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Around the Sun

[Jahreskalender 2011]
von

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MÄRZ - Tempest: Dreams and duties

Informationen:

Thema: März

Autor: Arianrhod-

Fandom: InuYasha

Genre: AU

Wortzahl: ~ 9.4oo Worte
 

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Tempest: Dreams and duties


 

Der Schnee knirschte beinahe kaum bemerkbar unter Kaguras Füßen und der Wind kam ihnen kalt und beißend entgegen. Ihre Finger waren klamm, denn sie hatte die dicken Wollhandschuhe abgelegt zu Gunsten eines besseren Gefühls für den Pfeil. Der dreifingerige Bogenhandschuh nutzte gegen diese Temperaturen allerdings nichts.

Sie rutschte noch zwei weitere Schritte den leichten mit schneebedeckten Abhang hinab, darauf achtend, weder eine kleine Lawine loszutreten noch zu viel Lärm zu machen. Unten im Tal weidete eine Gruppe von Berghirschen; dort war der Schnee schon mehr geschmolzen und Pflanzen streckten vorwitzig ihre Spitzen aus der löchrigen, weißen Decke.

Es war noch früh im Jahr, erst Lenzmond, den die Drayar März nannten, und eigentlich war Kagura es gewohnt, dass der Schnee sich bis zum nächsten Monat hielt. Vielleicht würde es noch einmal schneien, das wäre nicht ungewöhnlich.

Aber bis dahin hatten Bankotsu und sie beschlossen, die Zeit zu nutzen und auf die Jagd zu gehen, die eigentlich nichts anderes war als ein wilder Ritt durch das Himmelwindgebirge, bis sie auf diese Gruppe unvorsichtiger Berghirsche gestoßen waren.

Natürlich hatten sie auch im Winter gejagt, aber das war südlich der Burg gewesen und eher aus Mangel denn aus Spaß. Im Winter wurde das Essen immer knapp und jede Beute war willkommen – sie wollten schließlich nicht die ganze Zeit von Pökel- und Trockenfleisch leben.

Und ihr Vater hatte ihr sowieso meistens verboten mitzugehen. Bankotsu, der Hund, hatte allen Spaß allein gehabt.

Vorsichtig schlug Kagura ihren weißgefärbten Wollumhang über ihren Rücken, so dass er ihr nicht in die Quere kam und sie die Arme frei für den Schuss hatte. Sie warf einen kurzen Blick zu ihrem Jagdgefährten und Kindheitsfreund hinüber.

Bankotsu hatte die gleichen Vorbereitungen getroffen und nahm grad eines seiner Geschosse aus dem Bogenköcher, um es auf die Sehne zu legen. Sie folgte seinem Beispiel und löste ebenfalls vorsichtig einen der sechs langen Pfeile aus der Halterung, die direkt am Bogen befestigt war.

Sie beide waren eingespielte Partner und eine Jagd lief bei ihnen in Einklang ab, sie griffen ineinander wie Zahnräder. Der Wolfsknabe, den man den Alten nannte und der sie ausbildete, hatte schon früh ihre Harmonie erkannt und sie aus allen Welpen fast immer ausgesucht und gemeinsam arbeiten lassen. Inzwischen konnten sie beinahe spüren, was der andere tat.

Kagura schob einen ihrer Füße ein Stück weiter nach vorn, damit sie einen besseren Stand hatte, und setzte den Pfeil auf die Sehne. Sie spannte den geschmeidigen Bogen und blickte erneut kurz zu Bankotsu. Der erwiderte ihren Blick, Zuversicht und Selbstsicherheit in den Augen, dann wandten sie sich beide gleichzeitig wieder nach vorn.

Sie zielte, ließ den Pfeil los und die Sehne sang. Rechts von ihr ertönte ein ähnliches Geräusch und nur wenige Augenblicke später schlugen die Pfeile in ihre Ziele ein. Der eine Hirsch sprang erschrocken in die Höhe und brach dann zusammen, der andere stürmte mit dem Rest der Herde davon, stolperte aber schon nach wenigen Schritten und fiel vornüber.

„Verdammt!“, zischte Bankotsu von der Seite, während Kagura mit einem Jubelschrei aufsprang und begann, den Abhang hinunterzurennen. Ihr Begleiter, der schon jetzt längere Beine hatte als sie, stürmte schon nach wenigen Schritten an ihr vorbei.

Er erreichte seinen weiter entfernt liegenden Hirsch schneller als sie und zog rasch das Sansaki, das Jagdmesser der Wolfskinder. Das Tier lebte noch, das konnte Kagura selbst von ihrer Warte aus sehen, als sie sich neben ihrer eigenen gänzlich toten Beute in den Schnee sinken ließ. Bankotsu würde es schnell töten und ihm weitere Qualen ersparen.

Vorsichtig fuhr sie durch das weiche Winterfell des Tieres und legte ihm die Hand auf den Hals, ehe sie leise das Dankesgebet sprach, das das erste war, was sie in ihrer Ausbildung gelernt hatte. Von der Seite hörte sie Bankotsus Echo, als er die gleiche Geste vollführte.

Doch kaum war das letzte Wort über ihre Lippen gekommen, sprang sie schon auf und löste vorsichtig den Pfeil aus dem toten Tier. Immer wieder hatte man ihnen eingeschärft, auf die Geschosse acht zu geben, denn sie waren teuer und je vertrauter man mit ihnen war, desto besser flogen sie. Sie reinigte die Spitze und den blutigen Schaft im Schnee und schob ihn wieder an seinen Platz im Köcher zurück.

„Weißt du“, begann Bankotsu plötzlich, als sie die Kadaver den Hügel hochschleppten. Ihre Beute war schwerer als gedacht, vor allem für zwei dürre, dreizehnjährige Kinder. Doch starrköpfig und störrisch wie sie waren, würden sie eher hier festfrieren als loslassen. „Der Alte hat gesagt, dass er mich diesen Vollmond auf das Mondhorn schickt.“

Der Alte, das war ihr Lehrer. Er hatte auch einen richtigen Namen, aber den hatte Kagura längst vergessen, da ihn jeder nur den Alten nannte. Und das Mondhorn, das war der heiligste Berg der Wolfskinder – Tsukihanas sakrale Stätte, der Ort, an dem sie stets die Erde betrat, wenn sie von ihrem göttlichen Himmel herunterstieg.

Jeder Welpe würde früher oder später auf diesen Berg steigen, die Prüfung ablegen – gewinnen oder sterben, andere Möglichkeiten gab es nicht – und als geweihtes Wolfskind wieder herabkommen.

Das war es also gewesen. Das war also der Grund, warum der normalerweise laute und freche Junge in der letzten Zeit so nachdenklich gewesen war. Kagura schluckte hart und nickte nur. Wenn der Alte ihn gefragt hatte, warum dann nicht auch sie?!

Sie und Bankotsu waren immer zusammen, sie machten alles zusammen und sie waren gleich gut. Sie waren beide Welpen, Novizen der Wolfskinder, der Besten Jäger der Cih-Anu. Und jetzt schien es so, als würde Kagura allein zurückbleiben, während Bankotsu auf den Berg stieg, gegen einen Himmelswolf kämpfte und als Wolfsknabe zurückkehrte.

Dann würde er kein Welpe mehr sein. Heftig blinzelnd beugte sie sich tiefer über den Kadaver und weigerte sich, Tränen fließen zu lassen.

„Ich … ich…“, fuhr Bankotsu fort und suchte nach den richtigen Worten. Damit war er jedoch noch nie gut gewesen. Als ihm keine einfielen, klappte er den Mund vernehmbar wieder zu und überlegte. Sie konnte es hören und außerdem war er nie gut mit Worten gewesen.

Sie schluckte noch einmal. „Du wirst das ganz toll machen.“, sagte sie, aber ihre Stimme zitterte.

Bankotsu lachte verlegen und rieb sich den Hinterkopf. „Ja, denkst du? Ich weiß nicht, ich habe…“ Er verstummte und blickte sich um. „Ich … Kannst du ein Geheimnis für dich behalten?“

Kagura fuhr sofort auf und stellte sich kerzengerade hin. „Für wen hältst du mich?!“, protestierte sie. „Natürlich! Was ist los?“

Er blickte zur Seite, ein leichter Rotschimmer auf den Wangen. Dann hob er die Schultern und zerrte seinen Hirsch weiter. Kagura stieß enttäuscht die Luft aus und folgte seinem Beispiel.

Ihre Reittiere, robuste, genügsame Bergponys, hatten sie unter einer Gruppe von Tannen zurückgelassen, wo sie noch immer warteten. In der selbstverständlichen Gewissheit von reicher Beute, wie sie nur Kindern zu eigen ist, hatten sie ein kräftiges Packtier mitgenommen. Jetzt konnten sie froh darüber sein, auch wenn der Wächter am Burgtor sich deswegen königlich über sie amüsiert hatte.

