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Familienbande

von

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Besoffen seh' ich Kuschelhasen

XIX. Besoffen seh‘ ich Kuschelhasen
 

Craig versenkte seine Nase tief in seinen Anorak. Es waren zwölf Grad unter Null am helllichten Tage, kurz vor Weihnachten schon. Die Landschaft war von einer dicken Schneeschicht verschlungen worden, die die nächsten Monate gewiss nicht weichen wollte. Zu dieser Jahreszeit lobte er sich den Allradantrieb seines Wagens – und die Sitzheizung.
 

Fröstelnd drückte er die Klingel.
 

Fast in derselben Sekunde wurde die Tür aufgerissen. Gus blickte zu ihm auf, bereits dick eingemummt und strahle. Sein Gesicht war immer noch von einem sich verfärbenden Bluterguss gezeichnet.
 

„Hallo, Opa Craig!“
 

Craig war kurz davor, gequält die Augen zu schließen. Er war ein Mann in den besten Jahren und kein… Opa. Andererseits… das Kind nannte Jenn Oma. Da hatten sie ja was gemeinsam.
 

„Hallo Gus“, grüßte er das aufgeregte Kind.
 

„Hallo Papa“, sagte Justin, der ähnlich verhüllt wie der Rest des Trupps zu ihnen trat. Er hatte einen Rucksack dabei, in dem er vorsorglich eine Kanne mit heißem Glühwein und eine mit Kakao für Gus deponiert hatte. Der Arzt hatte gesagt, dass Gus inzwischen ein bisschen Bewegung an der frischen Luft gut tun würde. Aber er musste trotzdem noch Vorsicht walten lassen. Für den kleinen Hunger zwischendurch hatte Justin ein paar Sandwiches eingewickelt. Bevor sie sich in Bewegung setzten, griff er noch nach dem wichtigsten Objekt.
 

„Oh“, sagte Craig, „hast du dir eine neue Axt gekauft?“
 

„Hat mir der Nikolaus gebracht. Halt mal“, sagte Justin und drückte ihm das Werkzeug in die Hand, während er sich an Gus‘ Mantelverschlüssen zu schaffen machte. Als sein Vater ihn gefragt hatte, ob er ihm beim Weihnachtsbaumkauf behilflich sein könne, hatte er nach kurzem Zögern zugestimmt. Sie waren weit davon entfernt, vergessen zu haben, was über die Jahre gewesen war. Aber wenn er eine gewisse Annäherung nicht kategorisch ablehnen wollte – und das tat er nicht, auch wenn es sein erster Reflex gewesen war – dann konnte eine gewisse Alltäglichkeit im Umgang miteinander nicht schaden. Sie würden ja sehen, wohin das führte.
 

Craig wog das Gerät in der Hand. „Perfekt“, sagte er anerkennend.
 

„Ja, echt nicht übel“, meinte Justin, als er seinem Sohn die Kapuze festzurrte.
 

Im Wagen wand sich Gus überrascht. „Der Sitz ist ja warm“, stellte er überrascht fest.
 

Craig musste grinsen: „Gemütlich, was?“
 

„Total, Opa Craig!“
 

Schon wieder „Opa“… aber was sollte es. Ein Kind von sechs Jahren konnte sowieso kein Alter einschätzen.
 

Craig kutschierte sie aus der Stadt hinaus zu einem Areal, in dem Bäume zum selber Umhauen gezüchtet wurden. Es war ein altes Ritual. Als Justin noch ein Kind gewesen war, waren sie jedes Jahr hierhin gefahren, um einen Weihnachtsbaum zu schlagen. Und jetzt… hatte Justin selbst ein Kind.
 

Craig musste sich ja eingestehen, dass der Kleine ausgesprochen niedlich war in seiner begeisterten Art. Er fühlte, wie sie von allen Seiten wohlwollend gemustert wurden. Opa, Papa und Enkel, hach, wie putzig. Wenn die von den wirklichen Verhältnissen wüssten… Aber vielleicht war es einigen von denen auch egal? Es hatte auch viele gegeben, die sich gegen Antrag 14 gestemmt hatten, obwohl sie keinesfalls selber schwul gewesen waren…
 

Er spazierte mit seinem Sohn und Gus durch die Baumreihen, diskutierte über unterschiedliche Arten, Exemplare, Formen. Sie notierten sich den Standort der Bäume, die infrage kommen mochten. Justin verteilte die Sandwiches und füllte die Getränke in Becher. Craig musste noch fahren, deshalb hielt er sich mit Gus an den Kakao, aber Justin langte ordentlich zu, bis ihm eine gewisse Röte im Gesicht stand. Als sie sich endlich auf einen Baum geeinigt hatten, zog es Craig vor, selber die Axt zu schwingen, als seinem reichlich angesäuselten Sprössling das Werkzeug zu überlassen. Gus feuerte ihn an.
 

Gemeinsam schleiften sie den Baum zum Auto und banden ihn in altbewährter Taylor-Technik auf dem Dach fest.
 

„So“, sagte Justin, der aufgrund der Kälte oder des Alkohols eine leicht rötliche Nase zeigte, „und nun das Beste zum Schluss!“ Er ergriff Gus‘ Hand und steuerte zielstrebig den Stand mit den Schokoladenwaffeln an. Craig schüttelte etwas verstört den Kopf. Er sah sich selbst mit seinem kleinen Sohn an der Hand dort hinüber gehen, wie er es vor vielen Jahren mit Justin getan hatte.
 

Ein paar Minuten später kamen Justin und Gus wieder zurück, die dampfenden Waffeln in den Händen. Justin balancierte eine weitere für seinen Vater und hatte sich obendrein noch ein weiteres Heißgetränk gegönnt, das zünftig nach Alkohol roch. Irgendetwas mit Apfel. Gus tollte durch den Schnee und unternahm Versuche, größere Kugeln zu formen.
 

„Bauen wir einen Schneemann, Justin?“ fragte er, das Gesicht mit Schokoladensoße bekleckert. Eigentlich sahen sie alle so aus.
 

