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Kirschblütenschauer

[Sorato/Koumi/Kenyako]
von

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Zweiter Blütenakt


 

Zweiter Blütenakt
 


 

***
 


 

Abenteuerlust
 

Bon Chance, Sora“, schluchzte Miyako mit Tränen in den Augen, trat einen Schritt zurück und reihte sich bei den anderen ein, die sich im Halbkreis um sie versammelt hatten.

Hier standen sie nun und nahmen Abschied von einander. Sie waren in all den Jahren ihre Familie gewesen, hatten sie begleitet und unterstützt. Jeder einzelne von ihnen war mit wunderschönen Erinnerungen behaftet. Sie hielt den Anblick in ihrem Herzen fest, prägte sich jedes einzelne Gesicht ein, um einen Teil davon mitnehmen zu können.

Paris würde schrecklich einsam ohne sie werden.

Es war schmerzhaft ihnen dabei zuzusehen, wie sie sich trennten und nach und nach zum Ausgang des Parks trotteten.

Taichi hatte sich zu seiner Schwester vorgebeugt, der eine silbrige Kamera um den Hals baumelte. Sie reichte ihm gerade einmal bis zur Brust, so dass es für ihn ein Leichtes war, ihr mit der Hand durch das ahornbraune Haar zu fahren. Lachend versuchte Hikari ihrem Bruder auszuweichen und hob schützend die Arme über den Kopf, während Taichi Takeru kurz auf die Schulter klopfte und sich von ihnen verabschiedete.

Dann fand sein Blick sie. Die kastanienbraunen Augen hefteten sich an sie, während er die dunklen Augenbrauen zusammenzog und die Hände in den Hosentaschen vergrub.

Hikari hob ein letztes Mal die Hand, während Tailmons Fell in der sinkende Sonne strahlte und Patamon über ihren Köpfen zum Ausgang flatterte. Dann waren sie und Takeru hinter den Kirschbäumen verschwunden.

Ein Räuspern durchbrach die Stille. „Ihr entschuldigt mich kurz…“ Yamato hielt sein Mobiltelefon in der Hand. „Akira wartet auf meinen Anruf. Wir haben noch gar nicht geklärt, wann wir uns morgen am Bahnhof treffen. Die ganze Geschichte ist ein bisschen unorganisiert, aber so sind Musiker nun mal…“ Und mit ein paar schnellen Schritten hatte er sich von ihnen entfernt und wählte eine Nummer.

Sie wandte sich wieder dem Jungen zu, mit dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Mit hochgezogenen Schultern und einer gut versteckten Traurigkeit sah er sie unverwandt an. „Das war’s also…“

„Ja“, flüsterte sie und kämpfte gegen die Tränen an, während sich ein bleierner Schmerz auf ihren Magen legte und ihr die Kehle zuschnürte.

Er legte den Kopf schief und versuchte sein Taichi-Grinsen. „Ich schätze, es ist an der Zeit…“

„…Erwachsen zu werden? Da hast du vermutlich recht.“, vollendete sie seinen Satz und seufzte, während er stumm nickte. Taichi war nie der schweigsame Typ gewesen, aber über all die Jahre hatte sich sein Tonfall verändert. Während er früher noch sein Herz auf der Zunge getragen hatte, ein wildes Herz voller verrückter Ideen, war es heute sein Verstand, der die Worte sorgfältig auswählte, die ihm über die Lippen kamen. Verantwortungsvolle Worte mit Erzählungen gespickt, die von den Abenteuern der vergangenen Tage erzählten.

In einiger Entfernung kletterten Agumon und Gabumon auf einen der Kirschbäume, während Piyomon ihnen besorgt zusah und nervös auf und ab trippelte.

„Es scheint eine Ewigkeit her zu sein, seit wir ihnen das erste Mal begegnet sind“, murmelte sie und beobachtete das Treiben der drei Digimon lächelnd. „Seitdem hat sich viel verändert.“

„Erwachsenwerden ist verdammt anstrengend.“ In seiner Stimme schwang Nostalgie und ein Hauch von Bedauern mit, während Agumon aufjohlte und ihnen von der Baumkrone aus zujubelte.