Gemeinsam wuchteten sie die Kadaver auf den Rücken des geduldigen Ponys. „Weißt du“, begann Bankotsu erneut. „Ich … habe Angst.“

Ihr wäre beinahe das Hirschbein aus den Händen gerutscht und sie starrte ihn an. „Wie? Was?“ Sie wusste natürlich, wovon er sprach.

Sie hatten sich beide schon oft miteinander laut ausgemalt, was sie tun würden, wenn sie auf das Mondhorn geschickt werden würden. Sie würden den Himmelswolf tapfer herausfordern und ihn besiegen. Sie würden als echte, richtige, geweihte Wolfskinder zurückkommen, mit einem prächtigen Fell um die Schultern, und den heiligen Zeichen auf Rücken und Brust.

Von Angst war da nie die Rede gewesen.

Aber Bankotsu wirkte so ernst, so … sicher, dass sie nichts sagte, sondern ihn nur anblickte. „Ich höre die Himmelswölfe rufen, nachts, wenn ich schlafe. Und …“ Er verstummte.

Sie setzte eine entschlossene Miene auf und versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. „Du wirst das schaffen, Bankotsu. Die Göttin hat uns bereits ausgewählt, als wir Welpen wurden. Und so ein Test ist eine Kleinigkeit für uns!“ Sie stieß ihn an. „Dafür wurden wir geboren!“

Er wirkte einen Moment, als ob er sie anzweifeln wollte, dann trat ein entschlossener Glanz in seine kobaltblauen Augen und er grinste und nickte einmal bestimmt.

Gemeinsam rückten sie den Hirsch zurecht und banden sie an dem Packsattel fest, ehe sie die ihre Reitponys einfingen und aufsaßen. Eine Weile ritten sie still nebeneinander her. Irgendwann erreichten sie den Weg, der zur Burg zurückführte.

„Weißt du“, begann Bankotsu dann zum dritten Mal. „ich bin sicher, dass der Alte dir auch bald sagen wird, dass du dich auf den Anstieg vorbereiten sollst.“, beteuerte er ihr und klang dabei so fest, dass sie ihm beinahe glaubte. „Dann können wir gemeinsam auf die Jagd gehen. Auf eine richtige Jagd, die uns würdig ist. Nicht sowas wie das hier. Tiefer in den Bergen oder gar nicht im Himmelwind oder nach Bergkatzen und so.“

Sie zwang sich, die düsteren Gedanken wegzuschieben. Bankotsu hatte recht, oder nicht? Der Alte hatte es nur noch nicht geschafft, sie aufzusuchen. Wie konnte er auch? Im Gegensatz zu den anderen Welpen war sie stets nur für wenige Nächte im Jagdlager, während sie den Rest der Zeit in der Burg ihres Vaters verbrachte.

„Natürlich!“, behauptete sie zuversichtlich. „Dann bringen wir die beste Beute heim.“ Sie trieb ihr Pony schneller an. „Und selbst mein Vater wird stolz auf mich sein!“ Sie lachte und ließ ihr Reittier in Galopp ausbrechen. „Den Letzten beißen die Hunde!“, brüllte sie über ihre Schulter zurück.
 

Fürstin Kikyou von Museni war trotz ihrer nicht mehr jungen Jahre eine schöne Frau. Ihr dichtes, langes Haar war schwarz wie eh und je, ihr Gesicht nahezu frei von Falten und ihr Gang stolz, elegant und anmutig wie der einer Tänzerin. Sie hielt sich wie eine Königin und manchmal benahm sie sich so – gerecht, weise, klug, gebieterisch.

Doch selbst in der Tracht der Ookami war sie noch Inch für Inch eine Priesterin der Cih-Anu. Man redete viel über sie in den Hallen der Burg Wolfshöhe, selbst noch nach so vielen Jahren, seit sie Fürst Naraku geheiratet hatte. Aber es war kein Wunder, war sie doch die Hohepriesterin der Cih-Anu, ihre Königin, ihre Mutter, ihre Anführerin in allem Weltlichen und Spirituellen.

Sie war die Oberste jenes Volkes, das hier in Tisarien so verschrieen und unterdrückt war, bezwungen und beinahe rechtlos, obwohl dessen Angehörigen diejenigen waren, die das Land zuerst bevölkert und beherrscht hatten.

Aber die Cih-Anu waren schon seit Jahrhunderten keine Herrscher mehr – zuerst unterworfen von den Ookami und den Anhiin, schließlich auch von den Drayar. Aber noch immer sprach man nur im Flüsterton von den geheimnisvollen Kräften der Cih-Anu, von den mystischen Mächten, die ihren Priesterinnen zur Verfügung standen, den rätselhaften Zaubern ihrer Schamanen und den dunklen Fähigkeiten der Wolfskinder und Wolfskrieger.

Und Kikyou … Kikyou stand all jene Stärke und Autorität zur Verfügung. Sie war die Hohepriesterin.

Kagura war stolz auf ihre Mutter. Stolz darauf, ihre Tochter sein zu dürfen. Stolz darauf, ihren Pfaden folgen zu können und stolz darauf, Cih-Anu zu sein. Aber manchmal wollte sie einfach schreien und toben und ihrer Mutter ins Gesicht brüllen.

„Nein, Kagura.“ Kikyous schöne Stimme war fest und hart. „Ich kann nicht zu deinem Lehrer gehen und ihm befehlen, dich auf den Berg zu schicken.“

„Aber warum nicht? Bist du nicht die Hohepriesterin?“

Die ältere Frau stemmte die Fäuste in die Hüften. „Kagura, der Alte entscheidet, wann du zur Prüfung zugelassen wirst. Wenn ich ihn einfach übergehen würde, wäre ich keine gute Priesterin. Außerdem kann ich in solchen Sachen niemanden vorziehen, nur weil er zufällig mit mir verwandt ist!“

Damit drehte sie sich um und ging zum Fenster der Kemenate. Diese nahm einigen Platz im Palais ein und von den hinteren Fenstern hatte man einen wunderbaren Ausblick über die Himmelwindberge.

Burg Wolfshöhe lag am äußersten Rand der Wolfsfänge, eines kantigen, steilen Gebirgskammes und es gab viele Mythen und Legenden, wie sie dorthin gekommen war. Es schien unmöglich für Menschen, diese Spornburg zu erbauen, die direkt aus dem steilen Abhang hinauszuwachsen schien, ja, die teilweise von den enormen steinernen Pfählen getragen wurde, die aus dem mächtigen Talkessel darunter herausragten.

Die Wolfshöhe selbst war nach oben gebaut, mit mächtigen, steilen Mauern und fünf hohen Türmen, die sich gen Himmel reckten Der Palais befand sich am hintersten Ende des mächtigen Baus. Er verband zwei der Pfeiler miteinander und dahinter – und teilweise auch darunter – ging es tief hinab.

Aber Kagura interessierte sich nicht für den grandiosen Ausblick über das Gebirge, sondern stampfte wütend mit den Füßen auf. Kikyou wandte sich wieder ihrer Tochter zu und ihr Gesichtsausdruck hatte sich von streng in liebevoll verändert. „Hör zu, Kagura. Ganz die Wahl deines Lehrers ist es auch nicht.“ Sie ließ sich auf eine der Steinbänke sinken, die sich in der Fensternische befanden. „Setz dich zu mir.“

Das freundliche Lächeln, das ihre Mutter ihr schenkte, ließ all ihren Zorn verrauchen und sie kletterte neben ihr auf die Bank.

„Der Alte hat längst mit mir gesprochen. Wäre es wirklich nach seinem Willen gegangen, würdest du dieses Jahr mit Bankotsu einen Himmelswolf treffen.“

„Aber…!“, fuhr Kagura wieder auf und verstummte, als Kikyou eine Hand hob. „Denk daran, wer dein Vater ist. Glaubst du, er würde zulassen, dass seine Tochter eine Wolfsmaid wird? Schlimm genug, dass Byakuya ihm das Versprechen abgeschwatzt hat, Schamane werden zu dürfen – aber das wird er gnadenlos nutzen, wenn es ihm gelegen kommt.“

Kagura schob eine Unterlippe vor und schmollte. „Wenn Byakuya Schamane werden kann, was spricht dagegen, dass ich auf den Berg steige?“, jammerte sie.

„Byakuya ist einer seiner vier Söhne und sein magisches Talent ist zu stark, um es verwildern zu lassen. Und außerdem, du, Kagura, bist ein Mädchen.“

„Na und?! Alle Wolfsmaiden sind Mädchen!“ Kagura war sich klar, dass diese Bemerkung total überflüssig und lächerlich war. Aber sie wollte einfach etwas sagen, irgendetwas!

