm in unser Dorf einfiel, Männer tötete, Frauen vergewaltigte oder verschleppte und die Kinder weinend dieser Gewalt und dem Leid aussetzte. Da konnte ich mich nicht länger an die Verbannung halten und kehrte ins Dorf zurück.“

Cayden blieb stehen, mit dem Rücken zu Emma, damit sie den Ausdruck in seinen Augen nicht sehen musste.

„Ich werde dir die Details dieser Nacht ersparen, aber Tatsache war, dass ohne mein Eingreifen das Dorf verloren gewesen wäre. Der Angriff war gut geplant und die Männer im Dorf in der Unterzahl gewesen. Sie hätten keine Chance gehabt. Sie hätten alle Männer umgebracht, die Frauen verschleppt und die Kinder sich selbst überlassen.“

In dieser Nacht hatte er zum ersten Mal einen Menschen getötet. Mehrere, wenn man es genau nahm, aber er hatte nur seinen Stamm beschützen wollen und es auch getan.

„Diese Nacht hat alles verändert. Viele hatten ihr Leben gelassen, vor allem Männer, die für die Jagd und somit für die Versorgung des Dorfes lebenswichtig waren. Niemand hatte zu dem Zeitpunkt noch meine Verbannung im Kopf. Das nackte Überleben war in diesem Augenblick alles, was zählte und ich war jede Nacht unterwegs, um dafür zu sorgen, dass keiner von ihnen verhungern musste.“

Nur langsam drehte Cayden sich wieder zu Emma herum und dann auch nur halb. Er hatte es zwar nicht direkt ausgesprochen, aber seine Erzählung ließ keinen Freiraum für Interpretationen. Er hatte getötet und sie wusste es nun.

„Ich wünsche mir noch heute, dass der Stamm nicht diesen Grund hätte erleben müssen, um mich zu akzeptieren und mich wieder in ihrer Mitte aufzunehmen, sondern es eine andere Möglichkeit hätte geben sollen.“

 

Oh Mann. Das war wirklich alles ganz schön harter Stoff. Emma konnte es weder wirklich glauben, noch kam es tatsächlich bei ihr an, dass Cayden da von sich selbst erzählte. Nicht von etwas, das er einmal gelesen oder im Fernsehen gesehen hatte. Nein, er erzählte ihr hier unheimlich wichtige Dinge aus seinem Leben. Szenen und Erlebnisse, die ihn geprägt hatten. Seinen Charakter und sein Ich.

Sie konnte kaum verstehen, was das bedeutete. Vor allem, weil es weder in ihre Zeit, noch in ihre Vorstellung von Kindheit passte. Wollte sie gerade deshalb so viel darüber wissen?

Emma merkte durchaus, dass Cayden angespannter war, als noch zu Beginn seiner Erzählung. Andererseits hatte er sich ihr noch nie so sehr geöffnet. Sie wollte gern mehr erfahren. Aber auf der anderen Seite wollte sie auch nicht, dass sie Salz in alte Wunden streute. Deshalb überlegte sie länger, sah aus dem Fenster in den tristen Tag hinaus und antwortete dann sehr bedächtig.

„Es ist wirklich furchtbar, dass das Ganze so verlaufen ist. Es muss dich ... sehr gequält haben. Die Veränderungen, die Gefahr, von der du bestimmt auch dachtest, dass du sie für deinen Stamm darstellst? Der Überfall ...“

Emma brach ab und sah zu Cayden hinüber, der immer noch neben dem Bett stand.

„Ist denn ... alles zu einem guten Ende gekommen?“

 

Cayden gab Emma den Freiraum, um über seine Worte nachzudenken. Es musste hart für sie sein, so etwas zu hören, aber andererseits fühlte es sich für ihn befreiend an. Noch nie hatte er mit jemandem darüber sprechen können, und dass gerade Emma diese Person war, bei der er es nun konnte, erleichterte ihn enorm. Trotzdem blieb er vorsichtig, vor allem, was ihre weiteren Fragen anging.

Bevor Cayden antwortete, ging er zu dem Ficusbäumchen hinüber und strich über ein paar der Blätter. Wie gut seine Putzfrau war, erkannte man daran, dass kein einziges Staubkorn darauf zu finden war, also ließ er die Pflanze, Pflanze sein und drehte sich vollends zu Emma herum, um wieder zum Bett zurückzukehren und sich darauf niederzulassen.

„Zu diesem Zeitpunkt nach dem Überfall hatte ich keine Zeit mehr, um zu viel über mich selbst nachzudenken. Das Überleben meines Stammes stand über allem anderen und ich trug, soviel ich konnte, dazu bei. Es war anfangs hart, aber er hat sich wieder erholt, und als der Zeitpunkt kam, an dem wir auch wieder feiern konnten, nahm man mich wieder im Dorf auf. Nicht als der ungewöhnliche Junge, der ich gewesen war, sondern als ein Mann und den Beschützer des Stammes. Das gute Omen, das man am Anfang in mir gesehen hatte, erfüllte sich letztendlich, und obwohl ich von ihnen nie wie ein normaler Mensch behandelt worden bin, war es doch ein gutes Leben.“

Cayden lächelte nur leicht, während er die unzähligen Linien auf seiner Haut betrachtete.

„Statt der Angst brachte man mir nun Respekt entgegen, denn der Stamm wurde dank meiner Hilfe viele Jahrzehnte lang nicht mehr von außen angegriffen und konnte somit blühen und gedeihen.“

Die Geschichte war auf seiner Haut verewigt, aber nicht alles war in Bildern dargestellt und Cayden wusste nicht, ob er Emma auch das erzählen sollte, was zwischen den 'Zeilen' stand.

„Dann ... ist also alles gut ausgegangen?“, fragte Emma mit einem Quäntchen Hoffnung in der Stimme. Der Stamm hatte ihn wieder aufgenommen, er war bei seiner Familie wieder willkommen gewesen.

Ein Schatten flog über Emmas Züge, als sie die Geschichte weiter dachte und dann Cayden ins Gesicht blickte. Einem Mann, der aussah wie Anfang dreißig, aber soviel älter war. Irgendwann musste auch den Mitgliedern seines Stammes aufgefallen sein, dass er nicht alterte.

„Wie ging es weiter? Was ist ... letztendlich aus dem Stamm geworden?“

Er war ausgestorben, wie Cayden gesagt hatte. So, wie es vielen Naturvölkern ergangen war.

„Ich meine, du hast ja gesagt, dass es ihn nicht mehr gibt. Aber ... wie ging es für dich weiter? Ging ... das Leben einfach weiter?“

 

Cayden dachte eine Weile nach, dann blickte er von seinen Armen hoch direkt in Emmas fragende Augen. Er konnte nichts Negatives darin entdecken. Kein Urteil, nur Interesse an seinem Leben.

„Das sind schwierige Fragen, Em. Nicht, weil ich nicht darüber sprechen möchte, sondern weil es Dinge gibt, die du vielleicht gar nicht wissen möchtest.“ Zum Beispiel, dass er eine Frau gehabt hatte und Söhne.

Er zögerte. „Ich bin wirklich froh, dass ich so offen mit dir darüber reden kann und es muss dir alles ziemlich unwirklich vorkommen. Aber das war damals auch ein anderes Leben und vielleicht fällt es dir leichter, wenn du es ebenfalls so siehst. Natürlich ist es ein Teil meiner Vergangenheit, aber es liegen eben auch Jahrhunderte zwischen dem Leben, das ich jetzt führe.“

 

Emma überlegte kurz, was er damit meinen könnte. Doch dann dämmerte ihr, was es vielleicht sein könnte und sie nickte langsam. Es gab bestimmt Dinge, die sie nicht wissen wollte. Menschen aus seinen früheren Leben. Frauen und Kinder. Beziehungen, die ihre nicht mehr gefährden konnten und doch wie verflossene Lieben an ihr haften würden.

„Weißt du ... vielleicht hast du recht.“

Sie sah ihm in die Augen und lächelte sanft. „Vielleicht gibt es Dinge, die ich lieber nicht wissen möchte. Dinge, die ich vielleicht zunächst nicht als Vergangenheit akzeptieren kann. Aber ich hoffe, dass ich sie nur jetzt noch nicht wissen möchte.“ Das war alles noch so frisch und kam Emma so zerbrechlich vor, dass sie es nicht gefährden wollte. Die Beziehung zu Cayden und auch ihr Verhältnis als Personen, das langsam immer besser wurde.

„Erzähl mir die jugendfreie Version und irgendwann ... will ich alles erfahren.“

 

Emma brachte ihn mit ihrer umsichtigen Antwort ebenfalls zum Lächeln. Sie hatte ihm eine Möglichkeit gegeben, nicht gleich mit allen erschlagenden Details ihre Beziehung zu strapazieren und dennoch offen zu ihr zu sein. Cayden würde versuchen, sich daran zu halten und dass Emma ihm dabei half, entspannte ihn wieder etwas.

„Gut, ich werde es versuchen.“ Er ließ sich mit dem Rücken auf die Matratze fallen und betrachtete die Zimmerdecke, während er wieder in seine Vergangenheit abtauchte.

„Ich habe sehr lange unter ihnen gelebt, mit ihnen gejagt, gelacht und gefeiert. Die Jahre flogen nur so dahin und worüber ich mir anfangs überhaupt keine Gedanken machte, wurde mit der Zeit immer … erdrückender.“

Cayden schloss für einen Moment die Augen und atmete ruhig weiter. Es war ein anderes Leben gewesen und er hatte schon lange damit abgeschlossen. Dennoch musste er immer wieder nachprüfen, ob das auch wirklich stimmte und auch jetzt war dem so, also fuhr er in ruhigem Tonfall fort: „Da mich ohnehin alle für außergewöhnlich hielten, war es für sie irgendwie gar keine so große Überraschung, dass ich auch nicht ihren Maßstäben nach alterte. Anfangs denkt man darüber auch nicht nach, sondern erfreut sich an der Kraft der Jugend. Aber es kommt im Leben eines jeden Vampirs irgendwann einmal die Zeit, in der dieses anfängliche Glück einen immer bittereren Beigeschmack bekommt. Zuzusehen, wie jeder den du kennst und den du in dein Herz geschlossen hast, älter wird, von Krankheiten und Gebrechen gebeugt wird und schließlich stirbt, ist ein Gefühl, das ich niemandem wünsche. Vor allem, wenn man sich selbst überhaupt nicht verändert und man absolut machtlos gegenüber dem Lauf der Dinge ist.“

Er seufzte schwer.

„Vor allem, wenn man im Nachhinein feststellen muss, dass es doch eine Möglichkeit gegeben hätte, die Dinge zu beeinflussen, selbst wenn der Tod zum Leben nun einmal dazugehört.“

Das klang bitter, weshalb er sofort weitersprach, um sich nicht länger damit beschäftigen zu müssen.

„Auf jeden Fall konnte ich es nach mehreren Generationen nicht mehr ertragen, ihnen beim Altern und Sterben zuzusehen. Ich habe meinen Stamm immer beschützt und tat das auch weiterhin so gut ich konnte, aber ich suchte selbst die Abgeschiedenheit des Dschungels. Es kamen zwar immer noch Leute aus dem Dorf zu mir, um mir für meinen Schutz in Form von Blutgaben zu danken, aber ich musste sie nicht mehr näher kennenlernen und das war auf Dauer gesehen Segen und Fluch zugleich.“

Cayden rollte sich auf den Bauch und begann mit dem Zeigefinger kreise in die Bettdecke zu zeichnen, da es leichter war, sich darauf zu konzentrieren, als Emma dabei anzusehen.

„Da mich die Menschen nicht mehr so oft zu sehen bekamen, sprach man mir im Laufe der Jahre einen immer höheren Status zu, obwohl ich das selbst gar nicht wollte. Aber die Menschen glauben nun einmal sehr leicht an etwas, wenn es ihnen Trost gibt und in ihrem Leben weiter hilft. Und wo ein Glaube ist, gibt es auch immer welche, die ihn anfechten. Als ein neues Stammesoberhaupt gewählt wurde, begann sich alles zu verändern. Zuerst waren es nur Kleinigkeiten. Die Besuche wurden weniger und er hat mir auch mehrmals dazu angeraten, keine Beutetiere mehr im Dorf vorbeizubringen, da mein Erscheinen die Leute verunsichert. Zwietracht wurde gesät und immer weiter angefacht, bis der Mann mir vorwarf, ich würde mich eines Götterstatus' rühmen und mich zugleich als falschen Gott entlarvte.“

Nun entkam ihm ein fast schon empörtes Schnauben. Er und ein Gott? Niemals.

„Du kannst dir die darauffolgenden Unruhen nicht vorstellen. Ich war gezwungen mich noch weiter von dem Dorf und meinem Stamm zu entfernen, um die Situation nicht eskalieren zu lassen. Schließlich wird meine Spezies zwar sehr alt, aber ich bin nicht unsterblich. Man kann uns töten und man hat es auch versucht. Mein eigener Stamm!“

Wieder musste er für einen Moment schweigen, um sich wieder zu fangen. Sein Gedächtnis war einfach zu gut, um sich nicht haargenau an jedes Detail und Gefühl erinnern zu können.

„Letztendlich blieb ich monatelang fort, ernährte mich von Tieren, und obwohl ich nicht besonders Stolz darauf bin, habe ich mich auch ab und an bei vorbeiziehenden Jägertrupps gestärkt, wenn sie schliefen. Aber irgendwann hat es mich doch wieder zu meinem Stamm zurückgezogen. Als ich allerdings dort ankam, musste ich feststellen, dass sie bereits dem Tode geweiht waren. Ohne meinen Schutz waren Fremde ins Dorf gekommen. Keine Mitglieder eines anderen Stammes sondern Fremde von viel weiter her und mit ihnen waren unbekannte Krankheiten ins Dorf gelangt, die jede einzelne Seele langsam dahinraffte.“

Kurz vergrub Cayden sein Gesicht in seinen Händen, ehe er wieder hochsah und tief Luft holte, als würde er gerade von einem weiten Tauchgang zurückkehren.

„Es hat lange gedauert, bis ich mit den Schuldgefühlen klarkam. Aber inzwischen habe ich sie überwunden, und obwohl ich damals noch anders dachte, so bin ich mir heute sicher, dass es ohnehin unvermeidlich gewesen wäre.“

 

Emma hatte sich noch weiter zusammen gekauert, während sie Cayden zuhörte. Die Geschichte wandte sich zum Tragischen und war schließlich zu Ende, bevor Emma es erwartet hatte. Sie blickte eine Weile ins Leere, um dann wieder zu Cayden zu sehen.

Sie wusste nicht genau, was sie jetzt sagen oder tun sollte. Eigentlich waren keine Worte genug für das, was Cayden ihr gerade offenbart hatte. Und schon gar nicht dafür ... dass Emma ihm glaubte. Natürlich war es eine merkwürdige Geschichte, die so weit in der Vergangenheit spielte, dass Emma sich und ihre eigene Welt nicht damit verbinden konnte. Jeder andere hätte sich diese reißerische Story ausdenken und ihr alles vorlügen können. Aber ... so dumm es klang, Emma glaubte Cayden.

Deshalb legte sie sich auch so neben ihn, dass sie ihre Arme um ihn schlingen konnte und trotzdem nicht das Frühstück vom Bett warf. Sie drückte ihn einmal fest und legte dann ihre Wange an seine Schulter, während sie mit der Hand über seinen Rücken streichelte.

 

Cayden hing mit den Gedanken noch zum Teil in seinen Erinnerungen fest, ehe Emma ihm unverhofft so nahe kam, dass plötzlich nur noch der Augenblick zählte.

Er schätzte ihre wortlose Geste und dass sie ihm überhaupt so aufmerksam zugehört hatte. Er hätte das eigentlich nicht erwartet. Also, nicht dass er Emma das nicht zugetraut hätte, sondern viel mehr ging es ihm um die Gesamtsituation, und dass er hatte so offen sein können, wie noch nie bei einem Menschen.

„Ach, Em …“, seufzte er leise und drehte sich ein Stück zu ihr herum, sodass er ihr Gesicht berühren und ihr tief in die Augen sehen konnte.

Wie kam es nur, dass er sich bei ihr so wohl fühlte, obwohl er zugleich auch immer wieder das Gefühl von Nervosität im Bauch hatte? So wie in diesem Augenblick, als sie sich so nahe waren?

Und es wurde stärker, als er sich ihr weiter näherte. Zuerst streifte sein Daumen sanft ihre Wange, ehe er einen zarten Kuss darauf hauchte. Ein weiterer folgte auf der anderen Seite, ehe seine Lippen endlich einmal wieder richtig ihren Mund berührten.

Seine Brille störte zwar etwas dabei und später würde er auf jeden Fall auf seine Kontaktlinsen umsteigen, aber in diesem Moment genoss er einfach nur die zarte Berührung und das immer wärmer werdende Gefühl in seiner Brust. Ebenso wie die Schmetterlinge in seinem Bauch.

 

Eine Weile lächelte sie verlegen.

Sie waren sich einfach schon lange nicht mehr bewusst so nahe gekommen. Mit Cayden hier auf seinem Bett zu liegen, über die Vergangenheit zu sprechen und sich in den Armen zu halten war ... neu. Emma kicherte sogar ein bisschen nervös vor sich hin, bevor sie Caydens sanften Kuss erwiderte und dabei aber nicht aufhörte, seinen Rücken zu streicheln.

Nach einer Weile legte sie sich entspannt neben ihn, zeichnete Kreise und andere Formen mit dem Finger auf seinen Rücken und sah ihn überlegend an.

„Es muss ziemlich viele solcher Geschichten aus deinem Leben geben“, überlegte sie laut. Ja, es war wohl so, dass Cayden bestimmt Tage, wenn nicht sogar Wochen mit Erlebnissen seiner Jugend und Kindheit füllen konnte. Alle gleich weit entfernt von der Gegenwart und ziemlich abenteuerlich. Es machte ihn noch interessanter, als er ohnehin schon war und Emma überlegte sich viele Szenen, die sie gern im Verlauf der Weltgeschichte mit ihm erlebt hätte.

„Sag mal, wann hast du eigentlich herausgefunden, was du wirklich bist? Hat dich eine Hexe in einen Zauber gesperrt oder war die Erfahrung ... etwas sanfter?“ Sie knuffte ihn leicht und zwinkerte Cayden zu.

 

Auf ihren Knuff hin zuckte er leicht zusammen, da er eben auch kitzlig war, wenn er es zuließ. Außerdem zauberte sie ihm damit wieder ein Lächeln auf die Lippen und er machte es sich neben Emma gemütlich, während seine Hand eine Strähne ihres Haares einfing und sie immer wieder durch seine Finger laufen ließ.

„Ich weiß nicht mehr genau, in welchem Jahr es passiert ist, aber als ich meinem ersten Artgenossen begegnet bin, befand ich mich schon weit weg vom Dschungel. Auch zeitlich gesehen.“

Cayden versuchte sich an Einzelheiten zu erinnern, aber die Begegnung war nur flüchtig gewesen.

„Es war eigentlich ziemlich unspektakulär und passierte irgendwann nachts auf offener Straße in einem kleinen Dorf. Ich hatte nicht damit gerechnet und er ebenfalls nicht. Aber wir erkennen unsere Art immer. Es hat wohl auch etwas mit unseren Instinkten zu tun und der Tatsache, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen. Zum Beispiel schwitzen wir im Normalfall nicht. Menschen schon und zu der Zeit damals hatte es natürlich noch keine Deodorants gegeben, also war das schon einmal ein sehr deutliches Merkmal. Selbst frisch gewaschen riechen Menschen anders als wir.“

Er sagte das ganz nüchtern und nicht irgendwie negativ behaftet, immerhin mochte er gerade Emmas Duft auch so gerne an ihr.

„Nun ja und da standen wir nun. Er auf der einen, ich auf der anderen Seite der Straße und starrten uns einfach an. Ich ihn, weil ich verblüfft und zugleich neugierig war, jemand anderen wie mich zu sehen und der andere mich, weil er meine Reaktion vermutlich nicht genau zuordnen konnte. Ich denke, er war wesentlich jünger als ich und normalerweise sind junge Vampire immer vorsichtig, wenn sie sich in der Nähe eines älteren befinden. Zumindest diejenigen, die erst wenige Jahrzehnte alt sind. Leider war das wohl auch der Grund, wieso er geflüchtet ist, als ich einen Schritt auf ihn zu trat.“

Cayden zuckte mit den Schultern. Es war wirklich keine große Sache gewesen.

