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Schattenfresser

von

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Jugendstrafe auf Bewährung

III. Jugendstrafe auf Bewährung

Skiaphagos ließ sich ergeben auf dem mittelalterlich anmutendem Hocker nieder, den man demonstrativ für ihn mitten im Wohnzimmer aufgestellt hatte. Sah aus – und fühlte sich an – wie einem spanischen Inquisitor geklaut, was auch nicht ganz auszuschließen war. Die Inneneinrichtung bestand so wie so aus einer wilden Mixtur von Möbeln und Objekten aus den unterschiedlichsten Jahrhunderten, die seine Eltern größtenteils aus sentimentalen Gründen im Laufe der Zeit gehortet hatten. Bei „Schöner Wohnen“ würden sie so nie eine Home Story bekommen, aber darauf legten sie auch keinen gesteigerten Wert. Der unterirdisch gelegene Raum würde wohl bei den meisten Sterblichen klaustrophobische Anfälle auslösen. Könnte er sich jedenfalls denken. Nicht, dass er große Ahnung hätte… aber in den Fernsehserien, die er so gern verschlang, war das manchmal so.
 

Seine Eltern saßen ihm als geschlossene Front auf einem Barock-Sofa mit Fleure de Lille-Muster und Beinen aus vergoldeten Löwenfüßchen gegenüber. Ob Ludwig der XIV. es vermisst hatte? Und er auf dem Büßerhocker – okay, die Botschaft war angekommen.
 

Sein Vater, ein blonder, muskelbepackter Hüne von über zwei Metern Körpergröße, der jeden Wrestler hätte vor Angst erstarren lassen, atmete tief ein und begann mit fester Stimme, die die Sammlung exotischer Knochen hinter ihm in der Wohnzimmervitrine leicht erbeben ließ: „Was hast du dir dabei gedacht?!“
 

„Ich hatte Hunger!“ rechtfertigte sich Skiaphagos und wand sich auf seinem unbequemen Stuhl. Wer saß schon gern im Strafgericht vor seinen Eltern? Vor allem, wenn es solche Eltern waren… „Und ich kam nicht mehr zu Hause rein…“, erklärte er mit gramgebeutelter Stimme, obwohl er seine Chancen auf Mitleid als äußerst gering einstufte.
 

„Und warum nicht?!“ hakte seine Mutter sanft nach. Sie war fast drei Köpfe kleiner als ihr Mann, was sie auf Sterbliche jedoch keinen Grad weniger Angst einflößend wirken ließ. Ihr bodenlanges Haar schillerte in allen denkbaren Grün- und Blautönen, Algen hingen darin. Sie roch immer ein wenig nach Meer – und nach fauligem Fisch. Aber er liebte das, sie war Mama,
 

„Ich hab’s verpennt“, murmelte er. Die komplette Wahrheit wäre gewesen, dass er es verpennt hatte, weil er sich ins Kino geschlichen hatte, um sich „Star Wars – Episode III“ in der extended Version anzuschauen. War kein Problem gewesen, die Schatten schützten ihn, ersparten ihm Aufmerksamkeit – und Eintrittsgeld. Aber der Film war verdammt lang gewesen, er hatte komplett die Zeit vergessen, hatte einfach wissen müssen, wie es ausging. Auf der Kinoleinwand war es etwas ganz anderes als daheim vor dem Fernseher. Bild- und Soundsystem waren nicht zu vergleichen, außerdem waren da die Menschen gewesen, ihr Mitfiebern, ihr Spaß, ihre Angst, ihr Genugtun und ihre Trauer. Er hatte es fühlen können, und er war irgendwie auch ein Teil davon gewesen in seiner dunklen Ecke. Sie waren so viele… und er und seinesgleichen so wenige. Als er schließlich vor der magisch versiegelten Eingangstür von Zuhause gestanden hatte, hatte der Zauber bereits gewirkt. Er hatte draußen fest gehangen. Ohne Schlüssel, aber mit einem Bärenhunger, völlig aufgeputscht von dem Erlebnis.
 