„Aber bei dir ist es anders – du bist nicht irgendein Mädchen. Du bist die Tochter von Naraku, dem Fürsten von Museni, dem Südlichen Fürsten. Du bist nicht nur Cih-Anu, du bist auch Ookami. Und dein Vater wird entscheiden, was mit dir geschehen wird. Und ich bin sicher, er hat schon etwas im Sinn für dich, was weder dir noch mir gefallen wird. Aber im Moment können wir nichts dagegen tun, auch nicht, dich einfach auf den Berg steigen lassen.“

Kagura gab einen Laut des Protestes von sich. War Kikyou nicht eine mächtige Frau, eine Königin, die Hohepriesterin der Cih-Anu?!

Aber natürlich, selbst sie war nur eine Frau in einer Männerwelt, denn die Ookami waren nicht die Cih-Anu. Was konnte sie schon tun?

„Und du? Bist du nicht die Hohepriesterin? Mutter…“

Kikyou seufzte und strich ihr eine vorwitzige Strähne aus der Stirn. „Ich werde mit deinem Vater sprechen, aber erwarte nicht zu viel. Es ist unwahrscheinlich, dass er sich so einfach von seinen Plänen abbringen wird und er will keine Tochter, die im Namen von Cih-Anugöttern geweiht ist. Und vielleicht … halten genau diese Götter auch etwas anderes für dich bereit. Kagura, du wirst deine Bestimmung finden und den Pfad beschreiten, den dein Schicksal für dich bereit hält.“

Das Mädchen wusste, dass diese Worte tröstend sein sollten, aber im Moment waren sie nicht beruhigend für sie. Sie zog die Knie an und umschlang ihre Beine mit den Armen. „Ich will aber Wolfsmaid werden.“, flüsterte sie und blickte mit weit aufgerissenen Augen zu ihrer Mutter hoch.

Die lächelte wehmütig und strich ihr durch das jettschwarze Haar. „Ja, ich weiß. Ich wünschte, ich könnte dich beim nächsten Vollmond einfach ziehen lassen. Aber leider ist das Leben selten einfach.“

Das Mädchen verzog den Mund und presste ihr Gesicht gegen ihre Beine. „Das ist nicht gerecht.“

„Und das Leben ist auch selten gerecht.“ Die Priesterin legte trösten einen Arm um ihre Tochter und zog sie an sich.
 

Der Sturm heulte um die Burg und rüttelte lautstark an den zugezogenen Fensterläden. Durch die kleinsten, offenen Ritzen drang er herein und brachte Kälte und an manchen Stellen sogar Schnee mit. Man hatte die Wolfshöhe aufs beste verrammelt und nirgendwo drang Licht nach draußen, nicht mal aus dem Wächterhäuschen an der hochgezogenen Zugbrücke. Die Burg war blind und taub, aber auch besser verbarrikadiert als zu allen anderen Zeiten.

Der Wind trieb den Schnee kreuz und quer über den Burghof, warf Dachlawinen los und blies jeden Wagemutigen von den Zinnen. Die Tiere in den Ställen waren überreizt und schwer ruhig zu halten. Die Menschen hatten sich in den großen Gemeinschaftshallen zusammengefunden, erzählten sich Geschichten und sangen Lieder, um sich zu beruhigen.

Zu Zeiten wie diesen war Kagura froh, dass sie die Tochter des Fürsten war und darum Anspruch auf einen Platz in der warmen Kemenate hatte. Auch wenn das bedeutete, dass sie sich lästiger Handarbeit widmen musste.

Böse starrte sie auf das feine Tuch hinab, das sie eigentlich mit feinen Blümchen besticken sollte. Was bei Tsukihana sollte sie damit?! Das brachte doch niemandem etwas und ihr selbst am allerwenigsten!

Lieber würde sie jetzt die halbfertigen Pfeile befiedern, die sie in dem langen Kasten neben ihrem Bett untergebracht hatte. Sie war schon ganz aufgeregt, sie zu benutzen – es waren die ersten, die sie ohne Aufsicht und ganz alleine fertigte. Bis jetzt war immer der Alte dabei gewesen oder der Waffenmeister ihres Vaters. Aber diese… Sie hatte nur ihrer Mutter und Bankotsu davon erzählt, aber sie hatte nicht zugelassen, dass jemand ihr dabei half.

Erst war sie ewig durch den Wald gewandert und hatte geeignete Äste gesucht. Dann Federn gesammelt, beziehungsweise ihre bereits existierende Sammlung, die über die Jahre zusammengekommen war, beraubt. Und schließlich hatte sie sich an die Arbeit gemacht, Stück für Stück und Holzspan für Holzspan.

Die Aufgabe war nur langsam vorangeschritten, aber stetig und jede einzelne Stunde hatte sie glücklich gemacht. Das war allein ihre Arbeit. Ihre. Selbst die Spitzen hatte sie größtenteils selbst gefertigt, aus Knochen und Horn. Nur die sechs metallenen hatte sie sich beim Schmied erbettelt.

Die Zeit während dem Sturm könnte sie doch viel produktiver nutzen, wenn sie jetzt ihre Pfeile nehmen könnte, die scharfen Messer, den Leim und die schönen Federn… Sie seufzte.

„Kagura.“ Die Stimme, die so plötzlich hinter ihr ertönte, ließ sie so heftig zusammenzucken, dass sie ihre Stickerei mitsamt dem Stickrahmen auf den Boden schleuderte. „Was habe ich dir gesagt, Kagura?“

Das Mädchen drehte sich zu der matronenhaften Frau um, die sich mit in die Hüften gestützten Fäusten hinter ihr aufgebaut hatte. Sie hatte dunkles, grau durchschossenes Haar, ein breites, (normalerweise) freundliches Gesicht und Muskeln wie ein Schmied, auch wenn man ihr letzteres nicht ansah.

Ihr Name war Vokima und sie war die Amme von Kikyous Kindern, trotz der Tatsache, dass sie eine Ookami war. Mit Kagura hatte sie immer besondere Probleme gehabt, denn das Mädchen und sie teilten die Ansichten über die Rechte, Pflichten und Erziehung einer adligen Tochter nicht.

„Aber ich könnte etwas viel interessanteres tun.“, jammerte das Mädchen und warf einen flehenden Blick zu ihrer Mutter hinüber.

Kikyou saß neben dem Feuer auf einem niedrigen Stuhl und las. Oder sie hatte gelesen und momentan beobachtete sie die beginnende Auseinandersetzung zwischen ihrer Tochter und deren Amme mit einem amüsierten Blick. Sie schüttelte den Kopf, als erstere sie anblickte und diese wusste, dass sie das allein durchstehen musste.

Denn von den anderen Anwesenden – ihrer kleinen Schwester Kanna, den Hofdamen und deren Töchtern – hatte Kagura ebenfalls keine Hilfe zu erwarten. „Bitte, kann ich nicht…“ Sie schielte zur Tür. Von da wären es nur noch ein paar Schritte bis zu ihrem Zimmer und ihren…

„Nein.“, beendete Vokima ihre Träumereien. „Wie willst du jemals einen anständigen Mann bekommen, wenn du ständig wie eine Wilde durch den Wald rennst, anstatt dich den Dingen zu widmen, die du wirklich brauchst?“

Kagura warf einen angewiderten Blick auf die Stickerei, die noch immer am Boden lag. „Wofür sollte man das brauchen?“, wollte sie dann ehrlich interessiert wissen.

Für einen Moment fehlten selbst Vokima die Worte, dann straffte sie wieder die Schultern und erklärte: „Das sind die privilegierten Aufgaben einer hohen Tochter. Du verzierst damit deine hübschen Kleider und…“

„Ich brauche keine hübschen Kleider.“, schmollte das Mädchen und überkreuzte die Arme vor der Brust. „Die gehen auf der Jagd nur kaputt.“

Daraufhin schnalzte Vokima ungehalten mit der Zunge. Die beiden hatten die Diskussion darüber, was sich für sie gehörte und was nicht, schon so oft geführt, dass sie nicht mehr zu tun brauchte.

Kagura starrte mit trotzigen Augen zurück. Sie hatte heute einfach keine Lust, nachzugeben. Sie wollte das nicht machen. Sie wollte in ihre Kammer und sich ihren Pfeilen widmen. Dies war der perfekte Tag für eine solche Arbeit, selbst wenn Bankotsu nicht da sein würde.

„Also schön.“ Anscheinend war die Amme heute positiv gestimmt. Oder sie hatte einfach gemerkt, dass sie heute auf Granit beißen würde. „Heb das auf – wir machen etwas anderes. Kanna, Liebes, warum kommst du nicht zu uns?“

Damit rauschte sie in den Nebenraum, der ihre Kammer darstellte. Kagura fragte sich, welch nutzlose Tätigkeit ihr nun aufgedrängt wurde. Aber zumindest die erste Schlacht hatte sie gewonnen. Sie beschloss, großzügig zu sein und ob die Stickerei auf um sie zur Seite zu legen.