Eine einzelne Kirschblüte hatte sich in seinem ausgewaschenen Hemd verfangen. Das Blau war an einigen Stellen bereits Grau und die Kirschblüte wirkte wie ein einsamer Hoffnungsschimmer auf dem tristen Untergrund. Mit den Fingerspitzen strich sie ihm über das Hemd und die Kirschblüte rieselte auf den Boden herab, wo sie vom Wind erfasst wurde und ihres Weges ging.

Plötzlich schloss sich seine Hand um ihre in der Luft hängenden Finger. „Sitz nicht nur an der Nähmaschine, Sora.“ Seine Stimme klang rau und brüchig, als würde sie gleich zerbersten wie morsches Holz. „Verschließe dich nicht vor den Abenteuern, die auf dich warten, damit du neue Erinnerungen sammeln kannst. Schieße Fotos. Nicht vom Eifelturm, sondern den kleinen Gassen, von denen noch niemand weiß. Lerne neue Leute kennen – sie werden mir nie das Wasser reichen können – aber sie machen das Leben leichter und aufregender. Achte darauf, dass du wenigstens einmal in der Woche Reis isst, das europäische Essen bist du nicht gewöhnt, deshalb geh es langsam an und hüte dich vor Croissants, die schaden nur deiner Figur. Treib lieber Sport – wenn es sein muss auch Tennis….“

„Tennis ist toll, ja!“, brachte sie zwischen zwei Schluchzern hervor. Den salzigen Geschmack auf ihrer Zunge nahm sie erst jetzt war, während ein Tränenschleier die Welt vor ihr verwischte.

„Oh bitte, ein paar Bälle übers Netz schlagen kann ja wohl jeder.“ Schelmisch verschränkte er die Arme, grinste und wich mit einer lässigen Bewegung ihrer zur Faust geballten Hand aus.

„Du schlägst immer noch wie ein Mädchen“, stellte er amüsiert fest.

Ihr Mund öffnete sich um eine gespielt schnippische Bemerkung loszulassen, doch er kam ihr zuvor.

„Ich werde dich vermissen, Sora.“
 


 

***
 


 

Was bleibt
 

Müde ließ er sich auf die Eisenbank fallen, während die Türen der Yamanote Linie hinter Ken zu glitten und die Bahn sich gemächlich in Bewegung setzte, bis der düstere Tunnel sie mitsamt seinem besten Freund verschluckte und er auf dem Bahnsteig zurückblieb, umringt von zig Fremden.

Fremde, die unleserliche Mienen aufsetzten, mit glatt gestriegelten Haaren und seriös-langweiligen Anzügen und grauen Krawatten. Menschen, die das Wort Abenteuer nicht einmal aussprechen konnten und deren Leben nur dann einen Hauch von Spannung aufwies, wenn sich die Bahn, auf die sie so sehnsüchtig warteten, verspätete.

„Mir ist langweilig.“ V-mons Quengeln lenkte ihn von der Fadheit des Erwachsenendaseins ab. Mit unglücklicher Miene hockte das blaue Drachendigimon neben ihm auf der Bank und rutschte unruhig hin und her, während es mit seinen Augen die Umgebung nach etwas Interessantem abtastete.

„Können wir nicht in die Digiwelt?“, hakte das Digimon nach. „Wir könnten den Dragon Eye Lake überqueren und endlich herausfinden, was sich auf der anderen Seite des Sees befindet. Das wollten wir doch schon so oft versuchen, aber immer kam etwas dazwischen…“

„Das geht nicht, V-mon“, seufzte er entschuldigend und ließ den Lederball auf dem Boden aufspringen. „Ich hab doch gleich Fußballtraining.“

Nächste Woche erwartete sie ein wichtiges Spiel, da konnte er die Mannschaft nicht im Stich lassen, so sehr ein Abenteuer in der Digiwelt ihn auch reizte.

„Aber wenn du zurück möchtest… Ich meine, du musst ja nicht beim Training zusehen, wenn du…“, begann er zögerlich, doch V-mon schüttelte energisch den Kopf und verschränkte die Arme vor der blauen Brust. „Ich bin doch dein Glücksbringer, Daisuke.“

Lächelnd strich er seinem Partner über das Blitzartige Muster auf seiner glatten Stirn und ließ den Ball noch einmal aufspringen.