„Aber dank dieser Begegnung wusste ich wenigstens, dass ich nicht alleine war und es auch noch andere wie mich gab. Das Wort Vampir gab es damals ohnehin noch nicht. Die Menschen nannten uns anders und mit Nachforschungen habe ich ganz alleine im Laufe der Zeit Wissenswertes über meine Spezies sammeln können. Aus dieser einen Begegnung wurden dann andere und zum Teil auch so etwas wie flüchtige Freundschaften, aber ich merkte schnell, dass ich mich unter Menschen wohler fühle. Vermutlich, weil ich von ihnen großgezogen worden bin.“

 

„Wahrscheinlich ist es nicht einfach, über Jahrhunderte hinweg Freunde zu bleiben ...“, überlegte Emma laut weiter. „Aber ist es nicht einfacher, sich jemanden als Freund zu suchen, der einem gleicht? Man muss keine Geheimnisse haben, kann so sein, wie man nun einmal ist.“

Sie neigte den Kopf zur Seite und sah Cayden nun doch sehr neugierig an.

„Hast du Freunde, die Vampire sind? Auch ... heute noch?“

Emma hatte Cayden noch nie wirklich in viel Gesellschaft gesehen. Einmal von ein paar Leuten abgesehen, die ein paar private Sätze mit ihm gewechselt hatten – auf irgendwelchen Veranstaltungen. Ob irgendjemand, den sie kannte, auch ein Vampir war?

 

„Nicht einmal eine Hand voll, aber es kommt ohnehin nicht auf die Anzahl an, sondern wie das Verhältnis zu diesen Freunden ist“, erklärte er ihr ruhig und schloss eine Weile wohlig die Augen. Das hier war wirklich schön.

„Zweien von ihnen bist du schon begegnet. Lia ist eine sehr alte Freundin. Du kannst dich sicher noch an meine Gegenbieterin bei der Spendengala erinnern. Und Adam, der ein paar Mal im Büro aufgetaucht ist. Ihn kenne ich noch nicht besonders gut, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass er kein schlechter … ähm … Vampir ist.“

Er musste kurz grinsen, ehe seine Gedanken umschlugen und ernst wurden.

„Leider gibt es auch welche, die anderes als Freundschaft im Sinn haben und gerade bei Vampiren kann sich das sehr lange hinziehen. Tasken ist so ein Fall. Ich würde ihm besser raten, nicht noch einmal einen Handlanger in mein Büro zu schicken, immerhin habe ich jetzt als Verstärkung eine Hexe an meiner Seite.“

Cayden sah sie wieder an, schlang seinen Arm um Emma und zog sie weiter zu sich.

„Deine Falle beeindruckt mich immer noch. Ich hatte ganz schön zu kämpfen.“

 

„Oh ja, wie könnte man diese Frau vergessen?“

In zwei Worten: Gar nicht! Liasana war eine sehr spezielle Erscheinung, die einmal betrachtet auf jeden Fall bei jedem hängen blieb. Außer man war vielleicht noch perfekter als die Frau selbst. Und Emma bezweifelte, dass so etwas möglich war.

„Und sie ist eine Vampirin? Wirklich? Sie sieht nicht so aus, wie ich mir eine vorgestellt hätte ...“ Emma grübelte. Wie hatte sie sich denn einen weiblichen Vampir vorgestellt. Wahrscheinlich eher wie die Hauptdarstellerin aus diesem Film. Wie hieß er gleich? Na, egal. Jedenfalls stark und dynamisch. Liasana allerdings wirkte auf den ersten Blick wie eine Elfe. Nicht von dieser Welt und unglaublich ... zerbrechlich. Wie wertvolles Porzellan.

Adam hingegen ...

„Und dieser Adam?“ Emma lachte leise und erinnerte sich an den Eindruck, den der Mann bei ihr hinterlassen hatte. „Ich denke, du hast recht. Böses kann er nicht im Schilde führen, wenn er sogar zu schusselig ist, um zwei gleichfarbige Socken anzuziehen, bevor er das Haus verlässt.“

Als Cayden auf den ungebetenen Besucher und ihre Falle zu sprechen kam, spannte sich Emma unwillkürlich an. „Es tut mir leid“, sagte sie leise.

„Hätte ich damals schon gewusst ...“ Sie brach ab und lächelte entschuldigend. „Du hast Glück, dass du schon so steinalt bist und überhaupt nicht danach aussiehst. Hätte ich das gewusst, hätte ich etwas mehr Ernsthaftigkeit hinter die Sache gelegt.“

Sie scherzte. Allerdings nur halbherzig. Emma war sich durchaus darüber im Klaren, was sie für Schaden anrichten konnte. Wenn sie auch ihre ... Obergrenze noch nie ausgetestet hatte.

 

„Adam leidet vermutlich unter Amnesie. Da würde mich seine Schusseligkeit nicht besonders wundern“, verteidigte Cayden den anderen Vampir schwach, da es eigentlich nicht nötig war. Emmas Worte hatten nicht böse geklungen. Bei ihren nächsten allerdings, betrachtete er sie eingehend und berührte sanft ihre Wange, als sie sich mit einem Lächeln entschuldigte.

„Das würde allerdings voraussetzen, dass du es auf mich abgesehen hattest und nicht auf diesen Handlanger und ich denke, dass das absolut nicht der Fall war.“ Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie das alles sonst ausgegangen wäre.

„Ich hoffe trotzdem, dass du diese Art der Ernsthaftigkeit nie bei mir anwenden wirst.“ Sein Daumen strich zart über ihre Unterlippe, eher unbewusst als wirklich absichtlich, aber sein Blick folgte der Bewegung aufmerksam.

„Immerhin bin ich in all den Jahrhunderten nie an eine Hexe geraten, die mir Böses wollte und ich möchte, dass das auch weiterhin so bleibt. Denn auch wenn ich den Hass zwischen unseren beiden Arten verstehen kann, hege ich nicht diese Gefühle dir oder anderen Hexen gegenüber. Ihr habt mir nie etwas getan und für mich ist das Grund genug, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, nur weil die Feindschaft schon so lange zwischen uns währt.“

Cayden ließ seine Hand in ihren Nacken gleiten, wo sein Daumen sie mit kleinen, kreisenden Bewegungen streichelte, während er ihr aufrichtig in die Augen sah.

„Bei Adam solltest du allerdings vorsichtig sein. Ich denke, er hat allen Grund dazu, Hexen zu hassen, der Geschichte nach zu urteilen, welche die Narben in seinem Gesicht erzählen.“

 

„Wirklich?“

Emma erinnerte sich an die Narben. Wie hätte sie diese auch vergessen können? Es war das Merkmal, das einem an dem ansonsten doch recht attraktiven Mann sofort negativ ins Auge stach.

„Weißt du denn, was ihm passiert ist?“ Wusste er es denn selbst?

„Und was meinst du damit, dass er Amnesie hat? Er sah nicht ... unsicher aus, was sein Erinnerungsvermögen angeht.“

Emma war nun wirklich neugierig geworden. Nicht nur allein deshalb, weil Adam ein auffälliger Typ war, sondern auch, weil Cayden wohl mehr von ihm wusste. Und weil es mit Hexen und deren Vergangenheit mit Vampiren zu tun hatte. Leider kannte sich Emma bei diesem Thema wenig bis überhaupt nicht aus. Sie hatte nur Geschichten gehört und ein paar Texte gelesen. Aber viele Gedanken hatte sie sich trotzdem nie dazu gemacht. Warum auch?

 

„Nein, und er selbst weiß es auch nicht. Er kann sich nur an die letzten 60 Jahre seines Lebens erinnern. Grobgeschätzt. Aber er muss um einiges älter sein.“ Nicht so alt wie Cayden, aber ein paar Jahrhunderte würde er Adam auf jeden Fall zutrauen.

Bei dem Gedanken fiel ihm plötzlich wieder ein, dass er Lia schon längst hätte benachrichtigen sollen, um sie zu fragen, ob sie einem Treffen mit Adam zustimmen wollte. Wie hatte er das nur vergessen können?

Cayden nahm es sich so bald wie möglich vor. Wenn möglich sogar noch heute. Doch im Augenblick war Emma bei ihm und darum gab es im Moment nichts Wichtigeres.

„Ich habe solche Narben aber schon einmal gesehen“, erzählte er weiter. „Solche und auch andere. Sie entstehen nicht einfach durch gewöhnliche Verletzungen, da die normalerweise narbenlos abheilen. Meist ist bei ihnen Magie im Spiel.“ Was bedeutete, dass dafür hauptsächlich Hexen verantwortlich gewesen waren und es vielleicht heute auch noch sind.

 

„Das heißt, dass Hexen ihm diese Verletzungen angetan haben müssen?“

Emma schluckte hart und ein schwerer Klumpen bildete sich in ihrer Magengegend. Sie wollte gar nicht darüber nachdenken, was genau Adam widerfahren sein konnte, um solche Narben zu hinterlassen.

„Die Narben könnten für seine Amnesie verantwortlich sein, oder?“

Eine Art Schock, der dafür gesorgt hatte, dass sein Gehirn das Erlebte verdrängte. Und eben auch alles, was davor passiert war. Emma hatte schon einmal von so etwas gehört. Aber ob es wirklich möglich war – noch dazu bei einem Vampir – wusste sie nicht.

Sie drehte sich so, dass sie sich seitlich an Cayden kuscheln konnte, und nahm sich ihre Tasse vom Frühstückstablett.

 

„Es müssen nicht unweigerlich Hexen gewesen sein, aber der Erfahrung nach, ja.“ Cayden wollte hier niemandem den schwarzen Peter zuschieben, aber es ließ sich nun einmal nicht leugnen, dass Hexen und Vampire sich in der Vergangenheit noch sehr viel Schlimmeres angetan hatten, als sich gegenseitig zu töten.

„Für die Amnesie müssen nicht unbedingt die Narben verantwortlich sein. Das kann vieles auslösen, auch bei Vampiren. Wir sind zwar hart im Nehmen, aber auch uns kann man brechen. Vielleicht handelt es sich dabei aber auch um einen Zauber. Ich weiß es wirklich nicht.“ Und Cayden war auch ganz froh darüber, dass er am eigenen Leib nicht mehr darüber hatte erfahren müssen.

Nachdem Emma sich ihre Tasse geholt hatte, griff er über sie, um sich auch noch eine Apfelspalte vom Tablett zu stibitzen.

Er kaute nachdenklich darauf herum, bis er Emma das Endergebnis seiner Gedanken mitteilte. „Ich bin froh, dass diese Zeiten vorbei zu sein scheinen, oder zumindest im Wandel sind.“

 

Emma nahm einen Schluck, bevor sie zu ihm hochsah und dann antwortete: „Ja, da hast du recht. Ich muss zwar zugeben, dass ich nicht viel über die gemeinsame Vergangenheit von Hexen und Vampiren weiß. Aber ich bin nicht so blauäugig, zu glauben, dass es nicht sogar schlimmer gewesen sein kann, als die Geschichten erzählen.“

Emma schüttelte sich ein bisschen. „Schon allein die Vorstellung, was Unwissen und Angst alles anrichten können, ist schrecklich. Zum Glück scheint das angeblich aufgeklärte Zeitalter an manchen Stellen zu tun, was es verspricht.“

Nun nahm auch Emma sich etwas zu essen, rollte einen mit Marmelade bestrichenen Pancake zusammen und kaute langsam, während sie nachdachte.

„Schon merkwürdig, dass sich so viel verändern kann“, meinte sie dann leise. „Eigentlich ist das wie ein kitschiger Kinofilm. Ein Vampir und eine Hexe ...“

 

Emmas Vergleich mit dem Kinofilm brachte ihn zum Lächeln und doch rührte es auch etwas in ihm.

Cayden beobachtete sie genau, wie sie langsam den Pfannkuchen aß und ihre Gedanken wanderten. Er hätte ihr stundenlang dabei zusehen oder sich so mit ihr unterhalten können. Es fühlte sich gut an, trotz der schwerwiegenden Themen, aber er hatte auch so stark diese Nähe zwischen ihnen vermisst.

„Ich hoffe … der Film hat ein gutes Ende …“, flüsterte er sanft, während er seinen Kopf auf seiner Hand abstützte, um es sich bei seiner Betrachtung etwas gemütlicher zu machen. Dabei strichen die Finger seiner anderen Hand zart von Emmas Nacken ausgehend ihre Wirbelsäule entlang und blieben dann in der Mulde, die ihr Rücken und Po bildeten, liegen.

„Das Angebot mit dem Bad steht noch, wenn du willst. Ich weiß mich inzwischen selbst zu beschäftigen. Keine Sorge.“ Er wollte Emma nur etwas Gutes tun.

 

Sie drehte sich herum und setzte einen gespielt entsetzten Gesichtsausdruck auf. „Aber natürlich geht es gut aus. Es ist doch ein Film!“ Sie musste lachen.

Die Finger, die ihren Rücken entlang glitten, verursachten Emma eine Gänsehaut. Allerdings eine der guten Sorte und sie überlegte ernsthaft, ob sie Cayden nicht einfach zu dem Schaumbad mit einladen sollte. Zumal sie sich schon vorstellen konnte, wie er sich „selbst beschäftigen“ würde, wenn sie es nicht tat.

„Hast du vor, dich hinter einem Berg von Akten zu verschanzen?“ Dann würde sie eher nicht in die Wanne steigen, sondern ihn eher davon abhalten.

„Lass uns erst dein wunderbar hergerichtetes Frühstück beenden, dann überlegen, was wir heute tun möchten und dann bleibt immer noch Zeit zu entscheiden, ob ich mich oder wir uns in die Fluten stürzen.“

 

Sie zog tatsächlich in Betracht, mit ihm gemeinsam zu baden?

Cayden verdrängte den Gedanken besser wieder. Er glaubte im Augenblick nicht daran, dass sie schon so weit waren, aber wer wusste schon, was das Wochenende noch so alles mit sich brachte.

„Nein, keine Arbeit dieses Wochenende. Das verspreche ich dir. Aber ich muss gestehen, ich bin schon ziemlich satt.“ Außer man zählte den Hunger nach anderen Dingen dazu, aber er sprach den Gedanken natürlich nicht aus.

„Wir sollten also schon einmal mit den Überlegungen anfangen.“ Er grinste Emma glücklich an.

 

„Du meinst, was wir heute machen könnten?“

Emma blickte zum Fenster hinaus in den Regen, der keinen Deut weniger geworden war, seit Cayden sie sanft geweckt hatte.

Was konnte man denn an so einem Tag machen? Vor allem, wenn 'rausgehen' nicht unbedingt zum gewünschten Rahmen passte. Normalerweise hätte Emma sich mit einem Film, viel Tee oder einem Buch und Tee auf die Couch geworfen und den Tag verbummelt. Aber mit Cayden ... Sie sah ihn an und konnte sich einfach nicht vorstellen, dass er so überhaupt nichts tun konnte. Irgendwie schien er sowieso immer aktiv und in Bewegung zu sein.

Emma konnte sich noch vorstellen, mit ihm ins Hallenbad schwimmen zu gehen. Aber dort konnte es ihnen wieder passieren, dass irgendjemand Cayden erkannte und ihn dumm von der Seite anredete. Nun kam Emma wirklich ins Grübeln.

„Du hast nicht zufällig einen eigenen Pool auf dem Dach, oder?“, meinte sie scherzhaft.

 

Cayden ließ Emma in Ruhe grübeln. Sie hatte sicher besser Vorschläge vorzubringen als er, der schon so lange nichts mehr aus reinem Vergnügen am Wochenende getan hatte. Zumindest nicht zu zweit.

Als Emma ihm jedoch mit dieser merkwürdigen Frage kam, die mehr scherzhaft als ernstzunehmen war, musste er kurz lachen.

„Nein, soweit bin ich dann doch nicht gekommen.“ Er strich ihr vergnügt durchs Haar. „Aber ich hätte da eine Idee.“

Wenn Emma baden gehen wollte, dann würde er dafür sorgen, dass sie das auch ungestört tun konnten. Oder so gut wie ungestört.

„Warst du schon einmal im Museum Art Hotel? Nein? Dann wird es Zeit. Die haben einen sehr schönen Innenpool.“ Sie mussten nur noch bei Emma vorbeifahren, um ihre Badesachen abzuholen.

58. Kapitel

Etwa zwei Stunden später stand Emma in der Umkleidekabine des Schwimmbads im Hotel und sah an sich hinunter. Es half auch nichts, sich das Handtuch um die Hüften zu wickeln, oder es strategisch vor dem Bauch zu tragen ...

Emma seufzte.

Bei ihrer Figur konnte man noch nicht einmal sagen, ob sie schwanger war oder in letzter Zeit nur zu tief ins Keksglas geschaut hatte. Jedenfalls hätte sie die Sache mit dem Schwimmen am liebsten wieder abgeblasen, wenn sie so an Cayden dachte, der durchtrainiert und sexy neben ihr irgendwie ... merkwürdig aussehen musste.

Noch einmal betrachtete Emma ihr Körperprofil im Spiegel, zog den Bauch ein bisschen ein und ließ dann die Luft wieder heraus und lachte ihr Spiegelbild an.

Ach, was soll’s.

Schließlich warf sie sich das Handtuch über die Schulter, schnappte sich ihre Tasche und ging so gelassen, wie sie es eben hinbekam, zum Pool und suchte sich eine Liege, auf die sie ihre Sachen legen konnte.

 

Cayden wäre es im Nachhinein betrachtet lieber gewesen, abends schwimmen zu gehen. Denn dann hätte er keine Kontaktlinsen gebraucht, auf die er nun im Wasser aufpassen musste, um sie nicht zu verlieren. Was kein Problem sein dürfte, solange er unter Wasser die Augen geschlossen hielt, dennoch schränkte ihn das etwas ein, aber er hoffte, dass Emma ihn ohnehin auf andere Gedanken brachte.

Er kam erst nach ihr aus der Umkleidekabine, da er sich erst um seine Kontaktlinsen gekümmert hatte, und legte sein Handtuch auf der Liege ab, die direkt neben der ihren stand.

Cayden konnte dabei nicht verhindern, dass sein Blick flüchtig, aber mehrmals an Emma auf und ab glitt, während er so tat, als müsse er sein Handtuch perfekt auf der Liege ausbreiten.

Sie hatte sich verändert. Nicht sehr, aber er erkannte es sofort.

Ihre volleren Brüste ließen sein Herz schneller schlagen und der weiche Schwung ihrer Hüften regte zum Berühren an. Der dunkelblaue Badeanzug stand ihr ausgesprochen gut und passte farblich zu seiner eigenen Badehose, die schon fast ins Schwarze überging.

In diesem Moment musste er sich ausgesprochen beherrschen, damit sein Puls auf einem normalen Level blieb.

„Wollen wir uns ein bisschen abkühlen?“, fragte er hoffnungsvoll, während er Emmas Hand nahm und sie warm anlächelte.

 

„Okay.“

Abkühlen war eine sehr gute Idee. Vor allem, wenn man wusste, dass Emma gerade bei Caydens Anblick Mühe gehabt hatte, auch nur dieses einzelne Wort über die Lippen zu bringen.

Herr im Himmel, war das vielleicht ein Sahneschnittchen! Und noch dazu ... irgendwie ... ihr Sahneschnittchen.

Emma sah sich einmal vorsichtig um, als würde sie versteckte Kameras erwarten, die schließlich auf den Irrtum hinwiesen, der das hier erklären musste. Aber da war nichts. Also fasste Emma Caydens Hand fester und sah überall hin, bloß nicht zu ihm, um nicht auch noch rot zu werden.

Das Wasser war wie zu erwarten kühl und nass. Emma stieg die kleine Treppe hinunter, bis ihr das Wasser bis an die Oberschenkel reichte, dann zog sie automatisch den Bauch ein, schlang die Arme um den Oberkörper und machte einen weiteren Schritt, bevor sie die Augen zukniff und sich einmal schüttelte.

„Kalt“, zischte sie leise.

 

Cayden hatte immer noch ein Lächeln auf den Lippen, während er neben Emma die Treppen ins Wasser hinab stieg. Im Gegensatz zu ihr blieb er dabei nicht stehen, sondern ging so weit, bis die Treppe zu Ende war und das Wasser ihm bis über den Bauchnabel reichte.