„Zuhause im Garten, Gus. Da liegt der Schnee noch dick und frisch und ist nicht so zermatscht.“
 

„Ich möchte mich bedanken, für die Einladung und… das hier“, sagte Craig übergangslos.
 

Justin schaute ihm durch den Schlitz zwischen Schal und Mütze an. Seine Augen zeugten von seinen angeheiterten Zustand. Früher hatte Craig sich hier immer die Kante gegeben, Jennifer war gefahren.
 

Justin pustete in seinen Becher: „Schon okay, Papa“ sagte er.
 

„Deine Mutter wird auch kommen?“ fragte er vorsichtig im Angesicht der Weihnachtsfeier, die Brian und Justin angesetzt hatten.
 

„Klar, Molly auch.“
 

„Und… noch wer?“
 

„Sicher. Brians Mutter kommt auch. Die ist auch total durchgedreht, als sie rausgefunden hat, dass Brian schwul ist. Da befindest du dich also in guter Gesellschaft.“
 

Craig biss sich in die Unterlippe. Daran hatte er noch gar nicht gedacht… dass Brian ja auch Familie haben musste… Eltern… Er meinte, sie während seiner Lehrzeit einmal gesehen zu haben. Mrs. Kinney war eine Schönheit gewesen, das war der Grund, warum er sich nach so langer Zeit noch erinnerte. Eine eiskalte Schönheit mit harten grauen Augen unter unglaublich langen Wimpern, die eine Mädchenhaftigkeit ausstrahlten, die ihre Haltung Lügen strafte. Brians Wimpern. Ja, das musste wohl seine Mutter gewesen sein. Wenn er dagegen an Jennifers Wärme und Herzlichkeit dachte…
 

„Was ist mit seinem Vater?“
 

„Ist vor ein paar Jahren gestorben.“
 

Sie schwiegen kurz.
 

Dann wagte Craig sich erneut vor: „Und wer kommt noch?“
 

„Freunde von uns. Daphne kennst du ja.“
 

„Sicher. Was macht sie denn jetzt?“
 

„Studiert Medizin in Chicago. Sie hat jetzt schon einen Platz fürs Promotionsstudium, irgendetwas mit Gentechnik.“
 

„Schön. Sie war ein kluges Mädchen.“
 

„Ist sie auch heute noch.“
 

„Aber kein Mädchen mehr, oder?“
 

„Nein, wohl nicht… Eine junge Frau. Den Rest kennst du wohl nicht… Debbie Novotny und ihr Freund Carl, ein Polizist. Ich habe länger bei Debbie gewohnt, nachdem du mich rausgeschmissen hattest, im alten Kinderzimmer ihres Sohnes, Michael. Der kommt auch, zusammen mit seinem Mann und ihren beiden Kindern, James und Jenny. Jenny ist Gus‘ Schwester, die Tochter der Ehefrau von Gus Mutter, die allerdings einen anderen Vater – Michael – hat…“
 

Craig drehte sich der Kopf, obwohl er stocknüchtern war. Hinter all dem steckte so viel Geschichte, Justins Geschichte, von der er keine Ahnung hatte.
 

„… und dann kommt noch Ted, vielleicht mit seinem Freund. Ted ist Brians rechte Hand bei Kinnetic…“
 

„Das ist Brians Firma?“
 

„Ja, mittlerweile eine der größten Werbefirmen in Pitts... und Gus Großeltern, Nathalie und Russel Peterson, die Eltern seiner Mutter, auch nicht gerade die größten Schwulen-Fans des Planeten, aber sie reißen sich zusammen… und Emmet.“
 

„Emmet kenne ich!“
 

Justin starrte ihn verwirrt an: „Woher kennst du denn Emm?“
 

„Bin ihm Mal bei deiner Mutter begegnet. Er hat mich mit zurück in die Stadt genommen… Eigentlich verdanke ich es ihm, dass ich heute hier stehe.“
 

Justin war offensichtlich verdattert. Dann schüttelte er mit einem unterdrückten Lächeln den Kopf: „Emmet also, sieh an… Emmet ist ein guter Mensch. Und ein guter Freund. Es gehört schon eine ganz schöne Portion Mut dazu, so rumzurennen, wie er das konsequent tut. Muss ein interessantes Gespräch gewesen sein.“
 

„Das… war es. Aber… warum läuft er dann so rum…?“
 

Craig dachte an Emmets Freizeit-Outfit, als er ihn zuhause überfallen hatte. Seine Zehennägel hatten sich leicht gekräuselt gehabt. Aber er war diesem komischen Vogel schon ziemlich dankbar, auch wenn es ihm überhaupt nicht in den Sinn gehen wollte, wie man als Mann… sowas erotisch finden könnte.
 

„Wie eine Zielscheibe, meinst du?“
 

„Nun ja, du rennst ja auch nicht so rum. Und Brian doch auch nicht?“
 

Kurz musste Justin auflachen bei dem Gedanken von Brian in Emmets Klamotten. Obwohl… von der Größe würden sie wahrscheinlich passen… Allerdings würden sie Brian dafür vorher mit einem Narkosegewehr niederstrecken müssen. „Nein. Wir rennen nicht so rum wie Emmet. Weil wir das nicht wollen. Aber Emmet will es. Und er macht es. So einfach ist das.“
 

„Aber… warum?“
 

„Weil er kein Feigling ist? Weil er sich so gut fühlt, richtig? Sollte nicht jeder die Freiheit besitzen, sich zu kleiden, wie er oder sie es gerne möchte? Die Geschmäcker unterscheiden sich nun Mal. Und denke daran, ich musste nicht in einer rosa Leggins mit Federboa um die Ecke gestöckelt kommen, um eins übergebraten zu bekommen.“
 

„Nein, aber er hat mit dir getanzt…“
 

„Wir, Papa, wir haben getanzt. Es war mein verdammter Abschlussball. Ich wollte keine Scharade. Ich wollte ihn mit der Person genießen, die ich geliebt habe. Und immer noch liebe. Und diesen ganzen bigotten Arschlöchern zeigen, dass sie mich Mal können. Und jetzt sag nicht, dass ich die Quittung dafür bekommen habe.“
 

„Du – und er – haben die Gefahr unterschätzt. Aber ich sage nicht, dass es eure Schuld gewesen ist.“ Soviel hatte er immerhin gelernt.
 