Er verstand die Unruhe des Digimons nur zu gut, die Abstände zwischen den Reisen in die Digiwelt wurden immer größer und das stete Leben unter den Menschen konnte einen schon ziemlich anöden. Dennoch besuchte V-mon ihn jeden Samstag, um ihn beim Fußballspielen zuzuschauen. Das Digimon feuerte ihn unermüdlich an, hüpfte auf der Tribüne auf und ab und ließ bei jedem Tor einen dröhnenden Jubelschrei ertönen, so dass die Tauben aufgeschreckt mit den Flügeln flatterten und flüchteten.

Es war schön zu wissen, dass da jemand war, der jeden Sieg feierte und ihn bei jeder Niederlage tröstete. Dennoch war es nicht dasselbe.

Es waren nicht nur die Abenteuer, die ihm fehlten.

Tage wie diesen vermisste er. Denn nicht nur die Digiwelt bekam er immer seltener zu Gesicht, auch seine Freunde und Gefährten waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass da keine Zeit mehr für gemeinsame Unternehmungen blieb. Yamato, Taichi und Sora hatten in den letzten Monaten verbissen für ihre Abschlussprüfungen lernen müssen und auch das Arbeitspensum von Ken und Miyako hatte sich mit ihrem Eintritt in die Oberschule deutlich erhöht. Jyou war mittlerweile von Zuhause ausgezogen und bewohnte nun eine kleine Wohnung in der Nähe seines Campus, welche er durch furchtbar viele Schichten in einem Convenience Store finanzierte, während Koushiro seine Zeit mit Plänen verbrachte. Pläne, die die Digiritter in Schichten einteilten und dazu beitragen sollten, dass niemand sein Leben zu Gunsten der anderen Welt opfern musste.

Also blieben nur noch Hikari und Takeru, und die beiden klebten aneinander wie Fliegen an einem Honigglas.

Er hatte sich einige Male Iori und seinen neuen Digiritterfreunden angeschlossen, aber es hatte sich nicht richtig angefühlt. Sie wirkten wie ein Club, zu dem er einfach nicht mehr dazu gehörte.

Aber was würde dann aus ihm? Seit V-mon in sein Leben getreten war, hatte er sich immer nur als Digiritter gesehen. Seine Freunde waren Digiritter. Seine Abenteuer bestand er in der Digiwelt und seine Kämpfe trug er gegen Digimon aus.

Wenn all das wegfiel, was blieb ihm dann noch?

Nicht selten ertappte er sich dabei, wie er sich einen neuen Gegner, eine böse Macht, herbeisehnte, die das Team wieder zusammenführte.

„Nachdem man die ganze Welt gerettet hat, kommt einem alles andere sehr belanglos vor…“, hatte Taichi erzählt, als die Euphorie über den Sieg gegen Belial Vamdemon langsam abebbte. Taichi hatte ihn warnend angeschaut mit diesen durchdringenden kakaofarbenen Augen, die immer so viel mehr über ihn zu wissen schienen, als er selbst es tat. „Verliere dich nicht in den Abenteuern, Daisuke, sonst wirst du niemals wieder Freude an deinem Leben empfinden können.“

Damals hatte er mit den Worten nichts anfangen können, er hatte lachend den Kopf geschüttelt und Taichi war ihm in diesem Moment so unglaublich alt und weise vorgekommen, als habe er ahnen können, wie er – Daisuke Motomiya, Digiritter, Fliegenbrillenträger und Besitzer der Digimentals Mut und Freundschaft – sich in diesem Augenblick fühlte.

„Ist das der offizielle Teamgeist?“

„Bitte was?“ Verwirrt hob er seinen Kopf und starrte in grasgrüne Augen. Ein Junge mit pechschwarzem Haar und einem leuchtend gelben Fußballtrikot hatte sich neben ihm auf die kalte Metallbank gehockt.

„Na ist das der offizielle Ball der Fußballweltmeisterschaft 2006?“ Er klang aufgeregt, während er auf seinen Fußball deutete, den er zwischen den Händen hin und her gedreht hatte, während er seinen Gedanken nachgegangen war.

„Äh ja…“, antwortete er und blickte seinerseits auf das weiße Leder.

