Zum Inhalt der Seite

O.B.S.E.S.S.I.O.N.

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

2. Nichterlebte Erinnerungen, Teil 2


 

„Ich bin bis an die Zähne bewaffnet mit Angst.“

Ralf Rothmann, dt. Lyriker
 

Wenn es etwas gab, worin sie gut war, wirklich gut, dann war das ganz sicherlich, sich zu verstecken. Es war kein Hobby. Es war auch keine Vorsicht in dem Sinne; mehr eine beinah krankhafte Angewohnheit. Ihr Haus war voller Orte, um sich zu verstecken; doppelte Wände in Schränken, verstecke Zwischenräume, Gänge hinter fast jeder Wand. Die Rothaarige hatte Ewigkeiten gebraucht, um sich alles richtig herzurichten (und war ihr nicht manchmal, als würden gewisse Teile fehlen? Gewisse Zeiträume, in denen plötzlich so viele Veränderungen vonstatten gingen, ohne dass sie sich erinnerte, wie es dazu gekommen war?), und doch hatte sie eines vergessen. Übersehen, vielmehr, oder schlichtweg verdrängt. Und das war eine sehr, sehr wichtige Sache.

Wenn sie in der Lage war, sich hier überall zu verstecken... dann auch andere.

Der Gedanke kam ihr, als sie den Schrei hörte, weit entfernt zwar, aber doch dicht aufgefolgt von einem Klirren ganz in ihrer Nähe.

Flaky war nie mutig gewesen. Würde es auch nie sein. Das typische Horrorfilmheldengebärden, erst einmal nachsehen zu gehen, käme ihr niemals in den Sinn - einmal davon abgesehen, dass sie sich weigerte, Horrorfilme zu sehen - und deswegen zuckte sie bei dem Geräusch auch direkt hoch, erstarrte für einen kurzen Moment, in dem ihre Gedanken kreisten - ohmeingotteinmördereinwahnsinnigerdawareinschreibestimmtistjemandtotundjetztisterHIER - ehe sie vom Sessel rutschte, ganz langsam, ganz vorsichtig, nur keine lauten Bewegungen, und sich dazu zwang, nachzudenken. Waren die Verstecke sicher? Wahrscheinlich nicht, sicher nicht, wenn jemand hier war, dann war nicht auszuschließen, dass er auch davon wusste, nicht wahr?

Also nicht Verstecken, zumindest nicht hier. Das hieß, sie musste hier raus. Es war gefährlich draußen, andererseits ganz sicher nicht so gefährlich wie mit einem gottverdammten Mörder im Haus. Die Vordertür? Denkbar schlecht. Hintertür? Ebenso. Fenster? Wahrscheinlich die beste Alternative, wenngleich es umständlicher und damit etwas langwieriger war. Hatte sie die Zeit? Wenn nicht, dann würde es wahrscheinlich ohnehin keinen Unterschied machen. Also schlich - leise, leise - sich das Mädchen zum nächsten Fenster - wie gut, dass sie im Erdgeschoß war, wie überaus hilfreich - um es dann hochzuschieben. Es klackte, als es anschlug, und für einen Moment erstarrte sie, sicher, sich verraten zu haben. Aber es blieb still. Vielleicht ein wenig zu still. Vorsichtig kletterte sie auf den Fenstersims, sah hoch zum Riegel des Fensters, der nicht richtig eingeharkt war, natürlich nicht, und bei ihrer Bewegung mit voller Wucht herunter knallte, direkt auf ihre Knie und sie zerschmetterte, sie hilflos rudernd herunter fallen ließ, ohne dass sie sich abfangen konnte und die Bilder in ihrem Kopf machten sie irr, das war nicht hilfreich, nicht hilfreich.

Sie hob den Blick, unsicher, aber das Fenster saß ordentlich in der Verankerung und schien keinerlei verstümmelnde Absichten zu haben. Das beruhigte sie zwar nicht sehr, aber immerhin soweit, dass sie auf den Boden draußen sehen konnte und eine reißende Bestie, das Maul weitaufgerissen, vor Sabber triefend, die Augen blutunterlaufen, das war eine gottverdammte Katze, die sie uninteressiert ansah und gähnte. In der Tat... sehr gefährlich. Sie zitterte, hatte die Fingernägel tief ins Holz gegraben und beinah aufgelacht über ihre Dummheit, aber sie hatte immer noch Angst, viel Angst, schließlich war sie nicht allein, nicht wahr? Ganz langsam ließ sie sich herunter, sprang die letzten paar Zentimeter, und natürlich musste sie falsch aufkommen, umknicken und der Länge nach hinfallen, sich den Kopf genau auf einem scharfen Stein aufschlagen, oder vielleicht auch nur das Auge, das konnte sie nicht genau sagen, sie wusste nur, dass es wehtat, sie musste sterben, natürlich, wer könnte damit schon weiterleben und was war nur los mit ihrer Fantasie in diesem Moment, das war nicht normal, nicht einmal ansatzweise normal. Sie stand, sicher, wenngleich auch zitternd wie Espenlaub, und die Katze starrte sie an und maunzte unbeeindruckt.