„Was sollen wir denn sonst tun? Uns in dunklen Ecken verstecken? Wir sind auch… normal. Nicht krank. Nicht verwirrt. Oder sonst irgendetwas. Einfach normal! Glaube mir, rennen hilft gar nichts. Die Gefahr ist immer da, immer, dass irgendein Idiot einen zum Ziel seiner beschränkten Hassfantasien macht. Entweder man lebt damit oder man fristet sein Dasein im Versteck, auf immer unglücklich. Oder man prügelt zurück. Ich habe es ausprobiert. Es mag kurzfristig gut tun, den Typen in den Arsch zu treten, die glauben, man habe das Wort „Opfer“ auf die Stirn tätowiert, sei schwach, weibisch, ein Fußabtreter für alle Zwecke – aber dadurch löst man nur die nächste Lawine aus. Das einzige, was bleibt, ist weiter zu machen. Es geht nicht darum, idiotisch zu provozieren. Es wird immer ein paar Unbelehrbare geben. Und immer Pech. Aber ich, wir, möchten auch nur leben, ohne ständig bibbernd im Eckchen zu sitzen. Und das werden wir auch tun, bis es auch der Letzte kapiert hat!“
 

„Du kannst ja mit mir anfangen“, bot Craig an.
 

„Ich bin dabei“, erwiderte Justin mit einem scharfen Blick.
 

„Sag mal“, wechselte Craig das Thema, „hat deine Mutter eigentlich… einen Freund?“
 

Justin beäugte ihn misstrauisch und goss den letzten Schluck seines Getränkes in sich hinein. Gus hatte sich derweil mit einem kleinen, ganz in einem rosa Skianzug eingewickelten Mädchen seines Alters zusammengetan, das ihm half, seine Schneekreationen zu realisieren. Früh übt sich, was ein Herzensbrecher werden will, dachte Justin.
 

„Wieso fragst du?“ sagte er schließlich verhalten.
 

„Ich habe sie gesehen. Mit so einem jungen Rockertypen.“
 

Justin verzog das Gesicht. „Tucker.“
 

„Du weißt, wer das ist?“
 

„Ja“, sagte er leicht gequält, „Mamas Freund seit etwa einem Jahr oder so.“
 

Craig wurde übel. Ein Jahr?! Das ging schon ein Jahr?!
 

„Du magst ihn nicht“, stellte Craig zielsicher fest.
 

Justin wand sich: „Er ist eigentlich kein übler Kerl.“
 

„Ist der nicht ein wenig jung für sie?“
 

„Was soll ich denn da sagen?“
 

„Bist du etwa Brians… wie sagt man? Toyboy?“
 

„Nein!!!“
 

„Und was ist das da mit deiner Mutter?“
 

„Oh Gott, bitte nicht!“
 

„Was?“
 

„Sie heiratet den doch nicht!“
 

„Und wenn doch, sie ist doch eine freie Frau?“
 

„Aber den doch nicht!“
 

Mehr musste Craig nicht wissen. „Kommt er auch Weihnachten?“ fragte er geflissentlich.
 

„Eher nicht“, antwortete Justin säuerlich.
 

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Brian riss die Augen auf, als die Scheinwerfer der Corvette auf das Monstrum fielen, das sich vor der Eingangstür breit gemacht hatte.
 

Er schnappte sich seine ledernde Aktentasche und eilte ins Innere. Der elegante Hugo Boss Mantel umschmeichelte ihn, auf der Fahrt hätte er ihn allerdings gerne mit einem Eskimoanzug vertauschen wollen. Wärme schlug ihm entgegen. Es war halb elf, Gus lag bereits in tiefem Schlummer. Im Wohnzimmer brannte der Kamin, dass ein flackerndes Licht durch den Türspalt in die Eingangshalle fiel. Er trat ein. Der noch ungeschmückte Weihnachtsbaum verbreitete sein harziges Aroma. Brian fühlte sich kurz beklommen… Weihnachten, ein Fest voller hohler Rituale, falscher Freundlichkeiten und schäbiger Geschenke… Aber nicht hier. Das würde ihr Weihnachten werden. Ob man dran glaubte oder nicht. Aber er hatte ja jetzt… Familie. Unglaublich. Einfach unglaublich. Neu. Fremd. Aber irgendwie auch gut.
 

Sein blonder Ehemann lag rücklings vor dem Kamin auf dem Boden und zeichnete leise summend mit den Fingerspitzen die Schatten des flackernden Feuers nach. Neben ihm stand ein Becher, der verdächtig nach Glühwein roch.
 

Brian trat hoch aufragend an ihn heran.
 

Justin lächelte und streckte die Hand nach ihm aus.
 