Er würde sie auf keinen Fall drängen, da jeder seine eigene Methode hatte, um sich an das kühle Nass zu gewöhnen. Außerdem war er ein Vampir und hatte temperaturbedingt weniger Probleme als ein Mensch. Von daher machte ihm das alles nichts aus. Er war den Umständen entsprechend sogar sehr dankbar dafür, schließlich konnte er immer noch nicht seine Augen von Emma lassen.

„Es wird besser, sobald du dich bewegst“, erklärte er überflüssigerweise. Emma wusste das natürlich. Aber vielleicht musste er sie gerade daran erinnern.

Sein Lächeln wurde breiter und er ließ sich bis zum Hals ins Wasser sinken, während er sich leicht nach hinten lehnte und mit den Händen paddelte. Das hier gefiel ihm schon jetzt viel zu gut.

 

Emma kniff zweifelnd die Augen zusammen und hüpfte von einem Bein aufs andere. Wärmer wurde ihr davon aber nicht. Es dauert dafür aber etwas länger, bis sie sich endlich überwand, noch einmal tief Luft holte und dann die restlichen Stufen nach unten nahm und endgültig ins Wasser glitt. Am liebsten hätte Emma im kühlen Wasser gezappelt. Aber statt das zu tun, stieß sie sich lieber ein paar Mal mit den Füßen vom Beckenboden ab und bewegte die Arme, um das Gleichgewicht im Wasser zu halten. Dabei lächelte sie Cayden an.

„Erste Hürde gemeistert.“

Und was jetzt? Emma sah sich um und entdeckte Liegen mit Blubberdüsen, einen künstlichen Wasserfall und den Eingang zu einer Grotte, aus der wechselnd buntes Licht kam.

„Warst du schon einmal hier?“, wandte sie sich jetzt doch an ihren Begleiter. Emma vermutete, dass Cayden schon hier gewesen war, sonst hätte er nicht gewusst, dass das Hotel überhaupt einen Poolbereich hatte. Aber warum war er in seiner Heimatstadt überhaupt in einem Hotel?

 

„Nein, noch nie. Aber ich habe in irgendeinem Artikel einmal gelesen, dass es so was hier geben soll.“ Manchmal war so ein vampirisches Gedächtnis auch ziemlich praktisch, obwohl er vieles von den unnötigen Informationen einfach gerne wieder vergessen hätte.

Er kam näher, berührte Emma jedoch nicht. Stattdessen folgte er ihrem Blick und ahnte, wohin ihre Gedanken gingen. „Worauf hättest du Lust? Eine schöne Massage oder das Lichtspiel in der Grotte?“

Er selbst wüsste ja, was er tun würde, wenn er alleine wäre. Aber das war er im Augenblick nicht, und wenn er schon Zeit mit Emma verbringen konnte, wollte er sie nicht damit verschwenden, seine Bahnen zu ziehen.

Nun legte er doch eine Hand auf Emmas Seite, um sie einmal sanft zu streicheln, da er es einfach nicht sein lassen konnte und ihre Nähe regelrecht suchte.

„Und wenn dir kalt wird, darfst du dich gerne an mir wärmen. Immerhin hat es auch Vorteile, ein Vampir zu sein.“ Er flüsterte es nur, obwohl keine Leute in unmittelbarer Nähe waren, aber man konnte ja nie vorsichtig genug sein.

 

Emma lächelte und legte eine Hand auf Caydens Rücken. „Das mache ich.“

Aber bevor sie sich an ihm wärmte, wollte sie sich tatsächlich einmal die Grotte ansehen. So teuer, wie das Hotel wirkte, hatten sich die Innenarchitekten sicher Mühe gegeben.

Emma nahm Caydens Hand, zog ihn sanft hinter sich her und schwamm mit ihm zusammen in die Grotte. Eigentlich sah der kleine Raum mit der Kuppeldecke eher aus, wie ein ausgehöhlter Edelstein, der mit bunten Lichtern übersät war. Allerdings wirkte es trotz der Farben nicht überladen. Kitschig, aber noch im erträglichen Bereich.

Es roch nach Salz und Emma entdeckte ein paar Stufen, die in einem abgetrennten, kleineren Pool führten. Dort schien das Wasser wärmer zu sein und zog sie damit wie magisch an.

„Hast du Lust auf ein bisschen Faulenzen?“

 

„Da fragst du noch?“ Caydens Lächeln wurde breiter, während er Emma wieder aus dem Wasser heraus folgte, um zu dem kleineren Becken zu gehen, von dessen Wasseroberfläche sich ab und an ein paar Rauchschwaden hoch kräuselten.

Eigentlich irgendwie irrsinnig, sich zuerst das kühlere Wasser anzutun, um dann in das wärmere zu gelangen, aber es hatte dann doch irgendwie eine sinnvolle Wirkung. Immerhin waren Wechselbäder gut für den Kreislauf und die Durchblutung.

Cayden konnte sich nur flüchtig für die Lichtinstallation begeistern, da er lieber die Gelegenheit nutzte, seine Augen an Emma zu weiden, die seine Blicke so nicht bemerken würde. Gott, es war wirklich schon zu lange her, dass er sie einmal anders, als im üblichen Bürooutfit gesehen hatte.

Zum Glück war niemand sonst in dem kleinen Becken, und da es auch noch vom Hauptbecken abgeschirmt war, konnte man sich etwas der kleinen Illusion von Privatsphäre hingeben. Zumindest würde Cayden hören, wenn Leute in Anmarsch waren. Oder vielleicht auch nicht, wenn Emma ihn genug davon ablenkte.

Sie betrat vor ihm das Becken, wobei ihr die Wassertemperatur sehr viel mehr zuzusagen schien, ehe er sich ihr anschloss. Es war tatsächlich sehr viel wärmer, aber nicht zu warm, sodass man schon bald wieder hätte daraus flüchten müssen. Sie würden es also durchaus eine Weile hier aushalten können.

Nachdem Emma sich einen Platz gesucht hatte, setzte Cayden sich dicht neben sie und schlang seinen Arm um ihre Taille, während er sie offen ansah.

„So wie es aussieht, brauchst du doch keinen Heizkörper.“ Er gab ihr einen sanften Kuss auf die Lippen.

„Aber ich hoffe, ich darf mich trotzdem an dir festhalten.“ Er lächelte leicht verschmitzt.

 

Das warme Wasser fühlte sich schon fast nach Badewannentemperatur an, als Emma sich an den Rand des Beckens auf eine kleine Stufe setzte und sich nach Caydens Kuss an ihn kuschelte. Hier fühlte es sich so an, als dürfte sie das. Es war zwar nicht so, dass Emma es scheute, Cayden kleine Zeichen ihrer Zuneigung zu geben. Aber in aller Öffentlichkeit tat sie sich noch schwer damit. Da war immer noch die leidige Geschichte mit Vanessa, die wie eine Gewitterwolke über ihnen zu hängen schien. Und außerdem war Emma es schlichtweg noch nicht gewohnt, mit Cayden zusammen zu sein.

„Weißt du, ich war schon ewig nicht mehr schwimmen. Eigentlich mache ich das gern, aber allein kann ich mich nicht dazu aufraffen. Eigentlich handelt es sich um 'Plantschen', wenn ich von Schwimmen rede.“ Sie grinste und planschte ein wenig mit den Beinen im Wasser herum. Es war wirklich unglaublich entspannend.

„Hier ist wirklich wenig los. Die ganzen Hotelgäste scheinen wohl unterwegs zu sein, um sich die Stadt anzuschauen.“

 

„Eher unwahrscheinlich bei dem Wetter. Aber vielleicht gibt es wieder irgendwo Freibier.“ Caydens Hand streichelte zärtlich Emmas Seite, während er die Augen schloss und seinen Kopf gegen ihr Haar lehnte. Er genoss das hier viel zu sehr. Gerade weil sie in letzter Zeit gar nicht wirklich dazu gekommen waren, einmal in Ruhe die Nähe des anderen zu genießen.

Das heute Morgen auf dem Bett war sehr schön gewesen. Vor allem, weil er endlich einmal offen und frei hatte mit ihr reden können. Keine Geheimnisse zwischen ihnen zu haben, fühlte sich befreiender an, als es sonst etwas konnte. Er liebte es und Emma dafür umso mehr.

„Ich fände es schön, wenn wir in Zukunft öfter Schwimmengehen könnten. Du planschst und ich ziehe ein paar Bahnen und danach faulenzen wir ein bisschen. Vielleicht können wir uns beide dann öfter dazu aufraffen.“

Wobei Cayden sich nicht sicher war, wie lange Emma noch mit ihm schwimmen gehen wollte. Bald würde ihr Bauch dank des Babys größer werden. Ihre Brüste würden sich noch mehr verändern und keiner konnte sagen, ob sie sich damit sexy oder eher das Gegenteil fühlen würde. Soweit er wusste, konnte das alles ziemlich unterschiedlich empfunden werden. Aber ob so oder so, er würde für Emma da sein.

„Mhmm …“, schnurrte er in vampirischer Manier und ließ sich ein Stückchen tiefer ins Wasser sinken, während jeder seiner Muskeln sich noch mehr zu entspannen schien und er wieder einmal seine Nase tiefer in Emmas Haar drückte, um ihren Duft aufzusaugen.

„Gott, ich liebe deinen Duft …“, flüsterte er so leise, das man es fast nicht hören konnte.

 

„Hört sich gut an.“

Schwimmen oder Plantschen war etwas, das Emma nennen würde, käme sie je in die Verlegenheit gefragt zu werden, welchem Sport sie nachging. Früher war sie mehr geschwommen, hatte es tatsächlich für die Fitness getan, aber dann war dieses Hobby irgendwann eingeschlafen.

Mit Cayden konnte sich Emma das allerdings vorstellen. Wenn er Bahnen zog, konnte sie sich vielleicht auch dazu aufraffen. Oder sie sah ihm dabei zu.

Bei dem Gedanken musste sie lächeln.

Neben ihr murmelte Cayden etwas, das Emma nicht verstand, aber was sie aus seiner Mimik lesen konnte, gefiel ihr. Er schien sich wohlzufühlen.

Emma drehte sich ein Stück zu Seite, sodass sie ihm besser ins Gesicht sehen konnte, zog ein Bein auf die kleine Stufe, auf der sie saßen, und lächelte Cayden an.

„Das mit dem Schwimmen ist eine gute Idee. Meinst du denn, hier bekommen wir eine Mitgliedskarte?“

Es war ein Scherz. Emma wunderte sich sowieso, wie sie hier hereingekommen waren, ohne Gäste des Hotels zu sein. Aber mit Cayden war eben alles möglich.

Emma streichelte seine Schulter und grübelte ein bisschen, bevor sie fragte, was Cayden heute sonst noch unternehmen wollte.

 

Das mit der Mitgliedskarte brachte ihn zum Lächeln. „Ich denke, da ließe sich bestimmt etwas machen.“ Selbst wenn das bedeutete, dass er für sie beide ein Zimmer das ganze Jahr über buchte. Hauptsache, sie konnte das hier öfter machen.

Auf Emmas andere Frage hin, musste er selbst etwas überlegen, während er es genoss, von ihr gestreichelt zu werden und ihr dabei tief in die Augen sehen zu können, bis sich seine Lippen zu einem weiteren warmen Lächeln verzogen.

„Ich denke, meine Ansprüche sind nicht allzu hoch, wobei ich dazu natürlich deine Meinung hören müsste, denn zunächst einmal würde ich dich gerne küssen, und da gerade keine Leute in der Nähe sind, würde ich mich auch nicht mit einem flüchtigen Küsschen zufriedengeben. Aber das ist nur meine Meinung.“ Sein Lächeln vertiefte sich, während seine Augen bereits Emmas Mund nachzeichneten. Allein der Gedanke daran ließ sein Herz mit einem Mal schneller schlagen. Wann hatten sie sich denn das letzte Mal so richtig geküsst? Es musste schon wieder einige Stunden her sein.

Zu lange, wie Cayden fand.

 

Emma lachte leise auf. Was für ein unmoralisches Angebot. Sie legte den Kopf schräg und grinste Cayden an, bevor sie einen übertrieben prüfenden Blick zum Grotteneingang warf.

„Und du meinst, hier sind wir wirklich sicher? Was, wenn gleich ein Rentnerpärchen hier rein kommt und du bringst sie mit so einem Kuss an den Rand eines Herzinfarkts?“

So, wie Cayden es formuliert hatte, sollte man von dem Kuss eine derartige Folge erwarten. Trotzdem – oder gerade deshalb? – rutschte Emma näher an ihn heran und stupste ihre Nase gegen seine.

 

„Sollte der Fall wirklich eintreffen, kann ich ja Erstehilfe leisten“, nuschelte er gegen Emmas Lippen und schloss die Augen, nachdem ihre Nase die seine sanft neckte.

Seine Hände glitten von selbst ihre Seite entlang nach oben auf ihren Rücken, um sie noch enger an sich heranzuziehen, ehe sein Mund nun tatsächlich ihre Lippen streifte.

Cayden hatte es nicht eilig. Eigentlich hatte er im Moment sogar alle Zeit der Welt, weshalb er erst zärtlich über Emmas Mund strich, dann hauchzart einen Kuss auf ihren einen und dann ihren anderen Mundwinkel setzte und schließlich auch einen in die Mitte. Wieder löste er sich ein Stück von ihr, um den Kopf auf die andere Seite und seine Lippen nun eine Spur deutlicher auf ihre zu legen. Dabei wanderte eine seiner Hände in Emmas Nacken, um sie dort zu streicheln und zu massieren und sie ihm noch mehr entgegen zu ziehen. Schon jetzt kribbelte es heftig in seinem Bauch und sein Herz schien ihm direkt auf die Zunge zu springen, die sich aber noch völlig zurückhielt.

Es sollte zwar ein richtiger Kuss werden, aber kein übereilter.

 

Wie immer, wenn er sie küsste, konnte Emma kaum die Augen schließen. Denn das hätte vielleicht bedeutet, dass Cayden nicht mehr da war, wenn sie sie erneut öffnete. Vielleicht würde er sich als Traum herausstellen. Emma konnte es schlichtweg nicht fassen, dass Cayden sie küssen wollte. Dass er es tat, und dann auch noch so zärtlich und voller Zuneigung. Er spielte ein wenig mit ihr, ließ sich Zeit und machte es damit für Emma nur noch anziehender.

Sie begann, ihn mit dem Kuss ebenfalls zu necken, seine Oberlippe zu küssen, dann seine Nasenspitze und wieder seinen Mund.

Dabei kuschelte sie sich vorsichtig an ihn, immer noch bewusst, dass sie sich hier an einem öffentlichen Ort befanden und jederzeit jemand in die kleine Grotte kommen konnte.

 

Emma passte perfekt in seine Arme und an seine Brust, wie Cayden fand, als sie noch näher kam, sodass sie sich nun deutlich berührten. Er musste sich zwar etwas anders hinsetzen, damit er sich nicht so verdrehen musste, aber dafür verschlang sich ein Bein mit ihrem und er konnte sich mit der Seite besser an den Rand des Beckens lehnen, während ein glückliches Lächeln seine Mundwinkel reizte, als auch Emma ihn zu necken begann.

Eine Weile genoss er die kleinen, zarten Küsse, die sie sich gegenseitig schenkten, bis sie immer länger und deutlicher wurden und er schließlich mehr von ihren Lippen schmecken wollte.

Seine Zungenspitze glitt nur kurz und leicht über Emmas Unterlippe, ehe er sich wieder ein bisschen zurückzog und die Augen leicht öffnete, um Emma ansehen zu können. Sein warmes Lächeln konnte sie nicht erkennen, da sie sich dafür viel zu nahe waren, aber das musste sie auch nicht. Es erfüllte jeden seiner Blicke und ließ etwas in seinen Augen funkeln. Allein sein Blick war eine einzige Liebesbekundung an sie, ehe er seine Lider wieder schloss und Emma nun richtig und mit vielen warmen Gefühlen im Bauch küsste.

 

Es wurde ein Kuss, in den sich Emma am liebsten hineingekuschelt hätte. Nicht nur in Caydens Arme, wie sie es jetzt tat, sondern in die Berührung ihrer Lippen selbst, von der aus Wärme in ihren ganzen Körper zu strömen schien. Emma lächelte in den Kuss hinein, strahlte und merkte gar nicht, dass sie nun doch seit einer Weile die Augen geschlossen hatte. Ihr Herz hüpfte, als Caydens Zungenspitze sich vorwagte und Emmas Bauch kitzelte aufgeregt, als sie auf mehr von diesen schönen Berührungen wartete.

 

Seine Hand rutschte weiter hoch, sodass sich seine Finger in Emmas Haare schieben und ihre Kopfhaut sanft massieren konnten, während er zugleich ihren Mund enger gegen seinen schob und sich nun weiter für sie öffnete.

Es knisterte verdammt heftig, als er seine Lippen teilte und nun deutlicher seine Zunge in die Küsse mit einbrachte und dabei zart Emmas Geschmack in sich aufnahm und nach mehr von ihr suchte. Mehr von diesen weichen Lippen, von ihrer Wärme, ihrem Duft, ihrer süchtig machenden Nähe und die Intensität dieses besonderen Augenblicks, für den sie sich viel zu selten Zeit nahmen.

Sein Puls beschleunigte sich unweigerlich und schließlich kam, womit Cayden ohnehin schon jeden Augenblick gerechnet hatte, weshalb er sich für einen Moment vor Emma zurückzog und nach Atem schöpfte, während seine Fänge sich mit einem prickelnden Gefühl aus seinem Oberkiefer schoben. Nichts, was er nicht schon gewohnt gewesen wäre, doch dieses Mal mit einem Unterschied. Cayden verbarg sie nicht mehr vor Emma.

 

Emma war einen Moment verwundert, als Cayden den Kuss unterbrach. Automatisch wandte sie sich dem größeren Becken zu, spähte in Richtung Pool und erwartete, dass jemand um die Ecke kam, den sie nicht gehört hatte. Dann aber merkte Emma, dass es Cayden selbst war, auf den sie achten musste. Er hatte sich kurz abgewandt, weil sie bei einer eventuellen Störung gerade noch ein ganz anderes Problem bekommen hatten, als einen übereifrigen Kuss.

Emma versuchte, nicht zurückzuschrecken, aber innerlich schaffte sie es trotzdem nicht ganz. Caydens Reißzähne waren für sie immer noch kein alltäglicher Anblick und so sehr Emma sich bemühte, würden sie es vermutlich auch nicht so schnell werden.

Trotzdem wusste sie, dass Cayden keineswegs etwas Gefährliches vorhatte. Nach wenigen Augenblicken lächelte sie wieder gelöster und gab ihm einen kleinen Kuss auf die Nasenspitze.

 

Cayden wusste, worauf er sich da einließ, in dem er sich vor Emma nicht mehr versteckte. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass er immer irgendwie wie auf Kohlen saß, wenn er ihr seine wahre Natur so deutlich zeigte und er nicht abschätzen konnte, wie sie reagieren würde. Es machte ihn nervös, aber nicht zu sehr, um die Stimmung zu verderben. Vor allem nicht, als Emma ihm wieder entgegen kam, obwohl er immer wieder mehr von ihr verlangte, als ein anderer Mann es tun würde.

Das war auch ein Grund, wieso er sie für eine innige Umarmung an sich zog, ihr einen warmen Kuss auf die Stirn hauchte und sie dann liebevoll – mit einem Reißzahnlächeln – anlächelte.

„Ich werde vorsichtig sein, das verspreche ich dir. Außerdem haben wir das schon so oft ohne Unfälle hinbekommen.“ Er küsste wieder ihre Lippen. „Und es fühlt sich gut an, mich nicht mehr vor dir verstecken zu müssen, Em.“

Ein weiterer Kuss. „Unglaublich gut …“

 

Sie wollte ihm schon zustimmen, als sie innerlich kurz stutzte. Es stimmte, was Cayden sagte. Dies hier war mehr oder weniger das erste Mal, bei dem er ihr seine Vampirzähne ohne Zögern zeigte. Bei den anderen Küssen waren sie ihr nie wirklich aufgefallen. Also war die Gefahr, dass er sie versehentlich biss oder sie anderweitig verletzte wohl wirklich kaum vorhanden.