„Cool“, raunte der Junge mit ehrfürchtiger Stimme und strich räuspernd sein schwefelgelbes Trikot glatt. „Ich bin übrigens Tsubasa, Hamada Tsubasa, freut mich deine Bekanntschaft zu machen“, erklärte er feierlich und streckte seine Hand zur Begrüßung aus.

„Motomiya Daisuke“, murmelte er und schüttelte die Hand des fremden Jungen, der bis über beide Ohren strahlte und kaum still sitzen konnte.

„Mein Vater hat ein Jahr lang in Deutschland gearbeitet, musst du wissen“, begann der Junge – Hamada Tsubasa – unvermittelt. „Aber das war noch vor der Weltmeisterschaft. Ziemlich ärgerlich. Ich hätte mir so gerne das Endspiel angesehen. Andererseits war Brasilien nicht besonders stark in dem Turnier – ich bin nämlich Brasilien-Fan musst du wissen – von daher konnte ich doch ganz gut damit leben. Ich hoffe einfach, dass mein Vater das nächste Mal nach Südafrika versetzt wird. Warst du schon mal in Südafrika? Ich stell mir das total spannend vor. Erst auf Safari und dann ab ins Stadion.“

Er tauschte einen erstaunten Blick mit V-mon aus. „Nun ja, also…“

„Glaubst du nicht, dass Afrika abenteuerlich ist? Warst du schon mal in Afrika?“

„Nein, nicht wirklich…“

„Löwen, Giraffen – und nicht in Zookäfigen sondern in der freien Wildbahn.“

„Kann schon sein…“

„Kann schon sein? Das ist das pure Abenteuer, sag ich dir!“ Die Wangen des Jungen hatten sich vor Aufregung rot gefärbt, er öffnete den Mund um fortzufahren, als sein Blick auf V-mon fiel, welches neugierig an ihm vorbei lugte und den seltsamen Jungen betrachtete.

„Wow! Was ist das denn?“ Er war aufgesprungen und hatte sich vor V-mon gekniet. Mit seinen Zeigefinger stieß er dem blauen Drachen in den Bauch, woraufhin V-mon erschrocken quietschte.

„Hey, was fällt dir ein“, empörte es sich und rieb sich über den runden Bauch.

Tsubasa fuhr erschrocken zurück.

„Ist… ist das ein Digimon?“, fragte er mit gebannten Blick auf V-mon.

„Äh, ja, das ist V-mon.“ Nervös warf er einen Blick auf den Bahnsteig, doch die anderen Leute schienen sich nicht besonders für die beiden Jungen auf der Bank zu interessieren, geschweige denn von einem Digimon Notiz zu nehmen.

„Ist ja irre. Ich hab schon davon gehört. Aber bis jetzt habe ich noch nie eins zu Gesicht bekommen. Mein Vater und ich planen seit Langem einen Kurztrip in die Digiwelt, sobald er wieder Zeit hat. Er ist viel unterwegs, müsst ihr wissen. Wir sind auch gerade erst in Tokio angekommen. Mein Vater wollte, dass ich pünktlich zum neuen Schuljahr anfange. Das ist meist angenehmer als mitten im Schuljahr zu wechseln. Ich hoffe, dass sie eine Fußballmannschaft an der neuen Schule anbieten. Auf der Schule, die ich für ein paar Monate in Frankreich besucht habe, hatten sie nicht mal eine Fußball-AG….“

„Wenn du willst“, begann er zögerlich, „Kann ich dich einfach zu meinem Fußballtraining mitnehmen…“ Er warf einen Blick auf die große Uhr über dem U-Bahn-Tunnel, neben der flackernden Anzeigetafel, auf der die Abfahrtszeiten angeschlagen waren. 17 Uhr 33.

„In einer halben Stunde geht’s los“, fügte er hinzu und Tsubasas Gesicht erhellte sich in Sekundenschnelle.

„Das würdest du tun?“

„Klar, warum nicht?“ Er zuckte mit den Schultern.

Warum eigentlich nicht….
 


