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Trust me

Eternal Chronicles
von

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Schwarz und Weiß

Die Leiche verschwand nicht, egal wie lange wir sie anstarrten. Sie bewegte sich auch nicht, was zu erwarten war, aber dennoch wurde ich die Vorstellung nicht los, dass sie aufstehen könnte, wenn ich auch nur für einen Moment blinzelte.

„Ich verstehe das nicht“, sagte Zetsu, er hatte seinen Schock inzwischen scheinbar überwunden. „Die letzte, die ich gesehen habe, sah genauso aus.“

Plötzlich erinnerte er sich also wieder.

„Das kann doch nicht sein.“

Isolde, die für Zetsu hoffentlich immer noch unsichtbar war, kniete sich neben die Tote, um diese eingehender zu betrachten. Von meiner Position aus konnte ich keine Verletzungen und auch kein Blut sehen. Woran war diese Frau gestorben?

„Bist du dir sicher, dass sie ganz genau so aussah?“, hakte ich nach.

Er schnaubte. „Was? Denkst du, ich sehe andauernd rothaarige Frauenleichen und deswegen kann ich sie miteinander verwechseln?“

Warum mussten Unterhaltungen mit ihm so anstrengend sein?

Plötzlich erklang Isoldes Stimme in meinem Inneren: „Sie hat keine physischen Verletzungen. Aber sie scheint auch kein Mensch zu sein.“

Was denn dann?, hakte ich nach.

Isolde gab mir eine kurze Antwort, die aber derart verzerrt war, dass ich sie nicht verstehen konnte. Wieder einmal. Langsam zweifelte ich an meinem Verstand. Vielleicht war das alles hier nur irgendeine verrückte Komafantasie, die ich gar nicht ernst nehmen sollte.

Aber das war vermutlich eine reine Wunschvorstellung.

„Hey, Vartanian“, hörte ich da plötzlich Zetsus Stimme. „Alles okay?“

Er wirkte tatsächlich ein wenig besorgt, sogar seine zusammengezogenen Brauen sagten das deutlich. „Du siehst aus, als kippst du gleich um. Soll ich dir lieber einen Krankenwagen rufen?“

„Nein, mir geht es gut.“

„Aber du starrst nur vor dich hin.“

So musste das wohl wirken, wenn ich mich mit Isolde unterhielt. Diese war inzwischen wieder aufgestanden. „Ich denke, sie wurde von niemandem getötet.“

Warum ist sie dann tot?

„Womöglich war der Mana-Gehalt dieser Welt nicht hoch genug für sie. Ich kann es nicht direkt sagen, ich bin keine Gerichtsmedizinerin.“

Ich schnalzte mit der Zunge. Zetsu hob eine Augenbraue. „Sicher, dass du keinen Arzt brauchst? Wir sollten langsam auch mal die Polizei rufen.“

Nachdenklich sah ich wieder auf den Körper hinab. War es überhaupt sinnvoll, jemandem davon zu erzählen? Wenn sie doch ohnehin kein Mensch war und dieses Gerücht auch schon durchs Internet ging, wäre es meiner Ansicht nach wesentlich vernünftiger, es niemandem zu melden. Aber wie sollte ich das Zetsu erklären? Sollte ich vielleicht einfach wegrennen? Für seltsam hielt er mich ohnehin schon, also was könnte schon schlimmer werden?

Doch bevor ich das in die Tat umsetzen konnte, richteten sich gefühlt alle Haare meines Körpers auf. Etwas war plötzlich erschienen – und es war derart stark, dass es mir fast die Luft zum Atmen raubte.

Isolde sah sich aufmerksam um. „Sei vorsichtig, ein anderer Shinkenträger ist in der Nähe!“

Ich steckte die Hand in die Tasche und umfasste mein Telefon, das einzige, was mir gerade irgendeine Form von Sicherheit versprach. Vor Zetsu wollte ich es aber nicht herausholen. Wegzulaufen wäre einfacher zu erklären gewesen, als plötzlich ein Schwert in der Hand zu halten.

