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Die Blumen des Herrn Tanaka

von

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Ich dachte eigentlich es würde mal ein halbwegs entspannter Tag werden. Mein Arbeitstag begann um 08:15 mit Frau Miyazawa, einer älteren Hausfrau die an mehrmals im Monat wiederkehrenden Depressionen litt. Ansich keine große Sache. In diesem Fall war ich so etwas wie ihre Kummerkastentante, nur halt eben, dass Tante bei mir nicht so wirklich zutraf. Onkel passte wohl besser. Sobald sie sich ihre Sorgen vom Hals geredet hatte, ging es ihr sofort besser. Meine Aufgabe war es eben nur zuzuhören, eventuell mal zu nicken oder ein verstehendes "Hm" von mir zu geben und ihr am Ende zu sagen, dass die ganzen Sorgen nach einer Weile von selbst verfliegen würden und man an den Beschlüssen der Regierung im Bezug auf die Rentenverkürzung herzlich wenig machen konnte. Natürlich nicht so hart, sondern in gut gewählte Worte verpackt.

Entsprechend klein war ihre Akte. Ich legte sogar immer ein paar weiße Blätter darunter, nur um ihr vorzumachen sie sei ein besonders schwerer Fall der nach der Menopause zu Depressionen neigenden Frauen. Fies von mir?

Nicht ganz. Denn nur so stellte ich sicher, dass sie nicht tatsächlich welche bekam. Solange sie sich bei mir ausheulte bestand keine Gefahr.

Und ganz ehrlich - rund 20% meiner Patienten waren Patienten ihres Kalibers.

Weitere 30% waren Personen mit Krebs- oder Gehirnerkrankungen, Nahtoderfahrungen oder insgesamt mit dem Tod konfrontierte Patienten und die sich mittlerweile häufenden Burn-Out- und Borderline-Opfer. Und dann gab es natürlich noch meine Lieblinge.

Dazu muss ich sagen dass ich halbtags in meiner eigenen Praxis nahe des Stadtrands, und die andere Hälfte in der "Anstalt" arbeite.

Während der Umgang mit den eben genannten 50% mittlerweile "Alltag" geworden ist, ist es mit meinen Lieblingen immer wieder ein Erlebnis der anderen Art. So kommt es mir jedenfalls vor. Es gibt nichts was in ihren Köpfen unmöglich ist. Manchmal zweifelt man an ihrem Denken und Handeln, und im nächsten Moment erscheinen sie einem wie Genies.

Ich rede von den "Exoten" unter meinen Patienten, denjenigen die von der Normalbevölkerung als Geisteskrank abgestempelt werden. Aspergersyndrom, krankhaft gesteigerter Narzissmus, Größenwahn, Tobsucht,Selbstmordgedanken und Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Angstzustände....all das gehört zu den Sachen die ich an meinem Beruf liebe und gleichzeitig auch hasse.

Und schon bald sollte ich mich mit einem Individuum konfrontiert sehen, das mich noch selbst halb in den Wahnsinn treiben sollte.

Doch das hat noch Zeit.
 

Oh. Sie wollen wirklich etwas über mich wissen?

Erstaunlich.

Aber gut, das werde ich Ihnen natürlich nicht vorenthalten.

Mein Name ist Kondou Yoshiaki...das Dr.Dr.Dr. Med. lasse ich lieber weg. Ist auch zu lang um es komplett auszusprechen ... und ich bin Psychatrischer Therapeut in der Kindojokan Nervenheilanstalt in Kanagawa.

In meiner Freizeit spiele ich gern Golf. Und ich mag klassische Literatur.

Also wie Sie sehen bin ich ziemlich langweilig.

Eine Frau oder Freundin habe ich auch nicht, dafür aber eine hysterische Ex-Verlobte mit einem kleinen verwöhnten Balg. Gott sei Dank nicht von mir.