 

***
 


 

Geschichtenerzählen
 

17 Uhr 53 Minuten. Zuhause würde es bald Abendessen geben, stellte sie mit knurrendem Magen fest. Der rauschende Verkehr und die vielen Lichter des Fuji-Fernsehturm erblassten, als sie in die Seitenstraße einbog. Manchmal erstaunte es sie, wie das pulsierende Leben so an ihrer Wohnsiedlung vorbeigehen konnte. Obwohl noch bis vor einigen Jahren ständige Kämpfe die Insel erschüttert hatten, gingen die Bewohner Odaibas ihren alltäglichen Geschäften mit stoischer Gelassenheit nach.

Niemand schien einen Gedanken an das Auftauchen Vamdemons vor vielen Jahren zu verschwenden. Damals hatte das Digimon sich auf die Suche nach Hikari begeben und die Menschen in Angst und Schrecken versetzt. Doch vielleicht war es seine Niederlage die das feindliche Digimon aus den Köpfen der Menschen vertrieben hatte. Auch wenn es wenige Jahre darauf erstarkt an die Küste Japans zurückkehrte und sie in der Bucht von Tokio erneut herausforderte.

Irgendwie beruhigte es sie, dass die Menschen trotz alledem ihr Leben lebten. Dass die Kämpfe in Vergessenheit gerieten, auch wenn die Digimon nun nicht mehr totzuschweigen waren. Es war wohl die Anpassungsfähigkeit, die es ihnen leicht machte, das Geschehene zu akzeptieren und ebenso die stetig auftauchenden seltsamen Gestalten, die hin und wieder der Welt einen Besuch abstatteten. Meist mit friedlichen Absichten und ganz viel Neugier im Herzen.

Die untergehende Sonne lugte hinter den Flachdächern hervor, während sie den Himmel mit einem Zuckerguss aus Abendröte überzog.

Eine ältere Dame mit einem grün-kariertem Kopftuch trug einen Wischeimer vor die Haustür, den sie mit einem lauten Platschen entleerte und sich die Hände an einer weißen Schürze trocknete, während auf der anderen Straßenseite aus dem mehrstöckigen grauen Familienhaus das Klimpern eines Klaviers zu hören war. Ein alter rostiger Toyota trottete über den Asphalt an ihr vorbei, doch ansonsten herrschte stille Geschäftigkeit in Odaiba.

Sie überquerte die Straße und bog in eine Seitengasse, die den Heimweg deutlich verkürzen würde. Über ihrem Kopf verliefen Wäscheleinen von Hauswand zu Hauswand, dicht bepackt mit weißen Bettlaken, die im Abendwind flatterten, als sie plötzlich ein lautes Klappern und Rumpeln vernahm, dicht gefolgt von wildem Gezeter und wütendem Gebrüll.

Hawkmon warf ihr einen besorgten Blick zu bevor es mit den braunen Flügeln flatterte und sich in Bewegung setzte. Hastig folgte sie dem fliegenden Digimon.

Eine der grauen Mülltonnen, die neben einem Seiteneingang standen, war zu Boden gegangen und Plastikbecher kullerten über den Pflasterstein, während zwei Gestalten sich auf dem Boden rauften und deren Geschrei an den Hauswänden widerhallte.

„Hey“, brüllte sie und griff nach zwei Mülltonnendeckeln, die sie schwungvoll gegeneinander stieß, woraufhin das Blech unter ihren Händen vibrierte und laut schepperte.

Sogleich kehrte Ruhe ein und sie konnte erkennen, wie sich die beiden Gestalten aufrichteten und unter den zerzausten Haaren jeweils zwei ängstliche Augenpaare hervorlugten.

„Haben sie endlich aufgehört zu streiten?“ Ertönte ein leises Flüstern und hinter den Mülltonnen lugte ein bärenartiges Wesen hervor. Es trug eine blaue Baseballkappe und sein schwarzes Fell schimmerte im Abendlicht.

Hawkmon war neben ihr gelandet und näherte sich dem fremden Wesen vorsichtig.

„Ich habe ihnen gesagt, dass sie nicht streiten sollen“, erklärte er es traurig. „Aber Hanako und Nagisa wollten nicht auf mich hören.“

„Bearmon ist mein Freund, ich habe es zu erst gesehen“, meldete sich eines der beiden Mädchen zu Wort. Es trug eine dunkle mit Flicken besetzte Latzhose, deren Träger sich während des Streites gelöst hatte. Das kurze Haar stand in alle Richtungen ab, während das Mädchen trotzig die Arme verschränkte.