Emma hatte Cayden ohnehin nicht zugetraut, dass er sie gefährden würde, aber da war trotzdem ein Quäntchen Erleichterung, als sie sich jetzt wieder in einen Kuss mit ihm kuschelte. Er würde ihr nicht wehtun. Schon gar nicht, wenn es um einen Kuss ging. Sie selbst würde auch vorsichtig sein – wenn auch aus anderen Gründen. Sie konnte sich entspannen und es einfach nur genießen.

Was Emma schließlich auch tat. Im warmen Wasser, unter den wechselnden bunten Lichtern der künstlichen Grotte gab sie ihren Gefühlen nach, tat endlich, was sie tun wollte, ohne groß über mögliche, negative Folgen nachzudenken. Sie wollte Cayden küssen, mit ihm herumknutschen und sich an ihn kuscheln. Warum also sollte sie es nicht tun?

 

Und das taten sie dann auch.

Cayden schloss wieder die Augen, als Emma sich nun ebenfalls vollkommen fallenließ und ihn eine Weile die Welt um sich herum vergessen ließ. Es fühlte sich so gut, so prickelnd und warm an. Da vergaß er nur allzu schnell, dass sie hier in der Öffentlichkeit waren. Momentan waren sie ohnehin alleine, während sie sich intensiv küssten und seine Hände immer wieder über Emmas Körper streichelten. Nicht, um auf irgendetwas hinaus zu wollen, sondern einfach, weil es ihm ein Bedürfnis war, sie zu berühren und ihr nahe zu sein.

Nun, da sie auch von seinen Fängen wusste, ließ er sie auch endlich öfter und weiter in seinen Mund, während ihre Zungen miteinander tanzten. Natürlich passte er immer noch auf, dass sie sich nicht unabsichtlich an seinen Spitzen verletzten, aber er hinderte Emma auch sicherlich nicht daran, ihn zu erforschen und sich von ihm erforschen zu lassen.

Sein Herz pochte daher wild und hart in seiner Brust, als er sich mit einem letzten köstlichen Schmatzen von Emmas Lippen löste und seine Stirn gegen ihre Halsbeuge lehnte, während er tief nach Atem schöpfte.

„Es kommt jemand …“, flüsterte er ihr leise zu und versuchte seinen rasenden Puls wieder in den Griff zu bekommen, während er sehr genau die Geräusche verfolgte, die zuerst nur für ihn wahrnehmbar, aber dann auch deutlich hörbar für Emma wurden, als nasse Fußsohlen über Stein liefen und eine gedämpfte Unterhaltung zu ihnen durch die Form der Grotte herübergetragen wurde.

Als das alte Pärchen schließlich bei ihnen ankam, saß Cayden bereits wieder relativ gesittet neben Emma. Nur sein Arm lag immer noch um ihre Mitte, da er nicht vorhatte, sie gänzlich loszulassen.

Verhalten lächelte er den Neuankömmlingen zu und wünschte ihnen einen guten Tag.

Seine glühenden Wangen konnte man auch durchaus auf das warme Wasser schieben, und selbst wenn diese beiden regelmäßig Zeitung lasen, glaubte Cayden keine Sekunde lang daran, dass sie ihn erkennen könnten. Nicht ohne Brille, mit den zerzausten Haaren und den vielen Tätowierungen. Im Augenblick sah er so ganz und gar nicht wie das Oberhaupt von C&C aus.

„Vielleicht sollte ich noch ein paar Bahnen ziehen, um mich abzukühlen und danach könnten wir uns schon einmal überlegen, was wir heute Abend essen wollen. Wie wäre das?“, flüsterte Cayden Emma ins Ohr, damit nur sie es hören konnte, und musste dabei den Drang unterdrücken, ihr auch noch einen Kuss auf den Hals zu drücken.

Später. Vielleicht ...

 

Ein wenig hatte sie das Gefühl, sie müsse ihre Kleider ordnen. Da Emma aber im Badeanzug neben Cayden im Pool saß, gab es dazu keine Veranlassung. Doch obwohl Cayden die beiden Herrschaften, die jetzt auch in die Grotte gekommen waren, früh angekündigt hatte, fühlte Emma sich bei irgendetwas ertappt. Und bei dem Gedanken musste sie mehr als einmal in sich hineinschmunzeln.

Wahrscheinlich fiel deshalb ihre Begrüßung besonders freundlich aus und Emma musste nur noch mehr grinsen, als sie Caydens Anspielung hörte.

„Ist gut. Schwimm ein paar Bahnen für mich mit.“

Was die Idee mit dem Essen betraf, hatte Emma noch keine Ahnung. Auswärts zu essen war im Moment keine mögliche Option. Aber da Cayden so gut kochte und Emma immer mehr Lust auf einen gemeinsamen Abend zu zweit verspürte, sollte das kein Problem darstellen.

„Wie wäre es mit Shepherd’s Pie? Einfach, aber lecker.“

 

„Mach ich.“ Cayden drückte Emma einen dezenten Kuss auf die Schläfe, der wohl noch nicht als anstößig galt, und löste sich dann von ihr.

„Der Vorschlag klingt gut, aber natürlich ohne das Lammfleisch. Die Zutaten hätte ich aber alle zuhause, also können wir, nachdem wir uns wieder trocken gelegt haben, gleich direkt nach Hause fahren.“ Er lächelte immer noch verhalten, da sich seine Fänge noch nicht zurückgezogen hatten, und achtete auch sehr genau darauf, dass weder das Pärchen etwas anderes als seine Rückseite sehen konnte, noch irgendwelche weiteren Leute in Anmarsch waren, während er aus dem kleinen Becken stieg, um sich 'abkühlen' zu gehen und noch ein paar Bahnen zu schwimmen.

Was das anging, war die enge Badehose wirklich nicht gerade vorteilhaft, aber die Luft war rein und er konnte ungesehen ins kalte Wasser, das sehr schnell Abhilfe versprach.

59. Kapitel

Als sie später nebeneinander in Caydens Küche standen, Kartoffeln schälten und sich über alles Mögliche unterhielten, fühlte Emma sich so wohl, wie schon lange nicht mehr. Das hier schien so normal zu sein. Natürlich ließen sich die ganzen Probleme, die hinter der nächsten Ecke lauerten, nicht ausblenden. Aber hier und jetzt und in diesem Moment fühlte sich Emma ein bisschen wie in einer kleinen heilen Welt. Sie war gern hier, kochte mit Cayden und freute sich auf den Rest des Abends.

„Wo gehst du eigentlich einkaufen?“

Die Frage war zwar eigenartig, aber Emma hatte sich das schon früher gefragt. Ging Cayden einfach zum nächsten Supermarkt? Oder ließ er sich alle Lebensmittel liefern? Kaufte seine Putzfrau für ihn ein oder machte er doch mehr selbst, als sie annahm?

Emmas Gesichtsausdruck wurde leicht abwesend, als sie versuchte, sich Cayden mit einem Staubsauger vorzustellen, wie er durch die riesigen Zimmer lief und dann auch noch Staub wischte. Das passte irgendwie absolut nicht zur Vorstellung, die sie von ihm und dieser Wohnung hatte.

 

„Ach, Em. Inzwischen solltest du mich doch schon besser kennen“, neckte Cayden sie zärtlich und stieß sanft seine Schulter gegen ihre, während er ihr beim Kartoffelschälen half. „Als hätte ich Zeit für derlei Dinge. Ich könnte dir aber auch nicht einmal genau sagen, wo meine Putzfrau für mich einkauft. Das Gemüse holt sie auf jeden Fall frisch vom Markt, aber den Rest …“

Cayden zuckte mit den Schultern und klaute Emma die letzte Kartoffel vor der Nase weg. „Was ich machen würde, wenn sie einmal streiken sollte, wüsste ich nicht so genau. Sie ist mir wirklich eine große Hilfe. Aber nur zu deiner Information, ich kann sehr wohl auch für mich alleine sorgen, wenn es der Fall verlangen sollte. Deshalb würde ich jetzt also nicht mit einem Bügelbrandfleck auf dem Rücken meines Hemdes in die Arbeit kommen. Ich bin also kein kompletter Fehlgriff in Sachen Hausmann.“

 

Bei dieser Vorstellung musste Emma laut lachen.

„Na ja, der Brandfleck ließe sich ja mit einem Jackett verbergen. Solche Tricks hast du doch hoffentlich drauf, wenn deine Putzfrau mal im wohl verdienten Urlaub ist?“

Sie knuffte kurz zurück und kümmerte sich um Teller und Besteck, das sie inzwischen in Caydens großer Küche selbstständig fand. Hätte sie die Auflaufform suchen müssen, wäre sie zwischen den ganzen Schränken, Schubladen und Hängeschränken verloren gewesen.

„Wir gehen auch abwechselnd auf den Markt, um frisches Gemüse einzukaufen. Allerdings muss ich mich jedes Mal dazu aufraffen, so früh aufzustehen. Aber wenn man später hingeht, sind die besten Sachen schon weg.“

Emma räumte Teller, Gläser und Besteck auf den Tisch, legte Servietten dazu, füllte die Gläser auch noch mit Saft und sah dann Cayden beim Rest der Zubereitung zu.

„Wolltest du irgendwann einmal Koch werden? Du hast Talent.“

 

Wo er sein Bügeleisen fand und wie man es richtig benutzte, wusste Cayden schon längst, weshalb er einfach in sich hineinschmunzelte und es für sich behielt. Emma würde staunen, was er alles konnte, von dem sie aber keine Ahnung hatte und es würde ihm ein Vergnügen sein, ihr diese ganzen kleinen Dinge nach und nach zu offenbaren. Immerhin, wo bliebe da die Spannung, wenn sie nichts mehr selbst entdecken konnte?

Cayden butterte die Auflaufform, bevor er sich daran machte, die Kartoffeln zu pürieren und lächelte wieder, als Emma ihn für seine Kochkünste auf ihre Art lobte.

„Nein. Koch zu werden, hat mich eigentlich nie besonders gereizt. Außerdem wirst du noch feststellen, dass es bei Vampiren schwer zu sagen ist, ob es sich um Talent oder Jahrhunderte lange Übung handelt.“ In seinem Fall sogar noch etwas länger.

„Wenn man etwas sehr lange, sehr oft macht, kann man eigentlich gar nicht anders, als aus seinen Fehlern lernen und sich verbessern. Allerdings besteht dann auch die Gefahr, dass es irgendwann so langweilig wird, dass man ganz damit aufhört. Kochen ist zwar jetzt kein gutes Beispiel dafür, da man daran einfach nicht drum herum kommt, aber es gibt noch genug andere Dinge, die einem irgendwann zum Hals raushängen.“

 

„Zum Beispiel?“

Emma hätte jetzt in erster Linie an Bügeln oder ähnlich nervtötende Dinge gedacht. Selbst wenn man so etwas mit Perfektion beherrschte, machte es noch keinen Spaß.

Sehr an dem Thema interessiert, kam sie zu Cayden herüber, lehnte sich mit dem Rücken an die Arbeitsfläche der Küche und sah ihn fragend an.

„Dann könnt ihr irgendwann alles bis zur Perfektion? Willst du das sagen?“

Emma konnte sich gar nicht vorstellen, wie das war. Sie würde so viele Dinge lernen wollen, wenn sie wüsste, dass sie die Zeit hätte, sie so lange zu üben, bis sie perfekt darin war.

„Und wird es deshalb langweilig? Weil es keine Herausforderung mehr ist?“

Das konnte sie ansatzweise nachvollziehen. Aber da war noch etwas anderes.

„Heißt das denn, du kochst gar nicht gern?“

Jetzt klang sie fast schon entsetzt.

 

„Nein, natürlich werden wir nie alles bis zur Perfektion können. Das scheitert schon allein daran, dass jeder verschiedene Interessen hat und es dann auch wieder genug Dinge gibt, die überhaupt nicht interessant auf einen wirken. Also ein Vampir wird nie alles bis zur Perfektion können, selbst wenn ihm noch so langweilig ist.“ Das war zumindest seine Ansicht. Vielleicht gab es ja tatsächlich unter seiner Art ein paar Individuen, die wirklich alles zu lernen versuchten, aber so gesehen sah er das dann doch als ziemliche Zeitverschwendung an. Obwohl sie genug davon hatten.

„Aber nehmen wir mich zum Beispiel einmal her. Es hat eine Zeit gegeben, in der ich mich sehr für Lyrik, Poesie und die Schriftstellerei interessiert habe. Nachdem ich dieses Interesse dann auch ein ganzes Jahrhundert lang intensiv ausgelebt habe, war mein Interesse so ausgereizt, dass ich dir jetzt nicht einmal mehr den einfachsten Reim daher kritzeln könnte, da es mich so sehr anödet. Ich lese zwar immer noch gerne, aber weiter reicht es dann auch nicht mehr.“

Nachdem Cayden das Fleisch und das andere vorbereitete Gemüse in die Auflaufform gegeben hatte, nahm er einen Spritzsack und füllte ihn mit dem Kartoffelpüree. Er hätte es natürlich auch einfach so darüber geben können, aber das Auge aß schließlich auch mit.

„Und ich koche auf jeden Fall noch gerne, da ich ja oft nicht dazu komme, wenn ich so viel im Büro zu tun habe. Aber es wäre wohl etwas anderes, wenn ich es ständig machen würde. So geht es mir mit meinen anderen Interessen ebenfalls.“

Gekonnt und ohne Zögern machte er mit den pürierten Kartoffeln schöne Kringel, Formen und Muster auf das Fleisch, während Cayden überlegte, ob er Emma noch mehr verraten sollte. Aber warum sollte er das eigentlich nicht tun? Sie sollte ruhig wissen, wie er sein bisheriges Leben geplant hatte. Vor allem, da sich das jetzt ändern würde.

„Du solltest vielleicht wissen, dass ich mein Leben seit einer ganzen Weile in zwei Phasen einteilen musste, um immer wieder Sinn in mein Leben zu bringen.“ Wie sich das anhörte … Aber leider war es die bittere Wahrheit.

„Da wäre die Phase der Arbeit, in der ich mich auf eine Firmengründung konzentriere und sie dann auch so lange leite, bis es mein junges Aussehen unmöglich macht, mich noch länger öffentlich zu zeigen. In dieser Zeit gebe ich mich kaum persönlichen Interessen hin, obwohl es manchmal wirklich hart ist, keinem meiner Hobbys nachzugehen, aber gerade das macht es umso wertvoller, wenn ich es dann wieder zulassen darf.“

Cayden legte den leeren Spritzsack zur Seite und rieb noch feinen Käse über das Ganze, ehe er die Auflaufform in den vorgeheizten Backofen schob und Emma ansah, während er sich mit dem Rücken an die Küchenzeile lehnte.

„Danach kommt sozusagen das Vergnügen und ich widme mich einige Jahre lang wieder den Dingen, die ich mir so lange versagt habe. Nur so kann ich dafür sorgen, dass ich …“ Er zögerte, wollte es nicht so hart ausdrücken, wie es ihm in den Sinn kam. „Sagen wir einfach, dass ich nicht vor Langeweile sterbe. Natürlich haben sich meine Pläne inzwischen geändert.“

 

„Irgendwie habe ich auch die Hoffnung, dass eure Gehirne nicht perfekt sind und so etwas Alltägliches, wie bei und Menschen auftritt? Man nennt es Vergessen oder aus der Übung kommen.“

Emma grinste. Wenn man bedachte, welche Zeit vergehen konnte, in der ein Vampir das, was er über Jahre gelernt hatte, nicht mehr benutzte ... und ein normaler Mensch musste eine Fremdsprache schon fast wieder neu lernen, wenn er sie ein paar Jahre nicht mehr aktiv benutzt hatte.

Was Cayden ihr dann allerdings gestand, ließ Emma hellhörig werden. Sie folgte seinem Gedankengang genau und nickte anschließend, um zu zeigen, dass sie verstanden hatte, was er ausdrücken wollte.

„Früher war es einfacher, denke ich. Als es noch nicht so viele Fotografien gab, so viele Medien, auf denen ein immer junger Mann auftauchen konnte.“

Sie grinste Cayden an und stupste mit dem Finger an sein Kinn. „Eine Weile kannst du wohl Gerüchte von Schönheits-OPs streuen, aber auf Dauer wird selbst dem schlimmsten Schundmagazin nichts mehr einfallen, um deine Jugend und dein perfektes Aussehen wirklich zu rechtfertigen.

Heißt das denn, dass ich in irgendeinem Geschichtsbuch über ein Foto aus den Gründertagen der amerikanischen Eisenbahn mit dir darauf hätte stolpern können?“

Die Idee gefiel ihr. Sie hätte gern gewusst, was Cayden in seinem Leben Spannendes getan, erlebt hatte und wo er überall gewesen war. Selbst wenn es auch noch ein Jahrhundert gedauert hätte, um es ihr zu erzählen.

„Wenn du Lyrik so mochtest ... hast du dann auch ein paar große Lyriker selbst getroffen?“, wollte sie zum Einstieg wissen.

 

„Aus der Übung zu kommen ist natürlich möglich, aber wirklich vergessen können wir nicht.“ Er wünschte oftmals, es wäre möglich. Es gab so vieles, das er einfach vergessen wollte, aber dann wiederum gab es Dinge, die er stets in Erinnerung behalten wollte. Es war also alles ein Für und Wider.

„Das vampirische Gehirn arbeitet anders als das der Menschen. Wir haben sozusagen ein photographisches Gedächtnis, das niemals nachlässt und es arbeitet sogar so gut, dass ich mich noch sehr genau an meine frühesten Kindheitserinnerungen zurückerinnern kann, obwohl es schon so unendlich lange her ist. Ein Segen und Fluch zugleich, wie dir jeder Vampir bestätigen würde.“

Adam war die Ausnahme. Ein kompletter Gedächtnisverlust kam nicht einfach auf natürlichem Wege zu Stande. Ihm musste etwas passiert sein. Anders konnte er sich das nicht erklären.

Cayden schenkte Emma ein sanftes Lächeln und nahm sie schließlich an der Hand, um sie zur Couch zu führen, da der Auflauf jetzt ohnehin erst einmal im Rohr bleiben musste.

„Was mein Äußeres angeht, war ich natürlich immer darauf bedacht, keine Porträts von mir anfertigen zu lassen und nachdem auch die Photographie aufgekommen war, gab es immer Stellvertreter, die alle öffentlichen Auftritte für mich übernahmen. Aber natürlich wird das in der heutigen Zeit immer schwieriger und mittlerweile bin ich dazu übergegangen, mich vollkommen zurückzuziehen und einige Jahrzehnte auf das Vergessen der Menschen zu warten. Später glaubt man schon eher, dass man ein Nachkommen besagter Person ist und nicht die Person selbst. Was das angeht, glauben die Menschen nur zu gerne das, was sie glauben wollen.“

Wieder musste er lächeln, als er an Emmas Worte dachte.

„Und nein, als die ersten Eisenbahnen auftauchten, war ich schon lange nicht mehr in Amerika. Europa reizte mich da viel mehr. Dort habe ich auch den französischen Dichter Maurice Scève getroffen. Die Elgie Arion hatte es mir sehr angetan, aber auch die beliebten Gedichte, in denen er weibliche Körperteile besang. Man mag nicht glauben, wie erotisch allein die Beschreibung einer Augenbraue sein kann.“

Das brachte sein Lächeln noch ein bisschen mehr zum Strahlen, während er Emmas Hand immer noch in seiner hielt und sie sanft streichelte, dabei mit den Gedanken in der Vergangenheit und weniger im Hier und Jetzt.

„Aber dieser Dichter wird dir kaum etwas sagen. Immerhin starb er im Jahre 1560.“

 

„Ja, du hast recht. Um ehrlich zu sein, hatte ich nur als Jugendliche etwas für Lyrik übrig. Aber damals eher für schmalzige Liebesgedichte, von denen ich träumte, der Junge, in den ich verknallt war, würde sie mir widmen. Jetzt ist mir das alles ein bisschen zu blumig.“

Dass Augenbrauen sexy sein konnten, stritt Emma nicht ab, aber dass man dies in geschmiedeten Worten auf Papier bringen musste, war ihr inzwischen einfach etwas zu viel des Guten.