Der Wandel der Atmosphäre blieb anscheinend auch Zetsu nicht verborgen. Er wirkte nervös, während er den Blick schweifen ließ, dann stieß er plötzlich ein schweres Seufzen aus. „Ich habe keine Ahnung, was hier los ist. Aber es gefällt mir nicht. Ich denke, wir sollten verschwinden.“

Ich wollte ihm zustimmen, doch da hörte ich bereits eine Stimme, die mein Blut wieder kochen ließ: „Ah, ich wusste doch, dass ich dich damit einfangen kann. Meine Falle hat funktioniert.“

Das letzte Mal, als ich mit ihm gesprochen hatte, war ich von ihm mit dem Bogen bedroht worden – und nun wollte Shou mich noch einmal in diese Situation zwingen. Ich hasste es.

Zetsu sah in meine Richtung, er schmunzelte. „Oh? Gibt es jemanden, den du mehr hasst als mich?“

„Kannst du nicht wenigstens dieses Mal ernst bleiben?“, fauchte ich ihn an.

Zu meinem Erstaunen wurde er tatsächlich sofort wieder ernst, vielleicht aber auch nur weil Shou plötzlich in seiner vollen Rüstung auftauchte. Er trug das siegessichere Lächeln, das ich schon seit dem ersten Moment an hasste.

„Denkst du echt, ich habe Angst vor dir?“, fauchte ich.

„Mir ist egal, ob du Angst hast“, erwiderte Shou. „Mir geht es nur darum, dich zu verletzen.“

„Wofür? Dafür, dass ich letztes Mal abgehauen bin?“

Shou stieß ein freudloses Lachen aus. „Du weißt es wirklich nicht, was? Umso besser.“

Er hob seinen Bogen und deutete damit auf mich, allerdings spannte er die Sehne noch nicht. Seine Augen wanderten dafür zu Zetsu hinüber; ich nahm an, dass Shou einzuschätzen versuchte, ob der allgemeine Schulliebling auch sein Feind war.

„Okay“, mischte Zetsu sich ein, der unseren Gegenüber wohl nicht erkannte, „ich habe verstanden, dass ihr euch kennt. Aber was jetzt?“

Ich zog mein bereits glühendes Handy aus meiner Tasche. „Jetzt läufst du am besten weg.“

Dann ließ ich ihn keine weitere Frage stellen. Ich öffnete die Nachricht, drückte auf Antworten und 'Shoubi' erschien wieder. Inzwischen fühlte es sich vertraut in meiner Hand an, aber ich konnte Zetsu nicht verübeln, dass er zurückwich.

„Das ist deine letzte Chance“, warnte ich ihn, ohne den Blick von meinem Feind zu nehmen.

Aus den Augenwinkeln sah ich etwas Silbernes davonhuschen, ich hörte, wie sich seine Schritte entfernten – und ich war seltsam erleichtert. Ich mochte ihn vielleicht nicht, aber das bedeutete nicht, dass ihm hier etwas passieren sollte.

Shou spannte den Bogen. Ein aus rotem Licht bestehender Pfeil erschien, der bald von einem finsteren lila Feuer eingehüllt wurde. Auf Shous Gesicht bildete sich ein finsteres Grinsen. „Ich werde dein Herz aufspießen.“

Er ließ den Pfeil los. Ich sah nur das Licht auf mich zurasen und riss das Shinken hoch. Weißes Mana sammelte und verdichtete sich vor meinen Augen – und der Pfeil explodierte direkt vor meinen Augen. Die Wucht zwang mich einige Zentimeter zurück, aber ich wurde nicht verletzt. „Ist das alles, was du kannst?“

Sein Grinsen verschwand urplötzlich und wurde von einer finsteren Grimasse ersetzt. Seine Stirn bekam derart tiefe Falten, dass man darin Dinge hätte verstecken können. „Wie kann das sein?!“

Ich senkte das Schwert wieder. „Du kennst dich nicht wirklich mit Kämpfen aus, oder?“

„Was geht dich das an?!“, fauchte er. „Dass du das aufhalten konntest, wird dir nicht helfen!“

Ein Pfeil aus Licht erschien in seiner Hand, verbunden mit einem glühenden Magiekreis unter seinen Füßen. Das konnte ich nicht zulassen.

