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Schattenfresser

von

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Der Törtchengott

XXI. Der Törtchengott
 

Skiaphagos wühlte sein Gesicht in die Kissen.
 

Wer war er?
 

Skiaphagos, Schattenfresser. Kein Mensch, einer von… ihnen. Lorleys Sohn. Ugberts Sohn. Jung, für viele von ihnen ein Träumer. Ein gefürchteter Schwertkämpfer. Eine Null in Zauberei und Physik. Der mit den blonden Zöpfen. Der, der es verbockt hatte, und es jetzt zu büßen hatte, wiedergutmachen, bis man ihn für würdig befand. Mit und durch Kai. Aber Kai war kein Mittel zum Zweck, Kai war Kai und ein wenig auch Herr Wiesenblum. Er konnte es sich kaum vorstellen, wie es sein mochte, so abrupt alles Bisherige zu verlieren und zugleich so viel Unbekanntes zu gewinnen, von dem leider nicht alles nur gut war.
 

Oh weh… und er war jetzt für ihn verantwortlich? Er fühlte sich wie ein Dreijähriger mit einem Straußenei. Was sollte er bloß tun? Er hatte das Kommando – aber er war nun wirklich niemand der das erstrebt hatte oder konnte? Bisher hatte er immer unter der Fuchtel seiner Eltern gelebt und, wenn er ehrlich war, ein gemütliches Leben in seinem unterirdischen Kinderzimmer geführt. Sicher hatte er zunehmend eigene Interessen und Fähigkeiten entwickelt, war neugierig durch die Welt der Menschen gestolpert, bis es zur Katastrophe gekommen war und der leichte Spaß abrupt beendet. Die Menschen… das war ihm alles so lebendig und abenteuerlich erschienen, so rasant und farbenfroh, während ihrer eins mit all ihrer langen Lebenszeit die Jahre verrinnen ließ. Und jetzt… jetzt stand er nicht mehr in der zweiten Reihe, während einer ein Auge auf ihn hatte, ihn zum Abendessen rief und ihm letztendlich sagte, wie es zu laufen hatte. Sicher, es gab auch hier Tante Morgana und den Rat… aber alles andere lag an ihm, offiziell und inoffiziell. Der Winzling auf dem Fensterbrett war zu ihm gekommen, hatte ihn gebeten, auf Kai aufzupassen, niemanden sonst. Dennoch wurde Skiaphagos das Gefühl nicht los, dass diese nächtliche Erscheinung trotz der verwandten Order doch andere Motive als der Rat hatte. Hatte der ihn eventuell reinlegen wollen? Das war leider ebenfalls nicht ausschließen. Wollte ihn überhaupt einer ins Bockshorn jagen? Der Rat wusste doch eigentlich auch, was er da tat, aber dennoch war hier irgendetwas da, das noch hinter all dem lauerte und all diesen Merkwürdigkeiten vielleicht einen Sinn geben könnte.
 

Vor kurzer Zeit hatte sich sein Denken vor allem darum gedreht, in der Welt der Menschen folgsam zurecht zu kommen, was ihm trotz des Trennungsschmerzes von seinem Zuhause auch durchaus Vergnügen bereitet hatte. Ein wenig Mensch spielen… zur Schule gehen… Roller fahren… aber auch das waren Dinge gewesen, die man einem Teenager oder höchstens einem jungen Erwachsenen ohne großartige Erfahrung und Selbständigkeit abverlangte, wie er es nun höchstwahrscheinlich auch war. Aber damit war jetzt Schluss. Er hatte in dieser Angelegenheit gefälligst erwachsen zu sein, das dämmerte ihm, und wenn er es nicht war, dann war es höchste Zeit, es zu werden. Das war leichter gesagt als getan. Er war fast hundert Jahre alt, für einen Menschen ein Methusalem, für einen von ihnen gerade mal auf der Welt… aber er sollte sich doch auch weiterhin in der Welt der Menschen bewegen, da mussten seine Jahre doch auch irgendwie zu Buche schlagen? Er wusste viel… aber viel zu wissen hieß leider nicht automatisch, auch viel zu verstehen. Kai mochte zwar jünger als er sein, aber er war es gewohnt, sich als erwachsen zu begreifen und so zu handeln. Das könnte hilfreich sein, aber es änderte nichts daran, dass Kai sein Schutzbefohlener war und nicht anders herum.
 

