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Stillstand

»Ich habe nicht für dich gekämpft.«
von

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sinnlos

Kamui hatte nicht damit gerechnet. Er wusste nicht, wieso, aber er hatte einfach nicht damit gerechnet.

Auf der anderen Seite war Kamui auch kein besonders berechnender Typ. Er beherrschte gerade genug Strategie, um so etwas wie die siebte Division der Harusame anzuführen, aber das war eben auch ein Haufen blutdurstiger Yatos und ein paar andere Idioten gewesen, dafür musste man nicht viel im Kopf haben. Nun, Kamui war nicht dumm, aber… Er war auch nicht gerade der große Denker. Er handelte so, wie es ihm gerade in den Sinn kam, und weil er sich mittlerweile mit Kämpfen und Kriegen auskannte, kam das meistens ganz gut hin.

Diesmal nicht.

Wahrscheinlich hatte jeder mal einen schlechten Tag. Der von Kamui bestand aus einer Prügelei mit einer Meute wütender Amantos, einem zerfetzten Sonnenschirm, extrem trockener Haut und dem überraschenden Auftauchen seiner kleinen Schwester. Ja, das passierte sicher jedem mal.

Er war mit Shinsuke auf der Erde, weil der Gute mal wieder ein paar Sachen in Edo zu erledigen hatte. Oder ein paar Menschen. Wahrscheinlich beides. Kamui hatte ihm da nicht so genau zugehört, ihm reichte es schon, hier zu sein, er fand diesen Planeten interessant, mit all seinen Samurai und Rebellen und Huren und mit diesem pervers guten Essen.

Um letzteres hatte er sich gekümmert, hatte sich zu Mittag in irgendeinem Restaurant in den Außenstraßen von Edo den Bauch vollgeschlagen und war dann weiter in Richtung Stadtgrenze geschlendert. Er hatte sich nun schon Edo und Yoshiwara von vorn bis hinten angesehen, er wollte noch mehr begutachten können. Als er jedoch am Rand der Stadt angekommen war, war ihm aufgefallen, dass er beobachtet und verfolgt wurde.

Kamui hatte sich erst nichts anmerken lassen und war weitergelaufen, um dann in einem leeren Feld stehen zu bleiben und seinen Verfolgern zu signalisieren, dass er sie durchaus bemerkt hatte. Es hatte sich herausgestellt, dass es ein paar Niederränge der Harusame waren, die ihn für ein Arschloch hielten. Na ja, war ihr gutes Recht, er war ja auch eines. Kamui hatte es sich mit der Harusame gründlich verscherzt, seit er mit der Kiheitai abgehauen war, und die meisten dort waren ziemlich sauer auf ihn. Die Horde, die ihn angegriffen hatte, hatte scheinbar nicht nach Befehl gehandelt, sondern aus eigener Überzeugung, dass es nötig war, Kamui einfach aus dem Nichts heraus anzugreifen und zu vermöbeln.

Kamui ließ sich aber eben nicht einfach so vermöbeln. Sie waren mit einer ganzen Armee angerückt, die sich nach und nach vor seinen Augen im Feld geformt hatte, aber das hatte es für ihn höchstens unterhaltsamer gemacht. Die Hälfte von ihnen hatte er problemlos erledigen können.

Dann hatte ein feuriger Schuss aus einer gigantischen Waffe seinen Schirm getroffen, pünktlich zum Sonnenuntergang. Seinen Umhang hatte er längst im Gefecht verloren, und mit einem Mal war er der Sonne schutzlos ausgeliefert gewesen.

Das nächste Viertel hatte er auch noch gepackt, allerdings nur noch mit viel Mühe. Kamui merkte mit jedem Atemzug, wie er innerlich austrocknete, er spürte mit jeder Bewegung, wie seine Haut rissig wurde. Er schwitzte nicht mehr, er blutete sogar kaum noch. Sämtliche Flüssigkeit in seinem Körper verschwand einfach im orangeroten Licht, das überall war und ihn blendete.

Es waren nur noch so lachhaft wenige von seinen Gegnern übrig gewesen, und doch hatte er sie nicht mehr gepackt. Er war gestrauchelt, er war umgekippt, er hatte noch letzte Angriffe abblocken können, und dann war seine Kraft einfach dahingesiecht.

Und dann war sie aufgetaucht.

Ihre Stimme war noch immer so hell, aber was sie von sich gab, hatte sich doch sehr verändert. Ein paar wüste Beleidigungen und Flüche, und alles, was Kamui dann noch hörte, war das Rattern von Kugeln aus einem Yato-Sonnenschirm.