Mit einem Sprung verkürzte ich die Distanz zwischen uns, Mana sammelte sich automatisch an meiner Klinge. Ich riss das Schwert hoch. Doch in derselben Sekunde wich Shou aus. War er schneller als ich, weil er nur den Bogen hatte? Obwohl ich mich unglaublich leicht anfühlte, war es doch schließlich möglich, dass die Waffe mich behinderte.

„Konzentrier dich!“, forderte Isolde mich auf.

Im selben Moment traf mich ein Fuß im Magen, ich taumelte zurück. Aber die Schmerzen hielten sich in Grenzen, es war hauptsächlich die Überraschung gewesen. Von zu Hause war ich wesentlich schlimmere Prügeleien gewöhnt. Und ich hatte sie alle gewonnen.

Wieder erschien der Magiekreis, diesmal konnte ich ihn nicht aufhalten. Aus der Luft erschienene Dornen schossen auf mich zu. Ich wich ihnen aus, aber sie verfolgten mich – und trafen mich schließlich. Schmerzen schossen durch meinen Körper wie flüssiges Metall, ich biss die Zähne zusammen. Die Geschosse lösten sich wieder auf, aber das Gefühl blieb. Meine Bewegungen wirkten dadurch schwerfälliger als noch gerade eben.

Shou brachte derweil wieder genügend Distanz zwischen uns, dann spannte er den Bogen erneut. „Wenn ein Pfeil nicht reicht, dann eben zwei, drei. So viele, wie es braucht, um dich zu erledigen!“

Erneut baute ich ein Schild auf, das den größten Teil der Wucht abfing – doch der Pfeil drang durch das Mana und traf mich in der Schulter. Ich stieß einen Fluch aus, Schmerz schien meinen kompletten rechten Arm lähmen zu wollen. Aber ich durfte nicht aufgeben, ich konnte nicht!

Ohne Rücksicht auf meine Verletzungen zu nehmen, sammelte ich diesmal selbst Mana um mich. Das weiße Glitzern blendete mich fast, doch gleichzeitig glaubte ich, dass es mir vertraut war, dass ich es in einem anderen Leben oft gesehen hatte. Es war das erste Mal, dass ich Isoldes Worten wirklich glauben konnte – und in diesem Moment wusste ich, was zu tun war: „Rosensturm!“

Unzählige Blütenblätter manifestierten sich aus dem Nichts und füllten das Feld zwischen uns aus, bis ich Shou kaum noch sehen konnte. Aber ich wusste, wo er war, auch wenn ich mir das nicht erklären konnte. Als kommunizierte das Mana mit mir ohne dass ich mir dessen bewusst war.

Ich sprang nach vorne, glich die Distanz zwischen uns wieder aus und riss das Schwert mit aller Kraft nach oben. Shou starrte mich mit großen Augen an, statt auszuweichen – doch plötzlich leuchtete dunkles Mana um ihn herum auf. Dornen erwuchsen daraus, parierten meine Waffe und trafen mich erneut.

Es brannte wie Feuer, als das fremde Mana, das durch die Verletzungen in mich eindrang, durch meinen Körper kreiste. Ich taumelte zurück.

Der Magiekreis unter Shou leuchtete wieder auf. Das verdichtete schwarze Mana raubte mir fast die Luft zum Atmen, mein Puls beschleunigte sich – und dann sah ich die riesige Fledermaus. Sie erschien hinter Shou und schlug mit den viel zu großen Flügeln, auf denen unzählige Sterne zu glitzern schienen. Jemand anderes hätte den Anblick vielleicht bewundert, ich möglicherweise auch – wäre ich nicht damit beschäftigt gewesen, angestrengt zu atmen, um überhaupt noch Sauerstoff in meine Lungen zu bekommen.