Er konnte nur hoffen, dass seine Tante bei ihren diskreten Recherchen über irgendetwas stolperte, das ihnen weiterhelfen mochte, denn er wurde das Gefühl nicht los, dass ein dunkler Schatten über ihnen schwebte, über dessen Herkunft sie rein gar nichts wussten. Stattdessen musste er jetzt dafür sorgen, dass die Aufgabe des Rates einwandfrei erfüllt wurde, er Kai half, sich mit seiner neuen Existenz zurecht zu finden und dabei auch seine eigenen Auflagen erfüllte. Das war schon schwer genug, ohne dass da noch etwas hätte im Busche sein müssen.
 

Der Gedanke, dass irgendeiner oder gar mehrere von ihnen Kai das alles angetan hatten bis hin zur Inkaufnahme der schlimmsten Konsequenz erfüllte ihn mit Übelkeit und Wut. Wer machte sowas? Und vor allen Dingen: mit Kai, der nicht mal nach menschlichen Maßstäben irgendwie böse erschien? Er konnte, egal wie sehr er sein Hirn auch bemühte, schlichtweg keinen irgendwie fassbaren Grund dafür ausmachen. Das konnte einem wirklich üble Bauchschmerzen bescheren, dieses ständige Grübeln, ohne dass sich daraus etwas ergab, gepaart mit diesem äußerst flauem Gefühl, irgendwie nicht unbeobachtet zu sein von jemandem, von dem man nichts wusste… und der Arges im Schilde führen mochte…
 

Kai war fix und alle von dieser Kakophonie wilder Wendungen in seinem Leben und er kannte sich in ihrer Welt gar nicht aus. Nein, die Verantwortung lastete nun auf ihm. Er musste, musste, musste das machen und hinbekommen. Kai lehren… Kai beschützen…
 

Aber gegen was nur?
 

……………………………………………………….
 

Kai hatte das Gefühl, leicht zu wanken. Skia ging auf seinen langen Beinen neben ihm und lächelte ihn ab und an aufmunternd zu. Es war ein Segen, dass er da war, denn die Passanten in der Einkaufstraße starrten unisono auf Skias wippende Zöpfe, so dass er ziemlich unbemerkt blieb. Das war erleichternd, er wollte gar nicht wissen, wie die glotzen würden, wenn er nicht diese modrig muffende Creme auf seinen neu erworbenen Extremitäten hätte, die sie zeitweilig unsichtbar machten. Eine normale Nase roch das stinkige Zeug wahrscheinlich nicht, aber seine jetzt unsichtbaren Antennen signalisierten ihm: Kotzwürgspei! Wenn dieses ganze Chaos vielleicht eines Tages hinter ihm liegen würde, und er irgendwann auf eigenen Beinen stehen würde, wieder der eigene Chef, würde er es sich irgendwo ganz weit weg von stinkenden Menschenhorden gemütlich machen. Wüste stank nicht so oder Gebirge… er könnte sich eine Blockhütte bauen und gut riechende Pflanzen züchten… konnte er zwar beides nicht, aber er hatte ja Zeit. Erschien ihm gerade sehr verlockend. Stattdessen lief er wie auf rohen Eiern über das Kopfsteinpflaster einer der Distriktinnenstädte Hamburgs, vorbei ein wohlbekannten Läden, und fühlte sich wie ein Ding vom Mars. Dank Skias Wallehaar war es den beiden Personen, die bereits mit seinen Flügeln kollidiert waren, gar nicht aufgefallen, dass da eigentlich gar nichts war, aber darauf war nun mal auch kein Verlass. Er brauchte seine komplette Konzentration, um hier einigermaßen zu navigieren. Er hatte Einkaufbummel mit Herdentrieb immer schon gehasst, jetzt fühlte er sich vollauf bestätigt. Das Passieren eines Ladens für Geschenkeartikel war die totale Hölle, das ganze Sortiment brüllte ihm zu: „Friß mich, ich bin kitschiger Schrott und schmecke guuuuuut!!!“ Skia bemerkte seine Zuckungen und griff ihn einfach bei der Hand als seien sie zwei Teletubbies. Das erdete ihn einigermaßen, und es war ihm dabei grützegal, wie das nach außen wirken mochte. Insofern war er wohl schon auf dem richtigen Weg. Früher hatte er dergleichen immer gemieden, wozu sich dem dämlichen Getuschel einiger Unbelehrbarer antun, aber Skia und er machten hier nun wirklich keinen romantischen Spaziergang. Ihm wurde lediglich von seinem Erziehungsberechtigten das Patschehändchen gehalten, damit er in der großen weiten Welt nicht zusammen klappte, was für ein Witz. Auf jeden Fall schaffte er es so, einer Ladung Dekoartikel für Kleinmädchenzimmer zu widerstehen, ganz wundervoll.
 