Wir haben eigentlich keinen wirklichen Kontakt zueinander. Höchstens wenn es darum geht ihr etwas Geld zu leihen oder den Bengel für ein paar Stunden zu nehmen, wenn sie mit ihren 31 Jahren mal wieder versucht ein männliches Opfer zu bezirzen. Klappen tut es NIE. Aber ich glaube, das ist kein großer Verlust.

Immerhin war auch unsere 10-monatige Liason nur eine kurze Geschichte des Scheiterns. Warum sollte es einen anderen Leidensgenossen besser treffen als mich?

Schon allein ihr sogenanntes....ach egal.

Wussten Sie, dass Aufregung und Wut positiv auf die Faltenbildung wirkt?

Und das wollen wir ja nicht. Also rege ich mich jetzt schnell wieder ab und gehe noch schnell meine Lunge teeren, bevor ich zum nächsten Patient muss. Denn das wird ein echt harter Brocken.

Eigentlich ist es ein sehr trauriger Beruf mit mehr Nach- als Vorteilen, wenn ich ehrlich bin.

Das sieht man zum Beispiel an Frau Mori. Sie ist noch nicht lange hier, drei Monate in etwa.

Im Vergleich zu der Zeit die ihr noch bleiben wird, relativ kurz. Immerhin bleibt sie ihr restliches Leben.

Familie hat sie keine mehr. Sie kam nach einem Zugunglück hierher und wohnt seitdem im Westflügel auf achtzehn Quadratmetern.

Noch gibt es keine Bilder an den Wänden oder Fotos. Oder überhaupt persönliche Gegenstände.

Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie noch nicht begriffen hat, dass sie ihr restliches Leben hier bleiben wird. Hier ist Ende, Schluss, Aus, Finito.

Die Meisten brauchen bis mehrere Jahre um es zu verstehen.

Frau Mori ist da keine Ausnahme.

Wenn man sie anspricht, dreht sie einem den Kopf zu und sieht einen aus ihren leicht angeschwollenen und rotgeweinten Augen an. Ihre Haare lösen sich teilweise aus ihrem nachlässig gebundenen Dutt und fallen ihr über die Schultern. Alles in allem bietet sie einen so traurigen Anblick, dass man sie am Liebsten in den Arm nehmen und ihr das Blaue vom Himmel runterlügen würde, nur damit sie es ein wenig leichter hat.

Denn dann fängt sie an von ihrer Tochter zu erzählen. Dabei rollen ihr die Tränen über die Wangen. Sie schluchzt aber nicht. Der Ton ihrer Stimme ändert sich genauso wenig. Sie weint einfach, und bei ihr sieht es aus als wäre das das Normalste der Welt.

Ihre Tochter ist Tänzerin beim Ballett und tanzt in den großen Theatern dieser Welt zu Tchaikowskie und Satie. Sie hat dunkelbraune, glänzende Haare und feine, engelsgleiche Gesichtszüge und trägt nur die schönsten Schuhe, die von russischen Meistern angefertigt werden. Sie ist weltberühmt, dennoch habe ich nie von ihr gehört.

Manchmal, wenn ich zu lang bei Frau Mori im Zimmer bin fängt sie an nervös herumzugucken und sich zu räuspern, als wolle sie mich verscheuchen. Ab und an schreit sie mich auch an, weil sie denkt, ich wäre ihr Mann, der offenbar ein ziemlicher Säufer war und ihr das Leben schwer machte. Und am nächsten Tag schenkt sie mir liebevoll selbstgemachte Wollsocken und erzählt mir erneut die phantastische Geschichte ihres Kindes, obwohl dieses sein erstes Lebensjahr nie erlebt hat.

Bis heute habe ich nicht herausgefunden wohin diese Frau mit dem Zug wollte.

Ich weiß dass es Frauen gibt, die den Tod ihres Kindes direkt oder etwas nach der Geburt verkraften, auch wenn es vielleicht Jahre dauert. Frau Mori...hat es nicht. Im Allgemeinen ist die Lebenserwartung von Eltern geringer, die mit dem Verlust des Kindes durch SIDS zu kämpfen haben. Noch schlimmer wird es natürlich für eine alleinerziehende Mutter. Statt dem Suizid (wie in den meisten Fällen), erkrankte sie an der schwersten Form der Paranoia, die ihrem Kopf jeden Tag aufs Neue vorgaukelt ihre Tochter wäre noch am Leben. Und ich weiß nicht, was mir persönlich erträglicher vorzustellen wäre.