Kanna folgte ihrem Beispiel und schob ihren Hocker zu dem ihrer Schwester. Das Mädchen war ein paar Jahre jünger als Kagura, still und blass, deutliche Hinweise auf die chronische Krankheit, die sie plagte. Trotzdem war sie mit allem, was Handarbeiten und höfischer Etikette betraf, ihrer großen, wilden Schwester weit voraus.

Vokima kam mit einem kunstvoll geschnitzten Kästchen zurück, das die Größe der musenischen Finanzbücher hatte – dicke Wälzer, die Kagura kaum tragen konnte. Die hölzerne Box musste viel leichter sein. Vokima stellte sie auf einem kleinen Tisch ab, öffnete sie geheimnisvoll und holte etwas heraus.

Es war eine kleine Schleife. Sie war aus einem roten und einem weißen Faden gedreht und ein kleiner, hölzerner Anhänger in Form eines glückbringenden Kleeblattes hing daran. Kagura kannte solche Schleifen – Ookamifrauen verschenkten sie an ihre männlichen Verwandten und Freunde, jeden Lenzmond, nachdem sie sie im selben Monat handgefertigt hatten.

Damit wollte man sich das Glück des Frühlings sichern, das Leben und die fröhliche Zeit, die man vor sich hatte. Man nannte sie Märzchen. Geweiht waren sie einem der ookamischen Götter. Ohne Weihung, so lautete der Brauch, waren sie wirkungslos oder brachten sogar Pech.

„Wie ihr wisst, ist dies genau der richtige Monat für Märzchen. Wie wäre es, wenn ihrer eurem Vater und euren Brüdern je eines davon machen würdet?“ Vokima lächelte liebenswürdig und griff in den Handarbeitskorb, der unter dem Tisch stand, um zwei Handspindeln herauszuholen und sie je einem der Mädchen in die Hand zu drücken. Dann schichtete sie rot und weiß gefärbte Wolle in zwei Haufen auf dem Boden auf. „Wir fangen ganz am Anfang an.“

Kagura hätte die Spinnwirtel am liebsten quer durch den Raum geschleudert.
 

Die Große Halle war das Herzstück von Burg Wolfshöhe, mehrere Mannslängen hoch und so geräumig, dass man ein kleines Turnier in ihr veranstalten konnte. Sie war von Anfang an darauf ausgelegt, dass die gesamte Belegschaft der Burg und eine beträchtliche Menge an Gästen und genügend Tische bequem hineinpassten.

Drei große Herdstellen sowie eine ganze Reihe von enormen Kohleschüsseln waren strategisch im Raum verteilt. Stattliche, kunstvoll mit Figuren aus dem ookamischen Legendenschatz verzierte Säulen stützten die Decke und die Wände waren bedeckt von dicken, meisterhaft gefertigten Wandgobelinen, der Boden dagegen mit Stroh.

Die Halle befand sich direkt unter der Kemenate und wie diese im hintersten Part des Palais. Riesige Bogenfenster öffneten sich zu einem überwältigenden Anblick über das Himmelswindgebirge. Sie waren aus teurem, dickem Glas, das so durchsichtig war, dass man beinahe glaubte, es wäre gar nicht vorhanden. Zwei bestanden sogar aus dem bunten Bleiglas und stellten Szenen aus bekannten Ookamilegenden dar.

An der Stirnseite des Saales erhob sich ein mit Teppichen bedecktes Podium, auf dem eine einzelne Tafel stand – dort aßen die Fürstenfamilie sowie ihre höchsten Gäste. Alle anderen nahmen größtenteils wahllos an den anderen Möbeln Platz, die meist nicht einmal zur Hälfte besetzt waren.

Naraku war ein hochgewachsener, schöner Mann mit grausamen Augen und noch grausamerem Lächeln. Er saß allein an einem der langen Tische, über den vollgeschrieben Papiere und Listen verteilt waren, außerdem die Finanzbücher des Fürstentums.

Außer ihm war niemand zu sehen und Kagura fragte sich, ob dies wirklich der richtige Zeitpunkt war. Dann blickte sie nach unten auf das Tablett, auf dem sie seinen Lieblingstee transportierte. Wenn sie schon eine so wichtige Frage stellen wollte, dann wenn Naraku freundlich gestimmt war. Manchmal verdarb er allen die Laune, einfach weil er selbst unleidig war. Aber der Tee würde ihn positiver stimmen und der Schuss Alkohol darin locker und im Moment sah es nicht so aus, als ob die Bücher ihm Probleme bereiten würden.

Darum fasste das Mädchen sich ein Herz und setzte ihren Weg fort. „Vater…?“, begann sie und er blickte auf. „Ich bringe dir Tee.“, erklärte sie und stellte das Tablett vorsichtig auf einer der Flächen ab, die nicht von Papieren bedeckt waren.

Naraku zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts, als sie das Gedeck vorbereitete und ihm einen Becher einschenkte. Schweigend reichte sie ihm das Gefäß und sah zu, wie er daran nippte und genüsslich einige Schlucke nahm. Sie verschränkte die Hände hinter dem Rücken und wartete. Sollte sie ihm vielleicht anbieten, noch Gebäck zu bringen?

„Was willst du?“, wollte Naraku dann wissen und Kagura zuckte ertappt zusammen. Ihr Vater verzog die Lippen zu einem dünnen Lächeln und fragte: „Du glaubst doch nicht wirklich, ich würde nicht bemerken, dass du nur aus dem Grund so zuvorkommend bist, weil du etwas haben willst, oder?“

Sie wurde rot und senkte den Blick. Aber dann wallte Trotz in ihr auf. Wenn er schon so fragte und sie sowieso schon so weit gekommen war – wäre er tatsächlich wütend, hätte er sie schon angebrüllt und davon geschickt – beschloss sie, einfach ihre Frage zu stellen: „Ich … ich wollte dich fragen, Vater, ob … ich … du…“ Sie hielt inne. Stottern würde sie nicht weit bringen. „Darf ich auf den Berg steigen?“

„Welchen Berg? Und warum solltest du auf einen Berg steigen, noch dazu zu dieser Jahreszeit?“ Er warf einen bedeutungsvollen Blick aus dem Fenster, wo man den Schnee und den grauen Himmel deutlich sehen konnte. Augenscheinlich hatte er keine Ahnung, wovon sie sprach.

Sie bemühte sich, deswegen nicht aus der Haut zu fahren, sondern erklärte: „Ich … will auf das Mondhorn. Ich will gegen einen Himmelswolf kämpfen. Mutter sagt, dass ich … gut genug bin. Und Bankotsu geht beim nächsten Vollmond auch hinauf und ich...“ Sie verstummte. Wenn sie jetzt sagte ich will auch, dann könnte sie gleich kindisch mit den Füßen aufstampfen und herumschreien. Sie musste sachlich bleiben. Etwas anderes würde er nicht akzeptieren.

Aber anscheinend hatte er jetzt wenigstens begriffen, wurm es überhaupt ging. Für einen Moment blieb es still. Naraku drehte nachdenklich seinen Becher in der Hand und blickte sie an, schweigend. Sie bemühte sich, ihn offen und stolz anzusehen, aber sie spürte selbst, wie sie unter seinen Blicken zusammenschrumpfte.

Schließlich erhob er die Stimme, aber was er sagte, war ganz und gar nicht, was sie sich erhofft hatte – nur befürchtet. „Und wie, sag mir, soll ich eine Tochter standesgemäß verheiraten, wenn sie die Zeichen eines Volkes wie den Cih-Anu trägt, ohne dass die Ehe gleich wieder annulliert werden soll?“, erkundigte er sich scharf, aber noch immer in einem sachlichen Tonfall. „Ganz zu schweigen davon, dass die wenigsten Fürsten eine Frau haben wollen, die besser jagen kann als ihre eigenen Jäger.“

Kagura wurde rot vor Zorn. „Ich will aber nicht irgendeinen Fürsten heiraten!“, ereiferte sie sich. „Und was interessiert mich, ob die sich in ihrem Stolz gekränkt fühlen?! Wenn sie so schlechte Jäger haben, ist das nicht mein Problem!“

Naraku stellte den Becher heftig auf dem Tisch ab, so dass fast der Tee über den Rand schwappte. Aber seine Stimme hob sich im keinen Deut, sie wurde nur noch schärfer, kälter. „Du solltest mehr Respekt lernen, Kagura. Du bist die Tochter eines Fürsten und du solltest langsam anfangen, dich auch wie eine zu verhalten. Und jetzt nicht mehr von diesem unsinnigen Zeug.“

Sie musste sich anhalten, damit sie nicht unwillkürlich einen Schritt zurückwich, sondern straffte die Schultern. Der Zorn in ihr wurde größer. Wie konnte er es wagen, so von dem zu reden, was ihr so wichtig war? Was ihr Erbe war und das Leben ihrer Mutter?! „Das ist kein unsinniges Zeug!“, brüllte sie. „Das ist das, was ich sein will. Ich will nicht die dumme, hirnlose, ständig kichernde Frau eines Drayarfürsten werden! Ich will auf den Berg und ich will Wolfsmaid sein und das tun, wozu ich geboren wurde!“

„Nun, dummerweise geht es nicht immer darum, was du willst.“, antwortete Naraku ungerührt über ihren Ausbruch. „Aber wenn du nicht Rest des März hier in Wolfshöhe verbringen willst, ohne einen Schritt davor zu setzen, dann bedenke, wer du bist. Du solltest dich lieber auf die andere Seite deiner Herkunft besinnen.“

Die Worte brachten sie wieder zur Besinnung, auch wenn ihr Zorn noch nicht verraucht war. Sie wurde nicht gern daran erinnert. Die andere Seite. Das andere Volk. Sein Volk, die Ookami, die wilden Krieger des Nordens. Aber sie war nun mal keine Ookami, sie war durch und durch Cih-Anu, auch wenn sie nur ein Halbblut war. Sie wollte Cih-Anu sein. Warum verstand er das nicht?