Noch etwa fünfzig Meter, dann würde der Spießrutenlauf geschafft sein, er könnte ausruhen… und dann nochmal. Und nochmal. Üben, üben, üben… wie man unbeschadet über die Straße ging… oh Mann… Es wäre so leicht, einfach abzuheben und sich zu verpissen, aber dann würde die Hölle wohl erst Recht losbrechen. Das war wohl dieselbe Logik, mit der Schüler wichtige Klausuren schwänzten… aufgeschoben war eben nicht aufgehoben und Drückerei machte es nur noch schlimmer… Immer weiter, Flügel nach links, da kam eine dicke Frau mit ihrem Pommeskind… anderer Flügel ein wenig hoch, dämlicher Skateboarder, geh gefälligst auf einen ausgewiesenen Trainingsplatz mit deinem dusseligen Brett… das macht dich auch nicht cooler oder älter… bäh… eine Parfümerie… was war das denn, Eau d‘Eselscheiße?!
 

„Oh… cooles Hose!“ brabbelte Skia beim Passieren eines Bekleidungsgeschäftes auf ihn ein, aber Kai wurde den Verdacht nicht los, dass er ihn bloß ablenken wollte. Modefragen gingen ihm gerade extrem am Arsch vorbei, solange ihn niemand zwingen wollte, ein aus Blütenblättern geflochtenes Kleidchen zu tragen… und selbst dagegen fühlte er sich gerade schrecklich wehrlos…
 

„Oh mein Gott! Herr Wiesenblum!“ kreischte irgendetwas aus einer anderen Dimension. Benommen schüttelte er den Kopf, seine Fühlter zuckten ungläubig. Die Stimme kannte er doch… er sah zu, seinen bisher ziemlich stumpfen Blick auf die Quelle des Geschreis zu fokussieren – und wünschte erneut, dass das alles hier nur ein wirrer Traum sein möge. War’s aber nicht, keine Chance. Er war gerade dabei, sein Undercover-Schmetterlingswesen-Auftreten zu üben, während er brav Skias Hand hielt – und musste ausgerechnet in Mary Sue rennen, die hier gerade ihrer Lieblingsbeschäftigung, Schlampenklamotten zu kaufen, nachzugehen schien. Warum ausgerechnet hier?! Weil hier gerade Ladeneröffnung war und es Schnäppchenpreise gab offensichtlich, bei so etwas war Mary Sue gewiss sehr findig…
 

Scheiße.
 

„Herr Wiesenblum!“ rief sie und kam im Affenzahn auf sie zu gestöckelt. Kai riss seine Hand fort, aber es war zu spät. Keine Chance, dass sie das nicht mitbekommen hatte. Skia musterte ihn kurz verdutzt, das ging garantiert mal wieder völlig über seine direkte Verständnisebene, dann lächelte er auch noch treuherzig Mary Sue entgegen, die sich hektisch nach Luft schnappend vor ihnen aufbaute und sie mit kugelrunden Augen ansah.
 

„Hi, Skia – ach du Scheiße?! Hast du was mit Herrn Wiesenblum?! Herr Wiesenblum!!!“ legte sie los.
 

„Was?!“ fragte Skia planlos.
 

„Nein!“ stieß Kai vehement hervor. Stimmte ja auch… aber die Chancen standen schlecht, dass sie ihnen das abnehmen würde, die elende Tratschtante…
 

„Aber… das Händchenhalten…?!“ bohrte sie unverdrossen.
 

In Skias Kopf schien es zu klicken. „Ach so, das… Ne, das ist ganz anders! Ich… öhm… ich bin… äh… sozial engagiert, genau! Schule ist nicht so was für mich… und ich… öhm… ja, ich arbeite jetzt ein wenig gemeinnützig! Um… um zu gucken, was ich machen will! Was Soziales… und da… da… haben sie mir Herrn Wiesenblum zugewiesen – witzig, nicht?! – der, der hat nämlich gerade… äh…“
 

„Ein Lebenskrise!“ keuchte Kai. „Genau… mir geht’s gar nicht gut… bin ja auch krankgeschrieben… und… äh… ich habe so Panikattacken unter Leuten neuerdings… und gerade… öhm… Skia hilft mir da!“ So hanebüchen hatte er in so wenigen hingestammelten Sätzen noch nie gelogen, obwohl das ein oder andere sehr großzügig interpretiert ja hinkam.
 