„Was hast du denn in Europa gemacht? Irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass du immer nur Jobs gemacht hast, die deinem jetzigen Leben entsprechen. Warst du nie Cowboy, Erfinder oder so etwas?“

Wenn Emma wüsste, dass sie in ihrem eigenen Leben alles einmal ausprobieren konnte, hätte sie es versucht. Alles, was ihr in den Sinn käme, hätte sie einmal ausprobiert. Wenn es schiefging, konnte man ja einfach etwas anderes tun. Sich neu erfinden. Der Gedanke machte sie richtig neidisch.

 

Cayden musste eine Weile über Emmas Frage nachdenken. Immerhin war diese nicht wirklich leicht zu beantworten, soviel wie damals geschehen war.

„Zusammenfassend würde ich sagen, ich habe damals oftmals versucht, einfach nur zu überleben. In Zeiten, in denen an Hexen, Dämonen und den Teufel geglaubt wurde, Krankheiten tausende Menschen dahingerafft und auch noch eine kleine Eiszeit Einzug gehalten hatte, war das nicht unbedingt einfach. Zumal ich tagsüber in einem wirklichen Nachteil war. Entweder habe ich mich vor dem Licht verstecken müssen, was auf die Dauer Aufsehen erregte, oder ich trat als Blinder getarnt in den Tag hinaus. Die Zeiten damals wurden nicht umsonst das finstere Mittelalter genannt und selbst mit Beginn der Neuzeit gab es oft genug Tage, die ich am liebsten vergessen würde.“ Brennende Scheiterhaufen, die Pest, Hunger und Armut … Manchmal war es bewundernswert, das die Menschen trotz all dieser Dinge nicht kleinzukriegen waren.

„Vor allem kam mein Reichtum erst wirklich mit Beginn der Industrialisierung. Vorher habe ich eher bescheiden gelebt, da meist ohnehin alles, was man besaß, irgendwann verloren ging und als jemand, der oft umherzog, wäre zu viel Besitz auch eher hinderlich gewesen. Eigentlich habe ich in all der Zeit immer nur wenige Jahre, an einem Ort gelebt und den Frieden genossen, bis er wieder durch irgendeinen Krieg zerstört wurde.“

 

„Hm ...“

Caydens Antwort hatte Emma den Wind aus den Segeln genommen. Sie hatte sich sein Leben aufregend, teilweise romantisch, und voller Abenteuer und Möglichkeiten vorgestellt. Doch jetzt klang es aus seinem Munde so, als hätte es nur aus Leid, Dreck und Entbehrungen bestanden. Sie senkte den Kopf und fragte sich, ob es so gewesen war. Gut, das Mittelalter war eine finstere Zeit gewesen. Das Leben hatte sich nur in winzigen Kreisen an Höfen und in Burgen abgespielt. Außerdem waren diese auch noch zugig und kalt gewesen. Auch das mit den Hexenverbrennungen war ihr mehr als bewusst, aber Cayden war ihr bisher nie so negativ vorgekommen. Hatte diese Zeit denn nichts Schönes für ihn bereitgehalten?

„Hat es sich dann später verändert? Als die finsteren Zeiten vorübergingen?“

Emma dachte an das aufstrebende Frankreich. An den Sonnenkönig und dann auch wieder an die Revolution, die wiederum Krieg bedeutet hatte. Wahrscheinlich hatte Cayden recht damit, dass die Zeiten doch eher düster gewesen waren. Aber er hatte doch alle Möglichkeiten gehabt.

 

„Natürlich haben sich auch diese Zeiten geändert, auch wenn man sich das damals nur schwer vorstellen konnte. Jede Epoche für sich hatte ihre guten und ihre schlechten Seiten. Aber ich denke, so wirklich etwas verändert, hat sich für mich erst etwas, als ein Vampir – dessen richtiger Name bis heute nicht bekannt ist, und ob er vielleicht sogar immer noch unter uns lebt – Glas zu unserem Vorteil zu nutzen wusste. Du kannst dir nicht vorstellen, was das für ein Fortschritt war …“

Cayden senkte nicht nur den Blick, sondern auch seine Stimme, denn er konnte sich nur allzu genau an das Gefühl erinnern, als er ...

„Wie es sich anfühlt, zum ersten Mal seit über tausend Jahren die Sonne und den Tag mit eigenen Augen sehen zu können. Nicht mehr länger an die Dunkelheit und die Hilflosigkeit tagsüber gebunden zu sein …“

Er hatte geweint. Vor Glück und auch vor Trauer darüber, was ihm all die Zeit über verwehrt gewesen war.

„Es war einfach überwältigend …“ Und das war es auch jetzt noch, als Cayden seinen von Emotionen erfüllten Blick wieder hob und Emma sogar ganz ohne Brille, nur dank seiner Kontaktlinsen im Lichte des zwar trüben Tages, aber immerhin tagsüber ansehen konnte. Wieder lächelte er sie an, berührte ihre Wange und beugte sich zu ihr hinüber, um seine Stirn an ihre legen zu können.

„Ich denke, das war für mich der Zeitpunkt, an dem ich endgültig die Ketten der dunklen Tage von mir abschütteln konnte.“

 

Emma lächelte Cayden von unten herauf an und betrachtete die unauffälligen Kreise, die die Kontaktlinsen um seine Iris zeichneten. Nein, sie konnte sich nicht vorstellen, wie es wäre, nur in Dunkelheit leben zu können. Vielleicht einmal getarnt als Blinder durch die sonnenbeschienen Straßen zu gehen und sich sonst nur nachts frei bewegen zu können. Es musste eine ganz neue Art von Freiheit bedeuten.

„Was hast du getan, als du die Möglichkeit dazu hattest? Würdest du mir erzählen, wie du deinen ersten Tag im Tageslicht verbracht hast?“

Er hatte doch selbst gesagt, dass er sich fotografisch an alles erinnern konnte.

 

Cayden zog sich langsam wieder zurück, blieb Emma aber immer noch ganz nahe, während er einen Arm um ihren Rücken schlang und sie dicht an sich heranzog.

Kurz schnupperte er in die Luft, um zu prüfen, wie weit das Essen war, aber etwas Zeit hatten sie noch, also legte er seinen Kopf auf die Rückenlehne der Couch und starrte an die Decke, während er in Gedanken viele Jahre zurücksprang.

„Im Sommer 1855 besuchte ich die erste französische Weltausstellung in Paris. Bis zu dieser Zeit lebte ich ein ganzes Stück weit außerhalb von Paris auf einem kleinen Weingut. Aber diese Ausstellung wollte ich mir nicht entgehenlassen, wenn sie schon beinahe vor meiner Nase stattfand, sozusagen.“ Er lächelte kurz, ehe er wieder ernst wurde.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich dort auch Gerüchte aufschnappen würde, die mich als Vampir betrafen. Aber tatsächlich fand ich mich nicht lange darauf in einem kleinen Laden wieder, der Sehhilfen verkaufte. Ein ziemlich merkwürdiges Gefühl, das kann ich dir sagen. Denn weder bin ich kurzsichtig, noch altersweitsichtig und mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass es irgendwann einmal möglich sein könnte, mit Hilfe von Glas die Strahlen der Sonne zu ertragen. Aber so war es dann.

Da die Gläser ein ziemliches Vermögen kosteten, kaufte ich sie natürlich nicht sofort, sondern wollte erst davon überzeugt werden. Probeweise durfte ich sie also gegen eine ziemlich hohe Gebühr für einen Tag ausleihen, um mich selbst von ihrem Können zu überzeugen.“

Cayden hob seine freie Hand und hielt sie so vors Gesicht, als würde ihn ein Licht blenden und er müsste sich davon abschirmen, bis er sie langsam wieder herunternahm.

„Am nächsten Morgen war es dann so weit. Ich setzte die Brille auf, ging zu den geschlossenen Vorhängen in meinem Hotelzimmer hinüber und stand minutenlang da, habe gezögert und gezögert, weil ich die Schmerzen, die das Sonnenlicht verursachen kann, nur zu gut kannte. Aber irgendwann fasste ich den Mut und zog langsam Stück für Stück die Vorhänge zur Seite, dabei die Augen fest zugekniffen, bis ich sie langsam, Millimeter für Millimeter öffnete. Anfangs hat es ziemlich geblendet, kann ich dir sagen.“

Kurz warf er einen flüchtigen Seitenblick zu Emma hinüber, ehe er ihn wieder an die Decke und zurück in die Vergangenheit richtete.

„Aber außer, dass es ziemlich hell war, passierte nichts. Der Schmerz blieb aus und zum ersten Mal konnte ich das Treiben von Paris am Tage mitansehen …“

Er atmete tief ein und aus. Im schlug selbst jetzt noch das Herz bis zum Hals, während er die Gefühle von sich fernzuhalten versuchte, aber ganz konnte er sie nicht aus seiner Stimme herauslassen.

„Es ist nicht mit den Gläsern jetzt zu vergleichen. Die Farben stimmten noch nicht ganz. In der heutigen Zeit gibt es die richtigen Untersuchungen, mit denen der Arzt feststellen kann, wie der Ton der Gläser genau auf die Fähigkeit des Auges abgestimmt werden muss, dass alle Farben so aussehen, wie sie aussehen sollen. Aber glaub mir, zu dem Zeitpunkt damals, war es mir herzlich egal, dass das Grün unnatürlich leuchtete, oder das Blau des Himmels leicht verwaschen wirkte. Auch Rottöne verloren sich ziemlich leicht in ein schlammiges Braun, aber dafür war das Goldgelb … einfach wunderschön …“

Goldene Locken, die im Wind wehten, tauchten vor seinen Augen auf. Ein helles Lachen. Grünleuchtende Augen …

Nicht wissend, wie lange Cayden verstummt war, sprach er einfach weiter, den Blick nun geradeaus aber immer noch in weite Ferne gerichtet.

„Ich verbrachte den Tag nicht in der Weltausstellung, sondern in einer der unzähligen Parkanlagen. Ich staunte über das Glitzern der Teiche, bunte Schmetterlinge, summende Bienen, die Farbenvielfalt der Vögel. Kinder, die auf dem gepflegten Rasen spielten und lachten. Die prächtigen Farben der Kleider, welche gerade in Paris immer kunstvoller zu werden schienen und selbst die unzähligen Blumenarrangements in den Schatten stellten. Und dann war da auch noch dieses … Goldgelb.“

Cayden zögerte nur kurz. Aber Emma hatte wissen wollen, wie er seinen Tag verbracht hatte und er wollte ihr dieses Wissen nicht vorenthalten.

„Ich muss gestehen, ich hätte sie nicht bemerkt, wenn ich ihr nachts über den Weg gelaufen wäre. Sie hatte ein so unscheinbares, zerbrechliches Wesen. Unauffällig in der Nacht, aber am Tage unter strahlendem Sonnenschein war die Farbe ihres Haars wie ein Leuchtfeuer für meine Sinne, obwohl sie unter den vielen anderen edel gekleideten Damen in ihrem schlichten Gewand beinahe unterging. Natürlich auch unter dem schweren Gewicht des riesigen Einkaufskorbs, der mit Leckereien frisch vom Markt gefüllt war und kurz davor stand, ihr aus den Fingern zu gleiten, bis ich ihr anbot, ihn für sie zu tragen …“

Cayden kehrte in die Gegenwart zurück und schaute Emma offen in die Augen. „Ihr Name war Anna und den restlichen Tag, wie auch viele darauf folgende Tage, verbrachte ich mit ihr.“

 

Emma konnte es sich bildlich vorstellen. Sie sah Cayden am Fenster stehen und dann durch die sonnigen Straßen von Paris gehen. Vor ihr tat sich eine Welt mit Vogelgezwitscher, raschelnden Röcken von wunderschönen Kleidern und Kinderlachen im Park auf. Sie genoss seine Erzählung so sehr, als hätte Cayden sie auf einen Spaziergang mitgenommen. Der allerdings abrupt endete, als Anna die Bildfläche betrat. Blond, wunderschön, mit einem sanften Lächeln und noch dazu Französin!

Emma musste leise lachen. Wie lächerlich, eifersüchtig auf eine Frau aus der Vergangenheit zu sein.

„Du warst schon damals ein Charmeur, hm?“

Emma lächelte ehrlich und offen. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie Cayden damals ausgesehen hatte. Nun ja, einmal davon abgesehen, dass er ausgesehen hatte wie heute. Bloß mit für sie altertümlicher Kleidung.

Hatte er dieser Anna wirklich den Hof gemacht, nachdem er ihr beim Tragen des schweren Korbs geholfen hatte? Irgendwie konnte Emma sogar die Romantik als positiv werten. Das Bild gefiel ihr sogar nach einer Weile und machte sie keineswegs eifersüchtig. Es war noch länger her, als jeder Exfreund, den sie je gehabt hatte.

„Sie war also keine Dame der feinen Gesellschaft? Wie ging eure Geschichte weiter?“

 

„Nein, sie war definitiv keine Adelige und sie hat sich auch nie wirklich daran gewöhnen können, eine Dame der Gesellschaft zu sein. Wobei die Gesellschaft ohnehin noch einmal ein anderes Thema ist, auf das ich nicht näher eingehen werde. Snobs werden immer Snobs bleiben.“

Bevor Cayden jedoch weiter erzählte, sog er noch einmal tiefer die Luft ein und befand, dass der Auflauf inzwischen fertig sein dürfte. Es roch zumindest so, also entschuldigte er sich kurz bei Emma, um aufzustehen und ins Backrohr zu sehen.

Erst als er es ausschaltete und die Auflaufform auf dem Herd abstellte, erzählte er weiter, während er das Essen anrichtete.

„Anna war ein einfaches Dienstmädchen ohne Familie. Man könnte also meinen, dass sie sich auf die Aufmerksamkeit eines 'Gentlemans' gestürzt hat, aber tatsächlich musste ich sie eine ganze Zeit lang umwerben, um ihr meine aufrichtigen Gefühle klarzumachen. Im Nachhinein betrachtet war das sogar sehr viel schwieriger, als ihr mein wahres Wesen zu offenbaren, auch wenn es noch um Einiges länger gedauert hat, als bei uns beiden.“

Da er vor Emma nicht mehr tarnen und täuschen musste, gab Cayden sich eine für ihn angemessene und bei ihr eine normale Portion auf den Teller. Sie konnte immer noch nachnehmen, falls er ihr zu wenig gegeben hatte.

Er stellte das Essen auf den vorbereiteten Platz, machte aber noch keinerlei Anstalten, um sich zu setzen. Stattdessen blieb er an der Theke gelehnt stehen und erzählte an der Stelle weiter, wo er aufgehört hatte. Das Essen war ohnehin noch viel zu heiß.

„Genau wie bei dir, hatte ich es bei ihr damals nicht auf ihr Blut abgesehen, sondern sie ihrer selbst willen gewollt. Aber irgendwann drohte sie mich zu verlassen, nachdem ich ihr nie eine ausreichende Erklärung darauf geben konnte, wohin es mich des nächtens getrieben hatte. So musste ich ihr wohl oder übel die Wahrheit sagen und hoffen.“

Cayden seufzte schwer. „Dieses Hoffen und Bangen ist für mich am Schlimmsten.“

Er hoffte, dass es das letzte Mal gewesen war. Nein … Eigentlich war er sich sicher. Dazu brauchte er nur in Emmas Augen zu sehen, um das mit absoluter Sicherheit sagen zu können.

„Sie nahm es sogar ungewöhnlich gelassen auf. Aber sie war auch nie jemand gewesen, der andere wegen ihrer Herkunft verurteilt hätte. Das lag einfach nicht in ihrem Wesen.“

Langsam stieß Cayden sich vom Tresen ab.

„Auf jeden Fall lebten wir nach unserer ersten Begegnung in Paris, einige Jahre auf meinem Weingut. Es waren ruhige Jahre.“ Schöne Jahre. Aber alles hatte nun einmal ein Ende.

 

„Das ist ...“

Emma suchte nach dem richtigen Wort, um das auszudrücken, was sie sagen wollte. Aber sie fand es nicht.

„Ich meine, es waren andere Zeiten. Das finstere Mittelalter, wie du es selbst nanntest, war noch nicht allzu lange vorbei. Und da hat sie ganz gelassen reagiert auf die Nachricht, dass du ein Vampir bist?“

Sie selbst konnte wahrscheinlich nicht von gelassen sprechen, wenn sie an ihre eigene Reaktion zurückdachte. Aber Himmel noch mal, sie war auch kein einfaches Dienstmädchen. Emma schlief mit einem Ritualdolch unter der Matratze. Das war etwas anderes, als Paris in jenen Jahren. Und trotzdem war es nicht einfach für Emma, die nächste Frage zu stellen: „Hatte sie denn keine Angst vor dir?“

 

„Ich denke schon, dass sie die anfangs hatte, auch wenn sie es mir nicht gezeigt hat. Aber wie schon gesagt, wir haben davor schon sehr viel länger zusammengelebt, als wir beide uns überhaupt kennen. Und vielleicht war ihr diese Wahrheit lieber gewesen, als eine andere, die beinhaltet hätte, dass ich eine andere Frau ihr vorziehen und sie deswegen eines Tages verlassen könnte. Was ich natürlich nicht getan habe. Aber sie wusste ja nicht, was mich immer wieder dazu gebracht hat, mich heimlich nachts hinauszuschleichen.“

Cayden rieb sich über den Nacken. „Und was das Trinken anging, hat es auch noch mal sehr viel länger gedauert, bis sie es einmal probieren wollte, denn das war ihr wirklich unheimlich.“

Nie wäre er auf die Idee gekommen, sie dazu zu drängen. Ebenso wenig wie er Emma dazu drängen würde. Es gab schließlich immer Alternativen.

 

Nun nickte Emma nachdenklich. Sie konnte nachvollziehen, wie unheimlich Cayden auf eine junge Frau wirken konnte, wenn sie keinen Kontakt mit anderen, erfahrbaren magischen Dingen gehabt hatte, bevor sie ihn traf. Und wie jung mochte Anna gewesen sein? Zu jener Zeit ... Vielleicht 15 Jahre alt? Das ließ Emma ein wenig schlucken. Sie würde nicht nachfragen, wie alt Anna gewesen war. Aber jedenfalls jünger als Emma jetzt.

„Das verstehe ich sogar ansatzweise. Auch wenn ich nicht weiß, was mir zu ihrer Zeit lieber gewesen wäre. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es damals als Frau gewesen sein muss.“

Da Emma nun ebenfalls aufgestanden war und der Duft des Essens ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, setzte sie sich an den Tisch.

„Was ist aus ihr geworden? Letztendlich, meine ich.“

 

Cayden setzte sich neben Emma und nahm erst einmal einen großzügigen Schluck von dem Getränk, das sie schon beim Aufdecken bereitgestellt hatte.

„Um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht genau“, antwortete er schließlich, ohne das Besteck in die Hände zu nehmen.

„Ich habe mich lange der Vorstellung hingegeben, sie hätte einen Mann gefunden, der ihr endlich das schenkte, was ich ihr nie hatte geben wollen, obwohl es mit der Zeit ihr sehnlichster Wunsch geworden war.“

Nun nahm er doch seine Gabel in die Hand und zerteilte etwas das Stück Auflauf, aber immer noch machte er keine Anstalten, etwas davon zu essen. Stattdessen sprach er weiter, ohne auf Emmas Frage zu warten, die ihr bestimmt im Kopf herum schwebte.

„Sie hat sich immer eine ganze Stube voller Kinder gewünscht. Ich tat das nicht und so trennten sich letztendlich unsere Wege, obwohl wir viele Jahre zusammen gewesen waren.“ Fast ein ganzes Menschenleben lang, wenn man es genau nahm. Aber am Ende hatte er sie ziehen lassen müssen. Sie war ohnehin nicht für die Ewigkeit geboren gewesen. Das hatte er irgendwann schmerzlich erkannt.

 

Ihre Augenbrauen wanderten fragend in die Höhe. Allerdings ließ Emma sich Zeit, auch erst einmal an ihrem Getränk zu nippen und sich dann in ihrem Stuhl zurückzulehnen, bevor sie vorsichtig fragte: „Warum? Warum hattet ihr keine Kinder?“

Dass er fähig war, daran blieb ja wohl kein Zweifel offen. Wenn sie es sich also gewünscht hatte, sogar so sehr, dass sie Cayden verlassen hatte, warum hatte er keine Kinder mit Anna gehabt?

Ohne, dass sie genau wusste, warum, begann Emmas Herz in ihrem Hals zu schlagen. Auf einmal konnte das Essen noch so verlockend duften, sie hatte nicht das Gefühl, dass sie gerade auch nur einen Bissen hinunterbringen konnte.