„Gar nicht wahr“, erwiderte das andere Mädchen empört und strich sich eine nussbraune Locke aus dem dreckverschmierten Gesicht. „Nagisa hat Bearmon vielleicht zu erst entdeckt, aber Bearmon mag mich viel lieber.“

Sie bekam die beiden Streithähne am Arm zu fassen, bevor sie erneut aufeinander losgehen konnten, und wandte sich an das bärige Digimon, dessen Blick ratlos zwischen den beiden Kindergesichtern hin und her wanderte.

„Wie bist du überhaupt in der Menschenwelt gelandet, Bearmon?“ Hawkmon kam ihr zuvor und strich sich über den Schnabel, während es das fremde Digimon umkreiste und begutachtete.

„Ich war so neugierig.“ Bearmon schielte ertappt auf seine Tatzen. „Ich wollte doch nur mal wissen, wie diese Welt so ist. Immer wieder erzählen mir die anderen Digimon von dieser Welt mit fahrenden Blechkästen und himmelhohen Türmen. Und sie erzählen von den Menschen, die ihre Partner sind. So viele Digimon haben bereits Partner. Überall hört man davon. Nur ich… ich habe noch kein Menschenkind gefunden, das mich lieb hat. Ich war es leid, zu warten…“

Mit gerunzelter Stirn lauschte sie Bearmons Geschichte. In all den Jahren hatte sie nur daran gedacht, wie viele Kinder sich wohl danach sehnten, endlich ein Digimon zum Partner zu haben und wundervolle Abenteuer zu erleben. Nie war ihr in den Sinn gekommen, dass vielleicht auch Digimon sich ein Kind wünschten, dass mit ihnen all die Abenteuer durchstand, die in der Digiwelt auf sie warteten.

„Und so landete ich direkt in Nagisas Sandkasten. Die beiden schienen keine Angst vor mir zu haben“, berichtete Bearmon weiter. „Sie luden mich gleich zu einer Teeparty ein und stellten mich ihren Puppen und Teddys vor. Aber plötzlich haben sie angefangen zu streiten… Dabei habe ich sie doch beide gern…“

„Ich will aber, dass du mich lieber hast“, maulte Hanako woraufhin Nagisa ihr gegen das Schienbein trat.

„Ich kannte mal einen Jungen, der auch mit niemandem teilen wollte…“, erhob sie die Stimme, unsicher wo sie mit dieser Geschichte enden würde, so dass die Mädchen inne hielten. „Er war ein Junge der eigentlich alles hatte, was man sich als Junge eben wünschen konnte. Liebe Eltern, gute Schulnoten und nette Schulkameraden. Aber vor allem war da ein Digimon, dass sein Freund sein wollte. Das Digimon hatte ihn so lieb, dass es ihm überall hin folgte, egal wie viel Angst es auch hatte. Doch das reichte dem Jungen nicht. Ein Freund, ein Digimon war ihm nicht genug.“

Sie zögerte für einen Moment, allerdings war sie sich ziemlich sicher, dass er ihr es nicht verübeln würde, wenn sie seine Geschichte erzählte und so einen Streit schlichtete.

„Und der Junge wurde richtig gemein zu dem Digimon. Er stritt sich mit ihm, beschimpfte es und trat nach ihm und verstieß es, um sich auf die Suche nach einem stärkeren Digimon zu machen.“ Sie verstummte für einen Augenblick, während sie die Erinnerungen an die Zeit aufleben ließ.

„Was wurde aus dem Jungen und dem Digimon?“ Hanako presste gespannt die Handflächen gegeneinander, während ihr Pferdeschwanz auf und ab wippte.

„Nun ja, er hatte keine Freunde mehr, weil er sie alle vertrieben hatte, und kein Digimon, das ihm gut genug gewesen wäre… deshalb war er bald ganz allein.“

„Allein?“, wiederholte Nagisa und wippte ungeduldig mit dem Fuß.