Kamui lag am Boden und hörte den Geräuschen des Gefechts zu, die seinen rasselnden Atem glücklicherweise übertönten. Seine Wunden verheilten schnell, er war zäh wie eine Schuhsohle, aber diese verdammte Sonne setzte ihm zu. Jede Zelle seines Körpers machte sie schwach. Außerdem spürte Kamui einen Durst, wie er ihn noch nie vorher wahrgenommen hatte. Seine Kehle schien nur noch aus einer dicken Schicht Schmirgelpapier zu bestehen, was es etwas schwer machte, regelmäßig Luft zu holen und sich nicht wie auf dem Sterbebett zu fühlen.

Er war sich ziemlich sicher, dass er nicht starb, einfach so, weil er keine Lust aufs Sterben hatte – die Sonne würde ja auch irgendwann komplett untergegangen sein. Dann kam er bestimmt wieder auf die Beine. Aber fürs Erste konnte er eben nur nutzlos hier herumliegen, während sie um ihn herumturnte und den letzten Rest der Harusame-Trottel erledigte.

Er schaffte es, sie hin und wieder zu beobachten, doch als nur noch fünf übrig waren, fielen ihm die Augen zu. So müde hatte er sich schon lang nicht mehr gefühlt. Er sollte einfach hier liegen bleiben und schlafen, vielleicht zogen ja ein paar Regenwolken auf, dann hatte er Glück und durfte überleben, und wenn nicht, na ja, er hatte das Beste daraus gemacht, er sollte es einfach darauf ankommen lassen…

Doch bevor er völlig wegdösen konnte, wurde es mit einem Mal kühler um ihn herum. Schwerfällig öffnete Kamui die Augen wieder und erblickte einen lila Sonnenschirm direkt über ihm, ähnlich seinem eigenen, der jetzt endgültig in die ewigen Jagdgründe eingegangen war.

Er lächelte schief und drehte den Kopf leicht zur Seite, wo Kagura neben ihm kniete und ihn mit ihrem unverkennbar schmollenden Gesichtsausdruck ansah.

»Hi«, sagte Kamui heiser.

Kagura zog die Brauen noch weiter zusammen und schnaubte. Ah, sie war sauer auf ihn. Das konnte Kamui ihr nicht verübeln. Sie hatten sich nicht mehr gesehen, seit er sie in Yoshiwara fast in den Tod geschlagen hätte. Aber hey, Kamui hatte gewusst, dass so ein Sturz sie nicht töten konnte. Er hatte sie nicht umbringen wollen. Die Frage war nur, ob Kagura ihm das glaubte, wo sie ja wusste, dass ihrem Vater seinetwegen ein Arm fehlte…

Träge schielte Kamui über seinen eigenen Körper hinweg ins Feld, das nun wieder komplett leer war. Es roch nach einer Menge Blut, das nicht ihm gehörte – ein erfrischender Geruch, wie er fand.

»Haha«, machte er matt. »Sieht aus, als hättest du mich gerettet.«

»Ja«, sagte Kagura nur und klang, als könne sie sich das noch nicht verzeihen.

»Wo sind deine Freunde?«, fragte Kamui. Sie schien ja eigentlich ziemlich an ihnen zu hängen, vor allem im Kampf. »Dieser Samurai und der… der…«

Aus irgendeinem Grund fiel ihm außer Kagura und dem silberhaarigen Kerl nur eine Brille ein.

»Zu Hause«, antwortete sie. Das Thema schien sie etwas beschwichtigt zu haben, zumindest sah sie ihn nicht mehr an, als wolle sie die Schirmspitze in seine Brust rammen. Tatsächlich hielt sie den Schirm weiterhin über seinen Körper, der sich nun wenigstens nicht mehr anfühlte als bestünde er aus schwelender Kohle. »Ich war eigentlich … nur … spielen. Aber ich hab davon gehört. Sie haben von dir geredet, und von dem, was sie vorhaben.« Sie sah zur Seite. »Ich wollte eigentlich nicht kommen.«

Kamui grinste müde. Wahrscheinlich stimmte das. Wahrscheinlich hatte sie nicht kommen wollen und hatte es trotzdem getan. Etwas, was er vielleicht nie verstehen würde.