"Was tust du da bitte?"

Sie zuckte zusammen, war sich sicher, einen Herzinfarkt erlitten zu haben und schrie nur nicht, weil sie sich zu sehr erschrocken hatte. Man mochte nicht glauben, dass das möglich war, aber sie hatte damit Erfahrungen. Halt, hatte sie? Es waren Dinge, an die sie sich zu erinnern glaubte, die ihr aber nie zuvor in den Sinn gekommen waren und die absolut unsinnig waren. Unmöglich vor allem, denn fast wie die Wahnvorstellungen eben - nur noch einen Hauch realer, kaum möglich - huschten Bruchstücke verschiedenster Erlebnisse vor ihrem Auge, Dinge, die nicht passiert sein konnten, immerhin stand sie jetzt hier - aber zu rasch vorbei, um wirklich in der Lange zu sein, sie vollständig zu erfassen.

Und sie wäre fast erneut einem Herzinfarkt erlegen - es war keiner, konnte keiner sein, wie könnte sie sonst aufrecht stehen, wenn sie so eben zwei davon nacheinander erlebt hätte - als sie an der Schulter gepackt und unsanft herumgerissen wurde, ihr Schultergelenk kugelte dabei aus, wie war das überhaupt möglich, egal, ganz egal, denn sie würde nun sterben, er hatte sie gefunden, das Fenster hatte sie verraten und eigentlich war es eine sehr sanfte, sehr vorsichte Bewegung, und es war kein irrer Blick, dem sie begegnetete, sondern sanftes, sehr besorgtes Grün.

"Flaky? Geht es dir gut? Du wirkst... krank."

Krank. Ja. Krank traf es, vielleicht ein unbemerktes Fieber, zusammen mit ihren Panikattaken und Gott, wenn das hier Flippy war, und so ruhig, es sollte ihr helfen, tat es aber nicht, dann war wer auch immer immer noch in ihrem Haus, suchte sie, und es wäre nicht sehr schwer, sie hier zu finden, auch wenn sie das Haus verlassen hatte. War sie sicher? Es war auf eine Art beruhigend, dass er hier war, wer auch immer es war, er würde sie vor ihm beschützen, nicht wahr, es gab keinen Grund zur Sorge, also warum wollte sie von ihm wegrücken, warum wurde der besorgte Ausdruck von einem irren Grinsen abgelöst, als sie das Brennen in der Magengegend spürte und als sie einen panischen Blick nach unten warf, konnte sie den Griff des Militärmessers sehen, das in ihrem Leib steckte - "Flaky, hör auf zu schreien, was ist los?"

Sie schrie tatsächlich, verstummte und sah ihn verwirrt an, ehe sie anfing zu lachen, ein hysterisches Lachen, eines, das sie nicht aufhalten konnte. Sie wollte nicht lachen, ihr war vielmehr nach weinen zumute und was war dieses gottverdammte Scheppern in ihrem Haus, er war da, er war da und wie lange würde es dauern, bis er wusste, dass sie hier draußen war, direkt vor dem Haus, und dann würde ihr auch Flippy nicht helfen können, im Gegenteil, wahrscheinlich war er nur hier, um sie aufzuhalten und immer noch lachend riss sie sich los. Es war nicht einmal so, dass er sie wirklich festgehalten hätte, er hatte nur die Hände auf ihrer Schulter und der Blick, mit dem er sie bedachte, war mehr als verwirrt. Dennoch stolperte sie noch ein paar Schritte rückwärts, blieb an einem Stock hängen und fiel rücklängs hin - ohne Verletzung, die ihr ihr Geist vorgaukelte, seltsam genug, aber sie war diesmal wirklich gefallen - und dann kreischte sie erneut auf, als sie den Kopf dabei zur Seite wandte und jemanden in dem Apfelbaum hängen sah, der an ihren Garten grenzte, das Seil um den Hals wie eine Verlängerung des Körpers, ein sanftes Pendel im Wind und das war keine Einbildung, nicht im Geringsten, und oh, sie hätte nicht schreien sollen, hätte nicht darauf aufmerksam machen sollen, denn als sie den Blick wieder zu dem ehemaligen Soldaten wandte, hatte er den Blick ebenfalls auf die erhängte Person gerichtet und was war diese Veränderung in seinem Gesicht, das war keine Einbildung, das war echt, weg, weg, weg hier und er sah zu ihr, keine Spur von Verwirrtheit oder Sanftheit mehr, nein, nein, bitte nicht, sie wollte nicht sterben, sie wollte nicht, oh bitte...

"Hallo, Flaky. Hast du mich vermisst?"



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2013-08-14T21:18:37+00:00 14.08.2013 23:18
omg omg omg! Das ist toll, verdammt toll!. Die Story, der schreib stil. Super Gemacht!


Zurück