Ihre Sitzung beginnt um 14 Uhr, nach der Mittagspause und ich freue mich nicht darauf.

Danach muss ich zu Herrn Niimura.

Der ist immer der Schlimmste. Nicht weil er aggressiv wird oder so, sondern weil jedes Gespräch mit ihm so verdammt nervig ist.

Ich weiß selbst, dass es gemein klingt aber stellen Sie sich bitte einmal folgende Situation vor:

Mit einem freundlichen Lächeln gehen Sie in das mit alten Fotos tapizierte Zimmer, ziehen die Vorhänge auf, die Herr Niimura sowieso sofort wieder zuzieht sobald Sie weg sind und setzen sich auf den kleinen schwarzen Klappstuhl neben dem Bett auf dem ein in sich zusammengefallenes Häufchen Mann sitzt, der sie gute 30 Sekunden mit offenem Mund anstarrt.

"Guten Tag", sagen Sie. "Wie geht es Ihnen heute?"

Stille. Etwa 50 Sekunden lang, in denen er sie noch immer mit offenem Mund anstarrt, als wären Sie ein Schaf, das gerade vom Mond gefallen ist.

"Guten Tag", sagt er dann endlich sehr schleppend und starrt Sie, wie nicht anders zu erwarten, an.

Weitere 30 Sekunden später folgt ein "Gut".

Und so geht es dann 3 Stunden weiter, in denen Sie vollkommen entspannt rüberkommen müssen, während sie sich innerlich die Haare raufen und am Liebsten sofort aus dem Raum rennen würden.

Ich sage nicht, dass Herr Niimura ein schlechter Kerl wäre. Er ist höflich, eigentlich sehr nett und reißt sogar manchmal Witze, wenn er kann. Die sind dann allerdings nach einer halben Ewigkeit des Schweigens nicht mehr lustig und trotzdem müssen Sie so tun als wären sie es, weil Herr Niimura mit dem Denken nicht mehr so schnell hinterherkommt seit seinem Schlaganfall mit 180 Sachen auf der Autobahn.

Und?

Würden Sie mit mir tauschen wollen?

Nein? Hab ich mir gedacht.

Aber das ist schon ok so.
 

Die nächste 15-Minutenpause gehe ich in die Kantine, werde ab und an von Schwestern angesprochen oder von Patienten gegrüßt, die noch nicht ganz in ihrem eigenen Gedankengewirr verschütt gegangen sind.

Es gibt Udonnudeln mit Gemüse und Fisch. An manchen Tagen verwandeln sich die Udon- in Sobanudeln. Ansonsten bleibt das Angebot gleichmäßig langweilig. Macht aber nichts. Man gewöhnt sich dran. Und wenn man genug Zeit hat, kann man sich danach noch einen Kaffee holen, so als kleinen persönlichen Luxus für Zwischendurch.

Was dieses Mal aber meine Aufmerksamkeit auf mich zieht ist der neueste Klatsch von Schwester Saito und ihrem Anhängsel Tomohisa. Tomohisa hat früher mal im Krankenhaus gearbeitet, aber seit er hier ist wird er immer mehr zur Schwester. Und damit meine ich nicht nur den Berufsbegriff.

Der Typ schwult rum, das is ne wahre Freude. Die beste Auflockerung des sonst doch leicht depressiven Arbeitsklimas.

Jedenfalls dreht sich das Gespräch um ein "wahnsinns Sixpack", einen "formvollendeten Körper" und "hinreißende Augen".

Normalerweise mache ich mir nichts aus solchen Schwärmereien. Ich meine, was geht mich die Libido meiner Mitarbeiter an?