Brian rührte sich nicht. „Ich frage jetzt einfach mal aus reiner Neugierde“, sagte er. „Hast du diese pornografische Schneefiguren in unseren Vorgarten gepflanzt?“
 

Justin kicherte: „Kann sein.“
 

„Du bist betrunken.“
 

„Aber sowas von! Ich war mit meinem Alten den Baum schlagen, das ist Taylorsche Familientradition!“
 

„Sag mir bitte, dass du das nicht zusammen mit Gus gebaut hast.“
 

„Am Anfang schon…“
 

„Justin…!“
 

„… wir wollten zwei Weihnachtshasen bauen, aus Spaß. Hat nicht so gut geklappt. Und nachdem Gus ins Bett ist, habe ich ein wenig nachgebessert…“
 

„Und so sind durch reine künstlerische Intuition zwei fickende Weihnachtshasen draus geworden, auf deren Schwänze – und nicht die hinten - Jeff Stryker neidisch wäre?“
 

„Haargenau!“
 

„Na, dann bin ich ja beruhigt.“ Da sollte einer Mal sagen, dass sein Leben langweilig sei. Er konnte garantieren, dass Zen-Ben Michael nicht mit solchem Alltagswahnsinn auf Trab hielt. Das hatte man davon, mit einem Avantgarde-Künstler verheiratet zu sein. „Nicht, dass ich dein Genie nicht zu schätzen wüsste, Justin Buonarotti, aber in ein paar Tagen kommt meine Mutter hier vorbei geflattert, gefolgt von den Petersons, deine Eltern und… naja, der Rest fände deine künstlerischen Ergüsse wahrscheinlich gut. Vielleicht könntest du dein Meisterwerk ja in Richtung Jungfer mit Einhorn uminterpretieren, das würde Debbie immer noch gefallen?“
 

„Pah, du beraubst mich meiner künstlerischen Freiheit! Ich bin gekränkt! Und Jungfrau mit Einhorn – versauter geht es doch kaum, denn wozu hat denn das Einhorn eigentlich das eine Horn?!“
 

„Okay, kein Hetenkitsch mit Deflorationssehnsüchten. Aber irgendetwas, was nicht gerade einen Schwanz in einer Körperöffnung stecken hat oder das gerne hätte?“
 

„Schwer… das überschreitet meinen Erfahrungshorizont. Aber ich stelle mich natürlich gerne neuen Herausforderungen.“
 

Justin rappelte sich vom Boden auf und ergriff Brians Hand.
 

„Hey, was wird das?“ protestierte dieser.
 

„Wir bauen jetzt die Schneehasen um, du hast ja drauf bestanden“, stellte Justin gut gelaunt fest.
 

„Ich werde garantiert nicht…!“
 

„Klar wirst du!“
 

„Ist das die Strafe für das Date?“ fragte Brian, während er sich von Justin in seinen Mantel zurückgestopft fand.
 

Justin schniefte. „Wie war es überhaupt?
 

„Ätzend. Gott sei Dank ist uns ein Golf-Kumpel von ihm über den Weg gelaufen, der nicht weichen wollte. Als Plan B hatte ich einen Panikanruf von Ted in der Tasche, dass ich dringend in der Firma gebraucht würde. Aber so hielt es sich Gott sei Dank im Rahmen.“
 

„Hat er dir Blumen mitgebracht?“ stichelte Justin.
 

Brian musterte ihn strafend, dann sagte er grinsend: „Du schenkst mir ja nie welche.“
 

Justin lachte: „Du? Willst? Blumen?“
 

„Vielleicht… Eine Schwäche für eine ganz bestimmte Knospe von dir habe ich auf jeden Fall…“
 

„Mmm, die schenke ich dir gerne“, murmelte Justin und drückte sich mit der Überschwänglichkeit eines Betrunken an ihn. „Aber nicht jetzt, jetzt wird gearbeitet!“
 

„Aber ich kann nichts modellieren, das ist dein Job! Außerdem kann ich noch gar nicht wieder richtig laufen!“ protestierte Brian.
 

„Du kannst ein Konzept entwerfen, wie wir unseren Vorgarten besser vermarkten können.“
 

Justin hatte sich derweil dick eingemummelt. Er schnappte sich einen wüst gefärbten dicken Wollschal, den Debbie ihm gestrickt hatte, und wickelte ihn um seinen dünn gewandeten Gatten.
 

„Krieg ich jetzt auch ein Zuckerstückchen, wenn ich schon aussehe wie ein Zirkusgaul?“ fragte Brian in gespieltem Missmut.
 

Justin beugte sich zu ihm rüber und küsste ihn. Er murmelte: „Dieses Zuckerstückchen hat sogar noch Kalorien verbrannt.“
 

Brian lachte. Den ganzen Tag über hatte er den Boss raus hängen lassen müssen – und hatte es genossen. Und dann sich noch diesen Matratzen-König vom Leibe halten, ohne ihn zu verprellen. Aber jetzt… Er hatte dieses Bild vor sich, dass sein Inneres aus Popcorn bestand, das freudig vor sich hin knallte. Heiter und leicht. Dieser besoffene kleine Blondschopf ließ jede seiner Fasern vor Freude hoch und runter springen wie bescheuert. Auch wenn er sein Outfit versaute. Oder den Vorgarten. Oder seinen Plan, als Ikone unterzugehen.
 

Justin hopste vor ihm die Stufen hinunter, rutschte aus und purzelte in den Schnee. Prustend, seine Misere ignorierend, kam er wieder hoch. Etwas in Brian lachte immer noch. Aber nicht aus Schadenfreude, sondern angesichts dieses Übermutes, dieser Energie, dieses Willen zum Chaos. Hinter seinem Rücken griff er in den Schnee.
 

Justin spazierte mit kritischem Blick um sein Werk herum. Es war verblüffend gut gelungen, das musste Brian zugeben. Zwei fickende Hasen mit Bommelmützen und riesigen Schwänzen… Jeff Koons wäre neidisch.
 

„Vielleicht, wenn ich die Schwänze abnehme und sie einfach nur kuscheln lasse?“ fragte Justin. Dann traf ihn etwas. Überrumpelt und mit Schnee garniert blieb er stehen „Du… du hast mir einen Schneeball verpasst… du!“ brachte er hervor.
 

Brian konnte sich kaum halten. Was war mit ihm los? Hatte dieser Lance ihm Extasy in den Weißwein gekippt, um ihn willenlos abschleppen zu können? Wohl eher nicht, denn das wäre höchstwahrscheinlich eine ungünstige Ausgangslage für eine innige Beziehung…
 

Justin kam auf ihn zugestürmt und schubste ihn in den Schnee, geschickt sein Bein schonend.
 