 

Er ließ seine Gabel wieder sinken und legte sie auf den Tellerrand, ehe Cayden seine Hand in seinen Schoß fallen ließ, während die andere das Trinkglas umschloss, ohne jedoch sonst etwas damit zu tun.

Er starrte sein Essen an und dann doch wieder nicht.

„Weil ich sie nie angerührt habe, wenn sie hätte empfangen können.“ Die Worte waren fast wie Blei auf seiner Zunge.

Warum nahm es ihn nach all der Zeit immer noch so stark mit? Vielleicht weil er Anna doch auf die eine oder andere Weise betrogen hatte und mit den Erinnerungen kamen auch solche Gefühle zurück.

Langsam neigte er den Kopf in Emmas Richtung und schaute sie beinahe vorsichtig an. „Wenn er genau darauf achtet, weiß ein Vampir, wann eine Frau empfänglich ist und wann nicht. Dieses Wissen habe ich schamlos ausgenutzt, um meinen eigenen Willen durchzusetzen.“

Fast wäre es ihm nicht gelungen, ihrem Blick standzuhalten, aber er musste, denn da gab es schließlich noch etwas, das sie wissen sollte.

„Eigentlich wollte ich keine Kinder mehr, Em …“ Was bedeutete, dass er schon einmal welche gehabt hatte.

„Aber glaub jetzt bitte nicht, dass ich dieses Kind nicht will.“ Langsam hob er nun doch die Hand, wagte es aber irgendwie nicht, Emmas Gesicht zu berühren. Gerade jetzt wünschte er sich wirklich, er könnte Gedanken lesen.

„Denn das will ich aus ganzem Herzen, jetzt, da es bereits in dir wächst.“

 

Diesmal war ihr Nicken sehr langsam, aber bestimmt.

Er hatte keine Kinder gewollte. Damals nicht und heute nicht. Seine Fähigkeiten hatten es ihm bei Anna erlaubt, diesen Willen durchzusetzen. Mit Emma war es ein Unfall gewesen. Das wussten sie beide. Trotzdem war es merkwürdig und ließ ihr Herz noch schneller schlagen, wenn sie es tatsächlich hörte. Ein unangenehmes Prickeln lief ihre Wirbelsäule hinunter, doch schließlich griff Emma zu ihrer Gabel und probierte das Essen.

„Dann“, sie zögerte. „Dann war sie eines Tages plötzlich fort? Was hast du dann gemacht?“

Sie selbst hätte Frankreich oder zumindest Paris wahrscheinlich verlassen. Wenn sie die Chance dazu gehabt hätte und Caydens Leben hatte ihm bestimmt die Chance gegeben.

 

Als Emma zu essen begann, durchbrach das auch seine Starre und er griff ebenfalls nach der Gabel, obwohl ihm überhaupt nicht nach Essen zu Mute war.

„Nein, wir haben uns richtig voneinander verabschiedet. Nach all den Jahren war das einfach angebracht, schließlich trennten wir uns nicht im Bösen. Unsere Leben konnten einfach nicht mehr in dieselbe Richtung verlaufen, daher war das einfach unausweichlich.“

Er nahm einen Bissen in den Mund, schmeckte aber so gut wie nichts und auch das Kauen und Schlucken geschah rein mechanisch.

„Ein paar Jahre bin ich noch durch Europa gereist, wusste ich doch, dass Anna nach Amerika ausgewandert war. Aber dann sehnte ich mich nach einem Stück Heimat zurück und bin schließlich hier gelandet. Das Meer, die Flora und Fauna, das alles hat es mir einfach angetan. Der Rest dürfte dir allgemein bekannt sein.“

 

Ein paar Jahre? Bei Cayden hörte es sich so an, als wäre ein Jahrhundert nicht viel wert und würde vorüberfliegen, wie für Emma ein paar Monate. Er war gereist, hatte seinen Schmerz überwunden und war nun hier. Eigentlich wohl zu einer Zeit, zu der er nur arbeiten wollte. Die Phase, in der er sich seiner Freizeit widmete, war noch nicht gekommen. Emma und ihr kleiner „Unfall“ in Japan hatten seinen Zeitplan durcheinandergebracht.

Möglichst unauffällig legte Emma ihren Arm um ihren Bauch und starrte auf die Tischplatte. „Ehrlich gesagt hört es sich so an, als würde dein Leben dir trotz der vielen Zeit meistens trotzdem davonrennen.“

Sie sah ihm direkt ins Gesicht. „Genießt du es denn nicht? So lange leben zu können? So viel tun zu können?“

 

„Ich bin mir sicher, dass es dir hauptsächlich deshalb so vorkommt, weil ich alles stark gekürzt erzähle. Aber du hast recht, bisweilen rennen mir die Jahre wirklich davon. Viel zu schnell sogar, aber das liegt nicht an mir, sondern an den Menschen um mich herum.“

Cayden zwang sich dazu noch einen Bissen zu essen und auch diesen hinunter zu würgen, während er sich ganz allein auf dieses Gefühl zu konzentrieren versuchte und nicht auf all die anderen.

„Natürlich hat ein so langes Leben viele Vorteile. Man kann so gut wie alles tun, was man will, aber der Preis dafür ist hoch und … bitter. Bisweilen sogar äußerst bitter, wenn jeder um dich herum, der dir etwas bedeutet, alt wird, krank wird und letztendlich stirbt, ohne dass du irgendetwas daran ändern kannst.“

 

„Das klingt für dich vielleicht naiv, aber ich habe trotzdem eine Frage: Warum suchen sich Vampire dann keine unsterblichen Freunde? Ich meine ...“

Emma fuchtelte mit der Gabel in der Luft herum.

„Natürlich verstehe ich, dass ein langes Leben mit vielen Verlusten verbunden ist. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schwierig es sein muss, immer wieder geliebte Menschen gehen zu lassen. Oder sogar zu wissen, dass sie einen irgendwann gezwungenermaßen verlassen müssen, wenn man sich auf sie einlässt. Aber ... warum hast du dann keinen besten Vampirkumpel? Jemand, der die gleichen Probleme hat? Mit dem du dich austauschen könntest, der wirklich versteht, wie es dir geht. Wäre das nicht eine logische Schlussfolgerung?“

Sie starrte Cayden herausfordernd an, bis ihr Hitze und Röte ins Gesicht stiegen und sie verstohlen den Blick senkte. „Tut mir leid.“

Bevor sie noch mehr Unsinn erzählen oder Cayden tolle Ratschläge erteilen konnte, aß Emma lieber weiter. So einfach war das bestimmt nicht, einen Kumpel zu finden, mit dem man es über Jahrhunderte aushielt.

Außerdem hielt sie ihn mit ihren vielen Fragen vom Essen ab.

 

Gerade wollte Cayden zu einer Erwiderung ansetzen, dass er eben einfach nicht gut mit den meisten seiner Artgenossen klarkam, als ihm plötzlich Adam siedend heiß einfiel und somit die meisten seiner Argumente hinfällig wurden.

Denn wenn er einmal ganz genau darüber nachdachte: Wie viele Vampire kannte er schon wirklich? Viele von ihnen nur flüchtig, Lia etwas genauer, aber wirklich kennen tat er sie alle nicht und bei Adam fiel es ihm erstaunlicherweise nicht schwer, ihn zu mögen. Vielleicht, weil er so anders als all die anderen Vampire war?

„Mal abgesehen davon, dass es gar nicht so leicht ist, Vampiren über den Weg zu laufen, hast du natürlich nicht ganz unrecht, und wie es der Zufall oder das Schicksal so will, bahnt sich da auch langsam so was wie eine neue Bekanntschaft an.“

Nun wandte sich Cayden Emma ganz zu, da er sich gerade ohnehin nicht aufs Essen konzentrieren konnte. „Du bist ihm sogar schon begegnet. Adam meine ich. Aber ich kann nicht gerade behaupten, dass wir die gleichen Probleme hätten ...“

Das brachte ihn nun doch leicht zum Schmunzeln. So schusselig wie der andere Vampir würde Cayden niemals sein. Aber er hatte ja auch nicht seine komplette Erinnerung verloren. Er wurde wieder ernst. Das war mit Sicherheit nicht besonders witzig. Was Adam wohl gerade trieb?

 

„Ja, Adam könnte ich nicht so leicht vergessen.“

Der Typ hatte von der Ausstrahlung her nichts mit Cayden gemein. Allerdings galt das auch für die Kriecher, die ab und an im Vorzimmer aufgetaucht waren. Es schien viele unterschiedliche Arten von Vampiren zu geben. Fast so, wie bei den Menschen auch.

„Er wirkt nicht gerade wie Lia oder du, muss ich sagen. Er ist aber auch keiner von denen, die ...“ Sie wedelte mit der Gabel in der Luft herum.“ Die auf Taskens Seite stehen, meine ich. Irgendwie wirkt dieser Typ ziemlich neben sich. Verständlich, wenn er Amnesie hat.“

Wenn sie schon dabei waren, konnte Emma vermutlich auch ihrer Neugier freien Lauf lassen. „Und du weißt sicher nicht genau, woher seine Narben stammen?“

 

„Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob es an seiner Amnesie liegt oder er einfach vom Charakter her so ist. Aber ich vermute stark, dass sein seltsames Verhalten durchaus etwas mit seinem Gedächtnisverlust zu tun hat. Ich kann dir also nicht mehr darüber sagen. Auch nicht, woher diese Narben genau stammen.“ Nun ja, so ganz stimmte das nicht, aber sollte er Emma wirklich sagen, was er darüber dachte?

Cayden brauchte nur einen flüchtigen Blick in ihr Gesicht zu werfen und er wusste, dass er keine Geheimnisse mehr vor hier haben würde. Nicht einmal die winzigste Notlüge.

Seine Stimme war leise, gedämpft und voller Schwere. „Ich vermute, dass Adam gefoltert worden sein könnte … mit Magie.“

 

Getroffen von dieser Aussage ließ Emma die Gabel sinken, legte sie auf ihre Serviette und sah Cayden an. Der Druck in ihrem Magen kam nicht daher, dass sie zu viel gegessen hatte, denn dann hätten ihre Hände nicht gezittert, wie sie es jetzt taten.

„Du meinst, meine Vorfahren haben ihm das tatsächlich angetan?“

Schon bei der Vorstellung wurde ihr leicht übel. Warum sollte man jemandem den Mund ... Die Erkenntnis schien Emma wie ein Schlag zu treffen.

„Sie haben ihm den Mund zugenäht?“ Sie wurde blass und ihre Stimme zitterte immer wieder, als sie weitersprach.

„Das kann doch nicht wahr sein. Niemand würde jemand anderem je so etwas antun. Das ist doch vollkommen irre!“

 

Cayden sah Emma lange an. Er brauchte ihr nicht zu sagen, wie naiv ihr Gedanke war. Sie wusste es bestimmt selbst, denn die Geschichte der Menschheit war Beweis genug dafür, zu was alles gewisse Individuen fähig waren.

„Wenn sie ihm nur den Mund allein zugenäht hätten …“, begann er vorsichtig und senkte den Blick überlegend auf seinen immer noch halbwegs vollen Teller, ohne dabei genauer zu definieren, wer 'sie' eigentlich waren. „… würde man nichts mehr davon sehen. Es wäre vollkommen verheilt.“

Cayden wusste, wovon er sprach. Auch er war schon einmal gefoltert und auf die eine oder andere grausame Art und Weise verstümmelt worden. Hätte sein Körper sich nicht davon erholt, wie er es nun einmal tat, er wäre kaum noch lebensfähig gewesen.

„Aber die Körper der Vampire reagieren ungewöhnlich sensibel auf Magie. Soweit ich weiß, mehr als jede andere Spezies auf diesem Planeten. Mit Magie kann man uns nicht nur grausame Dinge antun, die sich für immer in unserem Äußeren verewigen, mit ihr kann man uns auch am Einfachsten töten, wenn man weiß, wie es geht. Allerdings habe ich auch schon von Magie gehört, die schlimmer als der Tod ist.“

 

Mit verfinsterten Zügen nickte Emma langsam. Ihr war bewusst, wozu Magie fähig war. Aber trotzdem war es ihr nie in den Sinn gekommen, dass Benutzer von Magie so grausam sein könnten, einem Vampir so etwas anzutun. Ja, sie waren seit ewigen Zeiten Feinde gewesen. Aber Emma war immer davon ausgegangen, dass Hexen, Magier, Zauberer ... auf der lichten Seite der Dinge standen und immer gestanden hatten. Sie musste sich wohl gründlich getäuscht haben.

„Wie grausam.“ Das war alles, was sie noch dazu sagte. Bis ihr etwas einfiel, das sie Cayden wieder etwas befreiter anblicken ließ: „Kann Magie es dann nicht vielleicht revidieren? Ich meine, ihm zumindest die Narben nehmen?“ Die Narben, die man äußerlich nicht sehen konnte, würde auch Magie nicht einfach heilen können, aber so musste Adam sich zumindest nicht immer an vergangene Qualen erinnern, wenn er sich im Spiegel sah. Vielleicht konnte er sich dadurch sogar überhaupt wieder an etwas erinnern.

 

„Wenn du es nicht weißt, Em. Ich weiß es ganz bestimmt nicht. Ich habe mich immer von Jenen so gut wie möglich ferngehalten und mir sind nur Geschichten zu Ohren gekommen, bei denen Hexen nicht besonders gut wegkommen. Aber möglich wäre es natürlich. Wenn auch eher unwahrscheinlich. Wer sollte so etwas tun wollen, wenn er dazu im Stande wäre?“

Fakt war nun einmal, dass da immer noch diese Feindschaft zwischen ihren Arten stand. Vielleicht nicht mehr so intensiv wie vor einigen Generationen, immerhin war Emma der lebende Beweis dafür, dass Hass nicht vererblich war, aber eine entstandene Kultur oder so eine Art schräger Glaube, ließ sich nicht einfach ausmerzen.

„Außerdem denke ich, Adams oberste Priorität gilt vorerst ohnehin dem Wiedererlangen seiner Vergangenheit. Ich habe das Gefühl, er will sein Leben wieder haben. Auch wenn es noch so schrecklich gewesen sein muss.“

 

„Das kann ich gut verstehen.“

Emma würde an Adams Stelle auch wissen wollen, was sich in der Vergangenheit zugetragen hatte. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, wie es wäre, ohne seine eigenen Wurzeln leben zu müssen.

„Vielleicht kann ich ihm trotzdem irgendwann helfen.“ Mit weniger Lust als dem Drang ihres Hungers nahm Emma die Gabel wieder auf.

„Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass er mich je so nah an sich heranlassen wird. Ich könnte es verstehen, wenn es so wäre.“

60. Kapitel

Kurz vor elf Uhr morgens war das Wetter vor seinem Bürofenster immer noch genauso deprimierend trüb wie bei Arbeitsbeginn, doch Caydens Laune konnte es auch jetzt noch nicht beeinflussen. Ganz im Gegenteil, als er den Telefonhörer an sein Ohr setzte und eine ausländische Nummer wählte, fühlte er sich zum ersten Mal seit dieser ganzen Skandalgeschichte von Optimismus und Hoffnung erfüllt.

Er hatte endlich einen Plan.

Cayden musste nicht lange warten, bevor eine der Sekretärinnen von Yamato den Anruf höflich entgegen nahm. Eigentlich hätte er sie am liebsten schon viel früher angerufen. Ungefähr in der Sekunde, nachdem er seinen Morgenkaffee auf den Schreibtisch abgestellt hatte. Doch da Tokio mehr oder weniger drei Stunden in der Zeit zurücklag, hatte er noch warten müssen und jetzt konnte er sich nur noch mit Mühe bremsen.

Natürlich war Yamato nicht sofort zu sprechen und eigentlich hätte er auch über Emma einen Termin für eine Telefonkonferenz organisieren lassen können. Doch das hier wollte und musste er persönlich erledigen. Schließlich hing das Fortbestehen seiner gesamten Firma von diesem Unternehmen ab.

Nach einem kurzen Gespräch bedankte und verabschiedete er sich noch höflich auf Japanisch und legte den Hörer wieder auf. Sobald es ging würde Yamato ihn dazwischen nehmen.

Für einen Moment lehnte Cayden sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und starrte an die Decke. Normalerweise war er bei Telefonaten schon lange nicht mehr nervös, aber dieses hier hatte trotz allem sein Herz wie wild zum Rasen gebracht. Dabei hatte er noch nicht einmal persönlich mit seiner möglichen Rettungsleine sprechen können.

Der nächste Anruf sollte ihn daher weit mehr aus der Fassung bringen, aber irgendwie tat er das nicht.

Seinem Anwalt Feuer unterm Hintern zu machen, damit er die Scheidungspapiere vorbereitete und endlich Vanessa vorlegte, war da eher etwas, das ihm eine grimmige Zufriedenheit bescherte. Für seine 'noch Ehefrau' hoffte er, dass sie keinerlei Anstalten mehr machte und sich mit der gewaltigen Abfindung zufriedengab. Obwohl es eigentlich noch wichtiger wäre, dass sie sich mit der Presse in Verbindung setzte und endlich die Lügen aus der Welt schaffte. Doch eines nach dem anderen. Die Scheidung war ihm persönlich gesehen wichtiger als sein Ruf. Denn Emma kam bei ihm vor der Firma, auch wenn er Letzteres wegen der unschuldigen Mitarbeiter nicht außer Acht lassen durfte. Was er auch nicht tat.

Aber Emma war sein Leben. Die Firma letztendlich nur ein aufwendiger Zeitvertreib.

Nachdem er auch den Anruf mit seinem Anwalt erledigt hatte, schrieb er Emma ein kurzes Memo, um sie zu fragen, ob sie mit ihm zusammen zu Mittag essen wolle.

Vor diesem Wochenende wäre er sich nicht sicher gewesen, wie ihre Antwort ausfiel, doch jetzt hatte er keine Angst, dass sie ihm absagen würde. Höchstens aus wirklich triftigen Gründen, die absolut nichts mit ihren Gefühlen zu ihm zu tun hatten.

Denn nach allem, was er ihr an diesem Wochenende von sich preisgegeben hatte, war sie doch bei ihm geblieben. Sie hatte ihn nicht verurteilt und auch keine Angst dabei empfunden, obwohl sie nun auch Seiten an ihm kannte, die eher in die finsteren Winkel seines Selbst gehörten und nur wenige auserwählte Personen sehen durften.

Vielleicht waren die langen Gespräche oder auch die anschließende Nähe zu Emma der Grund dafür, dass er nun endlich wieder eine Richtung hatte. Ein Ziel und vor allem einen Plan, wie er das Ruder noch herumreißen und alles zum Guten wenden konnte. Vielleicht meinte es auch einfach das Schicksal wieder gut mit ihm und hatte ihm den richtigen Einfall geschickt. Aber was es auch war, Cayden war sich sicher, dass Emma einen großen Teil dazu beigetragen hatte, in aus dieser Misere hinauszumanövrieren. Denn sie gab ihm Kraft und den Willen weiterzumachen, egal wie schwer es war.

 

Kurz vor zwölf bekam er den entscheidenden Anruf, als Cayden gerade dabei war, sich für das Mittagessen mit Emma fertigzumachen.

Sein persönlicher Anruf hatte Yamato neugierig gemacht und dazu beigetragen, dass dieser ihn schneller dazwischen nahm, als Cayden gerechnet hatte.

Während er sich ausführlich bei Herrn Yamato für den raschen Rückruf bedankte, tippte er hastig ein weiteres Memo an Emma, bevor er sich vollkommen auf das Gespräch konzentrierte.

Emma, muss das Mittagessen leider verschieben. Wichtiger Anruf. Firma hängt vllt davon ab. Werde dir nachher ausführlich berichten. Liebe dich. xoxo

 

Es fühlte sich ein wenig so an, als befänden sie sich gerade im Auge des Hurrikans. Zu Anfang der Hetzkampagne gegen Cayden hatte das Telefon kaum stillgestanden. Jeder hatte Termine absagen und seine Schäfchen ins Trockene bringen wollen. Jetzt hatte das Telefon den ganzen Tag noch nicht einmal geklingelt, sodass Emma schon den Hörer abgenommen und gelauscht hatte, ob die Leitung vielleicht komplett tot war. Irgendwie machte ihr dieser Zustand sogar noch mehr Sorgen, als das Gezeter und die unangenehmen Fragen, die sich so manche Vertragspartner herausgenommen hatten, um vielleicht frühzeitig aus ihren Verträgen heraus zu kommen. In diesem jetzigen Vakuum kam erschwerend hinzu, dass die Stimmung in den Büros noch stärker zu spüren war. Die verzweifelte Skepsis der Angestellten, die sich bestimmt schon nach Alternativen umsahen oder bereits Bewerbungen an andere Firmen geschickt hatten. Unter diesen Umständen und wäre es nicht Caydens Firma, hätte Emma das Gleiche getan.