Sie nickte.„Er war furchtbar einsam, aber wem hätte er davon erzählen sollen? Es war ja niemand mehr da…“ Sie beugte sich zu den Mädchen und kniff ihnen in die Nasenspitzen. „Deshalb sollte man sich über jeden Freund freuen und ihn in Ehren halten.“

Nagisa warf ihrer Freundin einen beschämten Blick zu und streckte die kleine Mädchenhand aus. „Ich möchte nicht alleine sein.“

„Ich auch nicht“, murmelte Hanako und griff sichtlich erleichtert nach der Hand.

„So lange musste ich auf ein Menschenkind warten, das mich gern hat und nun habe ich gleich zwei gefunden“, jubelte Bearmon vergnügt und drückte die beiden Mädchen an sich.

„Hast du nicht einen entscheidenden Teil bei deiner Geschichte vergessen, Miyako“ raunte Hawkmon ihr zu, während die beiden Mädchen das Digimon herzten und drückten.

„Schriftstellerische Freiheit“, flüsterte sie mit gespielter Unschuldsmiene zurück und verabschiedete sich von dem Trio, das die Gasse verließ und auf eines der Häuser mit einem großen Holzzaun zusteuerte.

„Wer von ihnen wird wohl letztendlich Bearmons Digiritter?“ Hawkmon blickte ihnen nachdenklich hinterher.

„Keine Ahnung“, seufzte sie und reckte die Arme gähnend in die Luft. „Nirgendwo steht geschrieben, dass ein Digimon nur einen einzigen Partner haben kann, oder?“

„Also mir reicht ein Partner völlig aus.“ Lachend streckte Hawkmon die Flügel aus und flüchtete in die sicher Luft.

„Na warte!“ Mit aufgesetzter Empörung setzte sie ihren Weg fort, während die kühle Abendbrise ihr durch das Haar streichelte.

Ein Glück, dass die Geschichte des Jungen noch nicht zu Ende war…
 


 

***
 

Author’s Note:

Ach ja, ein kleiner Taiora-Moment. Ich kann’s einfach nicht lassen. Yamato beweist mal wieder, dass er ein guter Freund ist, und lässt sie allein voneinander Abschied nehmen. In so einem Liebes-Freundschafts-Dreieck geht es wohl immer um Rücksichtnahme und Opfer. Taichi ist nun mal Soras bester Freund, die beiden kennen sich seit dem Kindergarten, da ist so ein kleiner Moment des Abschied das Mindeste. Ich mag die Vorstellung wie die beiden sich zwischen Spiel und Ernst bewegen, das gibt mir sehr viele Möglichkeiten, um da was draus zu schreiben. Jeder der gehofft hat, Taichis Beweggründe würden sich endlich offenbaren, den muss ich leider enttäuschen, auch wenn überall versteckte kleine Hinweise zu finden sind.^^

Daisukes Perspektive war für mich die interessanteste. Ich bin seine Perspektive nicht so gewohnt, muss man dazu sagen, deshalb ist das immer eine Herausforderung. Aber die Thematik des Abschieds und des Loslösens von alten Freundschaften war bei ihm einfach sehr spannend. Daisuke steht vor der Frage, was ihn ausmacht, wenn man alles Digimon-bezogene subtrahiert. Was bleibt dann noch?

Ich denke, dass die Digiritter auch außerhalb ihrer Gemeinschaft ein Leben brauchen, dass sie in der Realität hält, unabhängig macht.

Tsubasa ist super. Er kam mir in den Sinn und ich wurde ihn nicht mehr los.

Eigentlich erinnert er an Daisuke. Und eigentlich erinnert er Daisuke daran, was ihn ausmacht. Und ganz eigentlich ist Tsubasa ein Abenteuer des Lebens. Deshalb.

Zum Miyako-Part kann ich gar nicht so viel sagen. Natürlich handelt es sich bei ihrer Geschichte um Ken – wenn auch um eine gekürzte Fassung mit offenem Ausgang. Miyako hat eben auch eine Seite, die weiß was zu tun ist, was zu sagen ist.

Nagisa und Hanako symbolisieren die neue Generation von Digimon-Mensch-Beziehung. Der Streit ähnelt einem Streit über Sandförmchen. Die beiden sind auch noch sehr jung. ^^

Das Ende war eigentlich anders geplant, aber die Geschichte wollte es anders, dem füge ich mich natürlich,

bis dahin

PenAmour



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