Brian lag rücklings in der weißen Pampe und lachte hemmungslos. Das war der Hauptgrund, warum er Justin niemals ans Bett gefesselt hatte, wie Trick-Ben, Trick-Verkehrspolizist, Trick-Sonstwer. Er bekam immer alles zurück. Und ob er das wollte –
 

Justin saß auf ihm und ließ mit einem sadistischen Grinsen eine volle Hand Schnees in sein Gesicht segeln. Brian versuchte ihn abzuwehren, aber Justin war schneller. Er prustete. Und musste immer noch lachen.
 

Justin schaute ihn mit warmen Augen an und strahlte, ohne sich dagegen wehren zu können. „Was ist los, was lachst du?“ fragte er.
 

Brian griff seinen Nacken und zog ihn herab zu sich. Es war beschissen kalt und sie waren mit Schnee besudelt, der auf ihnen schmolz. Justins Haare waren in den Spitzen gefroren. Aber es war egal.
 

Justin starrte in Brians wunderschöne, weit aufgerissene Augen, die im diffusen Licht der Außenbeleuchtung dunkel schimmerten. Riesig unter einem Kranz fast unnatürlich langer Wimpern.
 

„Ich liebe dich, Brian“, sagte er und küsste ihn weich auf die Lippen. „Ich liebe dich, du Riesenidiot.“
 

Brian wollte reflexartig gegenschießen, dass alles vergänglich sei. Romantisches Gelabere. Aber es traf. Er wollte das. Er wollte geliebt werden, sicher sein, dass es nicht zerrann wie Sand zwischen den Fingern. Dass es eine Zukunft gab. Er konnte es nicht wissen. Aber er konnte es… glauben. Jahre waren vergangen, aber Justin war immer noch da. Nah bei ihm. Am Beginn hatte Justin versucht, seine Liebe an Bedingungen zu knüpfen. Das hatte Brian nicht gekonnt und nicht gewollt. Aber er konnte es jetzt ohne Bedingungen, ohne Regeln. Weil er es wollte. Weil er ihn wollte. Weil er eine Familie hatte. Er war nicht mehr… allein. Und das Popcorn in ihm sprang immer noch auf und nieder, als Justin, frostig und nass, ihn erneut küsste.
 

„Was ist jetzt?“ fragte er Brian und schenkte ihm einen seiner ganz besonders fürchterliche Augenaufschläge: „Soll ich die Kuschelhasen machen?“
 

„Mir wird etwas unwohl bei dem Gedanken…“
 

„Gus wollte Kuschelhasen“, stellte Justin breit grinsend klar.
 

„Ich würde zwar eigentlich deine Porno-Version bevorzugen, aber wenn Gus das will…“
 

„Du sagst es. Und deine Mutter steht wahrscheinlich auch nicht so recht auf schwule Karnickel…“
 

„Da ist sie leider nicht die Einzige. Obwohl ihr Gesichtsausdruck die Sache fast wert wäre. Sie schafft es bestimmt, den Schnee allein mit ihrem Blick zum Schmelzen zu bringen.“
 

Justin machte sich an die Arbeit, während Brian fasziniert seinen Bewegungen folgte. Zielstrebig, versunken, auch bei so einer Beschäftigung in reichlich angesäuseltem Zustand.
 

Brian knabberte von dem Popcorn in seine Innenleben, während er Justin beobachtete. Er fühlte sich, als sei er bekifft. Nur besser. Er liebte Justin, das wusste er mit felsenfester Sicherheit. Aber das… ein wenig wie am Anfang, als er sich verzweifelt immer wieder gefragt hatte, warum dieser minderjährige Twink ihn jedes Mal wieder entgegen aller Regeln oder besseren Wissens herum bekommen hatte. Obwohl Justin völlig unerfahren gewesen war. Obwohl er eigentlich gar nicht sein Typ war. Obwohl er sich nie hatte verlieben wollen. Aber wenn Justin ihn so angelächelt hatte… wenn er ihm seinen Körper geschenkt hatte… und das Geräusch, als Hobbs Schläger Justins Schädel hatte brechen lassen… Er konnte es noch heute hören. Und als Justin damals mit seiner Kreditkarte nach New York abgehauen war, und er ihn geschnappt hatte – er hätte ihn in den Bubble Butt treten sollen, dass er bis nach Mexico geflogen wäre. Aber stattdessen – Linds hatte schon Recht gehabt, auch wenn er das niemals hätte zugeben können. Das Einzige von Bedeutung, das fehlte, nachdem man ihm die Wohnung leer geräumt hatte, war Justin gewesen. Nicht seine Designermöbel, nicht seine Armani-Klamotten. Sondern Justin. Eigentlich hatte er ihn postwendend an seinen blonden Wuschelhaaren wieder zurück nach Pitts schleifen wollen. Aber dann hatte diese kleine Kanaille, die gerade gnadenlos sein Geld verprasste, plötzlich seinen verkackten Bademantel von sich geworfen. Und vergessen waren alle guten Vorsätze gewesen. Er hatte nur noch die milchig weiße Haut, die perfekten Proportionen, die haargenau zu seinem eigenen Körper passten, den einladend zuckenden Schwanz inmitten der weichen blonden Schamhaare gesehen. Justin hatte ihn nicht geküsst, nicht sofort, sondern war provozierend an ihm herab geglitten, hatte ihn auf die Folter gespannt, ihm eiskalt in die Brustwarze gebissen, dass es ihn bis ins Mark durchfahren hatte. Keine Spur von Unterwürfigkeit oder dem Betteln um Verzeihung – oder gar eines schlechten Gewissens. Justin hatte bekommen, was er wollte. Ein Schalter in seinem Hirn war umgesprungen. Er wollte ihn. Es war das Dämlichste, was er hätte tun können, wenn er den kleinen Blödmann hätte loswerden wollen. Besonders nach der Nummer, die er sich erlaubt hatte. Er erinnerte sich noch heute an das Gefühl, als er endlich – endlich – wieder in Justin versunken war. Er hatte ihn geküsst wie ein Wahnsinniger, während sein Schwanz erlöst in Justins Inneres hineingefahren war. Nichts fühlte sich so an wie das. Gar nichts. Aber es hatte ihm eine Scheiß-Angst gemacht. Er hatte es nicht begriffen. Er war verrückt nach Justin gewesen, aber nur sein Körper hatte Wege gefunden, das zu zeigen und zu genießen. Und sein Körper war ihm ein Werkzeug gewesen, es bloß nicht eingestehen zu müssen. An die Dinge, die er damals mit seinen Tricks getrieben hatte, konnte er sich nur verschwommen erinnern. War es damals gewesen – oder im Jahr davor oder danach oder doch mit einem anderen Kerl? Es spielte keine Rolle. Aber mit Justin – jedes verschissene Detail hatte sich in sein Hirn eingebrannt. Er hatte sich, mit fast Dreißig Jahren in diesen zwölf Jahre jüngeren, zierlichen, wilden Jungen verliebt gehabt.
 