Das Schlagen der Flügel beförderte das schwarze Mana in wirbelnde Bewegungen und schleuderte es direkt in meine Richtung. Für einen kurzen Moment konnte ich nicht mehr atmen, alles drehte sich vor mir, gleichzeitig kam es mir vor als stünde mein ganzer Körper in Flammen, ohne jemals zu Asche werden zu können. Ich wollte schreien, gleichzeitig aber auch Stärke demonstrieren und konnte doch nichts davon tun, denn meine gesamte Welt schien sich einfach aufzulösen.

Aber gerade als ich aufgeben und in die Knie gehen wollte, endete dieser Effekt. Ich schnappte gierig nach Sauerstoff, während das Brennen nachließ, wenn auch nur langsam. Shou lachte derweil wie ein Wahnsinniger, der sich köstlich amüsierte.

Warum sind meine Attacken so uneffektiv?

„Er ist wesentlich schneller als du“, erklärte Isolde. „Dieser Feind ist wirklich ein Problem.“

Und was soll ich tun?

Darauf schwieg Isolde.

Shou bemerkte meine Ratlosigkeit offenbar, er grinste wieder. Dann spannte er seinen Bogen ein weiteres Mal. „Das war es für dich!“

Ich hob das Schwert, bereit, den Angriff abzuwehren, und schickte ein Stoßgebet an von wem auch immer diese Nachricht gekommen war, dass er wusste, was er getan hatte.
 

Zetsu war noch nicht weit gekommen, als er wegen eines hellen Lichtblitzes direkt vor sich wieder innehielt. Was ein Glücksfall für ihn war, denn keine Sekunde später, stand plötzlich eine Frau an dieser Stelle. Sie erinnerte ihn an eine Cosplayerin, nicht wegen ihres blauen Haares, sondern wegen ihrer eigenartigen Kleidung und vor allem dem großen Schwert, das sie mit sich trug. Hätte er gerade eben nicht Leanas Schwert und diesen Bogenschützen gesehen, wäre ihm diese Waffe absolut lächerlich vorgekommen.

Aber da war noch etwas anderes an ihr, das ihm sagte, dass er sich fernhalten sollte. Sie strahlte nichts Menschliches aus, nur Kälte und reiner Hass.

Ihre leblosen Augen hafteten sich auf ihn, ließen ihn schaudern.

Er müsste an ihr vorbei, aber er war überzeugt, dass sie ihn angreifen würde, sobald er Anstalten dafür machte.

„Hey“, sagte er schließlich. „Kann ich dir helfen?“

Sie antwortete darauf nicht, ging aber ein wenig in die Knie; sie war bereit zum Angriff.

Was sollte er tun?

Er spürte die ungeheure Kraft, die von ihr ausging, die ihm verriet, dass er nicht fliehen könnte. Aber er war nicht bereit, zu sterben. Nicht so und vor allem nicht hier.

Da erklang der Signalton seines Handys, das ihn über eine neue Nachricht informierte. Es war der denkbar schlechteste Zeitpunkt, aber er erinnerte sich, dass Leana vorhin ebenfalls ihr Telefon hervorgezogen und sogar eine Waffe daraus bekommen hatte, also vielleicht …

Tatsächlich leuchtete auch sein Handy in einem Licht, das er vorher noch nie gesehen hatte. Eine Nachricht, bestehend aus zwei Worten, war angekommen: Trust me.

Er wusste nicht, von wem sie stammte, aber es störte ihn nicht weiter, solange sie ihm helfen könnte. Deswegen folgte er seinem Instinkt und klickte auf Antworten.