„Oh Scheiße, Herr Wiesenblum!“ wurde er bedauert und schämte sich ein wenig. Mary Sue hatte rosa Plastikohrringe in Kätzchenform… ganz ruhig… cool bleiben… „Das ist doch nicht noch wegen der Loopingbahn! Oh Gott, ist das meine Schuld!“
 

„Nein… nein, nein… das… äh… hat private Gründe…“, mühte er sich ab.
 

„Oh Mann… wer gestorben oder so…?“ stocherte sie neugierig.
 

Ja. Sein altes Leben. „So in der Richtung“, murmelte er und schielte hinüber zu Skias Hand. Mit ging es ihm deutlich besser, aber im Augenblick musste er versuchen durchzuhalten… nicht dass er noch eine Klage an den Hals bekam, weil man ihm des unzüchtigen Umgangs mit Schutzbefohlenen bezichtigte… das würde seine Eltern fix und fertig machen – und es stimmte ja auch nicht! Skia war auf seine exotische Weise schon durchaus attraktiv, aber nach Märchenreich-Logik war das alles völlig harmlos und platonisch. Er wollte nur seine verdammte Hand zum Festhalten – und ihn nicht wegsnacken!
 

„Ach, Oberscheiße, Herr Wiesenblum!“ beteuerte Mary Sue. „Sie sehen auch echt übel aus! Kommen sie trotzdem bald wieder? Wegen Abi und so?“
 

„Ähm… ich weiß noch nicht… mir muss es erst besser gehen…“, murmelte er, obwohl er die korrekte Antwort kannte. Mary Sues Abiturklausur würde jemand Anderen beglücken, nicht ihn. Nie wieder korrigieren… das war immerhin etwas… so toll war das ja auch nicht… das war eben Teil der Pflicht gewesen. Jetzt hatte er andere Pflichten. Ganz andere.
 

„Dann… gute Besserung! Pass gut auf ihn auf, Skia – willst du echt nicht wieder zur Schule…?“ wurde jetzt sein haariger Begleiter angegangen.
 

„Ach weißt du… ich brauch kein Abi… ich komm auch so klar“, meinte Skia – und hatte damit wohl auch absolut Recht.
 

Mary Sue war auf jeden Fall beeindruckt von so viel Coolness. „Echt krass. Geh doch zum Film mit deinen Zöpfen und so… ist doch voll in, Fantasy-Kram!“ empfahl sie.
 

„Ja… ich denke drüber nach“, druckste Skia ein wenig herum und lächelte wieder sonnig. Wenn man es wusste, dann sah man es ihm an, auch jetzt, dass er kein Mensch war, stellte Kai fest. Solange man gar nicht auf die Idee kam, dass es so sein mochte, schienen die Hinweise wohl durch den Filter der Wahrnehmung zu fallen, man ignorierte sie, bog es sich zurecht. Aber kein Mensch hatte solche Haare, kein Mensch solche Augen… Skia mochte gerade pappsatt sein, aber Kai konnte ihn dennoch sehen, diesen blutigen Schleier hinter dem farblosen Grau… oder waren jetzt auch seine Sinne einfach feiner? Sah er jetzt auch so aus, selbst wenn er das Offensichtliche verbarg? Mary Sue hingegen schien überhaupt keinen Verdacht zu haben – jedenfalls nicht in der Richtung. Dennoch würde sie herumerzählen wie nichts Gutes, dass er und Skia händchenhaltend durch die Einkaufsstraße bummelten. Es war zwecklos, sie mit Worten knebeln zu wollen, außerdem würde das ebenfalls Verdacht erregen. Einfach stur dabei bleiben und einen auf schuldlos machen… Hoffentlich ging das gut. Man konnte natürlich auch Morgana fragen, aber die würde ihm wahrscheinlich einen Vogel zeigen, wenn er sie mit irgendwelcher Kinderkacke, die auch so in den Griff zu bekommen war, von irgendetwas Wichtigerem abhielt.
 

