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Weiterfahrn

von

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Weiterfahrn

Gang Fünf und gleich 180

schließe die Augen

zähle bis Zehn

und dann wieder auf

hey, noch am Leben

Lenkrad umklammert

Hallo Herzkammer

und weiterfahrn bis nichts mehr...

(...bis es nicht mehr geht...)
 

Kettcar – Die Ausfahrt zum Haus deiner Eltern
 

Die Augen geschlossen. Für einige Sekunden nur, dennoch schlug sein Herz schlagartig bis zum Zerbersten. Das war auch kein Wunder, fuhr er doch gerade mit 120 auf der Autobahn. Der Bruchteil einer Sekunde konnte in solch einem Augenblick den Unterschied machen zwischen Leben und Tod. Aber was kümmerte ihn der Tod?
 

„Bitte… Achte auf die Straße“, glaubte er zu hören, doch vom Beifahrersitz kam kein einziges Wort. Tom blickte zur Seite, sah Bastian an, der dort saß, die Augen halb geschlossen, schmal und müde. Dennoch hatte er kein einziges Wort des Protestes gesagt, als Tom die Ausfahrt in Bochum verpasst hatte und dann einfach immer weitergefahren war. Einfach weiter.
 

Es war dunkel und die Autobahn lag endlos vor ihnen. Weder Mond noch Sterne waren zu sehen, die einzigen Lichtfetzen, grell und schmerzhaft, stammten von den wenigen anderen Autos. Es war still. Und er fuhr einfach nur.
 

Tom wusste selbst nicht, wo es hingehen sollte. Er fuhr nur. Er wollte nicht an Morgen denken, nicht daran, was geschehen würde. Und wenn er fuhr, dann ließ sich dieser Moment vielleicht einfach herauszögern. Vielleicht wurde dann doch noch alles gut. Er hoffte zumindest. Auch wenn er nicht daran glaubte.

Wieder ein Seitenblick zu Bastian, bei dem er sich nicht sicher war, ob er überhaupt noch wach war.

„Schlaf ruhig“, murmelte er leise.

Schlagartig richtete sich Bastian im Sitz auf und streckte sich. „Bin nicht müde…“

„Doch.“ Tom lächelte zärtlich.

„Na und? Schlafen kann ich auch später noch…“

Tom streckte die Hand aus und berührte ihn kurz am Knie.

Bastian fielen die Augen wieder zu. Diesmal konnte Tom sehen, wie ihn die Müdigkeit übermannte und er tatsächlich wegdämmerte. War vielleicht gut so. Besser.
 

Den Blick auf die leere Straße gerichtet, fuhr er weiter. Immer weiter in Richtung Norden. Wohin auch immer. Bis es nicht mehr weiterging. Ja, bis es irgendwo ein Ende gab. Vielleicht sogar das Ende der Welt.

Seine Finger trommelten einen unregelmäßigen Rhythmus auf das Lenkrad. Er überlegte, ob er das Radio anmachen sollte, aber er ließ es dann. Er wollte keinen Sender suchen müssen. Er wollte Bastian nicht wecken. Und er wollte noch weniger diese angenehme Stille verlieren, die ihn gerade beinahe umarmt hielt und ihm willkommen war. Sie ließ seinen Gedanken Raum.
 

Es war jetzt Stunden her, dass sie die richtige Ausfahrt verpasst hatten. Bastian wachte wieder auf, gähnte und streckte sich. Mit wachen Augen spähte er aus dem Fenster.

„Wo sind wir?“

„Gleich da.“

„Wo ist da?“

„Wirst du schon sehen.“

„Was werde ich sehen?“

Tom grinste und wuschelte Bastian durch die Haare.
 

Hier ging nichts mehr. Hier war das Meer.

Er hatte den Wagen bis auf den Deich gefahren. Was kümmerten ihn die dusseligen Verbotsschilder?

Stumm blickten sie hinab auf die wogenden Wellen. Sie hatten Glück – es war gerade Flut und sie schauten nicht auf das trostlose Wattenmeer hinab. Diesen Anblick hätte Tom vermutlich nicht ausgehalten. Es war Neumond und es zogen immer wieder dichte Wolken über den Himmel, sodass es dunkel war. So dunkel, wie sich Toms Innerstes gerade anfühlte. Aber das weite dunkle Meer mit den schwach erkennbaren Schaumkronen im Lichte der Laternen auf dem Deich – das war ein erhebender Anblick.

„Schön“, sagte Bastian leise.

Tom lächelte.

„Ich weiß gar nicht, was alle immer am Vollmond finden… Ohne Mond… Das ist doch viel magischer.“

Ein fragender Ausdruck erschien auf Toms Gesicht und Bastian fuhr fort: „Man sieht ihn nicht, aber man weiß, dass er da ist. Dass er immer da sein wird.“

Die Tragweite dieser Worte begriff Tom sofort. Ein schwaches Lächeln glitt über sein Gesicht.

„Du fliegst also morgen.“

„Ja.“ Bastians Stimme klang schwer. „Ärzte ohne Grenzen ist wichtig. Es ist wichtig in Afghanistan zu helfen. Auch wenn es gefährlich ist.“

„Ich weiß…“ Tom ergriff seine Hand und hielt sie fest. „Und dennoch wünschte ich, du würdest nicht gehen.“

„Ich kann nicht sicher sein bis in den Tod, Tom. Das ertrage ich nicht.“

Ein stummes Nicken war Toms einzige Antwort auf diese Worte.

„Denk daran: Ich bin wie der Mond in dieser Nacht. Auch wenn du mich nicht siehst, werde ich da sein.“ Bastian beugte sich zu ihm hinüber und gab ihm mit einem Lächeln einen Kuss.

„Und versprich mir, dass du nie wieder beim Autofahren die Augen zumachst. Ich hab fast einen Herzanfall bekommen.“

Tom grinste mit schwerem Herzen. „Nur, wenn du versprichst, wiederzukommen.“

„Versprochen. Du weißt doch…“

„…ich bin wie der Mond… Ja, ja, ja. Hauptsache, du kommst wieder.“ Damit nahm Tom ihn in die Arme. Ein letztes Mal, ehe sie sich auf den langen Rückweg machen würden, auf dem er diesmal nicht einfach beschließen konnte, weiterzufahren, wenn er anhalten sollte.



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