„Aber…“, begann sie, um sich zu erklären, es ihm zu erklären. Vielleicht würde er es einsehen? Vielleicht würde er verstehen? Vielleicht, wenn sie nur die richtigen Worte fand…?

Aber ihr Vater schien nichts davon hören zu wollen. Es war ihm ganz egal. Sie war ihm egal. Er wollte sie nur für seine Pläne benutzen, wie ein Bauer in einem Schachspiel. Er hob die Hand und blickte streng auf sie hinunter. „Geh jetzt. Ich will nichts mehr von diesem Thema hören.“

Kagura hatte Probleme zu atmen und es war, als säße ein dicker Kloß in ihrer Kehle. Sie schluckte hart, aber es ändere nichts.

„Worauf wartest du?“ Narakus Ton war endgültig und sie drehte sich um und rannte hinaus. Sie wollte nicht, dass er die Tränen sah, die jetzt ungehindert über ihre Wangen liefen.
 

Der heiße Atem des Ponys bildete kleine Wölkchen und der Boden war noch bedeckt mit Frost. Es knirschte bei jedem Schritt leise unter den Hufen der beiden keinen Pferde, denen die Kälte nichts auszumachen schien.

Ihre beiden Reiter saßen warm eingepackt und mit roten Gesichtern in den Sätteln. Am Anfang hatten Kagura und Bankotsu noch gefroren, aber das hatte sich schnell gelegt, nachdem sie mit den Übungen begonnen hatten.

Sie waren schon sehr früh aus ihren Bettrollen in den kleinen Hütten gekrochen und hatten die Pferde zur Übungsbahn gebracht. Das war eine lange Strecke, an der provisorische Ziele aus Stroh und Holz aufgebaut worden waren.

Der Alte kam oft mit ihnen her, aber im Moment befanden sich die meisten seiner Welpen im Winterlager mit ihren Familien und er selbst besuchte seine Enkel weiter im Süden. Aber Suikotsu, Bankotsus Vater, lebte das gesamte Jahr hier und darum nutzten sie jetzt allein die Übungsziele. Das war ihnen immer ein Vorteil gewesen.

Kagura befand seit einigen Tagen hier und jedes Mal waren sie vor dem Sonnenaufgang aus den Decken gekrochen um im Dunkeln Schießen zu üben. Kikyou hatte sie zu ihrer Schwester geschickt, denn nach dem Naraku ihr den Aufstieg auf das Mondhorn untersagt hatte, war Kaguras Laune tagelang miserabel gewesen.

Kaede, Kikyous einzige lebende Verwandte außer ihren Kindern, lebte in dem kleinen Cih-Anudorf, das schon sich seit vielen Generationen hier befand und nie gewichen war. Die niedrigen, weiß verputzten oder hölzernen Häuser mit den dunklen Dächern und den hölzernen Veranden und Schiebetüren duckten sich in eines der Jijintäler, die sich wie die Klauenspuren einer göttlichen, riesigen Bestie parallel über die Flanken einiger Berge zogen.

Sie waren dicht bewachsen mit Bäumen und allem anderen und liefen in Terrassen für den Winterreis aus. Durch beinahe jedes zog sich ein kleiner Fluss, der auch die Reisfelder wässerte, aber im Moment kaum mehr war als ein Rinnsal. Bald würden sie zu reißenden Wildbächen anschwellen und dann würde man sich auch wieder um den Reis kümmern.

Außer den Cih-Anu kam selten jemand hier in diese abgelegene Gegend, obwohl sie nur einige Rittstunden von Burg Wolfshöhe entfernt lag, und die Bewohner waren froh darum. Den Cih-Anu war es immer am liebsten, wenn man sie allein ließ und sie sich vor der Geringschätzung und Verachtung, dem Spott und Hass der anderen drei Völker Tisariens verstecken konnten.

Hier in dem kleinen Dorf im Jijintal gab es sogar einen Tempel, der dem Gott Jijin geweiht war, dem personifizierten Geist der Gegend. Kikyou sowie ihre Schwester waren hier zu Miko ausgebildet worden, den heiligen Schreinjungfrauen und Priesterinnen, die die neben der gesamten religiösen und spirituellen auch Teile der weltlichen Macht in den Händen hielten und diese meistens so klug verwalteten, wie sie konnten.

Früher war Kikyou die Erste Miko im Jijintal gewesen, dann hatte sie den Fürsten geheiratet und Kaede hatte diese Aufgabe übernommen. Byakuya sowie Kagura wurden hier ausgebildet, Byakuya zum Schamanen, Kagura zur Wolfsmaid – etwas, was ihr anscheinend doch niemals erlaubt werden würde.

Auch die beiden älteren Brüder der Zwillinge, Magatsuhi und Musou, hatten Teile ihrer Kindheit hier verbracht, unter den Fittichen Suikotsus, Kaedes und des Alten, doch sie waren weit weniger tief in ihrem Cih-Anuerbe verwurzelt und hatten sich eher auf ihre Ookamiherkunft besonnen.

Bankotsu, als reinblütiger Cih-Anu, war hier gemeinsam mit seinem älteren Bruder und einer kleinen Horde anderer Kinder aufgewachsen, völlig anders als Kagura, die ihn um diese Kindheit und Möglichkeiten beneidete.

„Hey, träumst du?“ Bankotsus Stimme riss sie aus den Gedanken und sie schreckte auf. „Wa…was?“

Der Junge grinste sie an und machte eine einladende Handbewegung. „Du bist an der Reihe. Los, sonst mach ich’s nochmal!“

Kagura blickte von ihm zu der freien Übungsstrecke – die Ziele, der ausgetretene Weg, die Pfeile, die sie bereits abgeschossen hatten. „Na dann…“, sagte sie und lenkte ihr Pony an den Anfang des Pfades. Sie hatte ihren Köcher am Sattel befestigt und das Dutzend Pfeile, das sie noch darin hatte, klapperten bei jedem Schritt des Tieres aneinander.

Sie zog ein Geschoss heraus und setzte es auf die Sehne, während sie ihr Reittier mit den Knien in Position lenkte. Jetzt war es vorbei mit dem Schießen im Dunkeln, da es längst hell geworden war, doch Zielschießen vom Pferderücken war ebenfalls nicht leicht, darum schlossen sie es direkt an ihr Morgentraining an.

Bald würden sie zu den Hütten zurückkehren und etwas essen. Ihr Magen knurrte bereits… Nach diesem Gedanken schob sie alles Störende davon und konzentrierte sich auf ihre Aufgabe.

Mit einem lauten Ruf trieb sie ihr Pony zu einem raschen Trab an und spannte den Bogen. In rascher Folge schoss sie – Pfeil nehmen und auf die Sehne setzen, Bogen spannen, innerhalb von einem Augenblick zielen, schießen. Dies war pures Instinktschießen, aber geübte Schützen wie sie trafen oft in die Nähe des Ziels.

Manchmal dachte sie, wie erstaunlich dies doch war, doch Kikyou sagte ihr immer wieder eines: „Der Mensch, Kagura, ist ein erstaunliches, vielfältiges, talentiertes Wesen. Unterschätze ihn nie.“ Das hier war wieder mal ein Beweis, wie klug ihre Mutter doch war.

Kagura schoss den letzten Pfeil ab, griff nach den Zügeln und zog das Pony herum. Sie ließ es zu ihrem Freund zurückgaloppieren, fühlte sich glücklich und zufrieden und wünschte sich einfach nur, dass sie hier blieben konnte. Die meisten ihrer Pfeile hatten die schwarze Mitte getroffen – ein hervorragendes Ergebnis für diese Art der Übung.