Sein Handy strahlte darauf noch einmal heller, so dass er den Blick abwenden musste. Im nächsten Moment hörte er, wie Metall auf Metall traf. Als er wieder nach vorne sah, bemerkte er, dass die Frau ihn angegriffen hatte, aber ihr Schwert von dem Stab eines kleinen Jungen abgefangen worden war. Sein Haar war hellblau, genau wie seine Kleidung, aber von ihm ging eine freundliche Atmosphäre aus, die Zetsu sofort beruhigte.

Der Junge wirbelte seinen Stab, um die Frau zurückzudrängen, und kaum war das geschehen, setzte er sofort nach. Eigenartige dunkle Funken sammelten sich um seine Waffe, die er mit einem waagerechten Hieb gegen die Feindin donnern ließ. Sie wurde zur Seite geschleudert, landete jedoch wieder auf den Füßen und nutzte den Schwung für einen neuen Angriff. Mit einer beeindruckenden Schnelligkeit sprintete sie auf den Jungen zu – nur damit ihr Schwert auf eine Wand aus schwarzen Waben traf. Dort, wo sie hinschlug, lösten sich Funken aus der Mauer und gingen auf die Frau über. Da sie sich zusammenkrümmte, musste sie dadurch selbst Schmerzen erleiden.

Direkt danach sprang der Junge zurück, um wieder einen Abstand zwischen ihnen zu schaffen. Noch einmal wirbelte er seinen Stab, worauf ein Muster aus Licht unter seinen Füßen erschien. Zetsu bemerkte einen Schatten unter den Füßen der Frau, kaum sah er hin, schoss eine finstere Klaue aus dem Boden hervor. Sie schnappte sich die Feindin, schleuderte sie durch die Luft und zerquetschte sie anschließend.

Kaum stand die Frau wieder auf dem Boden, gab sie einen gequälten Laut von sich, ehe sie sich in unzählige blaue Funken auflöste.

Zetsu betrachtete dieses Spektakel mit einer Mischung aus Erstaunen, Furcht, aber auch Vertrautheit. Irgendwann, vor langer Zeit, hatte er das schon einmal gesehen. Aber wie und warum? Und weswegen kam ihm dieser Junge dann wiederum absolut nicht bekannt vor?

Sein kleiner Retter ließ den Stab verschwinden und kam dann auf ihn zu. Mit in die Hüften gestemmte Hände musterte er Zetsu. „Dann arbeiten wir ab sofort zusammen?“

„Bitte? Wovon redest du?“

Sein Gegenüber legte sich nachdenklich Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand an die Schläfe. „Ich hab vergessen, dass du nichts weißt. Also ich bin Asake, Shugo Shinjuu von 'Gyouten'.“

Dieses Wort ließ eine Saite in Zetsus Inneren vibrieren, die schon lange nicht mehr betätigt worden war. Er erinnerte sich daran, wie er selbst einmal gekämpft hatte, auch wenn es eine Ewigkeit her zu sein schien. Nur an diesen Jungen erinnerte er sich immer noch nicht.

Aber im Moment war das nicht weiter wichtig.

„Wir müssen uns wohl später kennenlernen, Asake.“ Zetsu wandte sich in die Richtung, aus der er gerade gekommen war und in der immer noch Lichtblitze zuckten. „Jetzt müssen wir erst einmal noch einen anderen Kampf beenden.“
 

Isolde erschien vor mir, um den Pfeil, der diesmal von einem finsteren Feuer begleitet wurde, abzufangen. Wie schon einmal zuvor, wandelte sie die fremde Energie in ihre eigene um und schleuderte sie Shou wieder entgegen. Aber von ihm erntete sie dafür nur ein heiseres Lachen.

„Das bringt alles nichts“, stellte Isolde frustriert fest. „So einen sturen Feind trifft man selten.“

Das hilft mir immer noch nicht weiter.

Zum Wegrennen war es inzwischen längst zu spät, schließlich war ich selbst verletzt und noch dazu erschöpft. Ich konnte kaum darauf hoffen, in diesem Zustand vor jemandem fliehen zu können; besonders nicht, wenn dieser Jemand mit einem Bogen umgehen konnte.