„Hast du wirklich gedacht, dass wir es nicht erfahren würden?“ nahm ihn sein Vater erneut an die Kandare. Einer der antiken, schön bemalten Schrumpfköpfe plumpste bei seinem tiefen Gedröhne vom Regal. Ein ständiges Problem, das die Homunkuli jedoch immer rasch behoben. Einer dieser winzigen, zum Leben erweckten Lehmknilche flitzte bereits im Affenzahn durch den Raum, um sich an die Aufräumarbeiten zu machen.
 

Skiaphagos biss sich von innen auf die Lippe und bemühte sich, möglichst unschuldig blickende Kulleraugen zu machen, was sich allerdings als recht schwer gestaltete. Im Normalzustand waren seine Augen grau, fast farblos, aber jetzt, da er sich schuldbewusst auf Diät gesetzt hatte, hatten sie begonnen, sich rötlich zu verfärben. Und jemandem mit roten Augen nahm meist niemand einen Unschuldblick ab, selbst seine Eltern nicht. Sehnsuchtsvoll starrte er die im Kaminlicht flackernden Schatten des Inventars an. Ein kleiner Snack… wie ein Sterblicher mit ein paar Chips… einer ging immer noch… Aber eingedenk seiner Situation wäre es wohl nicht die allerbeste Idee, jetzt auch noch die Schatten der Möbel zu verputzen, das würde die Stimmung nicht verbessern.
 

Sein Vater räusperte sich und musterte ihn grimmig. Oh weh… wenn er ehrlich war, hatte er wirklich darauf spekuliert, dass sie es nicht heraus bekommen würden. Ihm war der Faden gerissen, und er selber war schuld daran… Aber er hatte es wirklich nicht gewollt!
 

„Ich… ich wollte es ja sagen, aber… ich musste erst mal selbst damit klar kommen!“ versuchte er sich. Das war zumindest die halbe Wahrheit.
 

„Mmm“, meinte seine Mutter und wirkte wenig überzeugt. „Das hättest du besser gleich getan. So mussten wir es vom Rat erfahren.“
 

Skiaphagos fühlte, wie er erbleichte. Eiseskälte floss über seine Gliedmaßen, sein Herz klopfte plötzlich wie verrückt, er hatte einen Kloß von der Größe eines Medizinballs im Hals. Scheiße! Scheiße! Scheiß! Der Rat… ach du heilige Scheiße! Er umklammerte mit den Fingern die Sitzfläche seines Hockers, um nicht vor Entsetzen hinten über zu kippen.
 

„Verstehst du jetzt, dass das hier ernst ist?“ donnerte ihn sein Vater auf den Boden der Tatsachen zurück. Skiaphagos nickte benommen, wie er das hin bekam in seinem Zustand, war ihm selbst auch nicht ganz klar.
 

„Und du weißt, was das bedeutet“, stellte seine Mutter eisenhart klar.
 

„Ja!“ würgte er hervor. „Aber das ist so… ungerecht!“ stieß er von einer plötzlichen Lawine verzweifelten Trotzes erfasst hervor.
 

„Inwiefern denn das, bitteschön?“ wollte seine Mutter wissen und faltete jetzt auch die Arme vor der Brust. Zwischen ihren Fingern blitzten Schwimmhäute, sie musste heute unterwegs gewesen sein, so dass sie sich noch nicht wieder zurückgebildet hatten.
 

„Na du… du hast doch auch… als du jung warst! Was ist mit den ganzen Seemännern?!“ sprudelte aus ihm hervor.
 