Als sie sein Memo bekam, dass ein wichtiges Telefongespräch ihr gemeinsames Mittagessen verhindern würde, atmete Emma tief durch und machte sich erst einmal einen Tee. Es würde wieder alles in Ordnung kommen. Immerhin waren die Anschuldigungen falsch und es würde sich bald aufklären.

Mit einem tiefen Seufzen musste Emma aber auch zugeben, dass Caydens Ruf trotzdem sehr schwer wieder zu kitten sein würde. Was einmal über die Presse in die Öffentlichkeit gelangt war, ließ sich nie wieder ganz aus den Köpfen der Leute löschen.

Die Teetasse in der Hand ging Emma wieder ins Vorzimmer zurück, klickte sich durch die Mails, die sie heute bereits alle beantwortet hatte, und suchte dann im Internet eine Website heraus, die kleine, frische Snacks liefern ließ. Zwar hatte sie kaum Hunger, aber sie sollte trotzdem etwas essen, sonst konnte sie auch nicht mehr richtig arbeiten und Cayden ein wenig den Rücken freihalten.

 
 

***

 

Das angeregte Gespräch mit Yamato dauerte weit bis über seine Mittagspause hinaus, doch verging es trotzdem wie im Flug und zugleich hatte Cayden das Gefühl, als würde es endlich vorangehen.

Natürlich hatte Yamato selbst in Tokio von den Anschuldigungen gegen Cayden gehört, aber im Gegensatz zu den vielen anderen Leuten, war er nie von ihrer Aussage überzeugt gewesen. Das war sehr hilfreich, was den weiteren Verlauf des Gesprächs betraf, in dem es darum ging, ihre Firmen zusammenzulegen.

Um das Unternehmen wirklich zu retten, dabei aber sich selbst zurückziehen zu können, war Cayden letztendlich nur eine Fusion in den Sinn gekommen. Natürlich kam für ihn hierbei ausschließlich Yamato in Frage, da dieser nicht nur ein geschätzter Geschäftspartner war, sondern auch genau die starke Persönlichkeit besaß, der Cayden dieses Unterfangen zutraute.

Zwar würde Yamato nicht selbst die Führung von Caydens Firma übernehmen, aber sein ältester Sohn wartete schon lange auf eine Chance wie diese und unter dem Drill eines solchen Vaters, hatte Cayden keine Bedenken dabei, die Führung an einen noch so jungen Mann abzugeben.

Als er schließlich den Hörer wieder auflegte, glühte nicht nur sein Ohr, sondern auch der Rest seines Körpers vor Aufregung. Nun konnte ihm selbst der Skandal egal sein. Seiner Firma würde es wieder besser gehen und er selbst brauchte sich nicht länger um die Meinung der Öffentlichkeit zu kümmern, nachdem er sich von ihr zurückgezogen hatte.

Diese Wendung des Ganzen war so erfreulich und erleichternd, dass Cayden unmöglich bis Arbeitsende warten konnte, um Emma davon zu berichten, also zitierte er sie zu sich ins Büro, da er ohnehin nicht glaubte, dass dort draußen ein zu reger Ansturm herrschte.

 

Emma warf die Bürotür fast zu laut ins Schloss, aber andererseits war sie zu neugierig, um sich darum zu kümmern, was das wohl für einen Eindruck machte. Sie steuerte direkt auf den großen Schreibtisch zu, zog sich einen der Besucherstühle so heran, dass sie Cayden direkt gegenübersitzen konnte, und sah ihn erwartungsvoll an.

Das Telefonat war bestimmt vorbei, wenn Cayden sie so umgehend sehen wollte. Aber sie konnte in seinen Augen einfach nicht lesen, ob es gut oder schlecht verlaufen war. Vielleicht bedeutete der Ausdruck auf seinem Gesicht auch, dass noch Unentschiedenheit herrschte?

Sie hatte die Beine übereinandergeschlagen und ihre Hände gefaltet. Etwas nach vorn gelehnt runzelte sie die Stirn bei der Anstrengung, etwas in Caydens Mimik abzulesen. Nach einer Weile gab sie es auf.

„Und?“, fragte sie vorsichtig, aber durchaus mit einem fordernden Unterton. Immerhin drängte es sie, die Nachrichten zu erfahren.

 

„Heute Nacht kam mir die Idee, wie ich die Firma retten und mich zugleich von ihr lösen kann“, sprach Cayden freiheraus, um Emma nicht länger auf die Folter zu spannen.

Sie war nicht nur die Erste, der er es erzählte, sondern auch die Einzige, bei der es ihm wichtig war.

Da diese Nachricht so gut und gewichtig war, hielt es ihn auch nicht länger auf seinem Stuhl, also ging er um den Schreibtisch herum und begab sich vor Emma in die Hocke, um von unten herauf tief in ihre Augen sehen und dabei ihre Hände ergreifen zu können.

„Meine Firma wird mit der von Yamato fusionieren. Die Arbeitsplätze bleiben erhalten und C&C bekommt ein neues Oberhaupt. Was für mich bedeutet, dass ich mich endlich aus der Öffentlichkeit zurückziehen und ganz für dich und unser Baby da sein kann. Wir werden endlich in Ruhe zusammen sein können.“

Bei seinen letzten Worten strahlte er übers ganze Gesicht, denn das war für ihn bei dieser ganzen Sache das Allerwichtigste. –Ein ungestörtes Leben mit Emma, in dem sie beide friedlich ihr Kind großziehen konnten und vielleicht auch all die verpassten Dates nachholten, die derzeit auf der Strecke geblieben waren.

 

Die Überraschung zeichnete sich klar auf Emmas Gesicht ab.

„Darum ging es in dem Gespräch? Und … das klappt wirklich?“

Da sie sich mit Geschäften dieser Art überhaupt nicht auskannte und nach den Ereignissen in letzter Zeit auch eher skeptisch war, was mündliche Abmachungen betraf, drückte sie Caydens Finger ein wenig fester und sah ihm direkt in die Augen.

„Kannst du dich darauf verlassen? Ist das schon spruchreif?“

Das wäre großartig. Nicht nur die Firma wäre gerettet, sondern Cayden könnte endlich wieder tun, was er wollte. Er könnte sich den Journalisten entziehen und sie könnten das ganze Getöse mit seiner Ex schnell wieder vergessen.

Trotzdem konnte sich Emma nicht vorstellen, dass so etwas ganz einfach über das Telefon funktionierte. Und wer sollte der neue Chef von C&C werden? Ging das in Yamatos Hände über und es wurde einfach ein neuer Vorstand für die Firma hier in Neuseeland eingesetzt?

„Ich … kenne mich mit solchen Sachen nicht aus, und ich weiß auch nicht, wie viel davon du mir erzählen möchtest, aber würdest du mir erklären, wie das genau laufen wird? Ich … kann mir einfach nicht vorstellen, dass ein einziges Telefonat alle Probleme lösen soll.“

Natürlich hatte sie dennoch die Hoffnung, dass es so sein könnte. Dass sich alles einfach und problemlos lösen würde. Aber Cayden hatte nicht davon gesprochen, die Firma zu verkaufen. Was alles hinter einer Fusion steckte, wusste Emma nicht. Auch nicht, wie viel Arbeit das bedeuten würde. Aber mit dem ruhigen Leben rechnete sie nicht in den kommenden paar Monaten.

 

„Nein, so einfach über das Telefon ist es dann doch nicht. Aber zumindest konnte ich mich mit Yamato in den wichtigsten Punkten bereits einigen und für die restlichen Rechtsfragen werde ich Ende dieser Woche für ein paar Tage nach Tokio fliegen, mit meinen Firmenanwälten und ein paar Vorstandsmitgliedern im Gepäck. Für die Mitarbeiter und die Firma selbst wird sich nur geringfügig etwas ändern. Sie wird einen neuen Namen erhalten und auch ein neues Oberhaupt.“

Unablässig lächelnd küsste Cayden Emma beruhigend die Hände und sprach weiter. „Ich habe es so eingefädelt, dass ich im Grunde nur noch unterzeichnen brauche, offiziell zurücktrete und dann alles Weitere dem Vorstand überlasse. Sollen die sich mit dem Rest herumschlagen. Ich habe lange genug für diese Firma geschuftet und kostbare Zeit hineingesteckt.“

Cayden richtete sich weiter auf, schlang seine Arme um Emma und drückte sein Ohr mit einem wohligen Seufzen gegen ihren Bauch.

„Wenn alles gut geht, könnte mein Anwalt sogar auch noch die Scheidung diese Woche durchprügeln. Vorausgesetzt Vanessa stellt sich nicht quer, aber nach allem, was war, glaube ich das weniger.“ Schließlich hatte er ihr sein Blut gegeben, um ihr Leben zu retten und ihre Schönheit wieder herzustellen. Sollte sie nur versuchen, sich mit einem Vampir anzulegen. Irgendwann konnte auch Cayden ungemütlich werden.

 

Als Cayden sie umarmte, legte auch Emma ihre Arme um ihn, küsste ihn an der Schläfe und schloss kurz die Augen.

„Dann kommt wirklich wieder alles in Ordnung?“ Das hörte sich himmlisch an. Und genau das machte Emma ein wenig skeptisch. Konnte es wirklich so vermeintlich einfach sein? Aber wenn Cayden es sagte, würde sie ihm glauben und ihn unterstützen.

Emma zog sich ein wenig zurück, um ihm in die Augen sehen zu können. „Wie lange wirst du in Japan sein? Soll ich mich um die Flüge kümmern?“

Am liebsten wäre sie mitgeflogen, aber ihre seelische Unterstützung würde sich auf das Warten am Terminal und ein paar Anrufe beschränken müssen. Unter Umständen wäre sie ihm in Japan sogar eher im Weg. Cayden musste sich dort auf den reibungslosen Ablauf des Geschäfts konzentrieren. Und Emma würde dafür sorgen, dass hier alles in ruhigen Bahnen verlief.

„Kann ich denn etwas tun, während du weg bist? Soll ich mich hier um etwas Bestimmtes kümmern?“

 

„Es wäre schon toll, wenn du dich für mich um die Flüge kümmern könntest. Dann kann ich mich auf die restlichen Dinge konzentrieren, die noch zu organisieren sind. Ansonsten halte einfach hier für mich die Stellung. Aber da mache ich mir keine Sorgen.“

Cayden richtete sich weiter auf, nahm zärtlich Emmas Gesicht zwischen seine Hände und küsste sie sanft. „Und Em? Ich will, dass wir jeden Tag telefonieren, weil ich sonst nicht weiß, wie ich es ohne dich in Tokio aushalten soll. Immerhin hast du mir die letzte Reise dorthin äußerst versüßt und damit meine ich jetzt nicht die Sache im Hotelzimmer, obwohl die auch ganz und gar nicht zu verachten war.“

Er grinste für einen Moment spitzbübisch, bis ihm einfiel, dass er vor der Reise nach Tokio auf jeden Fall noch die richtige Menge an Blut trinken musste, um die paar Tage problemlos über die Runden zu kommen. Je nach dem, wie anstrengend das Geschäft wurde, würde er jede Reserve gebrauchen können und zugegeben Emmas Geschenk vor ein paar Tagen war eine ganze Menge gewesen, aber der Großteil davon war für die Heilung seines Körpers draufgegangen. Er hätte zu diesem Zeitpunkt mindestens von zwei Menschen trinken müssen, um wieder rundum versorgt zu sein. Auch jetzt spürte er den Durst langsam wieder stärker werden.

Aber noch einmal von ihr zu trinken? Die Chance war nach dem letzten Mal bestimmt vertan. Außerdem wollte er sie nicht noch einmal so unter Druck setzen. Er würde sich als fürs Erste einmal mit Adam zusammentun. Der Vampir wusste sicher, wo man ungestört einen Schluck trinken konnte, ohne gleich befürchten zu müssen, entdeckt zu werden.

 

„Okay.“

Sie konnte etwas tun! Emma hätte am liebsten kurz gejubelt, aber so beschränkte sie sich auf ein Grinsen, bevor sie Cayden für seinen Kommentar spielerisch strafend in den Unterarm kniff. „Hey, keine Einzelheiten. Wir sind hier immerhin im Büro.“

Sie schlang die Arme um seinen Hals und küsste ihn, bevor sie versprach, natürlich jeden Tag mit ihm zu telefonieren. „Du glaubst doch nicht, dass ich es hier ohne Telefonat aushalten würde.“ Nach einem weiteren Kuss fügte sie hinzu: „Ich werde so froh sein, wenn das alles vorbei ist.“

Dann strich sie geschäftsmäßig ihre Kleidung glatt und strahlte Cayden weiterhin an.

„Ich kümmere mich gleich um die Flüge. Wen möchtest du mitnehmen? Das mit den Hotelzimmern erledige ich am besten auch heute noch.“

 

Cayden musste bei Emmas Geschäftstüchtigkeit lächeln. Mit ihr im Vorzimmer hatte er wirklich schon gewonnen, aber das hatte er auch so.

„Ich muss noch wegen des Vorstands herumtelefonieren, aber ich lasse dir so schnell wie möglich die Liste der Beteiligten zukommen und auch den Tag, wann es losgehen soll. Aber keine Angst, die Koffer kann ich noch selber packen.“

Noch einmal umarmte Cayden sie, sog tief den Duft ihrer Haut ein und genoss ihre Wärme. Schon bald würde er das uneingeschränkt und in aller Öffentlichkeit tun dürfen, ohne dass man ihn deshalb sofort steinigte. Vanessa wäre Geschichte, ebenso wie seine Firma. Sie würden endlich alle Zeit der Welt für sich haben und darauf freute er sich so sehr, wie man sich nur auf etwas freuen konnte.

61. Kapitel

Emma hatte es sich in ihrem Zimmer gemütlich gemacht. Auf ihrem Nachttisch dampfte eine Tasse Tee vor sich hin, ihre Füße steckten in kuscheligen Socken und ihr Handy lag in ihrem Schoß. Der Zettel, auf dem sie sich die Nummer der Telefonkarte notiert hatte, um günstiger nach Japan telefonieren zu können, war schon ganz zerknüllt.

Wie Cayden versprochen hatte, verging kein Tag, an dem sie nicht telefonierten. Und sei es nur, um sich eine gute Nacht zu wünschen. Selbst dafür hätten SMS nicht gereicht. Denn es war einfach nicht dasselbe, wie vor dem Einschlafen noch einmal seine Stimme zu hören. Jeden Tag fieberte Emma diesem Telefonat entgegen. Sie freute sich nicht nur, dass sie mit Cayden sprechen konnte, sondern auch darüber, was er zu erzählen hatte. Die Verhandlungen liefen gut, soweit sie informiert war. Die Einzelheiten hatte Emma gar nicht so genau wissen wollen. Es hätte ihr zum großen Teil vermutlich ohnehin nichts gesagt. Wichtig war sowieso nur, dass es gut lief. Und dass Cayden bald nach Hause kommen würde.

Emmas Blick schweifte zur Uhr und sie versuchte auszurechnen, wann genau das Flugzeug in Tokio starten würde. Wie viele Stunden? Eigentlich war es ihr nur wichtig, dass er bald wieder hier sein würde.

Mit einem breiten Lächeln griff sie zum Handy, wählte die Nummer und wartete gespannt, dass Cayden das Gespräch annahm.

 

Er kam gerade aus dem Speisesaal, als sein Handy klingelte. Cayden hatte dort mit Derek und Nick aus dem Vorstand ein frühes Abendessen eingenommen. Doch im Gegensatz zu den beiden anderen hatte er keine Lust mehr verspürt, sich anschließend noch an die Bar zu begeben.

Die Bar des Peninsula war zwar immer wieder ein absolutes Highlight, aber ohne Emma dort zu sitzen, hätte ungefähr den fahlen Beigeschmack eines abgestandenen Biers besessen. Nichts, was ihn reizte und auch absolut nichts, was er sich antun musste. Die Zeiten des Tun-Müssens waren nun endgültig bald vorbei. Dann würde er nur noch tun, was er wollte und worum Emma ihn bat.

Cayden betrat noch schnell den Fahrstuhl, bevor er den Anruf entgegen nahm und im Geiste dafür dankte, dass er hier so guten Empfang hatte. Ohne vorher nachgeschaut zu haben, wer ihn da genau anrief, sprudelte er einfach drauf los: „Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, wie wahnsinnig ich dich inzwischen vermisse und dass ich es kaum erwarten kann, dich wieder in meinen Armen zu halten, um dich von oben bis unten abknutschen zu können?“

Er musste leise lachen. Cayden war sich nicht hundertprozentig sicher, dass da Emma am anderen Ende der Leitung war, aber er hoffte natürlich nur das Beste.

 

Emma musste lachen, als der Wortschwall ihr aus dem Handy entgegen flutete. Sie kuschelte sich wohliger in ihre bunte Decke und antwortete: „Hallo mein Liebster. Es freut mich sehr, dich zu hören.“ Da es still um Cayden war und sie keine Geräusche oder Gesprächsfetzen hören konnte, die darauf hindeuteten, dass er unterwegs oder in einem Restaurant war, sprach sie weiter.

„Na, wie geht es dir? Läuft immer noch alles gut? Das mit dem von Kopf bis Fuß abknutschen ist übrigens eine tolle Idee. Lass uns das bald umsetzen. Wie wäre es ...“ Sie überlegte gespielt. „... mit Morgen?“ Mit der Zeitverschiebung war es für ihn vielleicht auch übermorgen, aber das war Emma jetzt egal. Jedenfalls trennten sie nur noch zählbare Stunden. Das war alles, was zählte.

 

„Hallo, nyonya“, begrüßte er sie nun erst einmal richtig, musste aber wegen Emmas Antwort schmunzeln. Kopfkino war wirklich eine tolle Sache. Vor allem, wenn man damit gerade alleine war und niemand einem vom Gesicht ablesen konnte, woran man dachte.

Das änderte sich auch nicht, als er den Fahrstuhl verließ und schon mal nach seiner Schlüsselkarte kramte, während er den leeren Flur entlangging.

„Der Bürokram ist so gut wie erledigt und das Geschäft abgeschlossen. Noch eine beglaubigte Unterschrift und ich bin die Firma los.“ Erklärte er weiter und begriff es irgendwie immer noch nicht ganz. Da war ein Gefühl der Erleichterung in seiner Brust, aber so richtig stark würde es wohl erst werden, wenn er die Sachen aus seinem Büro schaffte und alledem endgültig den Rücken kehrte.

„Und wir sehen uns übermorgen in der Früh endlich wieder. Ich bin mir da aber noch nicht ganz sicher, ob du mich vom Flughafen abholen oder doch lieber im Negligé auf meinem Bett liegend auf mich warten sollst. Schwere Entscheidung. Hm ...“

Schmunzelnd öffnete Cayden die Tür zu seinem Zimmer, stieß sie sanft mit seinem Fuß wieder hinter sich zu und löste erst einmal den Knoten seiner Krawatte. Eigentlich war er nicht wirklich der Typ für solche Sprüche, aber die Zeit ohne Emma, machte ihn einfach rasend und das war noch nett ausgedrückt.

 

„Ich würde sagen, wir kombinieren beides. Aber da selbst in den Morgenstunden viele Leute da sein werden, sollten wir das wahrscheinlich doch lieber lassen.“ Emma lachte noch einmal und stellte sich die Gesichter der Leute am Flughafen vor. Zwar war es ein sehr kleiner Flughafen und man konnte ihn ziemlich schnell verlassen, aber trotzdem stand nicht zur Debatte, dort im Negligé aufzulaufen. Zumal Emma so etwas, wie Cayden wahrscheinlich im Sinn hatte, überhaupt nicht besaß.