Dieses Mal werde ich allerdings stutzig, weil mir nicht bekannt ist, dass wir nen Neuen bekommen haben auf den die tolle Beschreibung passen könnte. Ich meine, dass müsste dann ja Mister Perfect sein, nur noch 5000 Mal besser, wenn man den Ausführungen der Beiden glauben kann. Und sowas haben wir hier einfach nicht. Alle unserer Mitarbeiter sind harmloser Durchschnitt.

Durchschnittsfrisur, Durchschnittsklamotten, Durchschnittslaune, was kein Wunder ist beim Durchschnittseinkommen.

Ich stehe also unauffällig auf, bringe mein Tablett weg und pirsche mich näher an die Beiden heran. Nicht, dass sie es nicht bemerken würden.

"Na Yoshi-chan? Im Anschleichen warst du auch schon mal besser. Muss am Alter liegen."

Ich gebe schon nur noch ein leises Murren von mir.

Seit meinem 30ten Geburtstag geht das so. Schlimmer finde ich den Spitznamen den die gesamte Pflegerschaft mir verpasst hat.

"Über wen redet ihr Beiden so aufgeregt?", frage ich sofort um abzulenken.

Saito setzt ihren schwärmerischen "Ich-schwebe-im-siebenten-Himmel"-Gesichtsausdruck auf. Den kennt man inzwischen schon, den setzt sie nämlich immer auf wenn es um Typen mit halbwegs annehmbaren Körper geht und das hält die Messlatte ziemlich niedrig. Sie läuft also öfter so rum. Und freut sich immer wie ein verliebtes Schulmädchen wenn sie diese Durchschnittstypen (womit wir wieder dabei wären) dann umsorgen darf.

Mit etwas zu quietschiger Stimme (für meine Verhältnisse) meint sie: "Na deinen neuen Patienten, Yoshi-chan. Der in Zimmer 118."

118????? Wer zum Teufel liegt denn in Zimmer 118?

Ich muss ziemlich planlos aussehen, denn die Beiden sehen mich fast etwas beleidigt an.

"Er heißt Tanaka", hilft mir Tomohisa auf die Sprünge.

Und endlich kommt das Glühlämpchen - etwas verspätet. Der Neue. Der, der sich vom Hochhaus stürzen wollte.

Ich gebe ein informationsreiches "Achso... der" von mir und ernte dafür ein kleinen Puff gegen die Schulter.

"Sei mal ein bisschen enthusiastischer! Der Typ ist ne Bombe!" tadelt mich Tomohisa und macht dazu eine dieser tuntigen Handbewegungen, dass ich nicht anders kann als zu lächeln.
 

Zwei Patienten später stehe ich vor besagtem Zimmer 118.

Na da bin ich jetzt gespannt.

Ich klopfe an, als aber keine Antwort kommt öffne ich einfach die Tür.

Da sitzt er schon auf seinem feuerwehrroten Stuhl, mit verschränkten Beinen und mustert mich aus seinen blauen Augen.

Und ich mustere ihn mindestens genauso interessiert zurück. Denn gelogen haben die Beiden wirklich nicht. Er sieht schon gut aus, jedenfalls besser als der klägliche Rest dieser Klinik.

Er hat schwarze, längere Haare, ein wenig bis über die Schultern, die unten hellblond gefärbt sind.

Sein markantes aber doch irgendwie weiches Gesicht zieren Piercings, vor allem das unter der Lippe fällt sehr auf. Vielleicht weil seine Lippen an sich ziemlich...naja, toll sind? Eine Schande sowas als Mann zugeben zu müssen.

Und Tattovierungen hat er offensichtlich auch ziemlich vi...

"Wie lange wollen Sie mich noch anstarren, Sensei?", schreckt mich plötzlich seine beeindruckend tiefe aber belustigt klingende Stimme aus meinen Beobachtungen.

"Ich wollte mir nur ein Bild von Ihnen machen", antworte ich wie auf Knopfdruck und nehme unter seinem wachsamen Blick den Platz gegenüber dem Bett ein.