War es das etwa jetzt? War er… verliebt? War er verliebt in die Person, die er liebte? Konnte das mehrfach passieren? Nach all der Zeit der Trauer und der raschen, teils erzwungenen Umstellungen, war es plötzlich wieder geplatzt. Als er Justin damals getroffen hatte, hatte er dergleichen gemieden wie die arme Seele den Teufel. Vielleicht hatte er es verlernt oder aber niemals gelernt gehabt. Er war nie verliebt gewesen. Er war scharf auf den oder jenen Typen gewesen. Aber das war es auch gewesen, keine Nähe. Berührung nur Haut an Haut.
 

Aber jetzt… Er konnte es zulassen. Niemand von Bedeutung würde ihn deswegen krumm anschauen. Und wenn doch, dann konnte derjenige ihn Mal. Er würde nicht abgewiesen werden, seine Liebe blieb nicht unerwidert. Justin… gehörte ihm. Mit Leib und Seele. Und weniger konnte er ihm auch nicht geben. Und das machte ihn wahrscheinlich genauso besoffen, wie Justin es gerade war.
 

Justin war fertig. Das Endergebnis waren zwei auf ihre stereometrischen Grundformen reduzierte Mümmler mit Weihnachtsmannmützen, die Arm in Arm standen. Zwar irgendwie noch anzüglich, aber auf eine sehr dezente Art, die auch Zufall sein könnte.
 

Brian trat, inzwischen völlig durch gefroren, zu ihm hinüber. Von hinten schloss er die Arme um ihn.
 

„Und? Findet das Gnade vor deinem Angesicht?“ fragte Justin.
 

„Nicht nur das“, erwiderte Brian und zog Justin an sich.
 

Justin fühlte, wie ihn Brian warm umhüllte. Brians Lippen wanderten seine bloß liegende Wange hinab, bis er seinen Mund erreichte und ihn langsam küsste. Eine Woge des Glücks durchströmte ihn.
 

„Ich dich auch“, murmelte er an Brians Hals.
 

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Lance Whinefourt lächelte, als Kinney ihm an der Tür des separaten Zimmers die Hand schüttelte, das Kinnetic im Ambrosio’s, einem der elegantesten italienischen Restaurants Pittsburghs, für ihre Firmenfeier gebucht hatte. Direkt vor Weihnachten war das gewiss nicht einfach gewesen, eine derart kurzfristige Reservierung zu bekommen. Es sprach für die Firma – und ihren Boss – dass es ihnen offensichtlich gelungen war.
 

Hinter ihm trat Marlene Isleton in den Raum, seine an den Verhandlungen wesentlich beteiligte rechte Hand, gefolgt von ihrem Mann Rico. Kinney hatte die Einladung formvollendet natürlich auch für die Partner der Geladenen ausgesprochen. Es ging schließlich auch um das Schaffen einer persönlichen Atmosphäre. Ob Kinneys Frau auch hier sein würde? Der Ehering war ihm nicht entgangen. Aber sein Gaydar hatte bei dem schönen Werbefachmann sofort eindeutiges Signal gegeben. Er könnte eine Hand dafür ins Feuer legen, dass Kinney schwul war. Wahrscheinlich brauchte er nur einen kleinen Schubser in die richtige Richtung… War wahrscheinlich nicht einfach in seiner Position, vor allem mit Familie. Er hatte Kinneys Sträuben durchaus bemerkt, als er ihn zu etwas hatte locken wollen, was in den Augen der Hetenwelt ein Geschäftsessen, aber in seiner vor allem ein Date war. Aber schließlich hatte er zugesagt. Wenn ihnen dieser Idiot Jeffrey mit seinem Golfclub-Gelabere nicht in die Quere gekommen wäre, hätte er Kinney… Brian… ordentlich auf den Zahn fühlen und ihm ein wenig… näher kommen können. Er wusste, er sah recht gut aus, aber Brian war die absolute Wucht. Er war nicht nur physisch ausgesprochen ansprechend, sondern besaß einen wachen Verstand, ausgeprägten Geschäftsinn und eine jede Faser durchdringende elegante Dynamik. Brian erschien Lance wie eine Raubkatze, ein Panther, geschmeidig, wild und wunderschön. Und sie standen in ähnlichen Positionen im Leben. Lance letzte Beziehung war daran zerbrochen, dass sein Partner, ein technischer Zeichner, nicht mit Lance Wohlstand klar gekommen war. Es war egal gewesen, wie sehr es betonte, dass es nicht so sei, Bill hatte sich wie ausgehalten gefühlt. Schlussendlich waren sie zu verschieden gewesen, hatten in unterschiedlichen Welten gelebt. Aber Brian… Brian passte, Brian war perfekt. Und unglaublich begehrenswert. Wahrscheinlich ein Top, aber man konnte nie wissen. Lance war es egal, er war da für alles zu haben. Er hatte keinen Bock mehr, sich von einem One Night Stand zum nächsten zu hangeln, er wollte einen Partner, eine Zukunft…
 

Er ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Jonathan, der Chef der Marketingabteilung, unterhielt sich gemeinsam mit seiner dürren, prinzipiell nur Chanel tragenden Frau mit Brians Stellvertreter Schmidt. Brians Assistentin Cynthia Roberts plauderte mit einem großen schwarzhaarigen Mann mit Intelektuellenbrille, der ihr Begleiter zu sein schien, und einem jungen blonden Mann mit Wuschelfrisur, der mit dem Rücken zu ihm stand. Lance hatte ihn noch nie gesehen. Jemand aus der Grafikabteilung? Er musterte ihn verstohlen. Ein sehr einladender Hintern steckte in der weit geschnittenen Hose, erkannte er mit Kennerblick.
 