„Das waren ganz andere Zeiten!“ fuhr sie ihn an. „Die Welt war eine andere! Die, in der du groß wirst, hat Regeln, die es damals noch nicht gab. Wohlbegründete Regeln – die du sehr wohl kennst, haben wir sie dir schließlich von klein an eingetrichtert!“
 

„Außerdem“, ergänzte sein Vater, während er den Arm um seine Frau schlang und sie an sich drückte, „konnten diese Seeleute, Fischer zumeist, von Glück reden, so zu sterben statt an Hunger, Krankheit und Krieg, wie es sonst ihr Schicksal gewesen wäre. Das Lied deiner Mutter in den Ohren, den Anblick, wie sie ihr Haar kämmt, vor Augen für immer in den Fluten zu versinken – welchem Sterblichen ist ein solches Ende schon vergönnt gewesen in jenen – sehr, sehr fernen – Zeiten?“
 

„Danke Schatz“, lächelte sie scharfzahnig zu ihm hoch. „Du weißt doch, dass ich nie einen Mann lieber ins Unglück gestürzt hätte als dich, als ich dich das erste Mal von meinem Felsen aus sah…“
 

Er gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Schläfe. Skiaphagos biss die Zähne zusammen. Hier ging es ihm ans Leder… und seine Alten hatten nichts besseres zu tun, als zu kuscheln, das war mal wieder so typisch. Ein wenig beruhigte ihn der Anblick jedoch schon. Wenn es ihm wirklich an den Kragen gehen würde, würden seine Eltern nun doch nicht in aller Seelenruhe rumturteln.
 

„Trotzdem ungerecht“, grollte er leise.
 

„Nichts da, junger Mann“, nahm ihn seine Mutter wieder in die Zange und lehnte sich gegen den Oberarm seines Vaters, der auch locker als Elefantenbein durchgegangen wäre. „Deine Zeit – deine Regeln. Unser aller Regeln heutzutage. Die alten Zeiten sind längst vergangen. Ich sitze schon lange nicht mehr auf einem Felsen im Rhein – und dein Vater hat seit Ewigkeiten keinen Bauern mehr gefressen. Außerdem gibt es die Bauern von damals auch gar nicht mehr, das schimpft sich heute „Agrarökonom“ und nagt meist gar nicht am Hungertuch. Und du ziehst auch gefälligst nicht durch die Lande und stopfst dich mit den Schatten irgendwelcher Kultursenioren voll, bis du fast platzt! So etwas hat Konsequenzen heutzutage, junger Mann!“
 

„Und was“, stotterte er, erneut von Panik überrollt, „geschieht jetzt mit mir?“
 

„Nun ja“, meinte seine Mutter, klaubte sich einen toten Minifisch aus den Haaren und schluckte ihn in einem Stück, „wir konnten arrangieren, dass du nur eine Jugendstrafe, gewissermaßen, bekommst. Es gab Stimmen im Rat, die das nicht so sahen, aber es ist dein erstes Vergehen, und du verdienst es offensichtlich in der Tat nicht, als erwachsen angesehen zu werden. Da kannst du uns auf den Knien dankbar sein, dass wir so glaubhaft versichern konnten, was für ein infantiler Trottel du trotz deines Alters noch bist. Ansonsten stünden dir jetzt hundert Jahre in einer Bleikiste am Grunde des Atlantik bevor. Ohne Fernseher.“
 

„Oh Gott!!!“ entfuhr es Skiaphagos entsetzt.
 

„Immerhin hätte ich dich besuchen kommen können“, tröste sie ihn. Ihm war speiübel.
 

„Und… und was kommt stattdessen…?“ krächzte er.
 

„Oh, du wirst verbannt. Eine ausgesprochen lehrreiche Strafe. Aber falls du noch einmal so etwas tun solltest, kannst du dich gedanklich schon an die Gesellschaft von Fischen gewöhnen“, erklärte sein Vater zufrieden nickend.
 

„Was?! Verbannt?!“ fuhr Skiaphagos auf. Ein Teil von ihm war furchtbar erleichtert darüber, nicht als Alleinunterhalter irgendwelcher hirnlosen Fische dienen zu müssen – ein anderer zitterte immer noch angesichts der Aussichten.
 