Eine kurze Weile ist es still. Er taxiert mich weiter mit Blicken und ich notiere mir etwas auf meinem Klemmbrett.

"Sooo...", murmelt er, offensichtlich der Meinung, dass es jetzt lange genug ruhig gewesen ist und zieht ein wenig die Augenbrauen zusammen. "Sie sind ja Arzt, bestimmt können Sie mir sagen, warum ich hier festsitze, nicht?"

Ich bin etwas verwirrt über diese Frage.

"Ich möchte herausfinden was ihnen fehlt, ja. Und das muss ich in diesen Sprechstunden versuchen rauszufinden mit Ihrer Hilfe.", versuche ich ihm zu antworten, erreiche damit aber nur, dass er ein bockiges Gesicht zieht und genervt seufzt.

"Schön."

Na super. Da hab ich ja ein sehr kooperatives Tierchen abbekommen.

Egal. Was sein muss, muss sein.

"Ich bin..."

"Darf ich Sie Gisho nennen?", quatscht er plötzlich dazwischen, beendet damit mein übliches Vorstellungsritual und lässt mich dumm aus der Wäsche gucken.

Das zaubert ihm ein Grinsen aufs Gesicht. Offensichtlich hatte er genau das geplant.

Ich, völlig irritiert, antworte erst gar nicht. Gehirn aus, könnte man sagen. Stattdessen starre ich ihn immer noch mit hochgezogenen Augenbrauen an. Man passt sich seinen Patienten halt mit der Zeit an.

"Gut, ich werte das als Ja", grinst er weiter, kramt zwei Zigaretten aus der Schachtel in seiner Hosentasche und reicht mir eine rüber.

"Hier drinnen ist Rauchverbot, dafür haben wir neben den Gesellschaftsräumen extra Räume ", ist das Erste was ich wieder rausbekomme als er sein Feuerzeug betätigt.

Und wieder taxiert er mich, als hätte ich ihm sein Lieblingsspielzeug weggenommen.

"Ich stell mich doch nicht mit hirnamputierten Schwachmaten in einen Raum!?", teilt er mir dann vorwurfsvoll mit, als wäre das das Furchtbarste auf der ganzen Welt und lässt das Feuerzeug wieder sinken. Okay, für ihn ist es das auch. Und für mich auch, wenn ich ehrlich bin. Ich kann es schon iwie nachvollziehen.

"Schö~n....wenn es sein muss...", seufze ich langgezogen und lasse ihm seinen Willen.

"Aber wenn Sie Ärger mit der Klinikleitung bekommen, bin ich daran nicht beteiligt, klar?"

Ich weiß das ist inkonsequent, auf der anderen Seite habe ich jetzt erreicht, dass er mich anstrahlt wie ein Gummibärchen und mir ein "Sie sind wundervoll, Gisho~" entgegenzwitschert

Hach ja, Balsam für die Seele. Auch wenn ich immer noch nicht kapiere was das mit dem Spitznamen soll.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagt er plötzlich: "Tut mir Leid, aber ich kann mir lange Namen immer so schwer merken. Ich hoffe das ist nicht allzu schlimm."

Ist es natürlich nicht.

Bei manchen Kollegen will sich mir auch partout der Name nicht einprägen. Ich lasse ihm also schon zum zweiten Mal seinen Willen und zünde mir endlich die Zigarette an.

"Dann haben Sie ja bestimmt auch zufällig einen Aschenbecher hier, nicht?"

"Ja klar, was denken Sie denn", grinst er und zückt einen dieser Miniklappascher, die einem für wenig Geld fast hinterhergeworfen werden.

"Fangen wir mit etwas Einfachen an, ok? Dann entspannen Sie sich etwas~"

Ich sehe ihn nach einer Zustimmung suchend an, ernte aber nur ein überraschtes Blinzeln und ein kurzes Abwinken.

"Wie Sie wollen", sagt er und lächelt mich charmant an.

Kurz frage ich mich mit was für einer Art Patient ich es hier zu tun habe. Auf den ersten Blick wirkt er nicht sonderlich verstört.