Brian trat auf ihn zu. Er lächelte und Lance rutschte das Herz in die Hose.
 

„Ich bedanke mich schon einmal für die Einladung. Das Ambrosio’s ist eines meiner Lieblingsrestaurants“, eröffnete Lance das Gespräch.
 

„Es ist schön zu hören, dass Sie sich hier wohl fühlen, besonders da wir ja auch hier sind, um uns alle in etwas weniger geschäftsmäßigem Rahmen ein wenig zu amüsieren“, blinzelte Brian ihm zu.
 

Himmel, was für Augen, was für ein Mund! Lance riss sich zusammen.
 

„Das werden gerade wir beide wohl müssen. Ich bin zur Zeit ungebunden, und daher ermangle ich eines Tischpartners und Sie…? Keine der hier Anwesenden scheint ihre Ehefrau zu sein…?“ ging Lance auf Tuchfühlung.
 

„Ehefrau?“ fragte Brian mit erstaunter Miene.
 

„Äh, ich dachte, wegen des Rings…“, erwiderte Lance verwirrt mit einem Nicken zu Brians Hand.
 

Brian lachte leise auf und schüttelte den Kopf: „Oh, da handelt es sich wohl um ein Missverständnis…“
 

In Lance frohlockte alles.
 

„… ich schreie es zwar nicht von den Dächern, aber es ist auch kein Staatsgeheimnis, dass ich der Damenwelt nicht gerade zugetan bin. Moment…“
 

Hatte er doch Recht gehabt! Besser konnte es doch gar nicht laufen!
 

„… Justin, kommst du mal her?“
 

Lance verfolgte verständnislos, wie der junge Blonde von der anderen Seite des Raumes aus auf sie zugesteuert kam. Jetzt sah er auch die Vorderseite. Eine eher zierlicher Typ, aber ansprechend. Und ein Gesicht, das aussah wie die Lexikonabbildung zum Stichwort „blonder Twink“: blauäugig, stupsnasig, geschwungene rosige Lippen, hohe Wangenknochen. Er zeigte ein verbindliches Lächeln und entblößte dabei perfekt stehende, strahlend weiße Zähne.
 

Brian schlang wie selbstverständlich einen Arm um die Schulter des Jüngeren und sagte freudestrahlend: „Lance, darf ich Ihnen meinen Mann vorstellen?“
 

Ehe er sich versah, schüttelte der Blonde ihm die Hand und stellte sich heiter vor: „Justin Taylor-Kinney.“
 

„Lance Whinefourt“, erwiderte Lance betäubt. Taylor-Kinney? So hatte Brian doch auch die Verträge unterzeichnet… Oh Gott. Das war doch jetzt nicht wahr.
 

Er hörte sich selbst sagen: „Sie arbeiten auch bei Kinnetic?“
 

Brians Mann schüttelte den Kopf: „Nein, ich bin freischaffender Künstler.“
 

„Und ein verdammt Guter!“ ergänzte der Traum seiner schlaflosen Nächte und drückte den Kleineren locker an sich.
 

Gott sei Dank war er Zeit seines Lebens darauf gedrillt worden, in Krisensituationen die Fassung zu bewahren. Auch wenn diese ihm innerlich gerade völlig abhanden gekommen war. Brian war keine Klemmschwester… der hatte allen Ernstes einen Kerl geheiratet und schleppte ihn aufrechten Hauptes zum Firmenessen mit! Das hätte er selbst nie gebracht. Sicher, homosexuelle Ehen galten in diesem Bundesstaat nichts, aber das konnte – und würde, das hoffte er – sich ändern. Aber es gab nach wie vor Leute, die das rundweg ablehnten, die ihnen dieses grundlegende Recht absprachen. In diesem Sinne fühlte er plötzlich so etwas wie Bewunderung für den anderen Mann. Er brachte seinen Partner mit, als sei das das Normalste der Welt, wohl wissend, dass er auf grobe Ablehnung stoßen konnte. Aber wenn Brian offen schwul lebte, dann hatte er seine Annäherungsversuche garantiert kapiert. Lance schoss das Blut in den Kopf. Das hier war auf ihn gemünzt. Das hier war das ultimative „Finger weg!“.
 

Er musterte Brians twinkigen Ehemann. Ganz schön junges Gemüse. Aber solche Typen sahen häufiger jünger aus, als sie waren, oder? Freier Künstler? Da hatte er sich mit Brian ja eine fette Weihnachtsgans geangelt, während er seine Bildchen pinselte… Und Brian? Blond und niedlich… stand der auf sowas? Das Trophäenweibchen in der schwulen Version…?
 

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als es hieß, sich für das Essen hinzusetzen. Die Kellner flitzten durch die Gegend, um die Getränkebestellungen aufzunehmen. Auf den Schock brachte er erst einmal einen Drink. Es sah wie Brian lächelnd irgendetwas zu seinem Mann sagte, der ihn anstrahlte, als habe jemand auf den Lichtschalter gedrückt. Die Kinnetic Mitarbeiter nahmen die beiden nicht weiter zur Kenntnis, nur Schmidt warf ihnen verstohlene Blicke zu. Und Lance Team war ihn gewohnt und machte auch keine krummen Touren. Er achtete darauf, seine Homosexualität möglichst nicht an die große Glocke zu hängen, aber sein engerer Kreis, mit dem er seit vielen Jahren zusammen arbeitete, wusste Bescheid. Und letztlich war er ja ihr Boss.
 