„Ja, verbannt!“ bestätigte seine Mutter streng. „Du bist so lange aus unserer Gemeinschaft ausgeschlossen, bis der Rat zu der Überzeugung gelangt ist, dass du deine Lektion gelernt hast. Das können zehn Jahre sein oder tausend, das liegt bei dir. Wobei ich doch Vertrauen darin habe, dass wir dich schon bald wieder in die Arme schließen dürfen.“
 

Das war ein schwacher Trost. „Aber wo soll ich denn hin?“ fragte er mit schwacher Stimme.
 

„In die Welt der Menschen, wo du lernen wirst, dich angemessen für einen der unseren in ihrer Gesellschaft zu bewegen. Du schaust sie dir doch immer so gerne an, schleichst durch die Straßen, glotzt diesen unsäglichen Kram im Fernsehen – Glückwunsch, bald schon bist du Teil davon. Vorerst kannst du bei Tante Morgana unterkommen, sie lebt schon lange dort und wird dir zur Seite stehen.“
 

„Ich… ich soll in die Menschenwelt? Und zu dieser alten Hexe?“ stieß Skiaphagos heraus. „Alte Hexe“ war allerdings in diesem Falle keine Beleidigung, sondern eine ziemlich exakte Beschreibung der Schwester seiner Mutter. Sie würde sich zwar niemals selbst so bezeichnen, was aber eher daran lag, dass „Hexe“ ein Menschenwort war. Die Menschen hatten alle möglichen Bezeichnungen für sie gefunden im Laufe der Zeit. Sie selber kannten solche Unterscheidungen nicht, sie waren sie, ein jeder von ihnen auf seine Art einzigartig, obwohl es Ähnlichkeiten zwischen Individuen geben mochte. Schließlich waren sie um tausend Ecken alle irgendwie miteinander verwandt. Gemeinsam war ihnen lediglich der Appetit auf unterschiedliche Teile der sterblichen Existenz. In den Augen der Menschen war sein Vater wahrscheinlich ein „Riese“ oder „Menschenfresser“ oder „Zweiäugiger Zyklop?“ – nein, das machte nicht viel Sinn… - seine Mutter wohl eine „Nixe“ oder „Sirene“ oder so etwas. Und er… keine Ahnung, er entsprach den üblichen Klischees wohl nicht so gut. Er war Skiaphagos, Schattenfresser, basta.
 

„Ja, und zwar… wie spät ist es?... ach ja, in zwei Stunden ist Abmarsch“, klärte sein Vater ihn auf.
 

„Was?!!!“ schrie er. Es wäre nett, wenn sie ihn nicht im Sekundentakt immer mit der nächsten Hiobsbotschaft überfahren würden. Aber im landläufigen Sinne gingen seine Eltern wohl nicht als „nett“ durch. Sie liebten ihn, heiß und innig, das wusste er – aber sie waren nicht gerade einer amerikanischen Vorabendserie entsprungen.
 

„Ich helfe dir packen“, bot seine Mutter an und erhob sich. Sein Vater folgte ihr, trat auf Skiaphagos zu und klopfte ihm auf die Schulter, dass der Hocker unter ihm zusammen krachte. Während er sich noch vom Boden aufrappelte und die Homunkuli sich voller Elan auf den Trümmerhaufen stürzten, sagte sein Vater zu ihm: „Du schaffst das schon, Wonneproppen. Sind ja nur ein paar Jahre… wir werden dich trotzdem vermissen. Und wenn du dich gut hältst, darfst du uns vielleicht bald auch mal besuchen – vorerst ist der Kontakt untersagt.“ Ganz klasse, was denn bitte noch…? Bisher war er jeden Tag seiner Existenz mit seinen Eltern zusammen gewesen. Okay, ab und an hatte einer von ihnen mal ein paar Tage fort gemusst auf „Dienstreise“ – aber einer war immer da gewesen. Und er hatte immer nach Hause gekonnt… Und jetzt gab es erst mal kein Zuhause mehr, sondern nur noch das Domizil einer übergeschnappten Tante, die lieber hauptsächlich bei den Menschen lebte als in ihrer Welt. Am liebsten hätte er geheult, aber das wollte er seinem Vater nicht antun. Von Heulen bekam er Hunger.
 