Gut, er ist für meinen Geschmack etwas zu teuer gekleidet, aber das sagt ja nichts aus.

Auch reiche Leute haben Probleme. Meistens zeigen sie sich sogar früher als bei der normal verdienenden Bevölkerung.

Ich nicke.

"Gut, wo kommen Sie her? Wie sind Sie aufgewachsen?"

Er lächelt noch immer, lehnt sich nun aber zurück, scheint kurz etwas irritiert zu sein, dass sein Stuhl keine so wunderbar gepolsterte Rückenlehne besitzt wie mein Stuhl sie hat, und schließt die Augen.

Eine Weile passiert gar nichts. Ich betrachte sein Gesicht und muss mir eingestehen, dass er wirklich verdammt hübsch ist.

"Es war ein sehr kalter Dezembertag...", beginnt er dann doch schließlich sodass ich von meinen Beobachtungen aufschrecke.

"...der 16. Dezember, um genau zu sein. Meine Mutter und mein Vater lebten in einem etwas windschiefen Häuschen am Meer. Direkt auf einer Klippe. Als ich zur Welt kam, tobte draußen ein furchtbarer Schneesturm, das Wasser am Strand war mit einer dünnen Eisschicht überzogen und der Wind ruckelte am Fenster, dass meine Mutter Angst bekam er würde es vielleicht eindrücken..."

Die dunklen Augen meines Patienten fixieren mittlerweile den Ventilator an der Decke. So wie es sich anhörte hatte er sich schon vorher die Worte zusammengesucht. Sonst würde er sicher nicht so reden, als wäre er einem Märchenbuch entsprungen.

"Wissen Sie, meine Eltern waren nie sonderlich reich gewesen. Bis zu meinem 6 Lebensjahr wohnten wir in dem Haus auf der Klippe. Erst als ich eingeschult wurde, gaben sie ihren Traum vom Haus am Meer auf und zogen mit mir in das nahe gelegene Dorf. Der Strand lag 4 Kilometer entfernt. Wenn ich Zeit hatte war ich oft unten am Strand, habe Muscheln gesammelt, Möwen und andere Wasservögel beobachtet, gebadet...und was man halt noch so tut als kleiner Junge."

Nun besieht er sich seine Fingernägel und schweigt wieder.

Ich lasse ihm eine kurze Zeit um sich wieder zu sammeln, bis mir der Geduldsfaden reißt.

"Hatten Sie keine Freunde? In der Schule vielleicht?" frage ich nach.

Das jedoch bringt mir einen strafenden Blick ein und einen erhobenen Zeigefinger.

"Unterbrechen Sie mich doch nicht einfach! Wie unhöflich..."

...

Jetzt ist es an mir zu starren. Ich könnte Herrn Niimura glatt Konkurrenz machen.

Das scheint ihn jedoch nicht ansatzweise aus dem Konzept zu bringen, weswegen er einfach weiter seine Fingernägel betrachtet und vor sich hingrinst.

"Jedenfalls", spricht er dann weiter und überprüft durch einen kurzen Blick zu mir ob er meine Aufmerksamkeit hat. "Meine Grundschulzeit war furchtbar, grauenhaft...es gibt wahrscheinlich gar kein Wort, dass diese Verschwendung an Zeit angemessen beschreiben könnte."

Er spielt mit seiner Stimme. Die ganze Zeit schon. Er erzählt eine Geschichte aber ist trotzdem mit einer solchen Ernsthaftigkeit dabei, dass man ihm einfach glauben muss.

Was mich als Psychologen allerdings stutzig werden lässt ob er mir überhaupt die Wahrheit erzählt. Meiner Meinung nach erzählt er zu durchdacht. Er stockt nicht, und wenn dann nur wenn er damit eine bestimmte Wirkung erzielen kann.

Vorerst jedoch sage ich gar nichts mehr. Ich will ihn schließlich nicht nochmal unterbrechen. Manchmal muss man den Leuten einfach ihren Willen lassen. Das stimmt sie dann gnädiger.