Viele dieser Angriffe könnte ich nicht mehr aushalten, aber es widerstrebte mir auch, vor ihm niederzuknien und um Gnade zu bitten – und das wäre das einzige, was mir in dieser Situation noch übrig bliebe, sofern ich nicht sterben wollte.

„Warum versuchst du, mich zu töten?“, fragte ich, nachdem er sich beruhigt hatte und ehe er einen weiteren Angriff starten könnte. „Du verstehst doch mit Sicherheit genauso wenig von dieser ganzen Sache wie ich, oder?“

Shou schmunzelte. „Als wir uns vor ein paar Tagen begegnet sind, mag das noch gestimmt haben, aber inzwischen hat sich die Sache geändert. Ich weiß, was hier los ist. Und ich werde diesen Vorteil für mich ausnutzen.“

Also wollte er mir ganz offensichtlich nicht sagen, worum es ging. Nett.

„Wichtig ist jetzt nur, dass ich dich loswerde“, fuhr er fort und spannte den Bogen erneut.

Ich hob bereits das Schwert, um mich vor dem Angriff zu verteidigen.

„Und das werde ich auch sofort in die Tat umsetzen!“

Er ließ den Pfeil los. Gleichzeitig baute ich einen Schild vor mir auf und stellte mich auf den kommenden Schmerz ein.

Doch der Angriff prallte an einer schwarzen Wand ab.

Ich blinzelte irritiert, dann entdeckte ich einen kleinen blauhaarigen Jungen vor mir. Er hielt einen Stab in den Händen, der fast genauso groß war wie er. Damit hatte er offenbar den Angriff abgewehrt. Aber das erklärte mir nicht, wer er war.

Shou war davon jedenfalls nicht begeistert: „Was mischst du dich jetzt ein?!“

Der Junge blickte ein wenig zur Seite. Ich imitierte seine Kopfbewegung, sah aber nur einen Schatten an uns vorüberhuschen. Im nächsten Moment riss Shou seinen Bogen hoch, diesmal leuchtete das schwarze Schild vor ihm auf und sein plötzlicher Angreifer wurde sichtbar. Ich war aber alles andere als begeistert davon.

„Was willst du schon wieder hier?“, fragte ich Zetsu.

Plötzlich trug er aber nicht mehr seine Kleidung von vorhin, sondern einen grauen Mantel, und in seiner Hand hielt er ein Katana als wäre es das natürlichste der Welt. Er warf mir einen zufriedenen Blick über die Schulter zu. „Gut, was?“

Das war keine Antwort auf meine Frage, aber ich verzichtete lieber darauf, noch eine zu bekommen. Shou war im Moment immerhin das drängendere Problem.

Dieser hatte die Stirn gerunzelt und betrachtete uns beide nachdenklich. Zetsu schien allerdings zufrieden: „Zwei Feinde sind schon nicht mehr so leicht wie einer, was?“

Tatsächlich wich Shou ein wenig zurück. „Denkt ihr wirklich, dass ihr einfach so gewinnt?“

„Für mich sieht es jedenfalls ganz danach aus“, sagte Zetsu selbstsicher. „Was willst du denn jetzt noch tun?“

Nachdenklich sah er zwischen uns hin und her. Eigentlich wollte ich nicht, dass er einfach verschwand, ohne dass wir die Gelegenheit bekamen, das zu klären, aber andererseits war ich mir sicher, dass ich zumindest keinen anständigen Kampf mehr hinbekäme. Außerdem wäre es vielleicht erfolgreicher, wenn wir diese Sache in der Schule klärten, ohne diese Kräfte. Es wäre wesentlich angenehmer und es wäre das, was sich meine Eltern wünschten. Vielleicht musste ich ja erst derart erschöpft sein, um die von ihnen gepredigte Vernunft schätzen zu lernen.