„Na gut, dann… gute Besserung Herr Wiesenblum! Viel Glück, Skia“, verabschiedete sie sich, wahrscheinlich irgendwo bereits den nächsten als Rock deklarierten Neongürtel im Visier, und stöckelte mit einem letzten neugierigen Blick gefolgt von ihren Abschiedsgrüßen davon.
 

„Uff…“, stöhnte Kai und langte nach Skias Hand, sobald sie außer Sichtweite war. „Das auch noch!“
 

„Ach was soll’s“, meinte Skia. „Kurze Pause und dann die nächste Runde!“
 

Kai ächzte in sich hinein. Immerhin hatte Skia ihm keine Stützräder anmontiert.
 

………………………………………………………..
 

Skia saß mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem heimischen Sofa und schlürfte an einer Flasche des von ihm bevorzugten Dunkelbiers. Kai hockte ziemlich erledigt auf einem Sitzkissen nahe des wieder an der Wand hängenden Picassos und begnügte sich mit einem Alsterwasser. Morgana thronte auf ihrem Sofa und nippte Rotwein. Es herrschte so etwas wie Feierabendstimmung. Kais Flügel und Antennen schimmerten noch ein wenig blässlich, aber waren wieder gut sichtbar. Er hatte sich wacker geschlagen und sich anscheinend, wieder daheim, an einer großen Portion Plüsch-Einhörner überfressen.
 

„Also… ich habe mich umgehört“, berichtete Morgana und kontrollierte dabei kritisch ihren kirschroten Nagellack. „Vlad hat die Beschreibung deines Besuchers gar nichts gesagt, auch Calypso wusste nichts, aber ihr Mann, das alte Schwein, der meinte mal von einem gehört zu haben, auf den die Beschreibung zutrifft… Als er noch zu See gefahren ist, da schnappt man ja so einiges auf, da hat ihm so ein Menschenpiratenkapitän so eine Gruselgeschichte erzählt… irgendetwas Altorientalisches oder so… egal, jedenfalls gab es da ein winziges Wesen mit Libellenflügeln… Die Piraten hatten einen Megaschiss vor dem, da es hieß, dass es jeden, der ihm zu nahe kam, in etwas ekelhaft Niedliches verwandeln könne… Piraten in Puschelhäschen… sowas… das mochten die harten Kerle natürlich nicht so… Soll irgendwo an der Levanteküste gehaust haben… sie nannten es Tin-kar-baal, was so viel heißt wie „Gott der in Honig gegarten Törtchen“ – sagt zumindest Calypsos Mann. Ist aber eben nur ein Gerücht. Und Calypsos Gatte grunzt immer so schrecklich beim Sprechen und redet nur in diesem grässlichen altgriechischen Inseldialekt, und die Übertragung per Kugel hat auch gerauscht… aber das ist wohl die Quintessenz seiner Geschichte“, erzählte sie.
 

Skia nickte ernsthaft, Kai bekam einen Lachkrampf. „Tin-kar-Baal?! Der Törtchengott?!“ keuchte er. „Und ich dachte schon, ich sei übel dran! Ich fass es nicht… Tin-kar-Baal… seid ihr sicher, dass der nicht im Nimmerland lebt und eigentlich Tinkerbell heißt?!“
 

„Das macht Sinn! Eventuell hat er – nach der Geschichte war’s ein er, aber das muss ja nichts heißen – ja Eingang in die menschliche Mythologie gefunden, soll ja vorkommen“, nahm Morgana den Gedanken angetan auf.
 

„Ach du Scheiße!“ stöhnte Kai. „Ich will ja nicht zu heftig spekulieren – aber ist das eventuell, vielleicht und unter Umständen meine liebe Verwandtschaft?! Bin ich Törtchengott junior?! Oder wie?! Oder was?! Meine Essgewohnheiten sind da ja anscheinend nicht so unähnlich – was passiert eigentlich, wenn ich wirklich mal einem den miesen Geschmack auslutschte? Mutiert der dann zu Coco Chanel? So wie die Piraten zu Puschelhasen? Ach du…“
 

„Das wissen wir nicht!“ fuhr ihm Skia dazwischen. „Könnte natürlich sein und würde auch etwas Sinn ergeben… aber bisher ist das nur ein Gerücht aus Menschenhand! Und keiner von uns hat zuvor je von dem gehört…“
 