Bankotsus Vater, Suikotsu, war inzwischen dazugekommen. Er war ein freundlicher, hochgewachsener Mann, der stets Ruhe und Frieden ausstrahlte. Trotz, dass er einer der besten Schützen und Kämpfer im Dorf war, war er ein sanfter, geduldiger Mann, der durch diese Fähigkeiten perfekt für die Aufgabe war, die er für sich gewählt hatte: Heiler. Und als ein solcher hatte er einen weitreichenden Ruf. Kranke aus großer Entfernung kamen ins Jijintal, nur damit er sie behandeln konnte.

„Ich reite nochmal!“, rief Bankotsu und lenkte sein eigenes Pony in Position. Bevor er allerdings losritt, wandte er sich noch einmal um und brüllte: „Danach gehen wir essen, also mach dir keine Hoffnungen!“

Kagura winkte lachend ab und brachte ihr Pony vor dem Heiler zum Stehen. Suikotsu und Kikyou waren gemeinsam aufgewachsen und für Kagura war es nie ein Geheimnis gewesen, dass die beiden geheiratet hätten, wenn es nicht anders hätte kommen müssen. Oft wünschte sich, das wäre so – dann wäre sie jetzt nicht die Tochter von Naraku, sondern Suikotsus, dann müsste sich nicht mit all diesen ärgerlichen Pflichten einer adligen Tochter herumschlagen. Und sie könnte mit Bankotsu, der dann ihr Bruder wäre, auf das Mondhorn steigen.

Kikyou und Suikotsu mussten sich noch immer lieben, dachte Kagura manchmal, weil man es ihnen ansah, wenn sie zusammen waren. Aber es konnte nicht sein.

Noch ehe das Pony wirklich zum Stehen gekommen war, rutschte Kagura aus dem Sattel. Sie behielt die Zügel in der Hand und stellte sich neben Suikotsu, der sie kurz mit einem seltsamen Blick ansah und sich dann seinem Sohn zuwandte, der eben sein Reittier antrieb.

Kagura schielte kurz zu dem Mann hoch, dann starrte sie auf ihre Füße und scharrte mit den Spitzen ihrer Stiefel im Dreck. „Mein Vater will mich nicht auf das Mondhorn lassen. Nicht diesen Vollmond, nicht nächsten, niemals.“, flüsterte sie dann leise. „Ich… ich…“

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. In ihrer Kehle bildete sich ein Kloß und sie schluckte heftig. Sie wollte nicht weinen, aber andererseits wäre es hier auch egal, wenn sie es tat. Es war nur Suikotsu da, der sie niemals verurteilen würde, und Bankotsu, der sowieso nicht lachen würde.

„Ich… wünschte, ich könnte es trotzdem einfach tun.“ Ihre Stimme klang dünn in der morgenlichen Stille.

Bankotsus Pfeile trafen mit je einem leisen Tock! dicht neben ihren eigenen ins Ziel ein, Scheibe für Scheibe. Sein Vater legte tröstend eine Hand auf Kaguras Schulter und drückte diese leicht. „Aber … aber ich …“ Ich habe Angst, was er sagen und tun würde. Sie sprach den Rest des Satzes nicht aus, aber ihr väterlicher Freund verstand sie.

„Es wäre nicht ratsam, das zu tun.“, stimmte er ihr zu.

„Ich wünschte, er würde mich gegen den Himmelswolf kämpfen lassen.“ Sie fühlte, wie der Kloß in ihrem Hals begann, sich aufzulösen. Wie ihre Tränen sich lösten und über ihre Wangen liefen. Sie starrte zu Suikotsu hoch. „Ich wünschte, er würde es einfach akzeptieren, dass ich Cih-Anu bin und nicht Ookami.“

Aus der Ferne drang der Hufschlag von Bankotsus Pony zu ihr, aber es war eher wie ein Echo oder als würde es von weit weg kommen. „Ich wünschte, du…“ …wärest mein Vater.

Den letzten Satz sprach sie ebenfalls nicht aus, aber Suikotsu verstand nicht, was sie sagen wollte oder tat so. Dieses Thema musste für ihn so viel schwerer und schlichtweg unaussprechlich sein…

„Ich kann dir da leider nicht helfen, Kagura-chan.“ Er schwieg für einen Moment, schien nach einer Antwort zu suchen, nach Worten. „Du bist nicht nur Cih-Anu, Kagura-chan. Dein Vater ist ein Ookami, alter Ookamihochadel und … Wirf diesen Teil von dir nicht einfach weg.“

„Da ist kein solcher Teil in mir.“, murmelte sie widerspenstig.

„Oder du hast ihn noch nicht gefunden.“ Suikotsus Stimme klang ermutigend. „Ich weiß, du bist ein gutes Mädchen – du bist stark und tapfer und klug und du hast nicht nur die Schönheit von deiner Mutter geerbt.

Aber ob du es willst oder nicht, Fürst Naraku ist dein Vater und auch er hat dir Blut und Eigenschaften vererbt. Früher oder später wird das hervorkommen. Du folgst den Wegen der Cih-Anu, wie es dein Recht ist, und du bist im Herzen bereits eine Wolfsmaid. Aber da ist etwas in dir, was von etwas anderem kommt und vielleicht auch etwas anderes will. Es hat sich nur noch nicht bemerkbar gemacht. Versuch, es zu finden und zu akzeptieren.“

Kagura starrte den Heiler zweifelnd an. Sie konnte und wollte nicht glauben, dass er recht hatte. Sie wollte weder Ookami sein noch die Tochter ihres Vaters und sie wollte schon gar nicht irgendetwas mit dieser Hälfte ihrer Herkunft zu tun haben.

Sie hatte es doch auch geschafft, oder? Sie war Cih-Anu. Suikotsu erkannte sie sogar jetzt schon als Wolfsmaid an, auch wenn sie noch nicht den Titel trug und es vermutlich auch nie tun würde.

Aber er hatte trotz allem recht, nicht wahr? Konnte sie den anderen Teil ihrer Herkunft einfach verleugnen, ignorieren, so tun, als gäbe es ihn nicht? Und warum würde es sie daran hindern, Wolfsmaid zu werden? Sie schluckte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Warum sollte sie es nicht können? Bis jetzt hatte es doch auch ganz gut geklappt…

Sie blickte auf, gerade als Bankotsu einige Schritte neben ihr aus dem Sattel sprang. Er musste mehr als eine Bahn geritten sein, damit das Mädchen und sein Vater dieses kleine Gespräch führen konnten, und sein Köcher war beinahe leer.
 

Nachdenklich zwirbelte Kagura die rotweiße Schleife zwischen Daumen und Zeigefinger. Bei jeder Drehung schlug das goldene Glückskleeblatt daran leicht gegen ihre Knöchel. Die Schnüre, aus denen die Kordel hergestellt war, waren etwas uneben, aber das fiel kaum auf.

Den Anhänger für das Märzchen hatte Kagura von ihrer Amme erhalten. Sie hatte den Glücksbringer vorhin erst fertig gestellt und Vokima hatte sie daraufhin – endlich! – in die Freiheit entlassen und Kagura war sofort davongelaufen.

Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich wieder ihren Pfeilen zu widmen, die noch immer nicht befiedert waren, doch jetzt saß sie hier am Fenster und starrte nur dieses Ding an. Was sollte sie damit tun?

Die Amme würde erwarten, dass sie es an jemanden verschenkte. Sie würde sicherlich fragen, ob sie es getan hatte. Und aus irgendeinem Grund war es ihr noch nie gelungen, die Frau anzulügen.

Vermutlich würde sie bei einer negativen Antwort auf diese Frage verlangen, dass sie es ihrem Vater schenkte. Aber Kagura wollte Naraku nichts schenken und jetzt schon gar nicht. Oder Magatsuhi, aber der war im Moment im Norden an der Grenze und damit unerreichbar.

Kagura seufzte und blickte nach draußen. Viel war nicht zu sehen – die Fensterbank war ziemlich breit und es war bereits dunkel. Der Himmel war schwarz und vereinzelt zeigten sich silbern leuchtende Sterne.

Die Nacht war klar und kalt und Kagura war froh um das Fenster. Es verhinderte, dass zu viel Kälte in ihr Zimmer drang. Hinter ihr waren drei Kohleschüsseln aufgestellt und die dicken Teppiche, die Boden und Wände bedeckten, hielten die Wärme im Raum. Trotzdem war es kühl und sie fragte sich, ob sie einfach ins Bett kriechen sollte. Die Pfeile wären am nächsten Tag immer noch da…

Aber die unerledigte Angelegenheit mit dem Märzchen hinderte sie daran. Sie wollte eine Lösung, ehe sie schlafen ging. Mit einem Seufzen legte sie den kleinen Glücksbringer auf die Fensterbank und stützte den Kopf in die Hände um zum Mond aufzublicken.