Schließlich stieß Shou ein Schnauben aus. „Heute habt ihr noch einmal Glück gehabt. Aber nächstes Mal gibt es keine Gnade mehr.“

Noch ehe wir etwas dazu sagen konnten, verschwand Shou mit einer überragenden Geschwindigkeit zwischen den Bäumen. Der Hass und die Feindseligkeit schwanden langsam, je mehr er sich von uns entfernte.

Das änderte aber nichts daran, dass ich wegen Zetsu noch ziemlich angefressen war. Ich widmete mich wieder ihm, nur um mitanzusehen, wie er dem kleinen Jungen den Kopf tätschelte.

„Das ist ja interessant“, bemerkte Isolde.

„Was?“ Ich nahm keine Rücksicht mehr darauf, ob Zetsu dieses Gespräch hören konnte, denn wenn er nun auch ein Shinken besaß, konnte er Isolde vermutlich ohnehin sehen. So wie ich diesen Jungen sehen konnte.

„Früher war das nicht sein Shinjuu gewesen.“

Ich sah Isolde an. „Woher willst du das denn nun wieder wissen?“

Sie sah mich schmunzelnd an. „Ich denke, es wird Zeit, dass wir uns alle mal zusammen hinsetzen, um über diese Situation zu sprechen. Meinst du nicht auch?“

Zusammen? Mit Zetsu? Nein, das meinte ich ganz und gar nicht. Aber das ließ sie sicher nicht gelten. Schon allein weil er sich plötzlich einmischte: „Ich halte das für eine ganz grandiose Idee. So könnten Vartanian und ich uns auch endlich näher kommen.“

Ich seufzte schwer und ergab mich meinem unabwendbarem Schicksal. „Fein, von mir aus. Vielleicht wird mir dann auch endlich einiges klarer.“

Jedenfalls blieb mir immer noch diese Hoffnung.
 

„Was meinte Shou damit?“

Salles stellte diese Frage in den leeren Raum, ohne zu wissen, ob seine geheimnisvolle Verbündete überhaupt zuhörte. Nur wenn er eine Antwort auf diese Frage bekäme, könnte er sich auch sicher sein, ob Shou wirklich als Feind zu betrachten war. Schlussendlich wusste er immerhin auch nicht, auf welcher Seite Leana eigentlich stand.

„Ich weiß es auch nicht“, kam die Antwort nach einer gefühlten Ewigkeit. „Mir ist auch nach wie vor unerklärlich, woher sein Shinken gekommen ist.“

Das war ein guter Punkt. Es ergab für ihn nämlich keinerlei Sinn, falls Yaga die alleinige Verursacherin wäre. Die Leichen im Park sahen so aus wie sie, aber bislang hatte sie noch keinerlei Anstalten gemacht, irgendjemandem zu schaden, obwohl sie es bestimmt könnte. Und dann seine rätselhafte Verbündete und die mit ihr verbundene Leana … Es gab so viele Dinge, die er in dieser Konfiguration einfach nicht verstand.

Aber wie sollte man so etwas auch verstehen?

„Wir müssen weiter versuchen, dieses Geheimnis zu entschlüsseln. Und dafür sollten wir auch im Verborgenen bleiben.“

Als hätte Salles jemals vorgehabt, diesen Ort zu verlassen. Jedenfalls geschähe dies nicht ohne einen guten Grund und im Moment gab es noch keinen solchen. Es gab noch genug andere Shinkenträger, ehemalige Mitglieder der Brigade, die in der Welt für Ordnung sorgen könnten. Und er verließ sich auf sie, heute wie damals.

Mit diesem Gedanken widmete er sich wieder der Beobachtung dieser Welt, um kein nennenswertes Ereignis zu versäumen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Theoretisch weiß ich, dass Lea eigentlich im Kampf gegen Shou den Vorteil hätte haben müssen (weil weißes Mana schwarzes Mana toppt), aber weil Plot. ¯_(ツ)_/¯
Außerdem gibt es hier vermutlich eh kaum Spieler, also who cares? XD Komplett anzeigen

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