„Was hältst du davon, wenn ich dich abhole und wir dann einfach direkt zu dir fahren. Da ich dir mit der Nachtwäsche nicht dienen kann, würde ich sagen, wir lassen den Auftritt im hauchdünnen Nichts einfach aus ...“ Was dann folgte, stand ungesagt im Raum, aber Emma war sich sicher, dass Cayden sie schon ganz richtig verstand.

„Wie lang dauert denn dein Flug? Ich werde mir das mit der Zeitverschiebung nie richtig vorstellen können.“

 

Cayden ließ sich einfach, so wie er war, rücklings aufs Bett fallen und schloss für einen Moment die Augen. Der Tag heute war anstrengend aber auch produktiv gewesen und bald würde sein einziger Stress sowieso nur noch darin bestehen, mehrmals in der Nacht aufzustehen und Babywindeln zu wechseln. Das klang doch wirklich richtig gut.

„Deine Einfälle gefallen mir. Das sollte mal erwähnt werden“, lobte er Emma zufrieden und nannte ihr dann einfach die geplante Ankunftszeit des Fliegers, um die Sache zu vereinfachen. Sie hatten im Augenblick doch viel bessere Dinge zu bereden als die Zeitverschiebung.

„Wie geht’s dir eigentlich und was macht das Baby?“

 

„Oh, dem Baby geht’s gut.“ Emma streichelte über ihren Bauch und lächelte. „Wir waren heute beim Arzt und ich durfte ein bisschen Baby gucken. Leider nicht wirklich lang genug. Ich könnte ewig zuschauen. Aber unser Nachwuchs wird auf jeden Fall ziemlich sportlich, wenn das so weiter geht.“ Immer wieder konnte sie nämlich schon jetzt spüren, wie sich das Baby in ihrem Bauch beschäftigte. Boxte, trat und dem Gefühl nach Salsa tanzte. Was Emma wieder ein Lächeln entlockte. Hauptsache, es ging alles gut.

 

„Ich hab Baby-TV verpasst?“ Caydens Entrüstung war echt, denn er hätte sein Kind zu gerne einmal gesehen. „Das ist wirklich unverzeihlich, Em. Aber das nächste Mal will ich unbedingt dabei sein. Diese Technik gab's früher noch nicht. Da hieß es immer bange zu warten, ob es wirklich gesund auf die Welt kommt und sich dann überraschen lassen, was es wird. Wobei, das tun wir ja auch jetzt noch.“

Cayden seufzte und entspannte sich wieder. Dann würde er eben beim nächsten Arzttermin dabei sein und auch bei allen die noch folgen würden und er würde auf alle Fälle darauf bestehen, bei den Geburtsvorbereitungskursen dabei zu sein. Er wollte doch schließlich auf dem neuesten Stand sein, was Babys anging. Zeit genug hatte er jetzt ja und Emma auch, denn er würde sie schon irgendwie dazu überreden können, selbst den Job an den Nagel zu hängen und sich stattdessen auf das Wesentliche zu konzentrieren. Nicht nur auf das Baby, sondern auch wieder auf ihr Studium. Solange es ging, konnte sie dort auch immer noch weiter machen. Das war es doch eigentlich, was sie vor all diesen Ereignissen angestrebt hatte.

„Wie geht’s eigentlich Rob und Kathy? Gewöhnen sie sich schon langsam an den Gedanken, in Zukunft einen Mitbewohner weniger zu haben?“ Er sprach es im Scherz aus, aber eigentlich war das sein Versuch, anzutesten, ob Emma schon darüber nachgedacht hatte, wie das alles mit ihnen weitergehen sollte. Sie konnte nicht in der kleinen Wohnung mit ihren Mitbewohnern bleiben. Besser gesagt, er wollte mit ihr zusammen ein Heim schaffen und das 'Nest' für ihr Baby vorbereiten. Aber bis zu diesem Thema waren sie eigentlich noch nie wirklich gekommen.

 

„Den beiden geht’s auch gut. Danke der Nachfrage.“

Rob und Kathy waren wie immer. Die Nachricht über Emmas Schwangerschaft hatte sie zwar anfangs getroffen, aber nach einer Weile hatten sie die Situation akzeptiert und sich mit Emma gefreut. Emma konnte sich die beiden gut als zukünftige Babysitter vorstellen. Was sie sich allerdings noch nicht so ganz vorstellen konnte, war hier auszuziehen und die beiden nicht mehr jeden Tag um sich zu haben.

„Weißt du ...“, begann sie vorsichtig. „Es wird einfach ganz anders sein ohne die beiden. Ohne mein unaufgeräumt und zudekoriertes Zimmer und das alles.“ Sie hoffte, dass er sie nicht falsch verstand. Caydens Wohnung war unglaublich. Aber auch irgendwie ... Na ja, Emma konnte sich einfach nicht vorstellen, dort mit ihm zu leben und sich nicht immer als Gast zu fühlen. Wenn man die ganzen glänzenden Oberflächen bedachte und wie aufgeräumt es dort immer war, würde Emma sich fühlen wie eine Verbrecherin, wenn sie ihre Socken irgendwo liegen ließ oder ihren chaotischen Schreibtisch mitbrachte.

„Ich denke, das wird eine Umstellung. Aber wir kriegen das schon hin.“ Das glaubte sie wirklich. Cayden war so lieb und zuvorkommend. Sie würden schon eine Lösung finden, die für sie beide passte.

 

Bei Emmas Beschreibung musste Cayden wieder lächeln. Er mochte ihr Zimmer und ihr 'Chaos'. Es war gemütlich, warm und lebendig. Eben einfach sie.

„Sicher kriegen wir das schon hin, und wir haben ja noch ein bisschen Zeit für die Suche nach unserem kleinen Traumhaus. Da kannst du von mir aus dann so viel zudekorieren, wie du willst. Ich nehme an, mit Baby wird sowieso immer ein kleines bisschen Chaos herrschen. Da passt das schon.“

Cayden überlegte in Gedanken bereits, wo er am besten nach guten Immobilien schauen konnte, oder ob er sich nicht lieber gleich einen Makler besorgte, der ihnen das Suchen erleichterte. Wäre vermutlich besser.

„Was ist dir eigentlich lieber: Stadt oder Land? Ich persönlich würde die Ruhe des Ländlichen ja vorziehen, aber wenn dir eine gute Infrastruktur lieber ist ...“

 

Wieder musste Emma lachen. „Moment, Moment. Ist das dein Ernst? Du willst einfach so ein Haus für uns kaufen?“ Wahrscheinlich war das für Cayden finanziell gar kein Problem, aber Emma konnte sich nicht ansatzweise vorstellen, dass man von heute auf Morgen ein Haus kaufte. Andererseits war es für Cayden sicher auch merkwürdig, in der Wohnung zu bleiben, die direkt über dem Firmensitz lag, dem er bald den Rücken kehren würde.

 

„Warum nicht? Ich meine, wenn du Wert darauf legst, kann ich uns auch eine Villa oder ein Schloss kaufen. Vielleicht sogar eine eigene Insel. Aber ich glaube eher, dass du der normale Haustyp bist und mir würde das schon vollkommen genügen. Ein bisschen mehr Platz und Ruhe, das wäre schon was. Von mir aus können Rob und Kathy auch öfter bei uns vorbeischneien. Ich mag die beiden. Damit hätte ich garantiert kein Problem. Viel mehr Schiss habe ich davor, deine Mutter kennenzulernen.“

Nach dem ganzen Redeschwall holte Cayden erst einmal tief Luft, um auf dieses schwergewichtige Thema einzugehen. „Weiß sie eigentlich, dass der Vater ihres zukünftigen Enkelkindes ein Vampir ist? Ich meine, muss ich zu Weihnachten oder Ostern oder bei Kindergeburtstagen Angst haben, dass sie mir einen Pflock ins Herz rammt?“

 

„Okay.“

Sehr viel mehr konnte sie dazu gerade nicht sagen. Zwar hätte sie das Ganze nicht ganz so überraschen sollen, aber Emma fühlte sich trotzdem ganz schön platt von Caydens Aussagen. Er würde ein Haus für sie kaufen. Das war ... großartig und gleichzeitig ein bisschen erschreckend. Von einer WG in ein Haus zu ziehen würde eine ziemliche Umstellung werden. Aber andererseits war sie auch glücklich über diese Aussicht. Und ihr war bewusst, dass sie verdammt viel Glück hatte, jemanden wir Cayden zu haben. Immerhin hätte die Alternative darin bestehen können, hier in der WG zu bleiben oder sogar zusammen in ihrem Zimmer zu wohnen, mitsamt Kind und allem Drum und Dran.

Dass Cayden sich über ihre Mom Sorgen machte, ließ Emma schmunzeln. „Ich glaube nicht, dass sie dir gleich ans Leder will, weil du ein Vampir bist. Weil du ihre Tochter geschwängert hast, ohne vorher um deren Hand anzuhalten, wäre da schon eher ein Grund. Aber mal dir da keine allzu großen Befürchtungen aus. Meine Mom ist klasse. Sie wird dir kein Haar krümmen.“

 

„Deinen Optimismus möchte ich haben!“ Cayden stieß einen langen Seufzer aus. „Du weißt vielleicht nicht mehr, wie schlimm es einmal zwischen unseren beiden Arten war, aber ich hoffe, du hast recht, was deine Mutter angeht und dass sie mich nicht wegen der Schwangerschaft im Schlaf kastriert. Dass ich dich noch nicht geheiratet habe, heißt ja schließlich nicht, dass ich das nicht vorhabe. Es braucht eben alles seine Zeit und ich muss ja erst einmal deine Mutter kennenlernen, um überhaupt um deine Hand anhalten zu können.“

Außerdem musste er auch zuerst geschieden werden. Aber nach dem letzten Anruf seines Scheidungsanwalts zu urteilen, war die Sache so gut wie sicher. Er würde sich sofort melden, wenn Vanessa unterschrieben hatte und die Scheidung rechtskräftig war.

 

„Natürlich.“ Emmas Stimme wurde sanfter.

„Damit wollte ich doch nicht sagen, dass du mit wehenden Fahnen anreisen und mich heiraten musst. Es ist doch alles gut so, wie es sich gerade entwickelt. Bitte setz dich unseretwegen nicht noch mehr unter Stress.“

Das wollte Emma unter allen Umständen verhindern. Cayden hatte genug um die Ohren. Es gab noch so viel zu klären und weder Emma selbst noch ihre Mom würden ihn noch mehr in die Ecke drängen. Emma hoffte, dass sich Cayden dessen bewusst war.

„Wir können meine Mom gern besuchen, wenn du wieder hier bist. Sobald das mit der Firma überstanden ist, meine ich. Ich werde sie anrufen und sie seelisch ein bisschen vorbereiten, was meinst du?“

Ein leises Seufzen kam über ihre Lippen. „Man glaubt es kaum, aber jetzt, wo es nur noch ein paar Stunden sind, kann ich wirklich fast nicht mehr erwarten, dass du endlich wieder hier bist. Wahrscheinlich werde ich mindestens eine Stunde zu früh am Flughafen stehen in der Hoffnung, dass der Flieger eine Menge Rückenwind hat. Ich freu mich schon so sehr auf dich.“

 

„Ich mich auch, Em. Ich mich auch.“

Für einen Moment kuschelte Cayden sich noch einmal in die Tagesdecke, bevor er entschlossen aufstand und mit dem Handy am Ohr ins Bad ging.

„Ich würde sagen, um die Sache zu beschleunigen, sollten wir dann beide einfach schnell ins Bett gehen, eine Runde schlafen und danach dauert es bestimmt nicht mehr so lange. Was denkst du?“

Cayden machte schon einmal die Zahnbürste startklar und begann vorsichtig zu putzen, damit er Emma immer noch hören konnte, sie ihn dafür aber nicht zu stark hörte.

 

„Sehr gute Idee. Ich sitze eigentlich auch schon im Bett. Ich werde nur noch meinen Tee austrinken und dann schlafen gehen. Ich freu mich sehr auf Morgen. Und ich liebe dich. Also komm bitte wohlbehalten nach Hause.“

Ein bisschen albern fand sie es zwar selbst, aber dennoch drückte Emma einen kleinen Kuss auf ihr Handy. „Schlaf gut.“

 

Cayden nahm die Zahnbürste aus dem Mund und deckte den Lautsprecher des Telefons ab, während er kurz ausspuckte.

„Ich liebe dich auch, nyonya, und wünsche dir nur die aller schönsten Träume. Ich freue mich auf dich und selbstverständlich komme ich gut an. Pass auf dich auf und komm morgen nicht zu früh. Ich will nicht, dass du zu lange warten musst. Gute Nacht.“

Er schickte ihr einen Luftkuss und zwang sich dann dazu, den Anruf zu beenden. Wusste er doch, dass es sonst ihnen beiden noch schwerer fallen würde, als ohnehin schon. Immerhin waren sie schon in der Situation gewesen, dass sie sich tausend Mal eine Gute Nacht gewünscht hatten und dennoch beide am Handy geblieben waren. Es musste also einer tun. Gestern hatte Emma aufgelegt, heute war er wieder dran und ab morgen würde das kein Thema mehr zwischen ihnen beiden sein.



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Kommentare zu dieser Fanfic (44)
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Von:  schatz123
2017-01-09T23:02:13+00:00 10.01.2017 00:02
Wo ist der die fortzezung???
Von:  Schneekaetzlein
2013-11-29T03:18:47+00:00 29.11.2013 04:18
Es geht weiter. -freu-
War über das abgebrochen echt traurig - Ihr schreibt eine schöne Geschichte.
Von:  thundergirl
2012-12-06T15:22:57+00:00 06.12.2012 16:22
Hey

JUUHUUUU ein neues Kapitel :)

Schön dass Cayden sich Emma öffnet und etwas aus seiner Vergangenheit erzählt.

Freue mich schon auf das nächste Kapitel

MfG :)
Von: abgemeldet
2012-11-29T11:11:55+00:00 29.11.2012 12:11
loool cayden im lederfetzen xD wie geil ich kann es mir bildlich vortsellen und musste richtig lachen :D

wie schön endlich etwas über seine vergangenheit zu erfahren ...das finde ich sehr interessant!

freue mich schon darauf weiter zu lesen ;)
Von:  thundergirl
2012-11-26T11:59:29+00:00 26.11.2012 12:59
Hey :)

jetzt habe ich das letzte von euch hochgeladene Kapitel gelesen und dachte mir ich schreib mal wieder ein Kommentar ;)

Ich muss wieder sagen, dass ich eure FF echt gut finde :)

Also Vanessa mag ich ja mal garnicht und ich bin froh, dass er sich von ihr scheiden lassen will, was er hoffentlich auch macht. Auch wenn ich sie nicht mag kann ich mir schlecht vorstellen, dass sie sich praktisch "selber" so zugerichtet hat. Als Model muss sie doch auf ihren Körper achten und sie konnte sich doch nicht sicher sein, dass er ihr mit seinem Blut helfen würde. Obwohl man solchen wie Vanessa alles zutrauen könnte.

Was ich von Adam halten soll weiß ich noch nicht. Es freut mich dass Cayden in ihm einen "Freund" gefunden hat mit dem er reden kann aber er scheint ein geheimnis zu haben und ich frage mich ob es gut oder schlecht für Emma und Cayden sein wird.

Und jetzt zu Emma und Cayden:

Ich finde sie voll süß zusammen und es is schon schade dass ihre beziehung irgendwie nicht die möglichkeit hat sich zu entfalten, da immer neue schwierigkeiten auftreten.
Was mir nicht so gefallen hat, is das mit der Schwangerschaft. Meiner Meinung kam das viel zu früh aber ihr habt das trotzdem toll hingekriegt :)
Ich war überrascht wie gelassen Emma Caydens geheimnis aufgenommen hat und dass sie auch direkt zustimmt dass er von ihr trinken kann.

Ach ich könnte noch so viel schreiben aber ich hör mal auf soll ja kein roman werden XD

ich kann es kaum erwarten, dass es weiter geht. Schreibt also schnell weiter ;)

Mfg
Von:  thundergirl
2012-11-20T07:59:27+00:00 20.11.2012 08:59
Hey :)

ich hab gestern angefangen die FF zu lesen und wollte euch mal sagen wie geil ich sie finde.
Sie ist total fesselnd, spannend,geil geschrieben sodass ich garnicht aufhören kann zulesen XD
Ich freu mich schon total die nächsten Kapitel zu lesen

MfG
Von: abgemeldet
2012-11-19T12:32:45+00:00 19.11.2012 13:32
ach wie schön ein neues kapitel :)

uiiii wie süß von cayden...
ich wünsche mir auch mal so schöne blumen,
wirklich eine tolle geste
die ihn doch gleich wieder noch sympatischer macht!

ist ja schön das die beiden kochen ...
aber nun hab ich auch mega hunger und keiner macht mir was xD

freue mich darauf weiter zu lesen :)

:*
Von: abgemeldet
2012-11-18T17:59:07+00:00 18.11.2012 18:59
aww bitte bitte weiter schreiben :)

mich würde ja zu sehr interresieren was cayden da für nen geistesblitz bei vanessa hatte ...und wer wirklich dahinter steckt...

aber irgendwie finde ich entfernen sich emma und cayden etwas von einander :( schade.. aber die berappeln sich bestimmt auch wieder :)

freu mich schon auf die nächsten kapis

:) grüßchen
Von:  Koori
2012-10-26T17:23:39+00:00 26.10.2012 19:23
Oh man Emma tut einem echt leid, mit den ständigen Alpträumen.
Okay....mir kommt gaaanzzz langsam ein gaaaanzzz komischer Verdacht. Trotzdem weiß ich noch nicht, wenn es so wäre, ob ich es gut oder schlecht finden soll...irgendwie schwankt es hin und her xD
Wie schwer ist es denn zuzugeben, dass man den Anderen mehr als nur "mochte". Er vermisst sie, okay es kann anscheinend echt schwer sein.
Man oh man es wird übelst intensiv zwischen den Beiden und dann sogar dass. Wirklich schön, verdammt schön.
Es wird so interessant zwischen den Beiden und kann kaum auffhören zu lesen, die zwei machen mich noch verrückt. Mittagessen klingt immer verführerischer.
"Süß" irgendwie klang das fast etwas unwirklich von Emma sowas zu hören und doch erinnert das mich an was xD Mhm er ist eifersüchtig, süß.
Wie schnell die romantische und Zuneigung abschwelgen kann, wenn man die falschen Worte bedachte. Was mich umso mehr überraschte, dass er ihr fast alles erzählte, soviel Vertrauen zu ihr zollte.
....geil....wie...geil...ist...das...denn ö.ö Ja, endlich sie sind zam, wenn es auch eher dazu dient, herauszufinden, was wirklich in ihnen vorgeht, doch ich hab so Luftsprünge gemacht. Man fiebert so viel mit.

Von:  Koori
2012-10-26T17:23:26+00:00 26.10.2012 19:23
Also wenn man Schwanger ist, hat man es sicher nicht leicht, besonders dann wenn man noch so arbeitet. Am liebsten würde ich mich verkriechen und das gar net lesen....ein Geschenk zum 10 Jährigen oh man -.- Das hat diese komische Vanessa doch gar net verdient!!
Wieso kann er diesen Tag nicht einfach vergessen, ich mag sie nicht.
Okay so wütend hab ich sie auch noch nicht gesehen, aber gut das sie langsam merkt, wieviel ihr Cayden doch bedeutet. Leider ist sowas echt schmerzhaft und hoffe die Beiden kapieren bald das sie zueinander gehören.
Geil, wie böse Emma sein konnte, ich musste wieder so lachen. Aber respekt, dass sie trotz ihres Gefühlschaos so einigermaßen damit unging. Und das berüchtigte "Nichts" richtig gut.
Interessant wie eh und je, was ein Vampir so alles in Erfahrung bringen konnte, zum Glück kann er keine Gedanken lesen xD
Baff, ich bin einfach nur Baff, wie kann es diese verdammte "***" nein, dieses schöne Wort für Schlampe sag ich nich..."Miststück" wagen, Emma so runter zu putzen. Da kann sich doch keiner mehr beherrschen. Kein Wunder das sie zur Gegenwehr setzt und sogar noch überlegener ist, als sie. Hammer, dass Cayden so ziemlich die Sachen hörte, wo echt genial sind in den Moment, natürlich steht er hinter Emma.
Sie schläft mit sonst wer weiß was für Männer und sie regte sich über IHN auf...., dass ich nicht lache. Blöde eifersüchtige Kuh, man ich kann mich voll über sie aufregen xD



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