Den Legenden der Cih-Anu nach war er die silberne Kugel Tsukihanas, die mit ihr spielte. Im Kampf verwandelte die Kugel sich in einen starken halbmondförmigen Schild, mit dem die Mondgöttin die feindlichen Waffen abwehren, aber auch zuschlagen konnte, denn die konkave Seite war scharf wie die Klinge eines Schwertes.

Das Mädchen lächelte leicht. Im Moment war der Mond beinahe rund – bald würde Vollmond sein und mit ihm würde Bankotsu auf das Mondhorn steigen. Wieder stieg Neid und Bitterkeit in ihr auf. Sie wollte ihn begleiten.

Statt ihrer würden es zwei andere Welpen sein, die auf Tsukihanas Berg und gegen einen Himmelswolf kämpfen durften. Sollten sie den Kampf überleben – und sich so in den Augen der Göttin als würdig erweisen – würden sie mit den Zeichen auf ihrer Haut, den silbernen Schmuckstücken und dem Wolfsfell zurückkehren, das sie als Wolfskinder ausweisen würde.

Das Fell des Himmelswolfes war etwas besonderes, warm und unvergänglich schützte es gegen manchen Pfeil und Schwertschlag ohne einen Riss davonzutragen. Sie waren legendär und ihre Farben reichten von grau über braun bis schwarz. Nur die weißen Felle – die waren den Priesterinnen Tsukihanas vorbehalten und seit Generationen war ein solcher Pelz nicht mehr gesehen worden. Kagura hatte sich immer gewünscht, das Fell eines Himmelswolfes zu tragen. Dieser Traum schien jetzt in Trümmer gelegt und begraben zu sein.

Kikyou war eine starke, durchsetzungsfähige Frau, aber an der Seite von Naraku gab es auch für sie nur so viel, das sie machen konnte. Für Kaguras Träume reichte es nicht aus.

Aber trotzdem, dachte sie in einem Anfall von Trotz, musste sie nicht Narakus Göttern huldigen. Sie schob die Unterlippe vor und starrte rebellisch auf das Objekt ihres Unmuts. Vokima hatte ihr gesagt, dass sie den kleinen Glücksbringer noch segnen müsse, sonst würde er Unglück bringen – entweder ihr oder dem, dem sie es schenkte.

Vielleicht sollte sie es doch einfach so ihrem Vater übergeben. Ein wenig Unglück würde ihm sicher guttun! Dann konnte er mal an der eigenen Haut spüren, wie schlecht man sich fühlen konnte!

Doch Kagura wusste, dass sie das nicht tun konnte. Naraku war noch immer ihr Vater und bei den Cih-Anu zählte die Familie zu dem Wichtigsten und Wertvollsten, was man hatte und haben konnte. Außerdem würde Kikyou es herausbekommen und was auf das folgen würde, wollte Kagura sich gar nicht ausmalen. Und sie würde es auch nicht ertragen, den von ihr enttäuschten Ausdruck in den Augen ihrer Mutter zu sehen.

Trotzdem wollte sie einfach zu keinem der Ookamigötter verehren. Sie hatte so lange zu den Gottheiten der Cih-Anu gebetet… Und wenn doch, wem würde sie es widmen?

Ay-lís? Sie mochte die Göttin in Fuchsgestalt sein, aber sie war nicht die richtige und obendrein eher eine Göttin der Anhiin.

Dyna Sul? Die Lüchsin wäre eher Kaguras Göttin.

Aber dennoch… Alles in ihrem Inneren sträubte sich dagegen. Keine der beiden, kein Ookamigott war Kaguras Schutzherrin – das war immer Tsukihana gewesen. Das Mädchen starrte wieder zu dem Mond hoch.

Was, wenn sie es keinem der Ookamigötter weihen würde? Sondern Tsukihana? Was dann? Würde es noch immer Pech bringen? Während sie nachdachte, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, das sich schnell in ein zufriedenes Grinsen verwandelte.

Vokima hatte nichts davon gesagt, welcher Gott es sein musste. Im Gegenteil – sie hatte erklärt, der Gott sollte zu dem Empfänger des Märzchens passen. Kagura hatte keine Ahnung, wem ihre kleine Schwester ihre eigenen Märzchen schenken würde, das halbe Dutzend, dass sie in der Zeit gemacht hatte, die Kagura für dieses eine gebraucht hatte. Aber ganz sicher waren Raku Kal, der Kriegsgott, und Achr, der Hohe Gott der Himmel, unter den Göttern, die sie wegen der Glücksbringer um ihren Beistand anflehen würde.

Kagura würde das nicht tun. Sie würde dieses kleine Ding nehmen, sich in der kommenden Nacht aus der Burg stehlen und das Märzchen Tsukihana weihen. Denn wer würde besser zu Bankotsu passen als diese Göttin des Mondes, die der Jagd und der Wolfskinder?

Kagura sprang auf und rannte zu der Kommode mit dem Spiegel hinüber. Dort verwahrte sie allen Schmuck, den sie bekam, neben einigen anderen Schätzen. Aus einem der kleinen, hübschen Holzkästchen zog sie eine silberne Kette, die sie noch nie angehabt hatte, weil sie ihr viel zu schwer, groß und laut war.

Bei jeder Bewegung klimperten die kleinen Talismane und Glöckchen, die zu Dutzenden daran befestigt waren, wie die Rasselstäbe der Anhiinpriester. Aber sie war ein Geschenk gewesen und die Talismane waren Symbole, mit denen auch Kagura etwa anfangen konnte, darum hatte sie das Halsgehänge noch nicht verschenkt oder verkauft.

Jetzt löste sie einen der kleinen Anhänger. Er hatte die Form eines Halbmondes und würde statt des Glückskleeblattes gut an das Märzchen passen. Unachtsam ließ sie die Kette wieder in den Kasten fallen und kehrte zum Fenster zurück, um die beiden Amulette auszutauschen.

Das leise Klopfen an ihrer Tür ließ sie aufschrecken. Kurz darauf wurde die schwere Holztür geöffnet und Kikyou trat ein. „Du solltest bald schlafen gehen.“, erklärte sie mit sanfter Stimme und kam näher.

„Ja, Mama.“ Kagura blickte zu der Frau auf und fragte sich, ob sie das Märzchen verstecken sollte. Kikyou würde erraten, was sie damit vor hatte. Aber deren scharfe Augen hatten den veränderten Glücksbringer schon bemerkt. Sie verlor allerdings kein Wort darüber, sondern ließ sich neben ihrer Tochter auf die Bank am Fenster sinken.

„Geht es dir wieder besser?“, wollte sie dann wissen und strich dem Mädchen über den Kopf. Kagura hob die Schultern und zog geräuschvoll die Nase hoch. Natürlich sprach Kikyou von der Tatsache, dass sie nicht auf das Mondhorn durfte.

Ganz überwunden hatte Kagura das Verbot nicht – das würde sie wohl niemals tun, selbst wenn sie diesen Traum jetzt begraben hatte. Aber die Tage im Jijintal und mit Bankotsu und seiner Familie und Kaede hatten ihr gut getan, ebenso wie das Gespräch, das Suikotsu mit ihr geführt hatte.

Auch wenn sie es noch immer nicht ganz einsehen wollte. Was sprach dagegen, dass sie auf das Mondhorn stieg?

„Ich sehe es.“, sagte Kikyou und Kagura war nicht ganz klar, was genau sie damit meinte. Aber ihre Mutter lenkte ihre Gedanken bereits woanders hin, indem sie das Märzchen aufnahm. „Das ist schön geworden.“, sagte sie. „Ich wusste gar nicht, dass du schon so schön spinnen kannst.“

Der letzte Satz klang etwas neckisch und Kagura musste lächeln. Ja, wer hätte gedacht, dass ausgerechnet sie so etwas hinbekommen würde?

„Ich glaube, Bankotsu wird sich sehr darüber freuen. Es wird ihm sicher Glück bringen bei seinem kommenden Kampf.“

Kagura rutschte näher und legte den Kopf auf Kikyous Schulter. „Meinst du? Aber … wird es nicht…?“

„Nein, es wird sicher nicht stören. Weihe es nur Tsukihana.“

Ihre Mutter kannte sie einfach viel zu gut.

Und so würde zumindest ein Teil von Kagura auf den Berg gehen. Und gegen einen Himmelswolf kämpfen. Richtig? Sie seufzte wieder.

Kikyou legte das Märzchen auf die Fensterbank zurück. „Warte nur, Kagura. Warte nur.“ Ihre Stimme klang leise, ruhig und völlig sicher. „Deine Chance kommt und dann wird dein Vater nichts dagegen tun können. Warte nur ab…“
 

Kagura hockte auf der Veranda vor Kaedes Haus und beobachtete das Treiben im Dorf. Sie trug einen der schönen, bunt gemusterten, langärmeligen Kimonos aus feiner Seide, darüber eine Haori, damit sie nicht fror. Es war noch sehr kalt, obwohl der Frühling inzwischen mit aller Macht über das Land hereingebrochen war und das trotz der Tatsache, dass der Lenzmond noch immer ein paar Tage dauerte.