»Ich werd dich nicht auch noch mit nach Hause nehmen«, sagte sie und sah ihn wieder an, mit einem Blick, als habe er das lauthals verlangt. »Ich warte nur, bis du wieder aufstehen kannst, und dann gehe ich.«

»Ist schon gut«, sagte Kamui leise und wollte breiter grinsen, schaffte es aber nicht. »Ich brauche nicht mehr lang. Und du kannst gehen, wann du willst.«

Als er das sagte, verzog Kagura das Gesicht. »Wieso bist du hier?«, fragte sie gedämpft. »Was machst du in Edo? Es ist nicht… nicht meinet…?«

»Nein«, sagte Kamui. »Ich hab dich damals in Ruhe gelassen… Ich werde dich heute in Ruhe lassen…« Reden fiel ihm schwer, und ihm war nicht danach, ihr noch einmal zu sagen, dass er sie ursprünglich nur deshalb nicht angegriffen hatte, weil sie zu schwach und damit zu langweilig gewesen war. Wahrscheinlich wusste sie das ganz gut selbst. Ein weiteres Mal schielte er über seine Füße hinweg ins Feld und grinste schief. »Außerdem wäre das doch jetzt sehr unhöflich – nachdem du dich hier geprügelt hast, um meinen Hintern zu retten…«

»Ich habe nicht für dich gekämpft«, sagte Kagura prompt. Als Kamui wieder in ihr Gesicht sah, hatte sie die Nase gerümpft und wirkte säuerlich. »Kapiert? Merk dir das! Komm nicht auf die Idee, dass ich das hier für dich tu, oder dass ich jemals irgendetwas für dich tun werde.«

Das Lachen, das aus Kamuis Kehle drang, klang eher wie der Raucherhusten eines alten Mannes. »Okay, okay«, gluckste er. »Schon klar. Du hast … das Recht mich zu hassen. Aber… Dann musst du mir erklären, wieso du … es gemacht hast. Das hier. Hättest mich loswerden können. Ist nicht deine Sache. Hättest wieder nach Hause gehen können… Wieso?«

Er bemerkte, wie der Griff um ihren Sonnenschirm sich verfestigte. Er sah, wie sie die Zähne zusammenbiss. Sie schob den Unterkiefer nach vorn und seufzte. »Ich wollte«, sagte sie leise, »mich an den Stadtrand stellen und dabei zusehen, wie du vertrocknest. Eigentlich. Ich stand da hinten und hab zugesehen, wie du umgekippt bist. Ich wollte dich liegen lassen. Aber…« Sie biss sich auf die Unterlippe und Kamui dachte, dass sie immer noch aussah wie ein kleines Kind. »Aber das ging nicht. Ich … wünschte, es gäbe dich nicht… Ich wünschte, du könntest einfach … aufhören zu existieren… Aber ich kann dich nicht sterben lassen.«

Ihre Unterlippe zitterte leicht, als sie einander in die Augen sahen.

»Ich hab das nicht für dich getan«, fuhr sie leiser fort, »sondern für mich. Wenn du irgendwann da draußen stirbst, dann werd ich nicht traurig sein. Ich weiß, dass du nicht traurig sein wirst, wenn ich sterbe. Aber ich kann nicht einfach daneben stehen und … zusehen, während jemand stirbt. Ich bin nicht so. Ich will nicht so sein. Ich will nicht zuschauen, während irgendwer meinen Bruder umbringt, nicht, weil ich es schade um dich fände, sondern weil… Weil…« Ihre Stimme brach, Kamui dachte, dass sie wegsehen würde, aber sie blickte ihm weiterhin tapfer in die Augen. Als sie weitersprach, war es nur noch ein Flüstern. »Weil ich nicht so ein Monster werden will wie du.«

Kamui musste schnaubend auflachen, was seine Schwester leicht zu erschrecken schien. Er grinste. »Gut«, sagte er.

Kagura sah ihn an, als habe er ihr einen Heiratsantrag gemacht.

»Ist gut. Bleib so. Das ist nicht meine Sache. Sieh nur zu, dass wir uns so nicht in die Quere kommen.«

Ein Seufzen entwich ihr. Und mit einem Mal wirkte sie wieder traurig. »Also werden wir uns jetzt immer bekämpfen?«, fragte sie. »Also wird es … nicht mehr wie früher?«

»Nichts wird jemals wieder wie früher«, antwortete Kamui. Die Heiserkeit war zurück in seine Stimme gekehrt, und er grinste humorlos vor sich hin. »Wir gehen verschiedene Wege. Wir werden…«

»Aber wir sind Geschwister«, unterbrach ihn Kagura. »Wir sollten doch… Wir sollten…«