In Lances Hirn kreiste es, während er sich seinen doppelten Whiskey hinein kippte. Er sah Brian an und sein Mund wurde trocken. Er wollte ihn, Ehemann hin oder her! Er war einfach… unglaublich. Dass er sich rarmachte, machte ihn nur noch interessanter. Und dieses kleine Blondchen… das war ja wohl kaum ernst zu nehmen, egal wie knackig er sein mochte. Was wollte ein Mann wie Kinney mit so einem Disco-Mäuschen? Auf die Dauer reichte so etwas nicht, davon konnte Lance ein Lied singen. Man brauchte eine gemeinsame Ebene. Und er und Brian hatten die, da war er sich sicher.
 

Sein Sitznachbar war Schmidt, der ebenfalls ohne Begleitung gekommen war und an einem Glas Wasser nippte. Er sah auch gar nicht so übel aus, aber neben Brian wirkte er wie ein Gnom. Das Leben war manchmal wirklich nicht gerecht.
 

Schmidt musste seinen Blick bemerkt haben, denn er sagte: „Sie sind frisch verheiratet… stört Sie das?“
 

Lance schüttelte wahrheitsgemäß den Kopf, während die Vorspeise, ein Carpaccio, serviert wurde. „Nein, nicht im Geringsten, ich gehöre selber zum Verein. Ich bin nur etwas überrascht, wie jung Mr. Kinneys Mann aussieht.“
 

„Oh, das ist er auch. Aber das hat sie nicht gehindert.“
 

„Er ist schwer einzuschätzen…“
 

„Müsste demnächst dreiundzwanzig werden.“
 

„Ui, das hört sich ja nach einer Knall auf Fall-Geschichte an. Kaum kennengelernt, schon geheiratet…?“ bohrte Lance, während sein zweiter Whiskey gemischt mit dem trockenen Weißwein zum Essen seine Wirkung zeigte.
 

Schmidt verzog das Gesicht: „Nicht wirklich. Die beiden sind schon ewig zusammen.“
 

„Ewig? Das sind bei unsereins auch gerne mal drei Monate…“, köderte Lance.
 

Sein Sitznachbar schnaubte: „Sechs Jahre dürften es eher treffen. Wo die Liebe hinfällt.“
 

Lance zog die Augenbrauen zusammen. Sechs Jahre? Da dürfte der Kleine da drüben sechzehn, allenfalls siebzehn gewesen sein. Minderjährig. Illegal.
 

Das war ja hoch interessant.
 

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Ted spähte schräg über den Tisch zu Brian und Justin. Brian hatte ihn tatsächlich mitgebracht und ihn offiziell als seinen Ehemann vorgestellt. Im intimen Kreis hatte er dergleichen schon vorher getan, wie bei der Eröffnung von Kinnetic. Nicht zuletzt, weil er sie vor allem auch Justin verdankte. Einerseits war das… richtig. Andererseits war das, Fremden gegenüber… gewagt. Aber dieser Lance schien ja in ihrer Liga zu spielen. Und außerdem war das ein ganz schöner Hammer von Mr. Beziehungsphob. Aber Halt, das war er ja gar nicht mehr.
 

Ted war monatelang Zeuge gewesen, wie Brian vor Sehnsucht nach Justin beinahe kirre geworden war. Verrückter Kerl, statt loszuziehen und ihn sich zu schnappen, auf der Couch von Kinnetic langsam wunderlich zu werden… Aber so war Brian. Ganz oder gar nicht. Nicht an die Liebe, das Glück glaubend. Aber das schien sich geändert zu haben, wenn er Brians verliebtes Strahlen richtig las. Was für ein Anblick. Ob Brian es bewusst war, dass ihm sein Gemütszustand aus jeder Pore tropfte? Jeder, der ihn kannte, konnte das sehen. Die etwas geröteten Wangen, die nicht vom Alkohol her rührten, der leicht feuchte Blick. Wenn Brian sich jetzt selbst sehen würde, würde er wahrscheinlich einen Anfall bekommen. Oder es wäre ihm egal. Justin war sein Partner gewesen, auch wenn er lange Zeit bei dem bloßen Gedanken daran schreiend davon gelaufen war. Justin war es dennoch gewesen. Und Schritt für Schritt hatte sich Brian an den Gedanken gewöhnt. Und jetzt schien er… glücklich zu sein? Ja, das war es wohl. Der König der Zyniker war glücklich.
 

Und er, Ted, war es auch. Der Kellner bot ihm von dem Wein an, aber er winkte ab. Keine Drogen, das schloss auch den Alkohol mit ein. Schon die kleinste Versuchung konnte momentan noch das Ticket zurück in die Hölle bedeuten. Er war süchtig gewesen, und die Sucht fand immer neue Wege. Sie lauerte wie ein Dämon in seinem Schatten jederzeit bereit, wieder zu zuschlagen.
 

Außerdem brauchte er keinen Drink, um sein Leben farbig zu gestalten. Was ihn trunken machte, war seine Liebe zu Blake. Sein Herz klopfte schneller, als er an ihn dachte. Mit Blake hatte die Chemie immer gestimmt, vom ersten Augenblick an. Leider war ihnen eine andere Art von Chemie dazwischen gekommen. Aber das war Vergangenheit.
 

Sie würden zusammen ziehen, im nächsten Jahr.
 

Ein neues Leben.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  brandzess
2011-08-27T18:26:44+00:00 27.08.2011 20:26
oh ich weiß nicht ob mir Lance raktion, als er erfahren hat das Justi 17 war als er und brian "zusammen" gekommen sind, gefallen soll.......wenn er jetzt einen auf eifersüchtige Tunte amcht dann könnten Justin und Brian probleme bekommen......ob er wohl weiß das gbeide ein kind zusammen haben xD?


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