Schicksalsergeben schlurfte er die steinernen Treppenstufen hinter seiner Mutter her. Sein Zimmer lag auf der zweittiefsten Ebene, darunter befand sich nur noch die Grotte mit dem Entspannungstümpel seiner Mutter. Sie hortete dort ihre Lieblingsfische und züchtete an den Rändern im Dunklen leuchtende Flechten in allen blassen Farben des Universums. Sehr schmackhafte Schatten… aber leider so leer, so emotionslos… wie Astronautennahrung wahrscheinlich. Die beiden Alten aus der Oper waren dagegen ein Fünfsternemenü mit Austern, Steak und warmen Schokopudding gewesen… Er verbot sich den Gedanken und dachte an die Bleikiste.
 

Der großzügig aus dem Fels gezauberte Raum, in dem er von Kindesbeinen an wohnte, wurde hingegen von elektrischen Lampen erhellt. Seine Eltern hielten das zwar für jugendliche Spinnerei, aber für Technik hatte er schon immer etwas übrig gehabt. Es war erstaunlich, was die Menschen mit ihren beschränkten Mitteln aus schierem Willen und Intelligenz alles hin bekamen, einfach die Gesetze der Natur nutzend. Okay, das hatten sie auch nötig, wenn sie nicht bereit waren, die Dinge einfach so zu akzeptieren. Und das taten sie nicht, das hatten sie, die im Verborgenen lebten, auch begreifen müssen. Und dazu gebracht, Konsequenzen zu ziehen…
 

„Okay, mein kleiner Schatz, sehen wir doch mal… was brauchst du so…“, wandte sich seine Mutter an ihn und schaute sich im Zimmer um.
 

„Ich brauche was anzuziehen… aber, Mama…“, stoppte er sie, als sie loslegen wollte, seinen schweren Kleiderschrank auszuräumen. „Ich soll doch in der Menschenwelt leben – zeigen, dass ich das kann, ohne die Regeln zu brechen. Nur dann darf ich heim?“ fragte er und ging hinüber zu ihr. Er war nicht ganz so groß wie sein Vater, aber sie überragte er auch locker um fast zwei Köpfe.
 

„Richtig, mein Putzerfischchen“, nickte sie und langte unbeirrt nach einem Samtwams für festliche Ereignisse.
 

„Äh, Mama, wenn ich so da draußen rum laufe, falle ich auf wie nichts. Die werden denken, dass ich verkleidet bin oder so. Oder verrückt! Kein Mensch heutzutage läuft so rum!“ protestierte er.
 

„Aha, oh – das stimmt wahrscheinlich. Du musst präsentabel sein. Du wirst dir etwas… kaufen?... müssen?“ lenkte sie ein und legte das Wams wieder hin. Das Prinzip des „Kaufens“ war ihr weniger geläufig. Entweder man stellte etwas selber her oder man schnappte sich, was man wollte.
 

„Denke auch“, murmelte er. „Und noch anderen Kram. Ich brauche Geld.“
 

„Geld… diese Menschen!“ schüttelte sie den Kopf. „Aber das dürfte kein Problem darstellen. Morgana kann sich darum kümmern, sie kennt sich ja aus. Sie kann aus Scheiße Gold machen, wusstest du das? Damit dürfte sie wohl kaum in finanziellen Sorgen sein. Siehst du hier irgendetwas, das du vorerst anziehen könntest?“ meinte sie und schupste ihn vor den Schrank.
 