Aber heute war der erste Tag des Vollmonds. Heute würde Bankotsu auf das Mondhorn steigen. Und sie würde hier unten zurückbleiben. Aber ihre Mutter – ihre Mutter hatte ihr eine Chance versprochen. Kagura glaubte fest, dass diese eintreten würde, auch wenn das noch dauern konnte. Wenn sie nur etwas mehr Geduld hätte…!

Sie seufzte und blickte nach unten auf das kleine samtene Säckchen, das sie neben einem einfachen Fächer in der Hand hielt. Darin befand sich das Märzchen und sie wartete noch auf eine Gelegenheit, es Bankotsu zu geben.

Allerdings sollte sie es bald tun, denn die drei Welpen würden bald aufbrechen. Sie richteten schon ihre Ponys, die sie zum Berg bringen würden. Der Alte stand, gekleidet in dem offiziellen Ornat der Wolfskinder, inklusive des grauen und schwarzen Wolfspelzes, den er um die Schultern trug.

Der Kopf, gut sichtbar, lag auf seiner Brust, die Augen grüne Juwelen, die Zähne lang und spitz… Meistens fungierte der Schädel wie ein Helm. Ihre Feinde, so wusste Kagura, erzählten Schauergeschichten über die Wolfskinder. Himmelswölfe selbst sollten sie sein, schnell, klug, tödlich.

Sie lächelte bei dem Gedanken daran und erhob sich. Vorsichtig strich sie die Falten des Furisode glatt, ging mit kleinen Schritten zu den hölzernen Geta, die neben den Stufen standen, und schlüpfte hinein.

Eigentlich hasste sie es, feine Kleidung zu tragen. Sie geriet leicht durcheinander und durfte weder verschmutzt noch zerrissen werden und beides ging noch dazu spielend leicht. Darum zog sie robustere Kleidung vor, die bei den Ookami glücklicherweise an der Tagesordnung war, selbst für Adlige und andere Leute hohen Standes.

Wenn sie auf die Jagd ging, schlüpfte sie sogar in Männerkleidung, weil die so viel praktischer war. Sie wusste, in wenigen Jahren würde es vorbei sein mit den Hosen, nämlich dann, wenn sie erwachsen wurde und ihr Körper sich deutlich von dem von Jungen unterscheiden würde. Aber noch war es nicht so weit.

Doch die traditionelle, hochwertige Kleidung der Cih-Anu wie dieser Kimono, den ihre Mutter für sie gefertigt hatte, trug sie sehr gerne. Sie wünschte, sie könnte es öfter tun, aber sie hatte nur hier im Dorf Gelegenheit dazu. Ihr Vater würde nie zulassen, dass sie in Wolfshöhe Cih-Anukleider trug. Nicht einmal ihre Mutter tat das und das sprach Bände.

Mit vorsichtigen Schritten ging sie zu dem Alten und seinen Welpen hinüber, wobei sie jede Pfütze und jeden Flecken Schnee sorgsam umrundete. Bankotsu entdeckte sie und rannte zu ihr herüber. Er strahlte über das ganze Gesicht.

„Wünsch mir Glück, Kagura!“, rief er. „Morgen komme ich als Wolfsknabe wieder herunter und … Wir können jagen gehen und alles mögliche machen! Das wird toll!“

„Oder auch nicht.“, murmelte Kagura und erinnerte sich daran, dass sie nicht zum Mondhorn ritt. Sie stand hier in dem feinen, seidenen Furisode, der mehr gekostet hatte, als manche Familie in einem Jahr verdiente und würde zuschauen, wie er davonritt.

Doch Bankotsus breites Grinsen erlosch bei dem Satz, was ihr sofort ein schlechtes Gewissen einbrachte. Darum sprach sie schnell weiter: „Aber ich bin tatsächlich wegen Glück hier. Hier.“ Sie drückte ihm das kleine Säckchen in die Hand.

Er hob es hoch und betrachtete es. „Was ist das?“

„Mach es auf, du Trottel, dann weißt du es.“ Sie überkreuzte die Arme vor der Brust und blickte zur Seite. Warum musste er ihr das auch so schwer machen?

Bankotsu grinste sie wieder an und öffnete die Verschlussschnüre, um den Inhalt in seine Handfläche zu kippen. „Ist das…“

„… ein Märzchen.“, erklärte Kagura. „Aber keine Sorge, ich … habe es Tsukihana geweiht.“ Sie wurde rot. „Es soll dir Glück bringen. O-Kaa-sama sagte das auch.“

Bankotsu schwieg für einen Moment. Gefiel es ihm nicht? Sie starrte angestrengt auf den Boden. Vielleicht war es doch falsch gewesen. Immerhin war es ein Ookamibrauch. Keiner der ihren.

Das Rascheln von Stoff folgte, aber sie wagte nicht, sich zu ihm umzudrehen. Die Stille zog sich in die Länge. Vielleicht sollte sie einfach umdrehen und gehen.

„Danke, Kagura.“ Bankotsus Stimme war ruhig und ernsthaft und sie blickte überrascht zu ihm. So kannte sie ihn gar nicht! Er hatte sich das Märzchen an eine der Schnüre gebunden, die sein Hemd am Hals schlossen. „Es wird mir ganz sicher viel Glück bringen.“ Sein Lächeln war ehrlich und ansteckend, so dass Kagura unwillkürlich zurücklächeln musste.

Sie spielte nervös mit dem Fächer und begleitete ihn zu den anderen Welpen hinüber. Der eine saß schon im Sattel, das Mädchen sprach mit dem Alten, doch als sie sah, dass Bankotsu zurückkam, kletterte auch auf ihr Reittier.

Der Alte klopfte seinem letzten Schüler auf die Schulter, der sich daraufhin ebenfalls auf den Rücken seines Ponys schwang. Sie verabschiedeten sich ohne große Worte, aber Bankotsu winkte noch einmal, ehe er den anderen beiden folgte.

Der Alte und das Mädchen blieben zurück und sahen ihnen nach, wie sie ihren Weg aus den Jijintälern suchten. Dann legte der Mann ihr die Hand auf die Schulter. „Mach dir keine Sorgen, Kagura-hime. Dein Tag kommt.“

Und Kagura wusste, dass er recht hatte. Sie schaute den drei davonreitenden Welpen nach, die als Wolfskinder oder gar nicht zurückkehren würden. Dann blickte sie nach Osten, wo die Sonne in einem strahlenden Farbenspiel über die Flanken der Berge stieg, und lächelte.

Ihr Tag würde kommen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Votani
2011-07-15T05:41:02+00:00 15.07.2011 07:41
Meine Meinung zum OS kennst du ja, aber hier nochmal schriftlich als Kommentar: Obwohl ich kein wirlicher InuYasha-Fan bin, hats mir wirklich gefallen. Von meinem anderen würde ich AUs in diesem Fandom lesen - eigentlich generell FFs zu diesem Fandom. :'D

Ich mochte Kikyou in diesem AU ganz besonders. Wer hätte gedacht, dass sie sich als Mutter doch so gut machen kann? Besonders mit einer Tochter wie Kagura. <3

Dein Sinn fürs Erschaffen von Welten und die ganzen Details sind immer noch beeindruckend. Ich wünschte, sowas könnte ich auch. :\ Aber das ist einfach nicht mein Genre und wahrscheinlich ist das auch gut so. XD
Von:  Evaleska
2011-05-30T07:18:12+00:00 30.05.2011 09:18
Allmählich liebe ich deine Geschichten wirklich. Normalerweise hab ich es nicht so mit langen Texten, aber wenn ich hier ans Ende komme, wünsche ich mir, es würde noch einmal die gleiche Anzahl Worte folgen.

Was soll ich hier großartig schreiben?! Es ist einfach super. Du schreibst so lebendig, dass man sich als Leser richtig in die Handlung einfinden kann. Ich hatte teilweise das Gefühl, hinter dem Mädchen zu stehen und ihr über die Schulter zu schauen.

Anfangs war ich ja skeptisch, was diese Inuyasha-AUs anging, da ich mit der Serie kaum etwas anfangen konnte. Aber Kenntnisse sind hier auch gar nicht gefragt. Du könntest den Charakteren genaugenommen auch fiktive Namen geben und das Ganze als "Eigene Serie" verkaufen.

Zum Schluss verzichtest du allerdings öfters mal auf das "sie" im Satz. Das wäre aber auch mein einziger Kritikpunkt. Ach nein: Ich will ne Fortsetzung ;-)
Ansonsten, beide Daumen hoch. Eins mit Sternchen.

Lg Lianora


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