„Das muss auch nicht viel bedeuten“, meinte Morgana etwas düsterer. „Auch wir – meine Generation mit deinen Eltern, Calypso, Vlad und so weiter… wir sind auch noch relativ jung im Vergleich zu einigen anderen. Du hast es ja selbst gesagt…“
 

„Was?“ wurde Kai hellhörig. „Ich will wissen, was hier los ist! Das geht schließlich um mich!“
 

„Naja“, murmelte Skia. „Es gibt einige von uns… die wirklich sehr, sehr alt sind. Auch für unsere Verhältnisse. Solche, die eventuell noch Neandertaler verputzt haben… und eine Reihe von denen halten sich sehr bedeckt. Man bekommt sie nie zu Gesicht. Es mag auch einige geben, an die sich kaum noch einer erinnert, solche, die nicht in den Rat gegangen sind, sondern sich zurückgezogen haben. Solche, die noch älter und mächtiger – oder verrückter – sind, als die im Rat… Die Uralten, die auch für uns fast nur… Märchen sind.“
 

Kai schluckte. „Das wird ja immer besser“, stellte er fest. „Dieser eventuell existierende Törtchengott ist also vielleicht obendrein noch etwas, vor dem selbst Anubis das Schwänzchen einzieht…?“
 

„Äh… kann sein, kann sein…“, beschwichtigte Morgana. „Aber auch wenn dem so wäre, die direkte Konfrontation hat er ja vermieden. Doch auch das kann viele Gründe haben. Und ein solches Wesen weiß viel mehr… Es könnte dich viel besser schützen, aber dennoch hat er das Skia übergebraten. Und der Rat auch. Alles, was wir haben ist ein Puzzelstein mehr zu einem Bild, dessen Aussehen und Ausmaße wir nicht kennen. Wir können noch nicht mal sicher sein, welche Form dieser Stein überhaupt hat.“
 

Kai streckte sich und wedelte unbewusst beim Grübeln mit den Fühlern hin und her. „Aber es könnte auch sein, dass irgendwelche Mega-Ober-Uralten irgendwie hinter mir her sind?!“ brach es aus ihm hervor.
 

„Alles möglich“, murmelte Skia betroffen.
 

„Aber die gute Nachricht ist: Tinkerbell höchstpersönlich will nur mein Bestes! Da kann ja nichts mehr schief gehen!“ ächzte er.
 

„Genau – immer das Beste annehmen!“ bestätigte Skia unverdrossen.
 

„So ist es“, stimmte Morgana ihm zu. „Ich werde weiterhin zusehen, ob ich noch mehr herausfinden kann. Aber derweil…“
 

……………………………………..
 

Das Telefon klingelte und Kai starrte auf die Ruferkennung hinab. Er war müde, morgen würden sie weiter üben, übermorgen war ihr Vorstellungsgespräch bei MacDo – und es bestand die Aussicht, dass er noch viel, viel tiefer in der Tinte steckte, als er sich überhaupt vorstellen konnte. Da konnte er Skias Ratschlag wohl nur befolgen: immer schön weiter tappeln. Wenn ihn ein vorsintflutlicher Zuckerelf und dessen Bagage zu Leibe rücken wollte, konnten sie wahrscheinlich sowieso wenig tun. Eventuell war dessen Bagage auch noch obendrein seine Bagage, und er war aus einem pinken Ei geschlüpft, das dieser steinalte Brummer mal gelegt hatte. Gut, dass man sich auch hier an die eigene Geburt nicht erinnern konnte…
 

Sein Anschluss war hierher umgelegt worden, damit sein jäher Umzug noch ein wenig taktisch verschleiert werden konnte, wahrscheinlich hatten Rumpel und Stilzchen irgendeinen Telekom-Verteiler verhext oder die Homunkuli hatten was geschweißt und gedreht, wie auch immer.
 

Jetzt rutschte ihm allerdings das Herz in die Hose. Floffi bellte einmal müde das Telefon an, dann dackelte er wieder zurück zu seinem Kuschelkissen im Arbeitszimmer. Das hier war längst überfällig, es ging kein Weg daran vorbei, aber… Es tat weh. Es tat einfach nur weh.
 

Er gab sich einen Ruck, hob ab und sagte: „Hallo Mama. Tut mir leid, dass ich mich nicht schon gemeldet habe. Aber es geht mir nicht so gut…“



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