Grübelnd musterte er den Inhalt. Brokatbluse? Nein. Samtumhang? Nein. Kettenhemd? Nein. Mist, solange er im Schatten bleiben konnte, war das nie ein Problem gewesen. Aber damit war es wohl aus. Kurz wurde ihm erneut leicht übel. Er würde vor die Menschen treten müssen… sie würden ihn ansehen… und garantiert nicht nur ein Mal. Nach menschlichen Maßstäben sah er leider nicht ganz unauffällig aus. Seine Gestalt, sein Gesicht, das mochte angehen irgendwie… aber was zur Hölle sollte er mit seinen Haaren anstellen? Er war blond wie sein Vater – aber den Rest hatte er von Mama abbekommen. Was so viel hieß, dass er sein dämliches Haar nicht abschneiden konnte. Oder – naja… er konnte es abschneiden. Aber genauso gut könnte er sich auch den Arm abhacken. Beides würde irgendwann wieder nachwachsen, sicher. Aber der Arm war nur einer, die Haare hingegen… Nein, daran war nicht zu denken. Dagegen waren sogar hundert Jahre in einer Kiste am Grund des Meeres Pipifax. Haare abhacken war eine Strafe für ein Kapitaldelikt. Und bis zum Schwerverbrecher hatte er es dann doch noch nicht geschafft. Das konnte ja heiter werden… Okay, Klamotten. Er schnappte sich eine dunkelgrüne, an der Seite geschnürte Lederhose und ein weites Leinenhemd. Das müsste vorerst gehen. Schuhe hatte er keine. Er hasste diese Fuß-Gefängnisse.
 

Er sah sich im Zimmer um. Nichts hier war ernsthaft brauchbar. Was sollte er auch mit einem Schwert? Papa und er trainierten gerne mal eine Runde… Aber er wusste, dass die olympische Sportart Schwertfechten keinesfalls mit einem Anderthalbhändern aus dem 16. Jahrhundert ausgetragen wurde. Das musste er wohl kaum einpacken. Sein Trankbraukasten? Nein, das war Kinderspielzeug, außerdem war er darin eine totale Niete. Das in Alkohol eingelegte Drachenei? Das wäre reine Sentimentalität, das würde das Heimweh nur noch verschlimmern. Seine DvDs, die konnte er einpacken. Das war menschlich. Selten so gelacht wie bei „Harry Potter“. Himmel, die hatten echt keine Ahnung von Zauberern – und von Drachen. Aber im Augenblick war ihm nun wirklich nicht nach Lachen. Und sonst so? Was taugte etwas in der Welt der Menschen? Er wusste viel zu wenig. Er kannte sie nur aus dem Fernsehen und von seinen gelegentlichen Streifzügen – aber das war eigentlich auch fast wie fernsehen gewesen. Er hatte von außen geguckt. Aber jetzt sollte er mitten hinein.
 

Da würde er wohl ins kalte Wasser springen müssen – im übertragenen Sinne. In der Realität hatte er nichts dagegen, blieb ihm auch nicht viel anderes übrig bei seiner Mutter. Er schaute in den Jutesack, der sein Gepäck darstellen sollte. Er war erbärmlich leer, neben den DvDs war kaum etwas darin. Zeigte, wie viel ihn mit dem verband, zu dem er gezwungen wurde. Nichts als Fantastereien. Künstliche Bilder.
 

Er richtete sich auf und ließ den Blick durch sein Zimmer gleiten. Alles hier war so vertraut… ob alles noch so wäre, wenn er heim kommen würde? Nun gut, seine Eltern würden schon nicht untervermieten. Aber wenn er wirklich tausend Jahre fort bleiben müsste? Vielleicht wäre er inzwischen des Lebens längst überdrüssig geworden und hätte sich dem Tod ergeben, allein da draußen? Nein, das durfte er nicht denken. Er würde es schon irgendwie hin bekommen. Er würde sich anstrengen, schwor er sich. Und er war nicht allein, immerhin war Tante Morgana bei ihm.
 

Das Läuten der Türglocke riss ihn aus seinen Gedanken. Er schluckte. Die Zeit war irrsinnig schnell verronnen. Er sah seine Mutter an. Sie nickte ihm zu und schenkte ihm ein kleines aufmunterndes Lächeln. „Du musst los“, sagte sie. „Papa und ich kommen mit dir zur Tür, um Lebewohl zu sagen. Aber du bist bald wieder bei uns, hörst du?“
 

Er nickte und hoffte, dabei einigermaßen überzeugt zu wirken. Tief atmete er ein, dann drehte er sich um und ließ sein Zuhause hinter sich.
 