"Sie wollten immer diese Spiele mit mir spielen, Sie wissen schon..."Das Kind im Käfig" und "Herr Tanaka steht heute nicht mehr auf" und solches Zeug. Völliger Schwachsinn, wenn Sie mich fragen. Ich kann mich noch ganz genau ihre erstaunten Gesichter erinnern, als ich gebeichtet hab, dass ich die Regeln nicht kannte."

Er zwirbelt ganz gedankenversunken seine langen Strähnen. Eingebildeter Schnösel, schießt es mir durch den Kopf. Anmerken lasse ich mir aber nichts.

"Naja..und dann wollten sie nichts mehr mit mir zu tun haben. War aber nicht schlimm. Ich mochte sie eh nicht. Und ich mochte auch die neue Wohnung nicht. Da war kein Meer vor der Tür, ganz selten salziger Wind oder kreischende Möwen. Stattdessen Abgase, Kindergeplärre und Getuschel, sobald man die Tür aufgemacht hat. Das Einzige was öfter mal kam, waren Stürme oder Unwetter, bei denen ich dachte uns fliegen die Ziegel vom Dach."

Er sieht auf und zu mir hinüber.

"Ist es das was Sie hören wollen?", fragt er dann mit unverkennbarer Neugier und grinst mich erneut so frech an.

Eine typische Frage.

"Alles was Sie mir erzählen kann wichtig sein", erwidere ich nur und sehe sofort in seinem Blick, dass er mit dieser Antwort nicht zufrieden ist.

"Sie wollten sich augenscheinlich umbr.." will ich weitersprechen, aber er unterbricht mich sofort.

"Ich wollte mich nicht umbringen, verstanden?!", ruft er sofort zornig und verschränkt die Arme vor dem Körper. Und schwupps! 20 Minuten umsonst. Mein Fehler.

In seiner ganzen Haltung erinnert er mich verdammt an ein bockiges Kind. Und ganz Unrecht habe ich damit auch meistens nicht im Bezug auf meine Patienten.

"Was haben Sie dann auf dem Dach dort gemacht?"

Er rümpft die Nase.

"Frische Luft geschnappt", ist seine schnelle trotzige Antwort.

Höchste Zeit aufzuhören.

Jede weitere Frage würde ihn mehr vor mir verschließen.

"Gut, wie auch immer. Ich schätze wir hören für heute auf. Ich sehe Sie am..."

Ich durchblättere meinen Terminkalender.

"Dienstag", wirft er ein und steht auf.

"Ja, am Dienstag. Ruhen Sie sich aus bis dahin."

Ein erneutes Nasenrümpfen ist seine Antwort.

"Wären Sie nicht so spießig, würde ich Ihnen das fast abkaufen."

Und damit setzt er sich an seinen Laptop, überschlägt seine langen Beine und ignoriert mich.

Nach einer Weile drehe ich mich zum Fenster und spähe durch die halboffenen Schalousien hindurch.

Die Sonne geht gerade unter und hinterlässt einen gold-orangen Schimmer am Himmel. Ich schätze es so auf 18:30 Uhr. Feierabend. Früher als geplant.

Naja, wenn man mit Menschen zu tun hat läuft öfter etwas nicht ganz nach Plan.

Und er ist bestimmt nicht der erste Fall, bei dem ich schon am Anfang das Gefühl habe nicht bis zu ihm hindurch zu dringen. Später hatte sich es sich bei seinen Vorgänger immer als falscher Verdacht herausgestellt. Nach 6 - 10 Stunden konnte ich in ihnen lesen wie in einem Buch. Man durfte nur nicht zu früh die Flinte ins Korn werfen.

Eine halbe Stunde später verabschiedete ich mich bei der Sprechstundenhilfe, ließ mir ein paar Akten für die morgigen Sitzungen geben und verließ die Praxis mit schnellen Schritten.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Mado-chan
2011-04-07T20:34:35+00:00 07.04.2011 22:34
schreib weiter!!! *___*
es ist toll!!!
mehr fällt mir nicht ein xD



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