Weiter wusste sie scheinbar nicht. Kamui schenkte ihr ein hässliches schiefes Lächeln. »Ich kann nicht«, sagte er. »Verstehst du? Das ist alles. Ich kann nicht. Und jetzt geh schon, bevor ich dich doch noch angreife. Ich komm schon zurecht.«

Ein paar Sekunden lang kniete sie bloß da und sah ihn an. Dann verschwand der Sonnenschirm über ihm, legte sich wieder an ihre Schulter, und sie stand langsam auf. Wachsam lag ihr Blick auf ihm, als erwarte sie tatsächlich, er könne aufspringen und sie anfallen. Sie machte ein paar Schritte rückwärts, bevor sie sich umdrehte und wieder auf die Stadtgrenze zulief.

»Danke«, murmelte Kamui, während er ihr nachsah und ihre Worte in seinem Kopf widerhallten.

Ich weiß, dass du nicht traurig sein wirst, wenn ich sterbe.

Durstig und verständnislos grinste er ihren sich entfernenden Rücken an. Sie hatte keine Ahnung, wie traurig er sein würde.
 

Die Sonne ging unter und irgendwann fing es tatsächlich an, zu regnen. Kamui lag noch immer im Feld und ließ sich durchnässen, während er immer und immer wieder das Gespräch durchlebte, das er mit seiner kleinen Schwester geführt hatte. War fast so etwas wie eine Aussprache gewesen. Dennoch hatte er nichts Neues erfahren, all das war ihm schon klar gewesen. Es veränderte nichts. Nichts da draußen, und nichts in ihm drin. Er tat, was ihm Spaß machte, und er vermied, wozu er nicht fähig war.

Das war alles.

Irgendwann stand er auf, sammelte den zerfetzten Schirm und seinen Umhang vom Boden auf und stapfte quer durch die Stadt zurück zu ihrem Quartier. Shinsuke lehnte in der Tür und musterte ihn mit sichtbarer Skepsis.

Kamuis Kleidung war stellenweise gerissen, seine weiße Hose blut- und dreckverschmiert, er selbst war klatschnass, und seine Haare waren auch schon ordentlicher gewesen. Außerdem hing ihm ein Hautfetzen vom Gesicht.

»Wo hast du dich denn rumgetrieben?«, fragte Shinsuke mit dem Interesse einer Parkuhr.

Kamui grinste ihn an und schob sich an ihm vorbei. »Hab ein Sonnenbad genommen«, antwortete er.

Kagura erwähnte er nicht. Kein einziges Mal.

Es veränderte ja nichts.

Alles blieb beim Alten.

Die Welt stand weiterhin still, während Kamui alles zerstörte, was er sah, weil er glaubte, nichts anderes zu können, und weil es niemanden gab, der ihn vom Gegenteil überzeugen konnte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  MitsuruSenpaii
2012-05-13T16:44:12+00:00 13.05.2012 18:44
Noch keinen Kommentar, dabei ist die FF wirklich ziemlich gut - wie schade. D:

Also, dann bin ich die Erste.
Da dies ja bereits die 2. FF ist, die ich von dir lese, hab ich da ja einen leichten Vergleich, und ich kann dir sagen: Ich liebe den Kamui, den du hier "beschrieben" hast. * _ *
Er ist dir echt super und sehr authentisch gelungen, das muss man dir lassen!
Sehr flüssig geschrieben ist das Ganze auch, und ich konnte mir die Szenen gut bildlich vorstellen, so hab ich das gern.

Und dann wieder so epische Sätze, wo es mich fast vom Stuhl gehauen hätte vor lauter Lachen, wie
"Er war mit Shinsuke auf der Erde, weil der Gute mal wieder ein paar Sachen in Edo zu erledigen hatte. Oder ein paar Menschen. Wahrscheinlich beides."
"Er war sich ziemlich sicher, dass er nicht starb, einfach so, weil er keine Lust aufs Sterben hatte"
oder
"»Wo hast du dich denn rumgetrieben?«, fragte Shinsuke mit dem Interesse einer Parkuhr." - ZU GÖTTLICH. xDDDD
Nein, ich habe echt mitgelitten, und da ich das Duo Kamui / Kagura besonders liebe, ging mir die FF auch sehr nahe. Würd mir schon fast mehr von dir diesbezüglich wünschen, haha. ´w`

Zu kritisieren fiel mir diesmal auch nichts auf, daher beende ich diesen Kommentar an der Stelle damit, dass ich den Empfehl-Button verprügel. :D

LG
PewPewOKITA / YOKO.


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