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„Nicht traurig sein, Junge“, murmelte Morgana, während sie ihren restaurierten knallgrünen VW-Käfer durch den abendlichen Verkehr der Innenstadt lenkte.
 

„Das sind nur die vielen schnellen Lichter da draußen… das bin ich nicht gewohnt… bin noch nie Auto gefahren“, flüsterte Skiaphagos heiser neben ihr auf dem Beifahrersitz und wischte sich klammheimlich die Tränen vom Gesicht. Aber ihr musste er nichts vormachen. Natürlich heulte er. Der Rat hatte ihn rausgeschmissen, er war von allem getrennt, was er kannte und liebte – welcher Holzklotz hätte da nicht geweint? Und sie hatte ihn nun an der Backe. Er war ihr Neffe, sicher, aber es war auch eine Order direkt vom Rat gewesen. Sie hatte dafür zu sorgen, dass er sich zurecht fand und dass er – hoffentlich – nicht scheiterte. Was ihm dann drohte, wollte sie gar nicht so genau wissen, garantiert irgendetwas extrem Unangenehmes. Armer Junge. Oder junger Mann. Er war nicht mal hundert Jahre alt, gewissermaßen gerade den Babyschuhen entwachsen, obwohl er garantiert nie welche besessen hatte bei seiner Aversion gegen Fußbekleidung. In der Welt der Menschen mochte er als irgendetwas um die zwanzig durchgehen. Man könnte ihn für achtzehn halten oder zweiundzwanzig, das war schwer zu schätzen, hing auch davon ab, wie er sich verhielt. Gerade eben, geschockt und überrumpelt im Sitz in sich zusammen gesunken, sah er erschreckend jung aus. Er war hoch gewachsen, maß fast einen Meter neunzig, aber die aufgeschossene Schlaksigkeit wich bereits einer erwachsenen Eleganz, wenn er nicht so rum hing, als habe er keine Wirbelsäule. Er war kräftig, aber nicht so ein Monster wie sein Vater. Sein bleiches Gesicht mit der schmalen Nase wirkte immer ein wenig übernächtigt, wenn er nicht gerade voll gestopft war. Und im Augenblick wirkte er fast komatös, was nicht nur an den jüngsten Geschehnissen lag, sondern auch daran, dass er einen Mörderhunger haben musste. Die Iris seiner Augen leuchteten grellrot, ein untrügliches Zeichen. So würde sie ihn kaum draußen rumlaufen lassen können, da lief ja jeder gleich schreiend weg. Das mit den Haaren war auch so eine Sache. Ein Sterblicher würde bei deren Gewicht am Hinterkopf wahrscheinlich rückwärts umkippen. Momentan hatte er sie leidlich im Nacken zusammen geschnürt, was jedoch nicht verhinderte, dass sie irgendwie überall im Wagen herumwuselten. Wenn dem ein Haar in die Suppe fiel, war die Suppe weg.
 

Er hatte Bockmist gebaut, einfach zwei Sterbliche ausgelutscht. War der Hunger mit ihm durchgegangen? Oder hatte er es darauf ankommen lassen? Wie ein mutwilliger Zerstörer wirkte er nun nicht auf sie, aber wer wusste das schon. Er hatte die Zeiten ja nicht erlebt, als man ich noch ungehemmt vollhauen gekonnt hatte. Vielleicht fehlte ihm da ja was. Aber nichtsdestotrotz widersprach seine Tat allem, was sie sich zum Grundsatz gemacht hatten – und was ihre Existenz dauerhaft sicherte. Die Menschen hatten sich entwickelt… und sie hatten sich angepasst.
 

Und anpassen würde sich Skiaphagos auch müssen… das dürfte kein Kinderspiel werden.
 

Was machte man mit einem jugendlichen Schattenfresser?
 

Wahrscheinlich erst mal füttern.
 

Gut, dass sie einen großen Garten voll düsterer Schatten hatte.
 

Ihre armen Bäume.



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